Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 25.06.2020 – AN 6 K 18.00384
Titel:

Keine Erstattung von Jugendhilfekosten bei fehlender Unbegleitetheit eines minderjährigen Flüchtlings

Normenketten:
BayAufnG Art. 7 Abs. 1, Art. 8
SGB VIII § 7, § 34, § 89d Abs. 1
Leitsätze:
1. Unbegleitet ist ein Minderjähriger, wenn er zum jeweils maßgeblichen Zeitpunkt oder im maßgeblichen Zeitraum entweder völlig allein ist oder wenn die Personen, in deren Obhut er steht, nicht personensorgeberechtigt oder zumindest erziehungsberechtigt sind. Maßgeblicher Zeitraum im Sinne des Art. 7 AufnG ist der Zeitraum der Leistungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und der Gewährung der Maßnahme der Kinder- und Jugendhilfe, für die Kostenerstattung begehrt wird. Es ist nicht erforderlich, dass der Minderjährige bereits bei der Einreise unbegleitet war. Bei der Prüfung der Frage, ob der Minderjährige von Personensorgeberechtigten oder Erziehungsberechtigten begleitet wird, bleiben nach Sinn und Zweck der Regelungen zu unbegleiteten Minderjährigen Maßnahmen, die von öffentlich-rechtlichen Trägern getroffen wurden, grundsätzlich außer Betracht. (Rn. 21 – 23 und 33)
2. Im Rahmen des Art. 7 AufnG bedarf es keines Zusammenhangs zur Einreise; vielmehr genügt es, wenn der Minderjährige während der Zeit der Leistungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz unbegleitet ist oder wird. (Rn. 23 – 31)
Schlagworte:
Begriff des unbegleiteten Minderjährigen im Sinne des Art. 7 Abs. 1 AufnG, unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, Personensorgeberechtigter, Erziehungsberechtigter, Verantwortungsübernahme, volljähriger Verwandter, Unterbringung, Gemeinschaftsunterkunft, Jugendhilfe, Amtsvormund, Kostenerstattung, unbegleitete Einreise, nachträgliche Unbegleitetheit, Punktuation
Fundstelle:
BeckRS 2020, 18615

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.
3. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt im Klagewege die Erstattung von Kosten für erbrachte Jugendhilfeleistungen in Höhe von insgesamt 17.304,45 EUR nebst Prozesszinsen.
2
Der durch die Maßnahmen der Jugendhilfe begünstigte … (Begünstigter) ist syrischer Staatsangehöriger und wurde … 1999 geboren. Sein Vater ist nach Angaben des Begünstigten 2006 verstorben. Die Mutter des Begünstigten lebt im Irak. … reiste am 22. Juli 2015 gemeinsam mit seinem volljährigen Neffen oder Onkel …, geboren … 1995, in das Bundesgebiet ein. Asylantrag stellte er am 23. Oktober 2015. … übernahm laut Aktennotiz vom 25. Juli 2016 die Fürsorge für … In der Folgezeit kümmerte er sich jedoch nicht ausreichend um ihn und das Verhältnis der beiden verschlechterte sich deutlich. Vom 1. Oktober 2015 bis zum 29. September 2016 war … gemeinsam mit ihm in verschiedenen Gemeinschaftsunterkünften der Klägerin untergebracht. In dieser Zeit bestand nach Angaben des Begünstigten Kontakt zu seiner Familie im Irak (Hilfeplan. Sozialpädagogische Diagnostik vom 20. September 2016, S. 16 ff. der Akte der Klägerin). Bereits am 10. November 2015 wurde mit Beschluss des Amtsgerichts … - Familiengericht - unter dem Aktenzeichen … das Ruhen der elterlichen Sorge festgestellt und Frau …, …, zum Vormund bestellt. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Vater, … sei bereits 2006 verstorben, die Mutter könne die elterliche Sorge nicht ausüben, da sie nicht mit ihrem Sohn in das Bundesgebiet eingereist sei. Das Gericht verwies dabei auf § 1674 BGB i.V.m. Art. 6 Abs. 1 KSÜ. Am 14. September 2016 beantragte der Vormund Hilfe zur Erziehung für … Vom 30. September 2016 bis zum 31. Januar 2017 wurde … daraufhin aufgrund Bescheids der Klägerin vom 6. Oktober 2016 Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung gewährt. Er wurde in der … Jugendwohngruppe …, …, untergebracht. Am 23. Januar 2017 wurde … eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG erteilt.
3
Mit Schreiben vom 5. September 2016 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten Kostenerstattung in Höhe von 8.463,90 EUR für die Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung zugunsten … im Zeitraum vom 30. September 2016 bis zum 30. November 2016. Mit Schreiben vom 26. April 2017 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten Kostenerstattung in Höhe von 8.840,55 EUR für diese Maßnahme für den Zeitraum vom 1. Oktober 2016 bis zum 31. Januar 2017. Insgesamt beantragte die Klägerin Kostenerstattung in Höhe von 17.304,45 EUR. Beide Anträge wurden mit Schreiben vom 31. Januar 2018, bei der Klägerin eingegangen am 6. Februar 2018, abgelehnt. Zur Begründung wurde unter anderem angeführt, dass der nach Art. 7, 8 AufnG erforderliche Zusammenhang zwischen Einreise und Jugendhilfegewährung nicht vorliege. Ein nachträgliches Unbegleitetwerden genüge nicht.
4
Daraufhin erhob die Klägerin mit Schreiben vom 27. Februar 2018 Klage und beantragte,
Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Kosten für die in der Zeit vom 30. September 2016 bis 31. Januar 2017 gemäß § 34 SGB VIII erbrachten Jugendhilfeleistungen in Höhe von 17.304,45 EUR gemäß Art. 7, 8 AufnG zuzüglich der zustehenden Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweils einschlägigen Basiszinssatz zu erstatten.
5
Die Klägerin steht auf dem Standpunkt, die Voraussetzungen der Art. 7, 8 AufnG seien erfüllt:
6
Die vorrangige Erstattungsvorschrift des § 89d SGB VIII greife nicht ein und verdränge die Vorschriften des AufnG nicht. Weder nach dem Wortlaut des § 89d Abs. 1 SGB VIII (Beginn der Jugendhilfe innerhalb eines Monats nach der Einreise) noch nach der Regelung der sogenannten „Punktuation“ (Beginn der Jugendhilfe innerhalb eines Monats nach Kenntnis des unbegleiteten Aufenthalts durch das zuständige Jugendamt) sei eine Erstattung nach dieser Vorschrift möglich. Kenntnis des Jugendamtes liege bereits länger als einen Monat vor Beginn der Jugendhilfe am 30. September 2016 vor, da das Jugendamt bereits bei der Auswahl und Bestellung des Vormundes mitgewirkt habe.
7
Der Begünstigte sei bereits unbegleitet in das Bundesgebiet eingereist. Er sei nicht in Begleitung eines sorgeberechtigten Elternteils eingereist. … sei auch kein Erziehungsberechtigter im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII, da eine schriftliche Sorgerechtsübertragung oder Vollmacht der Mutter nicht vorliege.
8
Ein Zusammenhang zwischen Einreise, Unbegleitetwerden und Jugendhilfegewährung werde von Art. 7, 8 AufnG nicht vorausgesetzt (sollte der Begünstigte erst als nachträglich unbegleitet anzusehen sein). Von der Definition des Begriffs des unbegleiteten Minderjährigen in Art. 2 lit. e) der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates seien auch Fälle erfasst, in denen ursprünglich begleitete Minderjährige nach der Einreise allein zurückgelassen werden. Ein engeres Verständnis verstoße daher gegen europäisches Recht. Aus dem Wortlaut der Art. 7, 8 AufnG folge kein Erfordernis eines Zusammenhangs von Einreise, Unbegleitetwerden und Jugendhilfegewährung. Auch die Entstehungsgeschichte spreche gegen ein solches Verständnis des AufnG. Der Drucksache des Landtages vom 5. Februar 2002 (LT-Drs. 14/8632) sei kein Anhaltspunkt hierfür zu entnehmen. Aus dem AMS zur Erstattung von Jugendhilfeaufwendungen vom 6. Februar 2006 ergebe sich ein Erfordernis eines solchen Zusammenhangs ebenfalls nicht. Dieses Schreiben lasse, da es in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Verabschiedung der Art. 7, 8 AufnG erstellt wurde, auf den Willen des Landesgesetzgebers schließen. Sinn und Zweck der Art. 7, 8 AufnG sprächen ebenfalls dagegen. Art. 7, 8 AufnG seien zu dem Zweck geschaffen worden, Lücken in der Anwendung des § 89d SGB VIII zu schließen. Die Jugendhilfeträger sollten von den Kosten von Aufgaben, die nicht in der örtlichen Gemeinschaft wurzelten, entlastet werden. Art. 7, 8 AufnG seien nicht exakt genau so zu verstehen wie § 89d SGB VIII, da § 89d SGB VIII von einem anderen Gesetzgeber zu einem anderen Zeitpunkt und mit einer anderen Zielsetzung erlassen worden sei. Zudem sei zu beachten, dass Art. 7, 8 AufnG bis zur Einfügung von Art. 7 Abs. 3 AufnG hauptsächlich als Anspruchsgrundlage für Kostenerstattungen für Leistungen zugunsten unbegleiteter Minderjähriger herangezogen worden seien.
9
Der Beklagte, vertreten durch die Regierung …, beantragt
Klageabweisung.
10
Er steht auf dem Standpunkt, die Voraussetzungen der Art. 7, 8 AufnG seien nicht erfüllt:
11
Die Klägerin habe bereits im August 2015 von der unbegleiteten Einreise Kenntnis gehabt. Ein Vormund sei mit Beschluss vom 10. November 2015 bestellt worden. Der Anwendungsbereich der Art. 7, 8 AufnG sei nicht eröffnet, da die vorrangige Erstattungsnorm des § 89d Abs. 1 SGB VIII eingreife. Nach den Regeln der „Punktuation“ sei die Frist in § 89d Abs. 1 SGB VIII derart zu modifizieren, dass die Kenntnis des zuständigen Jugendamtes von der unbegleiteten Einreise ausreiche. Bei einer derartigen Modifikation sei die Erstattung auf diesem Wege noch möglich.
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Darüber hinaus seien die Voraussetzungen der Art. 7, 8 AufnG nicht erfüllt. Es fehle an einem Zusammenhang zwischen Einreise, Unbegleitetwerden und Jugendhilfegewährung. Dies folge aus dem Umstand, dass der Begünstigte begleitet in das Bundesgebiet einreiste. Sein Neffe oder Onkel … erfülle nämlich die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII. Entgegen der Auffassung der Klägerin sei stillschweigendes oder schlüssiges Handeln der sorgeberechtigten Eltern ausreichend. Eine schriftliche Sorgerechtsübertragung oder Vollmacht sei nicht erforderlich. Dass der Begünstigte möglicherweise später als unbegleitet (nachträglich unbegleitet) angesehen werden könne, sei nicht ausreichend. Weitere Voraussetzung der Art. 7, 8 AufnG sei ein Zusammenhang zwischen Einreise, Unbegleitetwerden und Jugendhilfegewährung. Nur, wenn eine unbegleitete Einreise vorliege, die Jugendhilfe alsbald (spätestens einen Monat ab der Einreise bzw. der Kenntnis von der Unbegleitetheit) gewährt werde und beides, Unbegleitetheit und Jugendhilfegewährung, ununterbrochen andauerten, könne Kostenerstattung nach Art. 7, 8 AufnG verlangt werden. Auch, wenn sich dies - anders als im Falle des § 89d SGB VIII - nicht aus dem Wortlaut der Art. 7, 8 AufnG ergebe, seien die landesrechtlichen Vorschriften nicht anders zu verstehen als die bundesrechtliche Erstattungsnorm. Ein solches Verständnis der Erstattungsnorm sei nicht europarechtswidrig. Die Definition in Art. 2 lit e) der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates könne einer anderen Definition auf der Ebene der Kostenerstattung nicht entgegenstehen, da eine richtlinienkonforme Behandlung der Geflüchteten durch die Kostenerstattung nicht eingeschränkt werde. Soweit sich die Klägerin auf das AMS vom 6. Februar 2006 stütze, könne sie nicht durchdringen. Dieses AMS gelte nicht mehr. Stattdessen seien die Auslegungshinweise des BMFSFJ vom 14. April 2016, die Ergebnisse der „Arbeitsgruppe Kostenerstattungsverfahren bei unbegleiteten Minderjährigen“ vom 27. Juli 2016, vom 6. und 18. April 2016 und vom 27. Januar 2016 und die Regelungen der sogenannten „Punktuation“ („Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur verfahrenstechnischen Umsetzung des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher“ vom 27. November 2015 und vom 12. Februar 2016) heranzuziehen. Aus diesen ergebe sich, dass ein Zusammenhang zwischen Einreise, Unbegleitetwerden und Jugendhilfegewährung bestehen müsse. Dies ergebe sich auch aus einem Rundschreiben des ZBFS vom 17. August 2016. Zu beachten sei darüber hinaus, dass sich die Konzeption des Landesgesetzgebers zwischenzeitlich geändert habe. Mit Einführung des Verteilungssystems am 1. November 2015 sei das Bedürfnis, die Einreiseorte finanziell zu entlasten, nicht mehr gegeben, da nunmehr die unbegleitet einreisenden Minderjährigen zentral verteilt werden würden. Deshalb werde die landesrechtliche, subsidiäre Kostenerstattung zum 31. Oktober 2022 vollständig entfallen. Den Drucksachen des Landtages vom 1. Mai 2002 (LT-Drs. 14/8632) und vom 1. November 2012 (LT-Drs. 16/12538) sei keine Aussage zu entnehmen, dass auch nachträglich unbegleitet werdende Minderjährige in den Anwendungsbereich der Art. 7, 8 AufnG fallen sollten. Aus der Landtagsdrucksache 17/15589 ergebe sich vielmehr die gesetzgeberische Absicht einer Harmonisierung von § 89d SGB VIII und Art. 7, 8 AufnG.
13
Mit Telefax-Schreiben vom 23. März 2020 und 25. März 2020 verzichteten die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
14
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Behördenakten und die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
15
Das Urteil kann gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung ergehen, da die Beteiligten wirksam auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichteten.
II.
16
Die Klage wurde als allgemeine Leistungsklage zulässig erhoben.
III.
17
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch auf Kostenerstattung nicht zu.
18
1. Grundlage des Kostenerstattungsanspruchs sind Art. 7 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die Aufnahme und Unterbringung der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (Aufnahmegesetz - AufnG) vom 24. Mai 2002 (GVBl. S. 192, BayRS 26-5-I), das zuletzt durch § 1 Abs. 275 der Verordnung vom 26. März 2019 (GVBl. S. 98) geändert worden ist (im Folgenden: AufnG).
19
2. Nach Art. 7 Abs. 1 AufnG ist der Freistaat Bayern den Trägern der Jugendhilfe erstattungspflichtig, soweit unbegleitete minderjährige Personen, die nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes leistungsberechtigt sind, Anspruch auf Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe - (SGB VIII) haben. Die Erstattungspflicht ist gemäß Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG gegenüber einer Erstattung nach § 89d Abs. 1 SGB VIII nachrangig.
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Die anspruchsbegründenden Voraussetzungen liegen nicht vor, da der Begünstigte während des Zeitraums der streitgegenständlichen Jugendhilfegewährung nicht als unbegleitet anzusehen ist.
21
a) Unbegleitet ist ein Minderjähriger, wenn er zum jeweils maßgeblichen Zeitpunkt oder im maßgeblichen Zeitraum entweder völlig allein ist oder wenn die Personen, in deren Obhut er steht, nicht personensorgeberechtigt oder zumindest erziehungsberechtigt sind (aa). Maßgeblicher Zeitraum im Sinne des Art. 7 AufnG ist der Zeitraum der Leistungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und der Gewährung der Maßnahme der Kinder- und Jugendhilfe, für die Kostenerstattung begehrt wird. Es ist nicht erforderlich, dass der Minderjährige bereits bei der Einreise unbegleitet war (bb). Bei der Prüfung der Frage, ob der Minderjährige von Personensorgeberechtigten oder Erziehungsberechtigten begleitet wird, bleiben nach Sinn und Zweck der Regelungen zu unbegleiteten Minderjährigen Maßnahmen, die von öffentlich-rechtlichen Trägern getroffen wurden, grundsätzlich außer Betracht (cc). Der Begünstigte befand sich nach diesem Maßstab, während er nach dem Asylbewerberleistungsgesetz leistungsberechtigt war, in Begleitung eines Erziehungsberechtigten. Die jugendhilferechtliche Maßnahme durch die Klägerin führte nicht dazu, dass er nachträglich unbegleitet wurde (dd).
22
aa) Ein Minderjähriger ist unbegleitet, wenn er zum jeweils maßgeblichen Zeitpunkt oder im maßgeblichen Zeitraum entweder völlig allein ist oder wenn die Personen, in deren Obhut er steht, nicht personensorgeberechtigt oder zumindest erziehungsberechtigt sind. Der Begriff des unbegleiteten Minderjährigen ist im AufnG nicht ausdrücklich definiert. In systematischer Hinsicht kann er aber in Anlehnung an die beiden in § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und in § 42a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII ausdrücklich geregelten Begriffsbestimmungen definiert werden. In der Gesetzesbegründung zu § 42a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII wurde ausgeführt, die Vorschrift diene der Klarstellung. Sie entspreche inhaltlich der bislang übereinstimmenden Rechtsauffassung und der behördlichen Praxis (vgl. BT-Drs. 18/12086 vom 25.4.2017, S. 27). Zumindest der grundlegende Rechtsgedanke, dass weder personensorge- noch erziehungsberechtigte Personen vor Ort sind, stellt vor diesem Hintergrund einen verallgemeinerbaren Rechtsgedanken dar, weshalb dieses Begriffsmerkmal auch für den Regelungsbereich des AufnG als maßgeblich anzusehen ist.
23
bb) Maßgeblicher Zeitraum ist im Rahmen des Art. 7 AufnG der Zeitraum, in dem Leistungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz vorliegt und die Leistung der Kinder- und Jugendhilfe, für die Kostenerstattung begehrt wird, gewährt wird. Es ist nicht erforderlich, dass der Begünstigte bereits bei Einreise unbegleitet ist. Die Bezugnahme auf den Zeitpunkt der Einreise in § 42a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII ist spezifisch für die vorläufige Inobhutnahme vorgesehen. Zu Recht weist daher die Kommentarliteratur darauf hin, dass der Zeitpunkt der Einreise nur der für die vorläufige Inobhutnahme maßgebliche Zeitpunkt ist. Etwas anderes gilt bereits bei der dauerhaften Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII. Zudem wird darauf hingewiesen, dass auch hinsichtlich der vorläufigen Inobhutnahme aus europarechtlichen Gründen, wegen Art. 2 lit. m) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates, eine teleologische Reduktion bei nach der Einreise eintretender Unbegleitetheit vorzunehmen und auf den späteren Zeitpunkt der nachträglichen Unbegleitetheit abzustellen ist (vgl. Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Auflage 2018, § 42a Rn. 6). Im Rahmen des Art. 7 AufnG bedarf es dagegen keines Zusammenhangs zur Einreise; vielmehr genügt es, wenn der Minderjährige während der Zeit der Leistungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz unbegleitet ist oder wird. Dies beruht auf folgenden Erwägungen:
24
Der Wortlaut der Art. 7 und 8 AufnG bietet keine Anhaltspunkte für ein solches Erfordernis. Die Rede ist lediglich von unbegleiteten minderjährigen Personen. Sind diese im Sinne des Art. 1 AufnG und § 1 AsylbLG leistungsberechtigt und haben sie Anspruch auf Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, so kann der Träger der Jugendhilfe Erstattung verlangen. Der Begriff der „Einreise“ ist im Wortlaut der Vorschrift dagegen nicht genannt. Auch der Wortlaut des Art. 8 AufnG - der im Übrigen auch nur die Höhe des Kostenerstattungsanspruchs regelt - bietet keinen Anhaltspunkt für ein einschränkendes Verständnis der in Art. 7 Abs. 1 AufnG zugunsten des Jugendhilfeträgers weit gefassten Anspruchsvoraussetzungen. Auch dort wird der Begriff der „Einreise“ nicht genannt. Dass der Kostenerstattungsanspruch durch eine längere Unterbrechung der Jugendhilfemaßnahme, durch einen späten Beginn oder durch den Umstand zwischenzeitlicher Begleitung des Jugendlichen ausgeschlossen sein könnte, findet keine Andeutung im Wortlaut beider Vorschriften.
25
Auch der systematische Vergleich spricht gegen die Annahme einer einschränkenden Auslegung des Art. 7 Abs. 1 AufnG. Soll ein Bezug zur Einreise in der genannten Weise vorausgesetzt werden, so ist dies in den einschlägigen Vorschriften des Kinder- und Jugendhilferechts ausdrücklich geregelt. So heißt es in § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII: „unbegleitet nach Deutschland kommt“. Und § 42a Abs. 1 Satz 2 HS 1 SGB VIII nimmt ausdrücklich Bezug auf die „Einreise nicht in Begleitung“. Zudem sind die Fälle der Unterbrechung der Jugendhilfeleistung und des späten Beginns (nämlich einen Monat nach der Einreise) in § 89d Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII bzw. in § 89d Abs. 3 SGB VIII für diesen Kostenerstattungsanspruch ausdrücklich geregelt. Das Fehlen derartiger Bezugnahmen und Bestimmungen im Regelungsbereich des Art. 7 Abs. 1 AufnG kann vor diesem Hintergrund nur so verstanden werden, dass ein Bezug zur unbegleiteten Einreise, der sich in einem baldigen Beginn der Jugendhilfemaßnahme und ihrer höchstens kurz unterbrochenen Dauer zeigt, keine Voraussetzung der Kostenerstattung des Art. 7 Abs. 1 AufnG sein kann. Auch die Vorschrift des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG spricht nicht dafür, die - höchst unterschiedlich formulierten - Kostenerstattungsvorschriften des § 89d SGB VIII und des Art. 7 Abs. 1 AufnG gleich zu verstehen. Diese Vorschrift bringt lediglich zum Ausdruck, dass die Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1 AufnG nachrangig gegenüber der Kostenerstattung aus § 89d SGB VIII ist. Dass die Anspruchsvoraussetzungen der nachrangigen Erstattungsnorm zugunsten des Kinder- und Jugendhilfeträgers „großzügiger“ sind, ist bei Vorliegen eines solchen Vorrangverhältnisses nicht systemwidrig, sondern vielmehr zu erwarten.
26
Auch die Entstehungsgeschichte der landesrechtlichen Erstattungsnorm und ihr Zweck sprechen gegen ein Erfordernis eines Zusammenhangs zwischen Einreise, Unbegleitetsein und Jugendhilfegewährung.
27
Nach dem Entwurf der Neufassung des Aufnahmegesetzes vom 5. Februar 2002 ist der zentrale Zweck des Gesetzes, „alle nach dem Asylbewerberleistungsgesetz leistungsberechtigten Personen“ in den Geltungsbereich des AufnG einzubeziehen (LT-Drs. 14/8632 vom 5.2.2002, S. 1). In der Begründung heißt es allgemein: „Die Aufgaben- und Ausgabenzuständigkeit für alle Personen, die nach dem AsylbLG leistungsberechtigt sind, geht insgesamt auf den Staat über“ (LT-Drs. 14/8632 vom 5.2.2002, S. 4). Im Hinblick auf die Kosten für unbegleitete Minderjährige wird ausgeführt: „Um auch in diesem Bereich eine konsequente Regelung zu schaffen, erfolgt die Erstattung der Kosten der Kinder- und Jugendhilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nicht nur wie bisher bei asylsuchenden Personen, sondern bei allen unbegleiteten Minderjährigen, die zum Personenkreis der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gehören“ (LT-Drs. 14/8632 vom 5.2.2002, S. 5). In der Begründung zu Art. 7 AufnG wird dann ausgeführt: „Die Regelung gilt im Sinn eines einheitlichen und schlüssigen Vollzuges für alle unbegleiteten minderjährigen Personen, die zum Personenkreis der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gehören (LT-Drs. 14/8632 vom 5.2.2002, S. 7). Beabsichtigt war nach dem Gesetzesentwurf also die Kostenübernahme für alle Minderjährigen, solange sie unbegleitet und leistungsberechtigt nach dem AsylbLG sind. Dass ein besonderer Bezug zur Einreise gegeben sein muss, der nicht besteht, wenn die leistungsberechtigte, minderjährige Person erst nach der Einreise nicht mehr begleitet wird oder wenn die Kinder- und Jugendhilfe länger als einen Monat nach der Einreise begonnen wird oder die Kinder- und Jugendhilfe für einen längeren Zeitraum unterbrochen war, ist dem Entwurf dagegen nicht zu entnehmen. Im Gegenteil, in die Kostenerstattung einbezogen werden sollten die Kosten für alle Personen, die die ausdrücklich genannten Kriterien erfüllen. Eine Absicht, einen Gleichlauf der Erstattungsvoraussetzungen mit § 89d SGB VIII zu erreichen, wird dabei weder ausdrücklich erwähnt noch angedeutet.
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In dem Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Berufsbildungsgesetzes und des Aufnahmegesetzes vom 15. Mai 2012, mit dem insbesondere die Regelung zur Bestimmung des Verhältnisses von bundes- und landesrechtlicher Kostenerstattungsregelung in Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG eingefügt werden sollte, werden die Anspruchsgrundlagen des § 89d SGB VIII und des Art. 7 Abs. 1 AufnG als zwei nebeneinander stehende Kostenerstattungsverfahren beschrieben, die unterschiedliche Voraussetzungen haben, sich dabei aber teilweise überschneiden. Zweck der Änderung war eine Klarstellung des Rangverhältnisses - nach einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts Bayreuth war bis dahin vom Vorrang des Art. 7 Abs. 1 AufnG auszugehen (VG Bayreuth, U.v. 22.2.2010 - B 3 K 09.986 - BeckRS 2010, 37607) -, um eine Schlechterstellung Bayerns im bundesweiten Belastungsausgleich zu vermeiden. Von einer Synchronisierung beider Erstattungsnormen im Sinne eines Gleichlaufs der jeweiligen Anspruchsvoraussetzungen wurde dabei aber nicht gesprochen (vgl. LT-Drs. 16/12538 vom 15.5.2012, S. 4; ebenso stellte dies die zuständige Staatsministerin in der Plenarsitzung des Bayerischen Landtages vom 23.5.2012 dar, vgl. Bayerischer Landtag, Protokollauszug 102. Plenum, 23.5.2012, Tagesordnungspunkt 1c, S. 2). Ebenso wenig ist von dem Erfordernis eines Bezuges zur Einreise die Rede. Weder war dies Zweck der Änderung noch hat dies im Wortlaut des AufnG Ausdruck gefunden.
29
Allein in dem Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze vom 21. Februar 2017 (LT-Drs. 17/15589) wird ausgeführt: „Mit den geplanten Änderungen ist auch eine Harmonisierung der Kostenerstattung nach § 89d Abs. 1 und dem bisherigen Art. 7 AufnG, der die Refinanzierung von Kosten durch den Freistaat regelt, und damit eine erhebliche Verwaltungsvereinfachung und Entbürokratisierung verbunden“ (LT-Drs. 17/15589 vom 21.2.2017, S. 9). Beabsichtigt war aber nach dem Wortlaut und dem wesentlichen Regelungsgehalt des Änderungsgesetzes keine völlige Harmonisierung, die einen völligen Gleichlauf aller Anspruchsvoraussetzungen bewirkt hätte. Wesentliche Änderung - und Harmonisierung mit dem Bundesrecht - sollte die Unabhängigkeit der landesrechtlichen Kostenerstattung von dem Aufenthaltsstatus der unbegleiteten minderjährigen Person sein (vgl. LT-Drs. 17/15589 vom 21.2.2017, S. 1). Zudem heißt es: „Häufiger Anwendungsfall der subsidiären Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1 AufnG war zudem das unverschuldete Versäumnis der Monatsfrist gemäß § 89d Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII“ (LT-Drs. 17/15589 vom 21.2.2017, S. 11). Bereits daraus ist zu lesen, dass die Voraussetzungen beider Kostenerstattungsnormen - solange Art. 7 Abs. 1 AufnG zumindest übergangsweise noch anzuwenden ist - gerade nicht gleichlaufen sollen. Zugleich zeigt der Auszug aus der Begründung, dass das Verstreichenlassen der Monatsfrist nach dem Willen des Landesgesetzgebers nur ein - wenn auch häufiger - Anwendungsfall der subsidiären, landesrechtlichen Kostenerstattung sein sollte („häufiger“, nicht „einziger“ Anwendungsfall).
30
Die von dem Beklagten vorgelegten Auslegungshinweise des BMFSFJ, die Ergebnisse der „Arbeitsgruppe Kostenerstattungsverfahren bei unbegleiteten Minderjährigen“ und die Ergebnisse der „Punktuation“ führen zu keinem anderen Auslegungsergebnis. Das Gericht ist auch nicht an die in dieser Form niedergelegte Auffassung der Verwaltung gebunden. Rückschlüsse auf die Absichten des Gesetzgebers können angesichts des eindeutigen historischen, systematischen und Wortlautbefundes nicht aus diesen Dokumenten gezogen werden. Insbesondere sind Zweck des Gesetzes und der Wille des Gesetzgebers in den jeweiligen Gesetzesentwürfen eindeutig dargestellt.
31
Nach alledem spricht die Entstehungs- und Änderungsgeschichte des Art. 7 Abs. 1 AufnG gegen das Erfordernis eines Bezuges der Jugendhilfe und der Unbegleitetheit zur Einreise. Nach dem Willen des Gesetzgebers war Art. 7 Abs. 1 AufnG stets eine gegenüber dem Bundesrecht nachrangige, aber eigenständige Kostenerstattungsregelung, die die vollständige Kostenerstattung für alle unbegleiteten und nach dem AsylbLG berechtigten Minderjährigen gewährleisten sollte. Ein Gleichlauf der Voraussetzungen von § 89d SGB VIII und Art. 7 Abs. 1 AufnG würde dem Zweck, eine vollständige Kostenerstattung zu gewährleisten, gerade zuwiderlaufen.
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cc) Personensorgeberechtigt sind nach § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII die Eltern, Stiefeltern, Adoptiveltern, Lebenspartner oder der Vormund, bei entsprechender Übertragung auch die Pflegeeltern. Erziehungsberechtigt ist demgegenüber nach § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII neben dem Personensorgeberechtigten auch jede volljährige Person, soweit sie auf Grund einer Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnimmt. Dies Vereinbarung bedarf dabei keiner besonderen Form (vgl. Kunkel/Kepert, in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Auflage 2018, § 42a Rn. 9f.). Sie kann sogar stillschweigend getroffen werden (vgl. Winkler, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 55. Edition Stand 1.12.2019, § 7 Rn. 5). Zum Nachweis bedarf es dabei keiner hieb- und stichfesten Beweise. Wird der Minderjährige von einem volljährigen Verwandten begleitet, so ist dies ein Indiz für das Bestehen einer solchen Vereinbarung. Daneben muss die Begleitperson aber Kontakt zu den Eltern oder Personensorgeberechtigten haben, da in allen wesentlichen Angelegenheiten die Möglichkeit der Rücksprache bestehen muss (vgl. DIJF-Rechtsgutachten vom 2.1.2016 - V 1.100 Ho - JAmt 2016, 194 ff.).
33
Bei der hier maßgeblichen Prüfung der Frage, ob eine fehlende Begleitung durch einen Personensorge- oder Erziehungsberechtigten im Sinne des Art. 7 Abs. 1 AufnG vorliegt, bleiben Maßnahmen, die auf Veranlassung oder direkt von jugendhilferechtlichen Trägern getroffen werden, nach Sinn und Zweck dieser Bestimmung und der kinder- und jugendhilferechtlichen Bestimmungen grundsätzlich außer Betracht. Regelungen, die daran anknüpfen, dass eine minderjährige Person unzureichend betreut wird, bezwecken, diesem Umstand von öffentlicher Seite abzuhelfen und dem Minderjährigen das erforderliche Maß an Betreuung zukommen zu lassen. Art. 7 Abs. 1 AufnG zielt darauf ab, die Träger zu schützen und finanziell zu entlasten, die - in Überlast - dazu aufgerufen sind, solche Maßnahmen wegen der Unbegleitetheit eines Minderjährigen zu treffen. Kinder- und jugendhilferechtliche Maßnahmen, die selbst erst zu einer Trennung von den personensorge- oder erziehungsberechtigten Begleitpersonen führen, können aus diesem Grund nicht dazu führen, dass der Hilfeempfänger nachträglich als unbegleitet anzusehen ist. Fälle, in denen ein Minderjähriger zunächst von Personensorge- oder Erziehungsberechtigten betreut wird und dann allein wegen Missständen, unter denen diese Betreuung leidet, in Obhut genommen wird, entsprechen eher der typischen Situation der Gewährung kinder- und jugendhilferechtlicher Leistungen und nicht der besonderen Konstellation der Fürsorge für unbegleitete Minderjährige. Von diesen Kosten sollen die Träger der Kinder- und Jugendhilfe nach dem Zweck des Art. 7 Abs. 1 AufnG (s.o.) nicht entlastet werden. Sähe man in diesen Fällen den Minderjährigen als nachträglich unbegleitet an, so hätte der zuständige Träger der Kinder- und Jugendhilfe den Tatbestand der „Unbegleitetheit“ des Minderjährigen selbst herbeigeführt. Umgekehrt können staatliche oder kommunale Maßnahmen, die gerade darauf abzielen, dem gegebenen Zustand der Unbegleitetheit abzuhelfen, wie zum Beispiel die Bestellung eines Vormundes, nicht dazu führen, dass der von der Kinder- und Jugendhilfe Begünstigte nicht mehr als unbegleitet im Sinne des Art. 7 Abs. 1 AufnG anzusehen ist. Sind neben der Bestellung eines Vormunds kinder- und jugendhilferechtliche Leistungen zu erbringen, die darin begründet liegen, dass der Minderjährige unbegleitet ist, so handelt es sich um Kosten, vor deren Tragung Art. 7 Abs. 1 AufnG den zuständigen Träger zu schützen bezweckt. Die kinder- und jugendhilferechtliche Leistung dient dann nämlich weiter maßgeblich dem Zweck, der Unbegleitetheit des Minderjährigen abzuhelfen. Zu unterscheiden ist von beiden dargestellten Fällen die Konstellation, in der der minderjährige Hilfeempfänger von seinen personensorge- oder erziehungsberechtigten Begleitern allein gelassen wird. In dieser Konstellation ist der Minderjährige als (nachträglich) unbegleitet anzusehen, da die Trennung von seinen Begleitpersonen nicht auf eine kinder- und jugendhilferechtliche Maßnahme zurückzuführen ist.
34
dd) Nach diesen Grundsätzen war der von der Kinder- und Jugendhilfe Begünstigte im Zeitraum der Leistungsgewährung im vorliegenden Fall nicht unbegleitet.
35
Vom Zeitpunkt seiner Einreise an befand er sich noch in Begleitung seines volljährigen Neffen … Dieser übernahm zunächst auch die Fürsorge für den Begünstigten. Sie wohnten gemeinsam in einer Gemeinschaftsunterkunft. Kontakt zu der Mutter des Begünstigten bestand nach Angabe des Begünstigten zu dieser Zeit. Dies geht aus dem Hilfeplan: Sozialpädagogische Diagnostik der Klägerin hervor. Nach oben dargestellten Grundsätzen ist daher davon auszugehen, dass eine Vereinbarung zwischen der Mutter des Begünstigten und …, in dessen Obhut sich der Begünstigte befand, bestand, auf der die Erziehungsberechtigung … beruht. Demnach war der Begünstigte zunächst begleiteter Minderjähriger.
36
Am 30. September 2016 wurde der Begünstigte - zwar getrennt von seinem Erziehungsberechtigten … - im Rahmen der ihm gewährten Jugendhilfe in der …-Jugendwohngruppe … in … untergebracht. Die Unterbringung und Trennung von seinem Erziehungsberechtigten wurde aber durch die Klägerin und damit eine öffentliche Stelle veranlasst und beruhte auf den Defiziten, unter denen die Betreuung durch …, der weiterhin in greifbarer Nähe war und als Erziehungsberechtigter grundsätzlich zur Verfügung gestanden hätte, litt. Nach oben dargelegten Grundsätzen wurde der Begünstigte durch die Maßnahme der Klägerin nicht nachträglich unbegleitet und ist zum maßgeblichen Zeitpunkt als begleitet anzusehen.
37
3. Der geltend gemachte Zinsanspruch besteht nicht, da die Hauptforderung nicht besteht.
IV.
38
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit fußt auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708, 711 ZPO.
V.
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Die Berufung war gemäß § 124a Abs. 1 VwGO, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Allein bei dem erkennenden Gericht ist eine größere Zahl an ähnlich gelagerten Rechtsstreitigkeiten anhängig, sodass die Bedeutung der zu klärenden Rechtsfragen über den vorliegenden Einzelfall hinausreicht.