Titel:
Verfahren wegen Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Eine Gruppenverfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden haben Asylbewerber aus der Türkei nicht zu befürchten. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Im Allgemeinen ist eine unbehelligte Ausreise ein Indiz gegen das Vorliegen eines Haftbefehls oder einer Ausreisesperre und damit gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei Wehrdienstentziehung wird eine Geldbuße oder Geldstrafe oder im Wiederholungsfall einer Haftstrafe, die regelmäßig nicht vollstreckt, sondern umgewandelt oder aufgeschoben wird, verhängt. Es ist nicht ersichtlich, dass dies keinen angemessenen Ausgleich zwischen der Durchsetzung des staatlichen Wehrdienstanspruchs einerseits und der privaten Gewissensentscheidung des Betroffenen andererseits darstellte. (Rn. 48 – 53) (redaktioneller Leitsatz)
4. Es gibt keine belastbaren Erkenntnisse, dass die Heranziehung zum Militärdienst an gruppenbezogenen Merkmalen bzw. persönlichen Merkmalen i.S.v. § 3b AsylG oder an der Volkszugehörigkeit orientiert ist. (Rn. 56 – 57) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abschiebungsverbot, Wehrdienstverweigerung, Türkei, Kurde, Putschversuch, Kurdenkonflikt, HDP, Folter- und Misshandlungsvorwürfe, Null-Toleranz-Politik, Ausreisekontrollen
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 29.09.2020 – 24 ZB 20.31723
Fundstelle:
BeckRS 2020, 26784
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der seinem vorgelegten Nüfus zu Folge am ... in ... in der Türkei geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit alevitischer Religionszugehörigkeit und hielt sich vor seiner Ausreise zuletzt in ... auf (BAMF-Akte Bl. 69). Er reiste nach eigenen Angaben am 16. März 2018 aus der Türkei auf dem Luftweg aus und nach Polen, von wo er am 12. April 2018 mit dem Bus nach Deutschland gefahren und hier am 13. April 2018 angekommen sei und mit Schreiben vom 11. Juni 2018 als Folgeantrag Asyl beantragte.
2
Seinem schriftlichen Asylantrag fügte er Fotos und Internet-Auszüge bei (ebenda Bl. 5 ff.) und führte auf Türkisch im Wesentlichen aus (ebenda Bl. 38 ff., Übersetzung Bl. 90 ff.), er sei wegen des ihm in der Türkei mehrmals widerfahrenen Drucks, Drohungen, Untersuchungshaft und Schlägen hier. Weil er von der HDP sei, sei er solchem Druck ausgesetzt gewesen, er habe an den Aktivitäten seines Cousins ... teilgenommen und sei später bei einer Oberstufen-Bewegung Mitglied geworden […]. Sie hätten an den in ... stattgefundenen Protesten teilgenommen und hätten gemeinsame Aktivitäten mit den Jugendlichen wie beim Anschlag von ... und ... gehabt, Austragung von Zeitungen und Magazinen (ebenda Bl. 90).
In der Region ... sei im April 2016 mit dem Bau eines Dschihad-Zeltlagers für 30.000 Personen begonnen worden, wo es viele alevitische Dörfer gebe. Sie wollten nicht, dass das Lager dort gebaut werde, sie seien ein Volk, das immer Ausrottung und Massakern ausgesetzt gewesen sei und sie hätten eine Widerstandsgruppe gebildet. Es hätte ein Lauf stattgefunden und es seien Kinder und Jugendliche in ihrem Alter mit Pfeffergas angegriffen worden, alle Menschen seien aus Angst weggerannt, seine Freunde seien festgenommen worden und ein älterer Freund sei an einer Sprengkapsel, die seinen Kopf getroffen habe, gestorben. Den Bau des Zeltlagers hätten sie nicht verhindern können (ebenda Bl. 90).
Als er mit einem Freund aus dem Vorstand der Jugendbewegung der HDP zum Dorf gegangen sei für eine weitere Demonstration, hätten ihnen Polizisten den Weg versperrt, ihre Ausweise verlangt, sie festgenommen und ins Fahrzeug gesetzt und nach seinem Bezug zu seinem Cousin gefragt, ihn gefragt, ob sie von der PKK seien und als er dies verneinte, aber auf seine HDP-Mitgliedschaft verwies, sei er dort geschlagen worden […]. Der Kläger sei zum Polizeirevier gebracht und vom Polizeikommandanten gefragt worden zu seinem Cousin, ob der Kläger auch ein Terrorist sein wolle und was er mit diesem zu tun habe, als der Kläger seinen Cousin verteidigt habe, sei er wieder geschlagen, beleidigt und beschimpft und in eine Zelle geworfen worden. Nach ihren Vernehmungen seien sie in der Nacht freigelassen worden (ebenda Bl. 90 f.). Später habe er erfahren, dass die Polizisten auch zur Schule gekommen seien. Der Schulleiter habe ihn in sein Zimmer gerufen und gesagt, dass die Polizisten gekommen seien, er habe ihn mit dem Schulausschluss bedroht und ihm gesagt, dass er jetzt sowieso kein Beamter mehr werden könne. Bei Schulveranstaltungen habe er sie gezwungen, seine Hand zu küssen und er habe innerhalb der Schule immer Druck ausgeübt (ebenda Bl. 91).
Danach habe der Kläger die Schule wechseln müssen. Im Juni 2016 sei sein Cousin aus dem Gefängnis entlassen worden; im Sommer 2016 hätten sie erfahren, dass ein Freund aufgrund einer Auseinandersetzung mit einem Polizisten wegen eines Ausweises auf das Polizeirevier gebracht worden sei. Sie seien hingegangen, ihn abzuholen und die Polizisten dort hätten ihnen gesagt, dass nun auch die anderen Terroristen gekommen sein und hätten sie geschlagen, mit dem Tod bedroht und dass sie Separatisten wie sie nicht leben lassen würden (ebenda Bl. 91).
Am Ende des Sommers habe sein Cousin aufgrund der Vorwürfe und Beschuldigungen das Land verlassen. Zu dieser Zeit seien der Onkel des Klägers und der Kläger immer bezüglich des Cousins befragt und unter Druck gesetzt worden; der herzkranke Onkel sei nach den Ereignissen gestorben (ebenda Bl. 91).
Trotzdem habe er mit der Jugendbewegung der HDP zusammengearbeitet, allerdings seien seine dortigen Freunde bedroht worden als Terroristen und dass sie ins Gefängnis kommen würden und ihnen sei Angst gemacht worden, sodass es zu Austritten aus der Jugendbewegung gekommen sei (ebenda Bl. 91).
Nachdem der Kläger die Schule gewechselt hätte, seien sein politisch links eingestellter Lehrer und seine Lehrer aus anderen Schulen von der Schule geschmissen und aus dem Dienst suspendiert worden und sie seien auch in P. als Terroristen abgestempelt worden (ebenda Bl. 91).
Mit seinem Freund aus dem Vorstand der HDP habe er mit der Gewerkschaft der Lehrpersonen („...“) zusammenarbeiten wollen, sich im dortigen Gebäude mit den Lehrern getroffen und zwei seiner Freunde aus dem Vorstand seien danach festgenommen worden (ebenda Bl. 91). Der gegen den Kläger ausgeübte Druck sei mehr geworden. Polizisten hätten um die Ecke mit Beleidigungen und Belästigungen angefangen, der Kläger sei verfolgt worden, im Polizeirevier im Dorf bei dem Dorfvorsteher nach ihm gefragt, in ein paar Mal zum Polizeirevier gerufen und aufgefordert, sich von diesen Leuten fernzuhalten oder sie würden auch ihn verhaften und vernichten (ebenda Bl. 92).
Nach diesen Geschehnissen sei die Polizei wieder Anfang März 2017 zur Schule gekommen und habe mit der Schulleitung geredet; sein Freundeskreis in der Schule sei vernichtet worden und seine Lehrer hätten angefangen, sich von ihm zu distanzieren. Er sei in der Schule zwar als Organisationsmitglied anerkannt aber doch einsamer geworden. Mit seinem Abschluss zusammen seien Anfang des Sommers 2017 auch zwei seiner Freunde aus dem Vorstand freigelassen worden, sie hätten sich von den Aktivitäten ein bisschen distanzieren müssen (ebenda Bl. 92).
An einem Tag im November 2017 sei er am späten Nachmittag beim Austragen von Zeitungen von zivilen Polizisten mitgenommen, zur Dammkante gebracht mit einer Pistole am Kopf bedroht worden, wenn er nicht zur Vernunft kommen würde, würden sie ihn hier umbringen und in den Damm werfen und keine würde etwas erfahren. Von dort sei er in das Polizeirevier gebracht und nach einem etwa vier- bis fünfstündigen Verfahren freigelassen worden. Sein Vater sei aus dem Polizeirevier im Dorf berufen und bedroht worden, wenn er seinen Sohn nicht auf den rechten Weg bringe, würde dieser sterben. Das Ausmaß der Drohungen sei immer mehr geworden, seine Familie habe Angst gehabt und ihn wegschicken wollen und schließlich habe er ihre Entscheidung respektiert und aufgrund des Zwangs und der Geschehnisse gehen müssen (ebenda Bl. 92).
Auf formblattmäßige Einzelfragen gab der Kläger noch an, er habe sich in der Türkei an der Heimatadresse von Mai 2005 bis zum 16. März 2018 aufgehalten. Für seine Ausreise hätte ein Schlepper ein Visum besorgt und er sei mit dem Flugzeug nach Polen gereist und von dort mit dem Bus am 13. April 2018 nach Deutschland gekommen (ebenda Bl. 93). Als Ausreisegründen gab er an die politischen Ereignisse und die Drohungen gegen sich und seine Familie im schulischen und bürgerlichen Leben, er werde als Terrorist und Separatisten angesehen und nur, weil er bei der HDP sei, seien diese Sachen passiert ebenda Bl. 93). Bei einer Rückkehr in die Türkei fürchte er, er sei mehrfach von der Polizei mit dem Tod bedroht, in Untersuchungshaft gebracht und geschlagen worden (ebenda Bl. 94). Von den Protesten habe er Bilder und Videos über die Aktivitäten mit den Jugendlichen und das Video des Gaseingriffs während des Protests (ebenda Bl. 94).
3
In seiner auf Türkisch geführten Anhörung vor dem Bundesamt für ... (Bundesamt) am 18. Juli 2018 gab der Kläger im Wesentlichen an (BAMFAkte Bl. 67 ff.), seinen Reisepass habe er aber bei den Schleusern abgeben müssen, die das von ihm verlangt hätten. Sie hätten versprochen, ihn nach Deutschland zu bringen, aber nur bis nach Polen gebracht und alleingelassen (ebenda Bl. 68). Sein in Polen lebende (Halb-)Bruder habe ihn abgeholt. Er sei nach Deutschland weitergereist, weil er das mit dem Schleuser so vereinbart habe, weil das nicht sein leiblicher Bruder, sondern sein Stiefbruder sei und weil sein Cousin seit einem Jahr in Deutschland lebe und auch Asyl beantragt habe. Mit dem komme er besser zurecht (ebenda Bl. 69). Deswegen sei er nach Deutschland weitergereist. Der Cousin heiße ... (ebenda Bl. 69).
Sein Handy sei ihm in ... im Camp gestohlen worden und er habe eine Anzeige bei der Polizei aufgegeben (ebenda Bl. 69, 84). Die Flugunterlagen habe er alles weggeschmissen (ebenda Bl. 70).
Seine Eltern lebten getrennt, seine Mutter in, sein Vater in ...; weitere Verwandte im Heimatland sei eine jüngere Schwester, fünf Stiefgeschwister, davon einer in Polen, eine in England, einer in Italien und die anderen zwei in der Türkei (ebenda Bl. 70).
Er habe zwölf Jahre lang die Schule besucht und mit Abitur abgeschlossen. Er habe keinen Beruf erlernt, wollte auf die Uni gehen, aber wegen seiner Gründe konnte er das nicht. Wehrdienst habe er nicht geleistet (ebenda Bl. 70).
Zu seinen Ausreisegründen gab er an, in der Türkei habe er in den letzten drei Jahren manche Vorfälle erlebt. Er habe sehr guten Kontakt zu seinem bereits schon erwähnten Cousin gehabt und […] durch seine Bekannten sei er zum ersten Mal mit politischen Aktivitäten in Kontakt gekommen und habe an der Schule an einer Gruppe („...“ teilgenommen. Sie hätten kleine Demonstrationen durchgeführt. Im April 2016 habe man angefangen, in der Nähe von den alevitischen Dörfern ein Camp zu errichten, dort sollten ca. 30.000 Dschihadisten untergebracht werden. Die ganzen Bewohner der Dörfer hatten Angst, dass dieses Camp dort errichtet wird. Es kam zu Protesten gegen dieses Camp. Da hätten alle alevitischen Leute daran teilgenommen, ihre Gruppe auch. Sie wollten alle demonstrieren. Aber die Sicherheitskräfte und Jandarma hätten sie angegriffen und die Demonstration verhindert (ebenda Bl. 70 f.). Dann wollten sie in ... mit der HDP-Jugend an einer Demonstration teilnehmen, seien aber nur bis zur Grenze des Dorfes gekommen. Die Polizisten hätten sie kontrolliert, festgestellt, dass sie nicht aus diesem Dorf kommen, deswegen in Gewahrsam genommen und in ein Auto der Jandarma gebracht. Sie hätten nach seinem Cousin gefragt, gesagt, dass sein Cousin ein Terrorist sei und er genauso wie er sei. Sie hätten auch gefragt, warum sie hergekommen seien und mit diesen PKK-Anhängern zusammen seien. Sie hätten zu denen gesagt, dass sie HDP-Anhänger seien und nicht wollten, dass dieses Camp errichtet wird. Die Sicherheitskräfte hätten gesagt, dass es keinen Unterschied zwischen PKK und HDP gebe und zu einer Jandarma-Station gebracht. Dort habe ihn ein Oberoffizier gefragt, wo denn sein Cousin sei. Er habe wahrheitsgemäß gesagt, dass der zurzeit im Gefängnis sitzt. Sie hätten ihm dann vorgeworfen, dass sein Cousin ein Terrorist sei. Als er ihn verteidigen wollte, hätten sie den Kläger geschlagen, geohrfeigt, getreten und verbal beschimpft. Er solle sich von seinem Cousin fernhalten soll. Dann hätten sie ihn und seine Freunde in einen Raum gebracht, 8 Stunden warten lassen, danach verhört und um 22:30 Uhr freigelassen sowie bedroht, sich nicht wieder in der Umgebung aufzuhalten (ebenda Bl. 71). Die Polizei in P. sei informiert worden, dass er in Gewahrsam gewesen sei; […] die Polizisten seien in die Schule und zu seinem Direktor gegangen und hätten mit ihm über diesen Vorfall geredet. Der Direktor habe ihn zu sich gerufen, erzählt, dass die Polizisten da waren und warum. Er wollte ihn von der Schule schmeißen. Jeden Morgen, an dem er in die Schule kam, hätte er vor allen seinen Kameraden die Hand des Direktors küssen müssen. Normalerweise sei das in der Türkei ein Beweis für Respekt. Allerdings wollte der Direktor ihn damit erniedrigen. […] Der Kläger habe die Schule dann gewechselt (ebenda Bl. 71). Bei der Rückübersetzung gab der Kläger an, dass es in der Schule in der Türkei nicht normal sei, dass man einem älteren Mann die Hand küssen muss (ebenda Bl. 75).
Sein Cousin wurde 2016 aus dem Gefängnis freigelassen. Sie hätten Zeitungen („Toplumsal Özgürlük“) jeden Monat bekommen und verteilt. Darauf sei sein Cousin wieder in Gewahrsam genommen und unter Druck gesetzt worden, deswegen sei er geflohen (ebenda Bl. 71).
Manche Lehrkräfte seien Mitglieder im Bildungsbetriebsrat und sie hätten diese als HDP-Jugend auch unterstützt, denn die Lehrkräfte hätten immer mit der Erlaubnis von der Polizei eine Demonstration veranstaltet und sie seien da auch dabei gewesen. Im Oktober 2016 sei ein Lehrer von diesem Bildungsbetriebsrat entlassen worden und habe seinen Beruf nicht mehr ausüben dürfen. Sie hätten von der HDP-Jugend aus diese Lehrkraft besucht und seien immer von der Polizei beobachtet worden. Im November 2016 seien zwei Mitglieder der HDP-Jugend in Gewahrsam genommen und aufgefordert worden, sie Jugendorganisation aufzulösen. Einige von der HDP-Jugend hätten dann Angst vor den Drohungen bekommen und nicht mehr mitgemacht (ebenda Bl. 71).
Polizisten hätten dann auch auf den Kläger Druck ausgeübt, ihn bedroht, er solle umgebracht werden, die Leute in seiner Umgebung festgenommen. Er habe Angst bekommen und sei deswegen nicht mehr so aktiv gewesen (ebenda Bl. 71 f.).
Im März 2017 seien die Polizisten wieder zu seiner Schule gekommen, hätten mit den Lehrkräften, die gegen die HDP sind, gesprochen, diese sollten in der Schule verbreiten, dass die HDP-Anhänger Terroristen seien. Seine Klassenkameraden hätten sich von ihm distanziert, genauso die Lehrkräfte. Als er die Schule abschloss im Juni 2017, seien die zwei o.g. HDP-Mitglieder wieder freigelassen worden (ebenda Bl. 72).
Als sie im November 2017 Zeitung verteilt hätten, seien Zivilpolizisten gekommen, hätten ihn mitgenommen, zu einem Wasserwerk (...) gebracht, eine Pistole an den Kopf gehalten und ihn bedroht. Sie könnten ihn auch in das Wasser dort werfen und niemand würde wissen, dass er dort drin liege. Es könnte außerdem niemand beweisen, dass er umgebracht worden sei. Er sollte ihnen gehorchen. Nach diesem Vorfall hätten sie ihn zur Polizeistation gebracht, 4-5 Stunden in der Polizeistation warten lassen, ihn nicht verhört und einfach freigelassen (ebenda Bl. 72).
Aber sie hätten bei der Dorf-Jandarma Bescheid gegeben und den Dorfvorsteher informiert. Er habe in die Station der Jandarma kommen müssen. Sie hätten ihm gesagt, dass er aufhören sollte mit seinen Aktivitäten, ansonsten würden sie ihn umbringen. Sein Vater wurde auch dorthin zitiert, der Kläger sollte von ihm wieder auf den rechten Weg gebracht werden. Das alles habe seine Familie psychisch sehr mitgenommen. Sie wollten auch, dass ich fliehe, deswegen sei er nach Deutschland gekommen (ebenda Bl. 72).
Auf Frage zu den Zielen der Gruppe „...“ gab der Kläger an, diese Gruppe wollte, dass alle Schüler gleichberechtigt werden. Es habe Schüler gegeben, die weniger Geld hatten als andere. Die mit viel Geld konnten eine bessere Schulbildung erlangen. Das wollten sie z.B. nicht. Auf Nachfrage bestätigte er, dass diese Gruppe rein schulinterne Dinge versuchte zu lösen. Sie gehe aus von der Zeitung „Toplumsal Özgürlük“ („Freiheit für die Gesellschaft“), denn sie hätten die Zeitung ausgetragen und von dem Erlös die Hälfte von dem Verlag bekommen. Davon hätten sie dann bestimmte Sachen finanziert. Das Ziel des Verlages sei, dass es Freiheit in der Gesellschaft gibt. Deswegen habe er diese Gruppe unterstützt (ebenda Bl. 72).
Auf Frage zur HDP-Jugend erklärte der Kläger, er unterstütze die HDP. Deswegen habe er mit denen zusammen Aktivitäten unternommen. Er sei kein Parteimitglied, aber er habe ehrenamtlich für die gearbeitet. Nach dem Putschversuch hätten sie viele Probleme gehabt und ihnen sei von Leuten, die in Führungspositionen der Jugendorganisation waren, empfohlen worden, nicht in die Partei einzutreten, um sich nicht in Gefahr zu bringen (ebenda Bl. 72).
Auf Frage zu dem Besuch in dem Dorf ... gab der Kläger an, das sei im April 2016 gewesen. Es durften daran nur Dorfbewohner teilnehmen; das habe der Gouverneur von ... im April 2016 verboten. Der Kläger sei hingegangen, auch wenn er habe gar nicht teilnehmen dürfen, wie, sie trotzdem ihre alevitischen Landsleute unterstützen wollten (ebenda Bl. 73).
Auf Aufforderung, genau die erste Situation zu schildern, als er in die Jandarma-Station mitgenommen worden sei, erzählte der der Kläger fast wortgleich den bereits geschilderten Sachverhalt und wiederholte nochmals dieselbe Geschichte wie oben. Auf Vorhalt, diese Geschichte klinge konstruiert, er könne keine Details nennen, das habe er auswendig gelernt, entgegnete er, wenn es nicht so gewesen wäre, dann wäre er nicht hier (ebenda Bl. 73).
Auf Bitte, die Polizeistation aufzuzeichnen, genau die Räume zu skizzieren und dazu die Situation nochmals zu schildern, fuhr der Kläger fort, er sei über die Treppe in das Gebäude reingekommen. Zuerst habe er in einen Warteraum (Weg 1) müssen, dann sei er zu diesem Oberoffizier geführt worden, der ihn befragt habe (Weg 2). Dann sei er wieder in den Warteraum gekommen (Weg 3). Dort habe er 8 Stunden lang gesessen. Er sei dann wieder zu dem Oberoffizier in den Raum gebracht und in diesem Raum verhört worden. Nach diesem Verhör durfte er gehen (Weg 4) (ebenda Bl. 73).
Vermerk: Der Kläger sei sich nicht sicher und änderte seine Aussage, wie es nun genau in dem Jandarma-Revier gewesen ist, mehrmals. Er habe gesagt, dass er sich aufgrund seines psychischen Zustandes nicht genau erinnern kann. Die Skizze wurde als Anlage 1 zu den Akten genommen (ebenda Bl. 73).
folgen Fragen zum Direktor der ersten Schule und dem Lehrer des Bildungsbetriebsrates Bl. 73
Auf Frage, in welcher Weise die Polizisten angefangen hätten, Druck auszuüben, gab der Kläger an, sie seien in Zivil in der Nähe von der Schule mit einem Auto rumgefahren, hätten ihn aus dem Auto heraus angesprochen und belästigt und gesagt, dass er das Gleiche erleben werde, wie seine Freunde erlebt haben. In seiner Umgebung seien viele verhaftet worden und 5-6 Monate im Gefängnis geblieben. Sie hätten auch gesagt, dass er dort nicht mehr leben dürfe wegen seines Nachnamens, er heiße, genau wie sein Cousin ... und habe mit ihm immer zusammen etwas unternommen, Zeitungen ausgetragen und sei mit dem auf Demonstration gegangen, die oft von der HDP oder dem Bildungsbetriebsrat (...) ausgegangen sind (ebenda Bl. 74). Auf Frage, ob ihm in dem Fall aber, außer dass er von den Polizisten komisch angesprochen worden sei, nichts passiert sei, bestätigte er, er habe vor diesen Leuten ja Angst. Deswegen habe er auch seine Aktivitäten reduziert (ebenda Bl. 74).
Auf Frage, den Vorfall im ... ganz genau zu schildern, gab der Kläger an, er sei auf der Straße gewesen und wollte Zeitungen verteilen, ungefähr ab 13:00 Uhr. Die Zivilpolizisten hätten ihn in ihrem Auto mitgenommen, ihn zu einem Wasserwerk gefahren. Dort habe er aus dem Auto aussteigen müssen. Dann habe jemand eine Waffe an seinen Kopf gehalten und gesagt, wenn sie ihn jetzt hier umbringen würden und ins Wasser werfen, dann könnte niemand beweisen, dass sie ihn da umgebracht hätten. Danach hätten sie ihn in die Polizeistation gebracht. Dort habe er 4-5 Stunden warten müssen, sei nicht verhört worden, sondern konnte dann gehen (ebenda Bl. 74). Auf Aufforderung, den Vorfall im ... genauer zu schildern, erklärte der Kläger, es sei genauso gewesen, wie er es gerade geschildert habe (ebenda Bl. 74). Auf Vorhalt, auch diese Geschichte glaube die anhörende Person nicht, weil er sich nicht an Details und Einzelheiten erinnern könne, gab er an, er könne nicht mehr dazu angeben (ebenda Bl. 74). Auf nochmalige Nachfrage gab er an, es seien drei Leute gewesen; sie hätten ihm zuerst ihre Ausweise gezeigt, gesagt, dass sie Polizisten seien und ihn zur Polizeistation bringen würden. Stattdessen hätten sie ihn zum Wasserwerk gebracht. Ansonsten könne er sich an nichts mehr erinnern […] (ebenda Bl. 74).
Auf Frage, was ihm in der Zeit zwischen November 2017 und der Ausreise im März 2018 passiert sei, räumte er ein, da sei nichts mehr passiert. Er habe ab dem Zeitpunkt Angst gehabt und deswegen gar nichts mehr unternommen, wurde in der Zeit weder festgenommen noch sonstiges (ebenda Bl. 74 f.).
Im Heimatland in eine andere größere Stadt gehen können, um dort sicher zu sein, hätte er nicht, weil er Anhänger von der HDP sei, hätte er überall in der Türkei Probleme gehabt. Er habe sich außer den geschilderten Sachverhalten nicht politisch betätigt, er sei nur HDP-Anhänger, habe für die Partei nur ehrenamtlich gearbeitet, kein Mitglied (ebenda Bl. 75).
Außer dem Geschilderten habe er in der Türkei keine Probleme mit der Polizei oder Behörden gehabt (ebenda Bl. 75).
Bei einer Rückkehr fürchte er, er würde nicht in Ruhe gelassen werden. Der Staat würde garantiert wissen, dass er geflüchtet sei. Außerdem habe er keinen Militärdienst geleistet, würde als Vaterlandsverräter dastehen und deswegen würden sie ihn ins Gefängnis stecken (ebenda Bl. 75).
Der Kläger legte nach der Anhörung mehrere Bilder vor, die ihn bei Demonstrationen und Aktivitäten von ... und ... zeigten (ebenda Bl. 85 ff.).
4
Auf dem Kontrollbogen bestätigte der Kläger, es habe bei der in türkischer Sprache durchgeführten Anhörung keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben, das rückübersetzte Protokoll entspreche seinen Angaben und diese seien vollständig und entsprächen der Wahrheit (BAMF-Akte Bl. 83).
5
Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 3. Januar 2019 den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) sowie auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG ab (Nr. 4). Die Abschiebung in die Türkei wurde angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass zwar die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach dem am 6. August 2002 bestandskräftig abgelehnten Asylerstantrag und der Abschiebung des Klägers am 25. Mai 2005 in die Türkei vorlägen, aber nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter nicht vorlägen, weil der Kläger eine Verfolgung im Herkunftsstaat nicht habe glaubhaft machen können. Für Kurden bestehe keine Gefahr einer Gruppenverfolgung in der Türkei, aber eine inländische Zuflucht im Westen der Türkei, wohin auch der gut ausgebildete Kläger ausweichen könne. Im Wesentlichen sei der Asylantrag mit Furcht vor vom Staat ausgehender Verfolgung wegen seiner politischen Betätigung für die HDP-Jugend und seinen regierungskritischen Aktivitäten begründet würden. Jedoch sei der Sachvortrag des Klägers als nicht glaubhaft zu bewerten. Um das Kerngeschehen zu erfahren, seien in der Anhörung gezielte Fragen und wiederholte Nachfragen nötig gewesen, ohne dass eine relevante, in der Türkei bereits erlittene Verfolgung des Klägers deutlich wurde. Trotz mehrfacher Anstöße vermochte es der gut gebildete Kläger nicht, die Ereignisse lebensnah und detailreich zu substantiieren. Gerade im Falle eines gravierenden Vorfalls wie der Entführung zu einem Wasserwerk und dort erlittenen Todesdrohungen wäre zu erwarten, dass er ein solches Ereignis detailliert zu schildern vermag. Auffällig sei zudem, dass er seine Skizze zu den Örtlichkeiten des Verhörs mehrfach abänderte und die Umstände nicht authentisch darzustellen vermochte. Soweit er erklärte, vom Schuldirektor unter Druck gesetzt worden zu sein, sei keine Verfolgung oberhalb der asylrelevanten Verfolgungsschwelle festzustellen. Zudem habe er nach einem Wechsel auf eine andere Schule das Abitur ablegen können. Schließlich sei er unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Ereignisse in der Türkei nach Verzicht auf politische Betätigung von November 2017 bis März 2018 nicht mehr von staatlichen Repressionen betroffen gewesen zu sein. Eine exponierte politische Betätigung, die eine relevante Verfolgungsgefahr begründen könnte, liege nicht ansatzweise vor. Er sei nicht einmal Parteimitglied gewesen, habe lediglich Zeitungen verteilt und an Demonstrationen teilgenommen. Auch die eingebrachten Fotos und Internetlinks führen zu keiner anderen Einschätzung. Ein im März 2018 konkret fluchtauslösendes Ereignis ist nicht ersichtlich, insbesondere nicht, dass er aus einer ausweglosen Lage unter Furcht vor staatlicher Verfolgung aus der Türkei ausgereist sei. Auch sein ungeklärter Wehrdienststatus verhelfe dem Antrag nicht zum Erfolg. Die Wehrpflicht als solche und die Wehrpflichtpraxis der Türkei stellten grundsätzlich keine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung dar. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor. Auch Abschiebungsverbote seien nicht ersichtlich. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in der Türkei würden nicht zu der Annahme führen, dass bei einer Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sei angemessen. Schutzwürdige Belange seien nicht vorgetragen worden.
6
Gegen diesen am 7. Januar 2019 zu Post gegebenen Bescheid ließ der Kläger am 22. Januar 2019 Klage erheben mit dem Antrag,
7
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids vom 3. Januar 2019 zu verpflichten,
dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise dem Kläger subsidiären Schutzstatus anzuerkennen, hilfsweise Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
8
Weiter ließ er zur Begründung sein Vorbringen beim Bundesamt vertiefen und ergänzend ausführen, in der Türkei würden HDP-Mitglieder als Kritiker an der Türkei und ihrem Präsidenten unter Terrorismusverdacht gestellt, so dass ein HDP-Sympathisant wie der Kläger kein förmliches Mitglied wurde. Im Internet werde von Plänen auch gegen Sympathisanten der HDP berichtet und im Falle der Inhaftierung drohten dem Kläger willkürliche Gewalt und menschenrechtswidrige Behandlung.
9
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt und mitgeteilt, in der Visa-Datei lasse sich kein Eintrag eines polnischen Visums finden.
10
Die Regierung von Schwaben als Vertreterin des öffentlichen Interesses hat auf jegliche Zustellungen mit Ausnahme der Endentscheidung verzichtet.
11
Mit Beschluss vom 7. Mai 2020 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Mit der Ladung übersandte das Gericht eine aktuelle Erkenntnismittelliste.
12
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die von der Beklagten vorgelegte Behördenakte sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
13
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 3. Januar 2019 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
14
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
15
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
16
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen - den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG - muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
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Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
18
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16) entspricht.
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Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16).
20
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 17, 34). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377/382 Rn. 18) droht.
21
Soweit keine Beweiserleichterung wie bei Vorverfolgung oder in Widerrufsfällen nach Art. 4 Abs. 4 bzw. Art. 14 Abs. 2 RL 2011/95/EU greift, bleibt es im Umkehrschluss beim allgemeinen Günstigkeitsprinzip, wonach die Nichterweislichkeit von Tatsachen, aus denen ein Beteiligter für sich günstige Rechtsfolgen herleitet, zu seinen Lasten geht, also der Schutzsuchende (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 26 ff.).
22
Das Tatsachengericht hat sich im Rahmen der o.g. tatrichterlichen Würdigung volle Überzeugung zur Gefahrenprognose zu bilden, also ob bei einer hypothetisch unterstellten Rückkehr des Schutzsuchenden in den behaupteten Verfolgerstaat diesem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Für die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit bedarf es weder einer eindeutigen Faktenlage noch einer mindestens 50%-igen Wahrscheinlichkeit. Vielmehr genügt - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt -, wenn bei zusammenfassender Würdigung die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 22). Lückenhafte Erkenntnisse, eine unübersichtliche Tatsachenlage oder nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet stehen ebenso wenig wie gewisse Prognoseunsicherheiten einer Überzeugungsbildung nicht grundsätzlich entgegen, wenn eine weitere Sachaufklärung keinen Erfolg verspricht. Die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit darf aber nicht unter Verzicht auf die Feststellung objektivierbarer Prognosetatsachen auf bloße Hypothesen und ungesicherte Annahmen gestützt werden (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 22). Kann das Tatsachengericht dennoch keine Überzeugung gewinnen und bestehen keine Anhaltspunkte für eine weitere Sachverhaltsaufklärung, hat es die Nichterweislichkeit des behaupteten Verfolgungsschicksals festzustellen und nach o.g. Maßstäben eine Beweislastentscheidung zu treffen.
23
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
24
a) Die politische Lage in der Türkei stellt sich derzeit wie folgt dar:
25
Die Türkei ist nach ihrer Verfassung eine parlamentarische Republik und ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat und besonders den Grundsätzen des Staatsgründers Mustafa Kemal („Atatürk“) verpflichtet. Der - im Jahr 2014 erstmals direkt vom Volk gewählte - Staatspräsident hatte eine eher repräsentative Funktion; die Regierungsgeschäfte führte der Ministerpräsident. Durch die Verfassungsänderungen des Jahres 2018 ist die Türkei in eine Präsidialrepublik umgewandelt worden, in welcher Staats- und Regierungschef personenidentisch sind: Staatspräsidenten Erdoğan (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - im Folgenden: BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 5 ff. m.w.N.).
Im Parlament besteht von Verfassungs wegen ein Mehrparteiensystem, in welchem die seit dem Jahr 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdoğan die zahlenstärkste Fraktion darstellt. Die heutige Parteienlandschaft in der Türkei ist geprägt von drei Faktoren, die sich gegenseitig verstärken: Erstens herrschen zwischen den Parteien relativ stabile Größenverhältnisse in der Relation 4 zu 2 zu 1. Die AKP ist stets unangefochten stärkste Kraft. Mit klarem Abstand folgt die CHP, die in der Regel halb so viele Stimmen bekommt wie die AKP, und darauf die MHP mit wiederum circa der Hälfte der Stimmen der CHP. Die prokurdische Partei der Demokratie der Völker (HDP) hat sich erst in den letzten Jahren dauerhaft etabliert.
Zweitens sind die Wähler von drei der genannten Parteien relativ klar abgegrenzten Milieus zuzuordnen, die sich nicht nur nach ethnokulturellen Zugehörigkeiten unterscheiden lassen, sondern auch nach divergierenden Lebensstilen sowie schichtenspezifischen sozialen und wirtschaftlichen Lagen. Die AKP stützt sich primär auf eine türkischnational empfindende und ausgeprägt religiöse Wählerschaft mit konservativer Sittlichkeit und traditionellem Lebensstil, die eher den unteren Einkommens- und Bildungsschichten zuzurechnen ist. Die CHP dagegen vertritt die türkischsäkularen Schichten höheren Bildungsgrades mit einem europäischen Lebensstil und durchschnittlich deutlich höheren Einkommen. Ob im Hinblick auf Schicht oder Bildung, Modernität oder Konservatismus: Die MHP steht zwischen den beiden größeren Parteien. Charakteristisch für sie ist ein stark ethnisch gefärbter türkischer Nationalismus, der sich in erster Linie als bedingungslose Identifikation mit dem Staat und als starke Ablehnung kurdischer Identität äußert. Die HDP gibt sich als linke Alternative, wird jedoch generell als die Partei der kurdischen Bewegung wahrgenommen. Mehr noch als bei den anderen Parteien ist die ethnischnationale Komponente für die Zugehörigkeit ihrer Anhängerschaft bestimmend. Drittens verfügen drei der genannten Parteien über geographische Stammregionen mit einem eigenen Milieu. So ist die AKP in allen Landesteilen stark vertreten, hat aber ihr Stammgebiet in Zentralanatolien und an der Schwarzmeerküste. Die CHP hat an den Küsten der Ägäis und in zweiter Linie in Thrazien und am Mittelmeer großen Rückhalt; die HDP hingegen in den primär kurdisch besiedelten Regionen. Die klare Aufteilung folgt auch der wirtschaftlichen Entwicklung der Stammregionen, denn die CHP reüssiert in den ökonomisch am stärksten entwickelten Regionen, die keine oder nur wenig staatliche Förderung benötigen. Die AKP vertritt die immer noch eher provinziell geprägten Gebiete, die auf staatliche Infrastrukturleistungen und Investitionen angewiesen sind. Die HDP ist in den kurdischen besiedelten Gebieten zuhause, die als Schauplatz des türkischkurdischen Konflikts (dazu unten) besonders unterentwickelt sind. Wahlergebnisse in der Türkei bilden deshalb nicht primär Verteilungskonflikte ab, sondern Identitäten ihrer Wähler: In den europäischen Ländern, die türkische Arbeitsmigranten aufgenommen haben, stimmten weit über 60 Prozent für Erdoğan und seine AKP; dagegen votierten in den USA, wo sich die türkische Migration aus Akademikern und anderen Angehörigen der Mittelschicht zusammensetzt, weniger als 20 Prozent für die AKP (zum Ganzen Stiftung Wissenschaft und Politik - SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 2 f., www.swpberlin.org).
26
In der Wahl vom 1. November 2015 errang die AKP zwar 49,5% der Stimmen, ver fehlte aber die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3- bzw. 3/5-Mehrheit (mit anschließendem Referendum). Innenpolitisches Anliegen Erdoğans war der o.g. Systemwechsel hin zu einem exekutiven Präsidialsystem, was eine Verfassungsänderung voraussetzte. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 (dazu sogleich) hat die AKP Anfang Dezember 2016 einen Entwurf zur Verfassungsänderung hin zu einem solchen Präsidialsystem ins Parlament eingebracht, das dieses Gesetz mit der für ein Referendum erforderlichen 3/5-Mehrheit beschloss. Das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 erreichte die erforderliche Mehrheit; mittlerweile wurde das bislang geltende Verbot für den Staatspräsidenten, keiner Partei anzugehören, aufgehoben; Staatspräsident Erdoğan ist seit Mai 2017 auch wieder Parteivorsitzender der AKP. In der vorverlegten Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 hat er die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können; auch die regierende AKP errang bei der Parlamentswahl mit 42,5% der Stimmen die relative Mehrheit und zusammen mit den 11,2% Stimmenanteil der mit ihr verbündeten MHP auch die Mehrheit der Parlamentssitze (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 5, 7 f. - im Folgenden: Lagebericht; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 6 f.).
Durch die damit abgeschlossene Verfassungsänderung wurde Staatspräsident Erdoğan zugleich Regierungschef, denn das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Ohne parlamentarische Mitsprache ernennt und entlässt der Staatspräsident die Regierungsmitglieder, kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und vier der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) ernennen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 7, 22; Lagebericht ebenda S. 7). In den Kommunalwahlen vom 30. März 2019 verlor die AKP nach 20 Jahren die Stadt Ankara an die Opposition, ebenso die Großstädte Adana, Antalya und Mersin sowie in der Wiederholungswahl am 23. Juni 2019 auch das von ihr seit 25 Jahren regierte Istanbul, wo Staatspräsident Erdoğan einst als Bürgermeister seine politische Laufbahn begonnen hatte. Diese ist von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet. Zudem hatte Staatspräsident Erdoğan mehrmals erklärt, wer Istanbul regiere, regiere die Türkei (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 6).
27
In der Nacht vom 15./16. Juli 2016 fand in der Türkei ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Erdoğan statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegenstellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Erdoğan und die Regierung machten den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte Gülen-Bewegung (zu ihrer Entwicklung Lagebericht ebenda S. 4 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 12 f.) für den Putsch verantwortlich. Diese wurde als terroristische Organisation eingestuft und ihre echten oder mutmaßlichen Anhänger im Zuge einer „Säuberung“, die sich auch auf Anhänger der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) erstreckte, mit einer Verhaftungswelle überzogen. Gegen ca. 511.646 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, über 30.000 Personen befinden sich in Haft, darunter fast 20.000 Personen auf Grund von Verurteilungen. Über 154.000 Beamte und Lehrer an Privatschulen wurden vom Dienst suspendiert bzw. aus dem Militärdienst entlassen. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch die Ausrufung des Ausnahmezustands (Notstand), welcher der Exekutive erhebliche Handlungsvollmachten einräumte, mehrfach verlängert wurde und zwar am 19. Juli 2018 auslief, aber in einigen Bereichen in dauerhaft geltendes Recht überführt wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 4 f. - im Folgenden: Lagebericht; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 5, 7; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 8, 12, 23 f.). Zu diesen Regelungen gehören insbesondere die Ermächtigung der Gouverneure, Ausgangssperren zu verhängen, Demonstrationen und Kundgebungen zu verbieten, Vereine zu schließen sowie Personen und private Kommunikation intensiver zu überwachen (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik - SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 8, www.swpberlin.org; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 7).
Als Sicherheitsorgane werden die Polizei in den Städten, die Jandarma am Stadtrand und in den ländlichen Gebieten sowie der Geheimdienst (MIT) landesweit tätig; das Militär ging in den vergangenen Jahren seiner staatlichen Sonderrolle mit einer defacto-Autonomie gegenüber parlamentarischer Kontrolle als Hüter kemalistischer Grundsätze verlustig (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 9) und dem Verteidigungsminister als ziviler Instanz unterstellt mit der zusätzlichen Befugnis des Staatspräsidenten, den Kommandeuren der Teilstreitkräfte direkt Befehle zu erteilen (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 27). Durch die „Säuberungen“ in Folge des Putsches wurde sein innenpolitisches Gewicht gemindert und durch den Einmarsch in den grenznahen Gebieten Syriens wurden seine Kapazitäten nach außen gelenkt.
28
Neben dem Putschversuch im Juli 2016 prägt der Kurdenkonflikt die innenpolitische Situation in der Türkei, in welchem der PKK zugehörige oder von türkischen Behörden und Gerichten ihr zugerechnete Personen erheblichen Repressalien ausgesetzt sind (vgl. dazu unten). Die PKK (auch KADEK oder KONGRA-GEL genannt) ist in der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet (vgl. Rat der Europäischen Union, B.v. 4.8.2017 - (GASP) 2017/1426, Anhang Nr.
II. 12, ABl. L 204/95 f.) und unterliegt seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland einem Betätigungsverbot; ihre Anhängerzahl wird hier auf rund 14.000 Personen geschätzt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, www.verfassungsschutz.de/de/ arbeitsfelder/afauslaenderextremismusohneislamismus/wasistauslaenderextremismus/ arbeiterparteikurdistanspkk, Abfrage vom 26.4.2018). Die PKK wird als die schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland eingestuft; sie sei in der Lage, Personen weit über den Kreis der Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Trotz weitgehend störungsfrei verlaufender Veranstaltungen in Europa bleibe Gewalt eine Option der PKK-Ideologie, was sich nicht zuletzt durch in Deutschland durchgeführte Rekrutierungen für die Guerillaeinheiten zeige (Bundesamt für Verfassungsschutz, ebenda).
29
b) Eine Gruppenverfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kur den haben Asylbewerber aus der Türkei nicht zu befürchten. Kurden gehören zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor (vgl. SächsOVG, B.v. 9.4.2019 - 3 A 358/19 - Rn. 13; BayVGH, B.v. 10.2.2020 - 24 ZB 20.30271 - Rn. 6).
30
c) Eine Gruppenverfolgung wegen einer alevitischen Religionszugehörigkeit hat der Kläger weder behauptet, noch sonst zu befürchten.
31
d) Eine individuelle Verfolgung wegen einer Zugehörigkeit/Zurechnung zur HDP hat der Kläger nicht zu befürchten.
32
aa) Der Kläger hat zwar beim Bundesamt ausführlich darauf hingewiesen, er sei beim Zeitungsaustragen, beim Werben und beim Demonstrieren für die HDP als deren Sympathisant Opfer polizeilicher Willkür geworden, was das Bundesamt schon nicht als glaubhaft einstuft.
33
Ungeachtet der Glaubwürdigkeit ist dem Kläger aber nach eigenen Angaben in der Zeit zwischen November 2017 und der Ausreise im März 2018 am Heimatort bzw. in der Heimatregion, wo zuvor die Übergriffe stattgefunden haben sollen, nichts mehr passiert. Er lebte - politisch passiv - rund ein halbes Jahr unbehelligt dort (BAMF-Akte Bl. 74 f.). In der mündlichen Verhandlung gab er an, er sei weiterhin verfolgt worden, gleichwohl sei er in Ruhe gelassen worden (vgl. Protokoll vom 22.7.2020 S. 3). Auf Nachfrage seiner Bevollmächtigten räumte er ein, ab November 2017 habe er auch keine Zeitungen mehr verteilt, aber sich mit der HDP-Jugend noch getroffen (vgl. Protokoll vom 22.7.2020 S. 5). Demnach knüpfte die polizeiliche Willkür an seine Aktivitäten bzw. sein Erscheinen in der Öffentlichkeit am Heimatort an; ein ihn als Person darüber hinaus treffendes polizeiliches Interesse ist nicht erkennbar.
34
Dies wird auch bestätigt durch die unbehelligte Ausreise mit eigenem Reisepass trotz der bekannt strengen Grenzkontrollen: Da in der Türkei strenge Ausreisekontrollen stattfinden, wird türkischen Staatsangehörigen, gegen welche ein vom türkischen Innenministerium oder von einer Staatsanwaltschaft verhängtes Ausreiseverbot vorliegt und die auf einer entsprechenden Liste stehen, bereits die Erteilung eines Reisepasses versagt oder sie werden bei Besitz eines Reisepasses an der Ausreise gehindert (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF vom 11.6.2018, S. 1 f.; näher dazu unten). Ein Personalausweis hingegen wird ausgestellt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 14). Ob eine Ausstellung eines Reisepasses und eine unbehelligte Ausreise auch durch Bestechung erlangt werden können, kann nicht ausgeschlossen werden (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 15 und 16); im Allgemeinen aber ist eine unbehelligte Ausreise ein Indiz gegen das Vorliegen eines Haftbefehls oder einer Ausreisesperre (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 10.4.2019 an das VG Regensburg, S. 2 f. zu Frage 7) und damit gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse.
35
Gegenteiliges ist auch hier nicht ersichtlich. Vielmehr hat der Kläger den Reisepass selbst beantragt, wohl 2015 auch erhalten (vgl. Protokoll vom 22.7.2020 S. 2) und dieser ist nicht annulliert worden, da der Kläger mit ihm unbehelligt ausreisen konnte und vom Schleuser nur ein Visum für die Einreise nach Polen (vgl. Protokoll vom 22.7.2020 S. 2), aber nicht zusätzlich einen falschen Reisepass für die Ausreise benötigte.
36
bb) Es kann daher offenbleiben, ob die vom Kläger geschilderten Ereignisse tatsächlich so stattfanden, was die Beklagte bezweifelt, und ob nicht nur Mitglieder, sondern auch Sympathisanten der HDP mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen einer Zugehörigkeit/Zurechnung zur HDP zu befürchten hätten, da dies beim Kläger in den letzten sechs Monaten bis zu seiner Ausreise jedenfalls nicht (mehr) der Fall war, als er unverfolgt und - auch bei routinemäßigen Personalienfeststellungen an einer Kontrollstelle (vgl. Protokoll vom 22.7.2020 S. 4) - unbehelligt blieb und problemlos auf dem Luftweg ausreisen konnte.
37
e) Der Kläger konnte auch mit seinem individuellen Vortrag sonst nicht glaubhaft machen, dass ihm in der Türkei eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht.
38
Hierbei ist der Bescheidsbegründung der Beklagten zu folgen, wonach der Kläger außer den soeben gewürdigten Willkürmaßnahmen - ihren tatsächlichen Ablauf vorläufig unterstellt - sonst keine an ihn individuell gerichteten Bedrohungen oder gar Übergriffe geschildert hat, sondern angab, außer dem Geschilderten habe er in der Türkei keine Probleme mit der Polizei oder Behörden gehabt (ebenda Bl. 75).
39
Solche Verfolgungsmaßnahmen drohen ihm im Fall seiner Rückführung in die Türkei daher auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
40
aa) Gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse spricht bereits die unbehelligte Aus reise mit eigenem Reisepass (vgl. oben).
41
bb) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG durch Anwendung physischer oder psychischer sowie sexueller Gewalt droht dem Kläger jedenfalls landesweit nicht.
42
In der Behandlung Straftatverdächtiger zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits verfolgt die Türkei offiziell eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter des Staates und hat seit dem Jahr 2008 ihre vormals zögerliche strafrechtliche Verfolgung von hiergegen verstoßenden Soldaten, Gendarmen und Polizeibeamten nachweisbar verbessert. Allerdings kommt es vor allem mangels Kooperation der Behörden bei der Tatsachenfeststellung nur in wenigen Einzelfällen tatsächlich zu Verurteilungen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 16, 22 - im Folgenden: Lagebericht; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 28 f.). Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 kommt es wieder vermehrt zu Folter- und Misshandlungsvorwürfen gegen Strafverfolgungsbehörden. Zwar rückt die Türkei nach Ansicht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen über Folter nach seinem Besuch im November 2016 nicht von ihrer Null-Toleranz-Politik ab. In unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Putschversuch und im Rahmen des Vorgehens der Sicherheitskräfte gegen die PKK im Südosten des Landes kamen bzw. kommen allerdings Misshandlungen von in Gewahrsam befindlichen Personen vor. Dem entsprechend weist auch der Sonderberichterstatter auf das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit der Null-Toleranz-Politik hin. Ob es darüber hinaus wieder vermehrt zu Misshandlungen im Polizeigewahrsam kommt, kann nach Auffassung des Auswärtigen Amts noch nicht abschließend beurteilt werden, zumal Menschenrechtsorganisationen davon berichten, dass Dritten der Zugang zu ärztlichen Berichten über den Zustand inhaftierter bzw. in Gewahrsam genommener Personen häufig verweigert wird und eine unabhängige Überprüfung von Foltervorwürfen nur schwer möglich ist (vgl. Lagebericht, ebenda S. 16, 22; eine Zunahme der Berichte über Misshandlungen in Polizeigewahrsam bestätigt AI, Auskunft vom 23.4.2019 an das VG Karlsruhe, S. 2 f.; AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 28.1.2020, S. 1 f.; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 17 f.; Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 3). Teils wird auf im Erlassweg eingeräumte Straffreiheit der entsprechend der Notstandsverordnungen tätigen Staatsbediensteten verwiesen (vgl. AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S. 2). Misshandlungen von am Putschversuch Beteiligter wie Piloten und Offiziere in den ersten Tagen nach dem Putschversuch im Juli 2016 werden aber als gesichert angesehen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 4.4.2017, S. 2; AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 3; offiziell genehmigte Fotos gefolterter Offiziere bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 20; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 19 f.).
43
Das Risiko solcher Misshandlungen ist für der PKK oder der Gülen-Bewegung zu gerechnete Personen erhöht (vgl. AI, Auskunft vom 23.4.2019 an das VG Karlsruhe, S. 3), nicht aber für Inhaftierte aus dem Bereich des islamistischen Extremismus wie IS-Verdächtige. Für ein strukturell bestehendes Risiko von Misshandlungen von IS-Verdächtigen oder gehäufte Einzelfälle solcher Misshandlungen gibt es nach Recherchen des Auswärtigen Amts unter Einbeziehung von Menschenrechtsorganisationen keine Anhaltspunkte (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 12.3.2018). Dass Gülen-Verdächtigte in Strafhaft mit systematischer Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu rechnen hätten. lägen keine Erkenntnisse vor (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 1 f). Gleichwohl gibt es auch Hinweise, dass wegen der Vertretung von wegen PKK- oder „FETÖ“-Verdachts angeklagter Personen selbst verhaftete Rechtsanwälte in staatlicher Haft misshandelt wurden und das türkische Parlament entsprechenden Beschwerden nicht nachgeht (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 15 ff.).
44
Vorliegend spielten sich alle vom Kläger geschilderten willkürlichen Übergriffe in seiner Heimatstadt bzw. Heimatregion ab, wie auch die Antworten des Klägers auf Nachfragen der Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung bestätigten (vgl. Protokoll vom 22.7.2020 S. 3 ff.), und endeten, als er seine politischen Aktivitäten vor Ort jedenfalls nach außen hin weitgehend reduzierte (vgl. oben) Zusammen mit seiner unbehelligten Ausreise ist nicht von einem landesweiten Verfolgungsinteresse des türkischen Staats an der Person des Klägers auszugehen, so dass sich die geschilderten Vorfälle jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit, insbesondere nicht in Großstädten wie der nun von der Opposition regierten Großstadt Istanbul, wiederholen würden.
45
cc) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung droht nicht. Ein Strafverfahren gegen den Kläger ist nicht ersichtlich.
46
dd) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung droht nicht.
47
Nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ist eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt dann als Verfolgungshandlung zu qualifizieren, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, sich also als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden.
48
Zwar unterliegt ein Mann grundsätzlich der gesetzlichen Wehrpflicht, die in der Türkei ab dem 20. Lebensjahr beginnt. Der Wehrdienst wird in den Streitkräften oder der Jandarma abgeleistet. Söhne und Brüder gefallener Soldaten können vom Wehrdienst befreit werden; im Ausland lebende Türken können sich gegen ein Entgelt freikaufen, das zunächst mit Änderung des Wehrgesetzes im Januar 2016 von 6.500 Euro auf 1.000 Euro gesenkt und 2018 auf 2.000 Euro erhöht wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 17 - im Folgenden: Lagebericht). Das am 25. Juni 2019 in Kraft getretene neue Wehrgesetz verkürzte die Dauer der Wehrpflicht zudem von zwölf auf sechs Monate, wobei männliche türkische Staatsbürger nur noch eine einmonatige militärische Ausbildung absolvieren müssen und sich von den restlichen fünf Monaten ihres Wehrdienstes unter Zahlung von 31.000 TL (ca. 4.725 Euro) freikaufen können. Dies gilt auch für bereits Wehrdienst leistende Männer. Nach sechs Monaten kann freiwillig gegen Entgelt weiter gedient werden (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 36).
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Wer wehrpflichtig ist, aber sich der Musterung entzieht, gilt als „Musterungsflüchtiger“, was eine Ordnungswidrigkeit darstellt und mit Geldstrafen geahndet wird. Die Verjährung richtet sich nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht und greift proportional zur Höhe der Geldbuße nach drei, vier oder fünf Jahren Verjährungsfrist. Wer sich nach erfolgter Musterung und Einberufung dem Wehrdienst entzieht, gilt als „Wehrdienstflüchtiger“, was eine Straftat darstellt und mit Geldstrafen geahndet wird, die in der Höhe von der Dauer der Wehrdienstentziehung sowie davon sind, ob der Wehrdienstflüchtige sich stellt oder gefasst wird. Die Verjährung richtet sich nach Art. 66 tStGB und greift, wenn der Wehrdienstflüchtige sich stellt oder gefasst wird (zum Ganzen Deutsche Botschaft Ankara, Auskunft vom 1.6.2017 an das BAMF, S. 2). Das aktuelle Wehrpflichtgesetz vom 25. Juni 2019 sieht für Wehrdienstflüchtige eine Verwaltungsgeldstrafe/Geldbuße vor. Meldet sich der flüchtige freiwillig, muss er für jeden Tag der Wehrdienstentziehung 5 TL Zahlen; im Falle der Ergreifung das Doppelte nach Art. 17 Abs. 7 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten Nummer 5326. Anders als zuvor sieht das aktuelle Wehrdienstgesetz Nummer 7179 nur eine Geldstrafe (statt früher wohl einer Haftstrafe) vor (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.1.2020 an das VG Augsburg zu Frage 3h).
50
In der Türkei gibt es kein Recht zur Verweigerung des Wehrdienstes oder einen Anspruch auf Ableistung eines Ersatzdienstes. Musterungsverweigerer, Wehrdienstverweigerer und Fahnenflüchtige werden strafrechtlich verfolgt. Wehrdienstpflichtige werden im zentralen elektronischen Fahndungsregister (GBT) erfasst; Sicherheitsbeamte an der Grenze und im Inland können an Hand der Identitätsnummer des Betroffenen einen Eintrag im GBT prüfen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 7). Wehrdienstentziehung wird in der Türkei zunächst mit einer Geldbuße geahndet unter Berücksichtigung der Zeitspanne des Wehrdienstentzugs sowie ob sich der Betroffene selbst bei den Wehrbehörden gemeldet hat oder festgenommen wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 6). Wird ein erlassener Bußgeldbescheid bestandskräftig und meldet sich der Betroffenen danach nicht bei der Wehrbehörde zum Dienstantritt, können auch Freiheitsstrafen zwischen 2 und 36 Monaten verhängt werden; in der Regel wird von der Mindeststrafe Gebrauch gemacht und können kurzzeitige Gefängnisstrafen nach Art. 50 tStGB u.a. auch in Geldstrafen umgewandelt werden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 6). Seit Änderung von Art. 63 tMilStGB ist bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Geldstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich, insbesondere nach Art. 67 tStGB bei Flucht ins Ausland. Die Verjährungsfrist richtet sich nach Art. 66e tStGB und beträgt zwischen fünf und acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtlinge werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen (vgl. Lagebericht ebenda S. 18; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom S. 40). Die Vollstreckung solcher Haftstrafen wurde wegen Platzmangels in den Haftanstalten regelmäßig aufgeschoben, so dass fast niemand eine solche Haftstrafe verbüßen musste; auch nach einer Gesetzesänderung, dass Haftstrafen über drei Monaten verbüßt werden müssten, wird der Haftantritt aus demselben Gründen aufgeschoben (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 10). Die Haftbedingungen in Militärhaftanstalten unterscheiden sich nach Kenntnis des Auswärtigen Amts grundsätzlich nicht von jenen in anderen Haftanstalten; das türkische Wehrrecht sieht eine Haft in einer Militärhaftanstalt jedoch erst vor, wenn ein Wehrpflichtiger während des Ableistens des Wehrdienstes wegen einer Straftat verurteilt wird (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 7). Wehrdienstflüchtige werden auch nicht per Hausdurchsuchung am Wohnort, sondern per GBT gesucht (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 6) und dürften daher beim Grenzübertritt auffallen sowie - im Falle eines Haftbefehls - in Untersuchungshaft genommen werden (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 12).
51
Soweit bis zum Jahr 2009 Personen die türkische Staatsangehörigkeit aberkannt wurde, die sich dem Wehrdienst entzogen hatten, können sie mittlerweile durch Novellierung des türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes unabhängig von ihrem Wohnsitz wieder die Staatsangehörigkeit erhalten (vgl. Lagebericht ebenda S. 18) und unterliegen dann weiterhin der Wehrpflicht (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 6).
52
Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für das türkische System, das keinen Ersatzdienst und kein Verfahren vorsieht, in dem dargelegt werden kann, ob die Voraussetzungen einer Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen vorliegen, eine Verletzung der von Art. 9 EMRK garantierten Gewissensfreiheit angenommen, weil es keinen gerechten Ausgleich zwischen dem allgemeinen Interesse der Gesellschaft und jenem von Wehrdienstverweigern trifft (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.2018 - 1 VR 12/17 - juris Rn. 87; BVerwG, U.v. 6.2.2019 - 1 A 3.18 - juris Rn. 110 jeweils unter Verweis auf EGMR, U.v. 12.6.2012 - 42730/05). Allerdings bezog sich diese Bewertung eines angemessenen Ausgleichs auf die Strafpraxis vor der Reform der Wehrstrafverfolgung mit einer deutlichen Milderung der vormals strengeren Strafen (vgl. oben), so dass die frühere Einschätzung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wegen der damals harten Mehrfachbestrafung auf das heute deutlich abgemilderte Sanktionensystem (vgl. oben: Geldbuße, Geldstrafe, Haftstrafe, die regelmäßig nicht vollstreckt, sondern umgewandelt oder aufgeschoben wird) so nicht mehr übertragbar ist (das übersieht BVerwG, U.v. 6.2.2019 - 1 A 3.18 - juris Rn. 110, ohne nähere Würdigung der aktuellen Auskunftslage zum Sanktionensystem und unter Verweis auf EGMR, U.v. 12.6.2012 - 42730/05).
53
Es ist daher gerade nicht ersichtlich, dass die Verhängung einer Geldbuße oder Geldstrafe oder im Wiederholungsfall einer Haftstrafe, die regelmäßig nicht vollstreckt, sondern umgewandelt oder aufgeschoben wird, keinen angemessenen Ausgleich zwischen der Durchsetzung des staatlichen Dienstanspruchs einerseits und der privaten Gewissensentscheidung des Betroffenen andererseits darstellte. Anhaltspunkte für eine im vorliegenden Fall abweichende Bewertung sind weder ersichtlich noch geltend gemacht.
54
Dessen ungeachtet läge hier auch keine Verletzung von Art. 9 EMRK vor. Sie setzt voraus, dass der Betroffene glaubhaft machen kann, dass er den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert. Eine solche Gewissensentscheidung setzt eine sittliche Entscheidung voraus, die der Kriegsdienstverweigerer innerlich als für sich bindend erfährt und gegen die er nicht handeln kann, ohne in schwere Gewissensnot zu geraten. Erforderlich ist eine Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen im Krieg und damit die eigene Beteiligung an jeder Waffenanwendung. Sie muss absolut sein und darf nicht situationsbezogen ausfallen (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.2018 - 1 VR 12/17 - juris Rn. 87; BVerwG, U.v. 6.2.2019 - 1 A 3.18 - juris Rn. 110 jeweils m.w.N.). Dies ist aufgrund der persönlichen Entwicklung, der Lebensführung, des bisherigen Verhaltens, der Einflüsse, denen er ausgesetzt war und noch ist, sowie aufgrund der Motivation seiner Entscheidungsbildung zu beurteilen (std. Rspr., BVerwG, U.v. 18.10.1972 - 8 C 46.72 - BVerwGE 41, 53/55; BVerwG, U.v. 24.10.1984 - 6 C 49.84 - BVerwGE 70, 216/221; BVerwG, U.v. 1.2.1989 - 6 C 61.86 - BVerwGE 81, 239/240 f.). Erforderlich ist eine Gesamtwürdigung aller in Betracht kommenden Umstände. Da die Gewissensentscheidung das Ergebnis innerer Erkenntnisprozesse ist, müssen durch das Gericht innere Vorgänge beurteilt werden. Hierbei kommt es maßgeblich auf die Schlüssigkeit und Glaubhaftigkeit des Vorbringens an (vgl. BVerwG, B.v. 3.8.2018 - 6 B 124.18 - beckonline Rn. 11 ff.).
55
Der bisher nur gemusterte und nicht einberufene, weil zurückgestellte (vgl. Protokoll vom 22.7.2020 S. 3) Kläger hat bei der Anhörung beim Bundesamt (BAMF-Akte Bl. 75) und auch in der Klagebegründung keine Gewissensgründe für eine Wehrdienstverweigerung geltend gemacht, sondern in der mündlichen Verhandlung angeführt, er fürchte einen Kriegseinsatz und Probleme wegen seiner Nähe zur HDP (vgl. Protokoll vom 22.7.2020 S. 3). Dies sind keine Gewissensgründe nach den o.g. Maßstäben; auch ist nicht ersichtlich, dass Wehrdienstleistende im auf sechs Monate verkürzten Wehrdienst überhaupt zum Kampfeinsatz gelangen (dazu sogleich), zumal sich die Türkei der Loyalität gegen ihren Willen einberufener kurdischer Wehrpflichtiger nur begrenzt sicher sein kann. Doch selbst bei einer Unterstellung, dass der Kläger aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigern würde, ergeben sich aus den angegebenen Erkenntnismitteln sich aber keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der türkische Staat Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen systematisch härter oder anders bestraft als andere Wehrdienstverweigerer (wie hier BVerwG, U.v. 6.2.2019 - 1 A 3.18 - juris Rn. 98). Auch die Klägerseite hat hierzu nichts Gegenteiliges vorgetragen. Deshalb fehlt es insoweit an der erforderlichen Kausalbeziehung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsmerkmal. Zudem ist kein unverhältnismäßiger Ausgleich zwischen der individuellen Gewissensfreiheit und dem staatlichen Anspruch auf Wehrdienstleistung ersichtlich angesichts der vergleichsweise milden Strafpraxis mit Geldstrafe, Aufschub und Umwandlung von Haftstrafen.
56
Soweit im vorliegenden Fall eine Strafverfolgung wegen Wehrdienstentziehung möglich ist, droht jedoch keine hinreichend wahrscheinliche Beteiligung an Kriegsverbrechen (vgl. BVerwG, U.v. 6.2.2019 - 1 A 3.18 - juris Rn. 98); besondere Umstände, aus denen sich ergibt, dass Strafmaßnahmen nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht gelten, sind nicht ersichtlich (als Maßstab bei EuGH, U.v. 20.11.2013 - C-472/13; BVerwG, U.v. 6.2.2019 - 1 A 3.18 - Rn. 98; BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 15). Insbesondere gibt es keine belastbaren Erkenntnisse, dass die Heranziehung zum Militärdienst an gruppenbezogenen Merkmalen bzw. persönlichen Merkmalen i.S.v. § 3b AsylG oder an der Volkszugehörigkeit (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 7) orientiert ist, mithin ein „Politmalus“ oder „Religionsmalus“ erfolgt. Im Gegenteil können z.B. homosexuelle Wehrpflichtige auf Antrag und nach ärztlicher Begutachtung grundsätzlich als für den Wehrdienst untauglich eingestuft werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 18 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 37 f.). Die Heranziehung zum Wehrdienst und die Bestrafung wegen seiner Verweigerung in der Türkei stellen daher keine politische Verfolgung dar (wie hier BVerwG, U.v. 6.2.2019 - 1 A 3.18 - juris Rn. 98; VG München, B.v. 5.4.2018 - M 1 S 17.46575 - juris Rn. 13 m.w.N.).
57
Kurden werden bei der Heranziehung zum Militärdienst ebenso wie bei einer Bestrafung wegen Militärdienstentziehung auch nicht aufgrund ihres Volkstums in asylerheblicher Weise benachteiligt. Die Heranziehung zum Militärdienst in der Türkei und die Bestrafung ihrer Nichtbefolgung stellen keine Form politischer Verfolgung dar, da sie allgemein gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen ausgeübt werden. Auch eine Militärdienstverweigerung durch Flucht ins Ausland wird ohne weitere Verdachtsmomente nicht als Sympathie für separatistische Bestrebungen ausgelegt. Es liegen schließlich auch keine Erkenntnisse darüber vor, dass Militärdienstpflichtige, die ihre Strafe wegen Dienstentziehung oder Fahnenflucht verbüßen, misshandelt werden oder in der vorausgehenden Polizei- oder Militärhaft generell Folter zu erleiden haben. Das gilt sowohl dann, wenn sich ein Militärdienstflüchtiger im Inland stellt oder er ergriffen wird, als auch insbesondere dann, wenn er bei der Einreise aus Deutschland von den Sicherheitsbeamten an der Grenze als solcher erkannt und festgenommen wird (zum Ganzen VG Aachen, U.v. 5.3.2018 - 6 K 3554/17.A - juris Rn. 44 m.w.N.). Die türkischen Wehrrechtsbestimmungen treffen keine Unterschiede wegen ethnischer Zugehörigkeiten türkischer Staatsbürger (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 6.3.2019 an das VG Augsburg zu Frage 7), auch nicht Kurden oder Aleviten (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 38 f.).
58
Die türkischen Streitkräfte setzen Wehrpflichtige gezielt in anderen Landesteilen als ihrer Herkunftsregion ein; nach kurdischen Angaben würden kurdischstämmige Rekruten gezielt in den Konfliktgebieten im Südosten eingesetzt, um den Alleinvertretungsanspruch der PKK für Kurden zu diskreditieren; für eine systematische Diskriminierung kurdischer oder alevitischer Minderheitenangehöriger in der Armee fehlten aber Anhaltspunkte (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 38 f.), auch wenn von Einzelfällen von Diskriminierungen und Misshandlungen bis hin zu Todesfällen anlässlich des Gebrauchs der kurdischen Sprache berichtet wird (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 37, 39).
59
Die türkischen Streitkräfte verwehren Anhängern der PKK eine Waffenausbildung Wehrpflichtiger oder treffen sonst Maßnahmen nur, wenn ihnen überhaupt bekannt ist, dass der Rekrut der PKK gedient hat (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21.8.2019 an das VG Augsburg zu Frage 2).
60
Der Einmarsch der türkischen Streitkräfte in Nordsyrien im Oktober 2019 mag möglicherweise völkerrechtswidrig sein. Belastbare Anhaltspunkte dafür, dass kurdischstämmige Wehrpflichtige hierbei eingesetzt werden, insbesondere (zuvor) musterungs- oder wehrdienstflüchtige Wehrpflichtige wie der Kläger, liegen ebenso wenig vor wie belastbare Anhaltspunkte dafür, dass über die militärischen Operationen hinaus von türkischer Seite gezielt Kriegsverbrechen begangen werden (solche Vorwürfe erhebt Amnesty International, ohne Datum, www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/syriensyrienamnestywirfttuerkischenstreitkraeftenundverbuendeten, Abruf vom 21.10.2019). Die türkische Armee habe vor einigen Jahren ihre Praxis beendet, Wehrpflichtige im Kampf einzusetzen (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 39). Dies gilt umso mehr, als kurdische Einheiten der YPG nach aktueller Nachrichtenlage das Grenzgebiet zur Türkei verlassen haben und Truppen des syrischen Assad-Regimes nach Norden vorgerückt sind mit der Bildung einer Pufferzone im grenznahen Gebiet. Eine türkischkurdische Konfrontation in Nord-Syrien und eine Fortdauer der Kämpfe wird damit weniger wahrscheinlich; erst recht ein dortiger Einsatz des Klägers im Fall seiner Rückkehr in die Türkei und seiner Einberufung zum Wehrdienst.
61
f) Soweit der Kläger - wie hier vorgetragen - lokal oder regional begrenzte Übergriffe erlitten hat oder befürchtet, kann er, da er nicht landesweit verfolgt ist (vgl. oben), diesen durch Umzug in andere Landesteile zumutbar ausweichen (§ 3e AsylG).
62
Die Gefahr einer Wiederholung der behaupteten Übergriffe ist in anderen Landesteilen unter den Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gemindert, weil die geschilderten Übergriffe nur räumlich begrenzten und nicht landesweiten Charakter hatten (vgl. oben).
63
Die Niederlassung ist dem Kläger auch in einem anderen Landesteil sprachlich, kulturell, sozial und wirtschaftlich zumutbar, insbesondere wäre dort auch mehr als sein Existenzminimum gesichert (zur landesweiten Existenzsicherung vgl. unten).
64
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
65
Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
66
Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch einen Konventionsstaat kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Ausländer im Zielstaat einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Dann ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung für den Konventionsstaat, den Betroffenen nicht in dieses Land abzuschieben (vgl. EGMR, 67 U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 173 m.w.N.).
67
Selbst wenn die vom Kläger geltend gemachte willkürliche Bedrohung und Misshandlung durch Polizei sich so abgespielt haben sollte und eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung begründen würde, wäre sie nicht landesweit beachtlich wahrscheinlich (vgl. oben) und könnte der Kläger lokal oder regional begrenzten Gefahren durch Umzug in andere Landesteile zumutbar ausweichen (§ 3e i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG).
68
3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen eben falls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
69
a) Dem Kläger steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschie bungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
70
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30285 - Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist. Die Gefahren müssen ein Mindestmaß an Schwere unter Berücksichtigung der Gesamtumstände aufweisen.
71
Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor:
72
aa) Der erwachsene, gesunde und erwerbsfähige Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären. Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert (std. Rspr., vgl. nur VG Augsburg. U.v. 28.1.2020 - Au 6 K 17.35104 - juris Rn. 62 ff. m.w.N.).
73
bb) Der Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei auch nicht wegen seiner Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
74
Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten - dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen - gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht ebenda S. 28; a.A. allerdings unter Verweis auf Quellen lediglich zum Risiko von Festnahmen und nicht von Folter VG Freiburg, U.v. 13.6.2018 - A 6 K 4635/17 - juris Rn. 28 ff.). Dem gegenüber wird geltend gemacht, dass der Bundesregierung keine Abschiebungen bzw. Auslieferungen dieses Personenkreises bekannt und daraus auch keine Rückschlüsse auf ihre Gefährdung zu ziehen seien (so AI, Auskunft vom 28.1.2020 an das VG Magdeburg, S. 2 f.).
Aufgrund eines Runderlasses des türkischen Innenministeriums dürfen keine Suchvermerke (insbesondere für Wehrdienstflüchtlinge oder zur Fahndung ausgeschriebene Personen) mehr ins Personenstandsregister eingetragen werden; vorhandene Suchvermerke sollen Angaben türkischer Behörden zufolge im Jahr 2005 gelöscht worden sein (vgl. Lagebericht ebenda S. 28). Allerdings werden Wehrdienstflüchtige aufgrund einer Fahnenflucht gesucht; eine Strafverfolgung erfolgt unabhängig vom politischen, biografischen und ethnischen Hintergrund; die Personendaten von Wehrdienstflüchtigen werden im nationalen Polizeiinformationssystem hinterlegt und sind dort für die Polizeibehörden abrufbar (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.1.2020 an das VG Augsburg zu Frage 3a-e). Das Verteidigungsministerium meldet Wehrdienstflüchtige dem Innenministerium zwecks Festnahme; im Fall der Festnahme wird der Wehrdienstflüchtige in „Obhut“ genommen und innerhalb der Dienstzeiten der nächsten Wehrbehörde überstellt; bei Festnahme außerhalb der Dienstzeit oder an Orten ohne Wehrbehörde werden sie nach Protokollierung des Sachverhalts durch die Sicherheitskräfte (Polizei und Jandarma) sofort freigelassen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.1.2020 an das VG Augsburg zu Frage 3f).
An Grenzübergängen werden im Rahmen der allgemeinen und erkenntnisbasierten Fahndung der türkischen Polizei mobile Kommunikationsendgeräte (Handy, Tablet, Laptop) von Reisenden ausgelesen, um insbesondere regierungskritische Beiträge / Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z.B. Einreiseverweigerung, Vernehmung, Mitnahme zur Dienststelle, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können (vgl. Lagebericht ebenda S. 32).
Zu beruflichen Perspektiven von vermeintlichen Gülen-Anhängern bei einer Rückkehr in die Türkei liegen keine Erkenntnisse vor (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 20).
75
In der Türkei finden strenge Ausreisekontrollen für alle Personen statt. Ein- und Ausreisedaten werden genauestens erfasst und die Reisenden in den entsprechenden türkischen Fahndungssystemen überprüft. Türkischen Staatsangehörigen, gegen welche ein vom türkischen Innenministerium oder von einer Staatsanwaltschaft verhängtes Ausreiseverbot vorliegt und die auf einer entsprechenden Liste stehen, wird die Erteilung eines Reisepasses versagt oder sie werden bei Besitz eines Reisepasses an der Ausreise gehindert. Bei bestehendem Ausreiseverbot kann ein Reisepass auch durch Bestechung kaum erlangt werden, denn seine Ausstellung erfordert, dass ein vorhandener Listeneintrag zuvor auf amtliche Veranlassung durch richterlichen Beschluss oder Beschluss des Innenministeriums gelöscht wird (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF vom 11.6.2018, S. 1 f.) sowie der Antragsteller zwecks Abnahme von Fingerabdrücken persönlich vorspricht (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.10.2018 an das BAMF, S. 1). Nach Regierungsangaben seien im Zuge der Ermittlungen gegen die Gülen-Bewegung über 155.000 Reisepässe annulliert worden für Ehepartner und Verwandte von dieser Bewegung zugerechneten Personen; für einen Teil der Betroffenen sei die Annullierung nach Ende des Ausnahmezustandes widerrufen worden (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 72). Ausreisesperren wurden im Juli 2016 für rund 200.000 Personen verhängt und im Juli 2018 für rund 150.000 Personen unter ihnen wieder aufgehoben; Auskünfte über bestehende Ausreisesperren können über die Datenbanken eDevlet des türkischen Innenministeriums und UYAP des türkischen Justizministeriums vom Betroffenen oder einem von diesem bevollmächtigten Rechtsanwalt sowie sogar durch Nachfragen bei der örtlichen Polizeistation durch bevollmächtigte Verwandte ersten Grades erlangt werden (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.10.2018 an das BAMF, S. 2; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 11.10.2018 an das BAMF, S. 2).
76
In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 28 f.). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher Gülen- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 2). Ein abgelehnter kurdischer Asylbewerber läuft bei der Rückkehr nicht Gefahr, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet zu werden; hat er sich in Deutschland für kurdische Rechte oder Organisationen aktiv eingesetzt oder z.B. regelmäßig an prokurdischen Demonstrationen teilgenommen, erhöht dies das Risiko (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3 f., 28 f.; auch SFH ebenda S. 2, 3, 10 f.).
77
cc) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK folgt auch nicht aus der nicht auszuschließenden Möglichkeit, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in die Türkei zur Ableistung des Wehrdienstes einberufen wird. Für eine im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bereits erfolgte Wehrdienstverweigerung, die eine Bestrafung nach sich ziehen könnte, bestehen keine Anhaltspunkte (siehe oben).
78
Zwar kann sich aus einem erst künftig zu erwartenden Geschehen ein Abschiebungsverbot ergeben, wenn bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung ein Kausalverlauf in Gang gesetzt worden ist, der bei ungehindertem Ablauf zwingend dazu führt, dass die Gründe für ein Abschiebungsverbot eintreten werden (BVerwG, B.v. 6.2.2019 - 1 A 3.18 - juris Rn. 110). Davon ist vorliegend aber nicht auszugehen. Zwar kommt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, U.v. 12.6.2012 - Nr. 42730/05 - Savda/Türkei), wonach hinsichtlich des türkischen Systems, das keinen Ersatzdienst und kein Verfahren vorsieht, in dem dargelegt werden kann, ob die Voraussetzungen einer Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen vorliegen, eine Verletzung der von Art. 9 EMRK garantierten Gewissensfreiheit angenommen wurde, weil es keinen gerechten Ausgleich zwischen dem allgemeinen Interesse der Gesellschaft und jenem von Wehrdienstverweigern trifft und die Wehrdienstverweigerer in der Türkei drohende Mehrfachbestrafung Art. 3 EMRK verletzt, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Betracht, wenn der Betroffene glaubhaft macht, dass er den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert (vgl. BVerwG, B.v. 6.2.2019 - 1 A 3.18 - juris Rn. 110 m.w.N.). Allerdings ergeben sich aus den dem Verwaltungsgericht Augsburg vorliegenden und angegebenen aktuellen und neueren Erkenntnismitteln (vgl. o.g. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 7 und 6d) aber keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der türkische Staat Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen systematisch härter oder anders bestraft als andere Wehrdienstverweigerer. Zudem ist kein unverhältnismäßiger Ausgleich zwischen der individuellen Gewissensfreiheit und dem staatlichen Anspruch auf Wehrdienstleistung ersichtlich angesichts der vergleichsweise milden Strafpraxis mit Geldstrafe, Aufschub und Umwandlung von Haftstrafen (siehe oben).
79
Auch die Klägerseite hat hierzu nichts Gegenteiliges vorgetragen.
80
b) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall des Klägers nicht vor.
81
4. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.