Titel:
Mehrere unterschiedliche Bedeutungen eines in einem Patentanspruch verwendeten Begriffs
Normenketten:
EPÜ Art. 69 Abs. 1
PatG § 3 Abs. 1 S. 2, § 9 S. 2 Nr. 1, § 14, § 139 Abs. 1, Abs. 2, § 140a Abs. 1, Abs. 3, § 140b Abs. 1, Abs. 3
BGB § 242, § 259
ZPO § 138 Abs. 3, § 148
Leitsätze:
1. Ein in einem Patentanspruch verwendeter Begriff kann mehrere unterschiedliche Bedeutungen haben, wenn dem Begriff in der Beschreibung der patentgemäßen Vorrichtung mehrere Funktionen zugewiesen sind. So kann der gleiche Begriff in dreifach unterschiedlicher Weise verwendet werden, um drei unterschiedliche Vorteile der anspruchsgemäßen Ausgestaltung der patentmäßigen Vorrichtung zu beschreiben.
2. Wenn die angegriffene Ausführungsform in unterschiedlichen Spezifikationen angeboten wird, und nicht ohne Weiteres erkannt werden kann, ob ein Produkt von der Lehre des Klagepatents Gebrauch macht oder nicht, unterfallen alle angegriffenen Ausführungsformen dem Unterlassungstenor. In dieser Konstellation ist es Sache des Beklagten durch eine klare Abgrenzbarkeit der einzelnen Ausgestaltungen für Klarheit zu sorgen.
3. Die Aussetzung nach § 148 ZPO im Hinblick auf ein anhängiges Nichtigkeitsverfahren kann nicht auf offenkundige Vorbenutzung gestützt werden, wenn die Patentinhaberin die Vorbenutzung bestreitet und zu ihrem Nachweis ein Sachverständigengutachten erholt werden müsste.
Schlagworte:
Patentverletzung, Keilformauslegung, Schallschutzschicht, Doppelbildvermeidung, Funktionsschicht, Vorbenutzung, Aussetzungsentscheidung
Rechtsmittelinstanz:
OLG München vom -- – 6 U 1589/25e
Fundstelle:
GRUR-RS 2025, 9615
Tenor
I. Die Beklagte wird verurteilt,
1. es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung fälligen, vom Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 EUR – ersatzweise Ordnungshaft bis zu sechs Monaten – oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, wobei die Ordnungshaft an den Geschäftsführern der Beklagten zu vollziehen ist,
Zwischenschichtfolien für ein Verbundglas, die mindestens ein Paar Schutzschichten und eine schallisolierende Schicht umfassen, die zwischen dem Paar Schutzschichten angeordnet ist, und die eine Keilform als Querschnittsform, einen Keilwinkel θ von 0,1 bis 0,7 mrad, die maximale Dicke von 2000 µm oder dünner und die minimale Dicke von 400 µm oder dicker aufweisen, wobei die schallisolierende Schicht eine Keilform als ihre Querschnittsform aufweist und wobei die Schutzschichten eine Keilform als ihre Querschnittsform aufweisen, die minimale Dicke der schallisolierenden Schicht 20 µm oder dicker ist, wobei die schallisolierende Schicht unter Verwendung eines Weichmachers und eines Polyvinylacetalharzes gebildet ist, wobei der Gehalt des Weichmachers in der schallisolierenden Schicht 40 bis 80 Gewichtsteile eines Weichmachers, bezogen auf 100 Gewichtsteile eines Polyvinylacetalharzes, beträgt, und wobei das Polyvinylacetalharz einen Acetalisierungsgrad von 70 bis 85 Mol-% aufweist
(unmittelbare Verletzung von Patentanspruch 1)
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in der Bundesrepublik Deutschland herzustellen, anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken einzuführen oder zu besitzen;
2. der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie die unter Ziff. I.1 bezeichneten Handlungen seit dem 21. Juni 2017 begangen hat, und zwar unter Angabe
a.
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der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,
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b.
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der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
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c.
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der Menge der hergestellten, ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden;
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wobei zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (nämlich Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine, höchst hilfsweise Zollpapiere) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;
3. der Klägerin darüber Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie die unter Ziff. I.1 bezeichneten Handlungen seit dem 21. Juli 2017 begangen hat, und zwar unter Angabe
a.
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der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten und -preisen einschließlich der Typenbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der Abnehmer,
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b.
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der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zeiten und -preisen einschließlich der Typenbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der gewerblichen Angebotsempfänger,
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c.
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der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet,
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d.
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der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns;
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die Aufstellung mit den Daten der Auskunft (I.2.) und Rechnungslegung (I.3.) zusätzlich in einer mittels EDV auswertbaren, elektronischen Form zu übermitteln ist; und
es der Beklagten vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der nichtgewerblichen Abnehmer und Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von der Klägerin zu bezeichnenden, ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagte dessen Kosten trägt und ihn ermächtigt und verpflichtet, der Klägerin auf konkrete Anfrage mitzuteilen, ob ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist;
4. die im unmittelbaren und/oder mittelbaren Besitz und/oder Eigentum der Beklagten befindlichen, vorstehend unter Ziff. I.1 bezeichneten Erzeugnisse auf eigene Kosten zu vernichten oder nach ihrer Wahl an einen von der Klägerin zu benennenden oder zu beauftragenden Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Vernichtung auf Kosten der Beklagten herauszugeben;
5. die vorstehend unter Ziff. I.1 bezeichneten, in Verkehr gebrachten und im Besitz gewerblicher Dritter befindlichen Erzeugnisse aus den Vertriebswegen zurückzurufen, indem diejenigen Dritten, denen durch die Beklagte oder mit deren Zustimmung Besitz an den Erzeugnissen eingeräumt wurde, unter Hinweis darauf, dass die Kammer mit dem hiesigen Urteil auf Verletzung des Klagepatents erkannt hat, aufgefordert werden, die Erzeugnisse an die Beklagte zurückzugeben, und den Dritten für den Fall der Rückgabe der Erzeugnisse eine Rückzahlung des gegebenenfalls bereits gezahlten Kaufpreises sowie die Übernahme der Kosten der Rückgabe zugesagt wird, und die erfolgreich zurückgerufenen Erzeugnisse wieder an sich zu nehmen;
II. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die in Ziff. I.1 bezeichneten, seit dem 21. Juli 2017 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird;
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
IV. Das Urteil ist in Ziffer I.1 gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 1.200.000,00 EUR, in Ziffern I.2 und I.3 gegen Sicherheitsleistung in Höhe von insgesamt 100.000,00 EUR, in Ziffern I.4 und I.5 jeweils gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 100.000,00 EUR sowie in Ziffer III. gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen behaupteter Verletzung des deutschen Teils des Europäischen Patents 2 017 237 B2 mit dem Titel „Zwischenfolie für Verbundglas und Verbundglas“ in Anspruch.
2
Die Klägerin ist Inhaberin des am 11. Mai 2007 angemeldeten Europäischen Patents 2 017 237 B2 (Anlage K-A-2, nachfolgend: Klagepatent). Das Klagepatent nimmt die Priorität der JP 2006134200 vom 12. Mai 2006 in Anspruch. Die Anmeldung wurde am 21. Januar 2009, der Erteilungshinweis am 21. Juni 2017 veröffentlicht. Im Rahmen des von dritter Seite angestrengten Einspruchsverfahrens wurde das Klagepatent mit Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 13. Juni 2019 in geänderter Form aufrechterhalten, wobei Anspruch 1 von der Änderung nicht betroffen war. Mit Schriftsatz vom 16. Januar 2025 (Anlage HL 2) reichte die Beklagte Nichtigkeitsklage (Az. 3 Ni 2/25 (EP)) beim Bundespatentgericht ein. Ein Hinweis nach § 83 Abs. 1 PatG liegt noch nicht vor.
3
Der hier maßgebliche Anspruch 1 lautet in der Verfahrenssprache:
„An interlayer film for a laminated glass, which comprises at least a pair of protection layers and a sound-insulating layer sandwiched between the pair of the protection layers, and which has a wedge shape as a cross-sectional shape, a wedge angle 6 of 0.1 to 0.7 mrad, the maximum thickness of 2000 µm or thinner, and the minimum thickness of 400 µm or thicker, wherein the sound-insulating layer has a wedge shape as its cross-sectional shape and wherein the protection layers have a wedge shape as its cross-sectional shape, the minimum thickness of the soundinsulating layer being 20 µm or thicker, wherein the sound-insulating layer is formed by using a plasticizer and a polyvinyl acetal resin, wherein the content of the plasticizer in the sound insulating layer is 40 to 80 parts by weight of a plasticizer based on 100 parts by weight of a polyvinyl acetal resin, and wherein the polyvinyl acetal resin has an acetalization degree of 70 to 85% by mole.“
4
Die Klägerin ist ein japanisches Unternehmen, das international und hauptsächlich in den Bereichen Chemie, Hochleistungswerkstoffe und Medizinprodukte tätig ist. Ihre Produkte kommen unter anderem in der Automobil-, Bau- und Elektronikindustrie zum Einsatz. Die Klägerin stellt auch schalldämmende Zwischenschichtfolien für Verbundglas her und vertreibt diese.
5
Bei der Beklagten handelt es sich um eine Tochtergesellschaft des japanischen Unternehmens ..., welches sich ebenfalls mit der Entwicklung und Herstellung von Hochleistungswerkstoffen und Chemikalien beschäftigt. Die Beklagte unterhält mehrere Produktionsstätten, Verkaufsbüros und Forschungslabore in Deutschland.
6
Die Klägerin greift die von der Beklagten unter den Handelsnamen „...“ in der Bundesrepublik Deutschland hergestellte und im Bundesgebiet angebotene und vertriebene Zwischenschichtfolie für Verbundglas (nachfolgend: angegriffene Ausführungsform) sowie kerngleiche Produkte an. Die Folien werden für Windschutzscheiben von Kraftfahrzeugen und insoweit spezifisch für jeden Fahrzeugtyp hergestellt, da die eingebauten Windschutzscheiben jeweils unterschiedliche Dimensionen haben. Weltweit werden über 100 verschiedene Folien von der Unternehmensgruppe der Beklagten hergestellt. Auf der von der Beklagten betriebenen Webseite ... befand sich – jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Klageeinreichung – die nachfolgend eingelichtete schematische Abbildung (S. 31 der Klageschrift, Anlage K-A-13) der angegriffenen Ausführungsform:
7
Dort waren für die angegriffene Ausführungsform folgende Spezifikationen (Abbildung auf S. 32 der Klageschrift) genannt:
8
Die Klägerin trägt vor, die angegriffene Ausführungsform verletze Anspruch 1 des Klagepatents unmittelbar und wortsinngemäß, was durch zwei von ihr durchgeführte Messungen der angegriffenen Ausführungsform (Anlagen K-A-11 und K-A-26) nachgewiesen sei.
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Die Klägerin beantragt:
I.
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die Beklagte zu verurteilen,
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1.
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es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung fälligen, vom Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 EUR – ersatzweise Ordnungshaft bis zu sechs Monaten – oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, wobei die Ordnungshaft an den Geschäftsführern der Beklagten zu vollziehen ist, zu unterlassen,
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Zwischenschichtfolien für ein Verbundglas, die mindestens ein Paar Schutzschichten und eine schallisolierende Schicht umfassen, die zwischen dem Paar Schutzschichten angeordnet ist, und die eine Keilform als Querschnittsform, einen Keilwinkel θ von 0,1 bis 0,7 mrad, die maximale Dicke von 2000 µm oder dünner und die minimale Dicke von 400 µm oder dicker aufweisen, wobei die schallisolierende Schicht eine Keilform als ihre Querschnittsform aufweist und wobei die Schutzschichten eine Keilform als ihre Querschnittsform aufweisen, die minimale Dicke der schallisolierenden Schicht 20 µm oder dicker ist, wobei die schallisolierende Schicht unter Verwendung eines Weichmachers und eines Polyvinylacetalharzes gebildet ist, wobei der Gehalt des Weichmachers in der schallisolierenden Schicht 40 bis 80 Gewichtsteile eines Weichmachers, bezogen auf 100 Gewichtsteile eines Polyvinylacetalharzes, beträgt, und wobei das Polyvinylacetalharz einen Acetalisierungsgrad von 70 bis 85 Mol-% aufweist
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(unmittelbare Verletzung von Patentanspruch 1)
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in der Bundesrepublik Deutschland herzustellen, anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken einzuführen oder zu besitzen;
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2.
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der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie die unter Ziff. I.1 bezeichneten Handlungen seit dem 21. Juni 2017 begangen hat und zwar unter Angabe
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a)
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der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,
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b)
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der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
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c)
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der Menge der hergestellten, ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden;
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wobei zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (nämlich Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine, höchst hilfsweise Zollpapiere) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;
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3.
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der Klägerin darüber Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie die unter Ziff. I.1 bezeichneten Handlungen seit dem 21. Juli 2017 begangen hat, und zwar unter Angabe
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a)
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der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten und -preisen einschließlich der Typenbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der Abnehmer,
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b)
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der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zeiten und -preisen einschließlich der Typenbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der gewerblichen Angebotsempfänger,
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c)
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der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet,
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d)
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der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns;
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wobei
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die Aufstellung mit den Daten der Auskunft (I.2.) und Rechnungslegung (I.3.) zusätzlich in einer mittels EDV auswertbaren, elektronischen Form zu übermitteln ist; und
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es der Beklagten vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der nichtgewerblichen Abnehmer und Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von der Klägerin zu bezeichnenden, ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagte dessen Kosten trägt und ihn ermächtigt und verpflichtet, der Klägerin auf konkrete Anfrage mitzuteilen, ob ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist;
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4.
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die im unmittelbaren und/oder mittelbaren Besitz und/oder Eigentum der Beklagten befindlichen, vorstehend unter Ziff. I.1 bezeichneten Erzeugnisse auf eigene Kosten zu vernichten oder nach ihrer Wahl an einen von der Klägerin zu benennenden oder zu beauftragenden Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Vernichtung auf Kosten der Beklagten herauszugeben;
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5.
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die vorstehend unter Ziff. I.1 bezeichneten, in Verkehr gebrachten und im Besitz gewerblicher Dritter befindlichen Erzeugnisse aus den Vertriebswegen zurückzurufen, indem diejenigen Dritten, denen durch die Beklagte oder mit deren Zustimmung Besitz an den Erzeugnissen eingeräumt wurde, unter Hinweis darauf, dass die Kammer mit dem hiesigen Urteil auf Verletzung des Klagepatents A erkannt hat, aufgefordert werden, die Erzeugnisse an die Beklagte zurückzugeben, und den Dritten für den Fall der Rückgabe der Erzeugnisse eine Rückzahlung des gegebenenfalls bereits gezahlten Kaufpreises sowie die Übernahme der Kosten der Rückgabe zugesagt wird, und die erfolgreich zurückgerufenen Erzeugnisse wieder an sich zu nehmen;
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II.
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festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die in Ziff. I.1 bezeichneten, seit dem 21. Juli 2017 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird;
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I.
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die Klage abzuweisen.
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II.
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der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.
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III.
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das Urteil wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung (Bank- oder Sparkassenbürgschaft) für vorläufig vollstreckbar zur erklären,
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IV.
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hilfsweise: den Rechtsstreit gemäß § 148 ZPO bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Nichtigkeitsverfahren gegen das EP 2 017 237 B2 auszusetzen.
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10
Die Klägerin tritt dem Aussetzungsantrag entgegen.
11
Die Beklagte trägt vor, die angegriffene Ausführungsform verwirkliche die Merkmalsgruppe 2, Merkmal 3 und Merkmal 4 nicht. Die vom Klagepatent genannte Keilform liege nur vor, wenn die Außenseiten der jeweiligen Schichten linear verliefen und sich von der breiteren Seite hin zur schmalen Seite konstant annäherten. Bei der angegriffenen Ausführungsform sei dies nicht der Fall. Die mittlerweile von der Webseite entfernte schematische Darstellung der angegriffenen Ausführungsform (Anlage K-A-13) könne als reine Aufmerksamkeitswerbung keine eigenständige Angebotshandlung begründen. Zudem sei der von Merkmal 2a beanspruchte Keilwinkel bei der Darstellung nicht messbar.
12
Der seitens der Klägerin als Anlage K-A-11 vorgelegte Prüfbericht belege keine Patentverletzung. Ein stetiges Verjüngen sowohl der drei Schichten (Merkmal 3 und 4) als auch der Folie als solcher (Merkmal 2) sei durch die Messungen nicht belegt worden. Insbesondere zeige die Messung deutlich, dass die Dicke der schallisolierenden Schicht (Merkmal 3) über ihre Länge hinweg schlangenförmig verlaufe und damit gerade nicht keilförmig sei. Die Keilform der schallisolierenden Schicht könne auch nicht durch die als Anlage K-A-13 vorgelegte Abbildung belegt werden, da es sich dabei um eine schematische Darstellung zu Marketingzwecken handele. Zudem ergebe sich aus dieser Abbildung weder bei den einzelnen Schichten noch der Folie als solcher eine anspruchsgemäße Keilform, da die dargestellte Folie am dicken Ende über einen Plateauabschnitt verfüge, der nicht mit der im Klagepatent enthaltenen Definition der Keilform vereinbar sei.
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Im Übrigen sei das Klagepatent nicht rechtsbeständig. Die von Anspruch 1 beanspruchte Zwischenschichtfolie sei im Verbundglas in der Windschutzscheibe des Fahrzeugs ... verbaut, sodass der Gegenstand aufgrund offenkundiger Vorbenutzung nicht neu sei. Die Beklagte habe im Dezember 2021 (Kaufvertrag vorgelegt als Anlage HL3 – NK2a) ein Fahrzeug dieses Typs erworben, welches am 21.12.2005 und damit vor dem hiesigen Prioritätsdatum erstmals zugelassen worden sei. Das Fahrzeug habe noch die originale Windschutzscheibe aufgewiesen. Eine Untersuchung der dort verwendeten Zwischenschichtfolie habe einen Aufbau und eine Zusammensetzung ergeben, die sämtliche Merkmale des Klagepatents vorweggenommen habe. Die Folie sei von der Klägerin geliefert worden.
14
Auch stünde dem Klagepatent die Entgegenhaltung NK3 neuheitsschädlich entgegen. Jedenfalls beruhe das Klagepatent ausgehend von den Entgegenhaltungen NK 8 und NK 11 nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Das hiesige Verletzungsverfahren sei gemäß § 148 ZPO im Hinblick auf das anhängige Nichtigkeitsverfahren auszusetzen.
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Die Klägerin erwidert, die Entgegenhaltungen der Beklagten seien nicht geeignet, den Bestand des Klagepatents in Zweifel zu ziehen. Die in dem Fahrzeug ... verbaute Zwischenschichtfolie sei nicht anspruchsgemäß ausgestaltet gewesen. Die Klägerin habe erstmals ab Herbst 2008 (Anlage K-A-24 und K-A-24a) anspruchsgemäß ausgestaltete Zwischenschichtfolien vertrieben. Es werde bestritten, dass die von der Beklagten untersuchte Zwischenschichtfolie sämtliche Merkmale des geltend gemachten Patentanspruchs aufweise. Zudem werde bestritten, dass eine verbaute Folie bereits vor dem Laminieren eine etwaige patentgemäße Ausgestaltung aufgewiesen habe. Es sei anzunehmen, dass die Struktur der Folie beim Lösen aus dem Verbundglas beschädigt worden sei, weshalb die Messungen nicht verwertbar seien. Schließlich handele es sich, wenn überhaupt, um eine verborgene, keine offenkundige Vorbenutzung. Gegen eine offenkundige Vorbenutzung spreche auch, dass das gekaufte Fahrzeug über kein Head-up Display verfüge, sodass sich das durch die Erfindung gelöste technische Problem gar nicht gestellt hätte.
16
Die Entgegenhaltungen NK 3 und NK 8 seien bereits Gegenstand des Einspruchsverfahrens gewesen und von der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts als nicht neuheitsschädlich bewertet worden. Die Beklagte habe gegenüber der Entscheidung der Einspruchsabteilung keine neuen Argumente aufgezeigt. Die Entgegenhaltung NK 11 stelle vom Gegenstand des Klagepatents noch weiter entfernten Stand der Technik da und sei damit ebenfalls nicht geeignet, Zweifel am Rechtsbestand des Klagepatents zu wecken.
17
Eine Aussetzung des Rechtsstreits in Bezug auf die anhängige Nichtigkeitsklage scheide aus.
18
Im Übrigen wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 03.04.2025 verwiesen.
Entscheidungsgründe
19
Die zulässige Klage ist begründet. Aus der zutreffenden Auslegung der strittigen Merkmale 2, 3 und 4 (A. I.) folgt, dass die angegriffene Ausführungsform von der Lehre das Klagepatents hinsichtlich aller Merkmale Gebrauch macht (A. II.). Daraus ergeben sich die tenorierten Rechtsfolgen (A.III.). Eine Aussetzung des Verfahrens gemäß § 148 ZPO im Hinblick auf das Nichtigkeitsverfahren war aufgrund der Entgegenhaltungen nicht angezeigt (B.). Entsprechend waren die Nebenfolgen festzusetzen (C.).
20
I. Das Klagepatent betrifft eine Zwischenschichtfolie für Verbundglas, welche vorzugsweise bei einem Head-up Display (nachfolgend: HUD) für Fahrzeugscheiben eingesetzt wird, bei dem der Fahrer gleichzeitig durch die Frontscheibe nach außen schauen und die Instrumentenanzeige im Auge behalten kann (Abs. [0001]).
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1. Die Klagepatentschrift führt zum vorbekannten Stand der Technik aus, dass Verbundglas regelmäßig aus zwei gegenüberliegenden Glasscheiben sowie einer Zwischenschicht bestehe und für die Frontscheibe von Kraftfahrzeugen und Flugzeugen eingesetzt werde (Abs. [0002]). Dabei bestehe das Bedürfnis, dass ein Fahrer gleichzeitig das Instrumentendisplay (als HUD) und die Sicht durch die Frontscheibe im Blick habe (Abs. [0003]). Das HUD könne so ausgestaltet sein, dass das Display auf die Frontscheibe des Fahrzeugs (und damit in das Sichtfeld des Fahrers) gespiegelt werde. Bei diesen Ausgestaltungen sei es nachteilig, dass durch die Doppelverglasung eine Spiegelung des aufgespielten Displays stattfinde (Abs. [0004]).
22
Im Stand der Technik seien Lösungen bekannt gewesen (Japanese Koka Publication Hei-4-502525), bei denen die Zwischenschichtfolie keilförmig ausgestaltet sei, um so den Versatz zwischen den beiden Glasschichten auszugleichen (Abs. [0005]). Es sei jedoch nachteilig, dass derartige Scheiben keine guten schallisolierenden Eigenschaften hätten (Abs. [0007]).
23
2. Hieraus definiert das Klagepatent die Aufgabe, eine Zwischenschichtfolie für eine Verbundglasscheibe bereitzustellen, die einerseits über gute schallisolierende Eigenschaften verfügt und andererseits Spiegelungen bei der Nutzung eines HUD vermeidet (Abs. [0008]).
24
3. Als Lösung stellt das Klagepatent den vorliegend geltend gemachten Anspruch 1 vor, der sich wie folgt gliedern lässt:
„Zwischenschichtfolie für ein Verbundglas
- 1.
-
Die Zwischenschichtfolie umfasst mindestens ein Paar Schutzschichten und eine schallisolierende Schicht, die zwischen dem Paar Schutzschichten angeordnet ist.
- 2.
-
Die Zwischenschichtfolie weist eine Keilform als Querschnittsform auf,
- 3.
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Die schallisolierende Schicht weist eine Keilform als ihre Querschnittsform auf.
- 4.
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Die Schutzschichten weisen eine Keilform als ihre Querschnittsform auf.
- 5.
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Die minimale Dicke der schallisolierenden Schicht ist 20 µm oder dicker.“
- 6.
-
Die schallisolierende Schicht ist unter Verwendung eines Weichmachers und eines Polyvinylacetalharzes gebildet.
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4. Im Hinblick auf die zwischen den Parteien geführte Diskussion zur Auslegung des Klagepatents sind folgende Ausführungen veranlasst.
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a. Die durch das Klagepatent unter Schutz gestellte technische Lehre ist aus der Sicht des angesprochenen Durchschnittsfachmanns, eines Chemikers aus dem Bereich der Materialwissenschaften mit mehrjähriger Erfahrung bei der Entwicklung von Verbundglas für HUD-Systeme, beispielsweise im Automobil- oder Flugzeugbau, aus den Merkmalen des hier maßgeblichen Klagepatentanspruchs unter Heranziehung der Beschreibung sowie der Zeichnungen zu ermitteln.
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b. Das Klagepatent offenbart eine Zwischenschichtfolie für ein Verbundglas, d.h. eine Folie, die noch nicht in das Verbundglas integriert ist (Abs. [0001]). Die klagepatentgemäße Zwischenschichtfolie besteht nach Merkmal 1 aus mindestens drei Schichten, nämlich einer schallisolierenden (Funktions-)Schicht, die von jeweils einer Schutzschicht umgeben ist. Dabei weisen sowohl die einzelnen Schichten der Folie (Merkmale 3 und 4) als auch die Zwischenschichtfolie als Verbund der mindestens drei Schichten (Merkmal 2) eine Keilform als Querschnittsform auf.
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Merkmal 2a bestimmt den Keilwinkel θ der Zwischenschichtfolie mit 0,1 bis 0,7 mrad, wobei nach Merkmal 2b die maximale Dicke der Folie 2000 µm (d.h. 2,0 mm) oder dünner und die minimale Dicke 400 µm (d.h. 0,4 mm) oder dicker betragen soll. Ist die Zwischenschichtfolie dicker als 2,0 mm, kann das die Durchsichtigkeit des Verbundglases beeinträchtigen; bei einer Dicke von weniger als 0,4 mm kann die Bruchfestigkeit des Verbundglases nicht mehr sichergestellt werden.
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Die Merkmalsgruppe 6 offenbart schließlich die chemische Zusammensetzung der schallisolierenden Schicht. Diese muss einen ausreichend großen Anteil an Weichmachern enthalten, um die Schallwellen zu brechen und so ihre schallisolierende Funktion erfüllen zu können. Der Anteil darf jedoch nicht zu groß sein, da es ansonsten zu einem Ausbluten des Weichmachers in die übrigen Schichten kommen kann, wodurch die Transparenz und die Hafteigenschaften der Zwischenschichtfolie für Verbundglas verringert werden (Abs. [0024]).
30
Figur 2 des Klagepatents zeigt eine anspruchsgemäße Ausführungsform:
31
c. Insbesondere die Bedeutung des mehrfach im Anspruch verwendeten Begriffs „Keilform“ bedarf näherer Erörterung. Wie zusammenfassend dargestellt fordert der Anspruch, dass sowohl die gesamte Zwischenschichtfolie als auch beide Schutzschichten und die schallisolierende Schicht keilförmig ausgestaltet sind. Dabei stellt sich die Frage, ob der Begriff stets mit derselben Bedeutung belegt ist.
32
(1.) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist der Patentanspruch stets auszulegen und die Auslegung darf selbst dann nicht unterbleiben, wenn der Wortlaut des Anspruchs eindeutig zu sein scheint (BGH GRUR 2015, 875 Rn. 16 – Rotorelemente mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Denn die Patentschrift kann Begriffe eigenständig definieren – unter Umständen auch abweichend vom allgemeinen Sprachgebrauch – und somit ihr eigenes Lexikon darstellen (BGH a.a.O.; BGH GRUR 1999, 909, 912 – Spannschraube). Bei der Auslegung ist maßgeblich auf den technischen Gesamtzusammenhang abzustellen, den der Inhalt der Patentschrift dem Fachmann vermittelt (BGH a.a.O. – Spannschraube). Dazu ist wiederum auf die sich aus der Patentschrift ermittelte Aufgabe und Lösung abzustellen (BGH, a.a.O., Spannschraube). Nach Art. 69 Abs. 1 EPÜ wie auch § 14 PatG sind die das Patent erläuternden Beschreibungen und in der Patentschrift enthaltenen Zeichnungen stets zur Auslegung heranzuziehen (BGH GRUR 2016, 361, Rn. 14 – Fugenband).
33
Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass gleiche Begriffe in einem Patentanspruch im Zweifel die gleiche Bedeutung haben (BGH GRUR 2017, 152 – Zungenbett). Dies schließt aber nicht aus, dass in Ausnahmefällen ein in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendeter Begriff unterschiedlich ausgelegt werden kann. Ein solcher Ausnahmefall kann vorliegen, wenn die Auslegung des Patentanspruchs in seiner Gesamtheit unter Berücksichtigung der Beschreibungen und Zeichnungen ein solches Verständnis ergibt (BGH a.a.O. – Zungenbett). Ein in einem Patentanspruch verwendeter Begriff kann mehrere unterschiedliche Bedeutungen haben, wenn dem Begriff in der Beschreibung der patentgemäßen Vorrichtung mehrere Funktionen zugewiesen sind. So kann der gleiche Begriff in dreifach unterschiedlicher Weise verwendet werden, um drei unterschiedliche Vorteile der anspruchsgemäßen Ausgestaltung der patentmäßigen Vorrichtung zu beschreiben.
34
Schließlich ist im Rahmen der Auslegung zu beachten, dass ein weiter zu verstehender Sinngehalt der Patentansprüche nicht dadurch beschränkt wird, dass sich die Beschreibung und die Ausführungsbeispiele des Patents ausschließlich auf bestimmte Ausführungsformen beziehen. Mithin verbietet sich eine Auslegung unterhalb des Wortlauts bzw. des Sinngehalts der Patentansprüche (BGH GRUR 2007, 309, 311 – Schussfädentransport).
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(2.) Das Verständnis der Beklagten, dass der im Anspruch 1 dreimal verwendete Begriff der „Keilform“ (Merkmale 2, 3 und 4) jeweils fordere, dass eine streng geometrische Keilform über die gesamte Länge der jeweiligen Folie bzw. Schicht vorliegen müsse, ist mit der Lehre des Klagepatents nicht in Einklang zu bringen. Die Beklagte beruft sich hierzu im Wesentlichen auf das allgemeine geometrische Verständnis und den Abs. [0015] der Beschreibung. Im Ergebnis vertritt die Beklagte die Auffassung, dass eine Ausgestaltung, bei der nicht über die gesamte Länge der Folie bzw. Schicht eine Verjüngung von der dicken zur dünnen Seite vorläge, nicht patentgemäß sei. Dabei stellt sie jedoch die Lehre des Klagepatents verkürzt dar.
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(3.) Das Klagepatent definiert den Begriff der „Keilform“ in Abs. [0015] dahingehend, dass es sich dabei um eine Form handelt, die an einem Ende breiter ist und in Richtung des anderen Endes schmaler wird. Als Beispiel nennt das Klagepatent ein Dreieck oder ein Trapez. Allein daraus lässt sich aber noch nicht entnehmen, dass es auch erforderlich ist, dass die jeweilige Folie bzw. Schicht einen von einem Ende bis zum anderen Ende durchgehend gleichmäßigen Winkel aufweisen muss.
37
Es ist unter Berücksichtigung der technischen Funktion zu ermitteln, ob die Verjüngung über die gesamte Länge der Folie vorliegen muss oder ob es auch ausreichend ist, wenn die keilförmige Verjüngung nur in dem Teil vorliegt, wo sich der technische Vorteil dieser keilförmigen Ausgestaltung auswirken soll. Dabei ist als Ausgangspunkt festzustellen, dass weder der Anspruch noch die Beschreibung eine Form ausschließen, die vor oder nach dem sich verjüngenden Teil einen gleichbleibend breiten Teil aufweist. Vielmehr führt das Klagepatent bezogen auf Merkmal 4 in Abs. [0041] explizit aus, dass sich der Durchschnitt der beiden Schutzschichten entweder als – reine geometrische – Keilform oder als eine Kombination aus einer solchen mit einer rechteckigen Form darstellen kann. Anders als von der Beklagten behauptet, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass das Klagepatent derartige Ausgestaltungen bei den anderen Merkmalen ausschließen will.
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Zudem fordert das Klagepatent auch nicht, dass eine kontinuierliche Verjüngung vorliegt, sodass auch solche Ausgestaltungen patentgemäß sind, bei denen zwar bei Betrachtung der beiden Enden eine Verjüngung vorliegt, d.h. ein Ende breiter ist als das andere, bei der über den Verlauf aber an einigen Stellen eine Verdickung der Zwischenschichtfolie bzw. ihrer einzelnen Schichten festgestellt werden kann. Eine andere Bewertung lässt sich auch nicht unter Bezugnahme auf den in Merkmal 2a Anspruch enthaltenen Winkel rechtfertigen, da sich dieser auf die Nutzung in einem HUD bezieht.
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Bei der Auslegung ist zu berücksichtigen, dass das Klagepatent der Keilform in der Zwischenschichtfolie, den Schutzschichten und der schallisolierenden Schicht unterschiedliche Eigenschaften zuschreibt. Zum einen soll die Keilform der gesamten Zwischenschichtfolie die Nutzung eines HUD ermöglichen, weil durch die keilförmige Ausgestaltung Spiegelungen, die als Dopplungen wahrgenommen werden, unterbunden werden. Zum anderen soll die keilförmige Ausgestaltung der gesamten Zwischenschichtfolie Vorteile für den nachfolgenden Verarbeitungsprozess mit sich bringen. Insofern stellt sich konkret das Problem, dass sich bei dem Prozess, in dem die Folie mit den beiden Scheiben zu einem Verbundglas verbunden wird, Blasen bilden können. Die keilförmige Ausgestaltung soll helfen, diesem Problem vorzubeugen. Zuletzt habe die keilförmige Ausgestaltung der schallisolierenden Schicht einen Vorteil dahingehend, dass dort, wo die Schutzschichten wegen der keilförmigen Verjüngung eine geringe Dicke aufweisen, ein Durchdringen von Weichmacher auf die Scheiben unterbunden wird, weil sich auch die Schallschutzschicht in diesem Bereich verjüngt, so dass letztlich die verschiedenen Folien in einem sich entsprechenden Verhältnis gegenüberstehen. Dieser Vorteil lässt sich in der einzigen anspruchsgemäßen Figur 2 entnehmen.
Zu den einzelnen Aspekten genauer:
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In den Abs. [0005] und [0006] wird die Keilform dahingehend beschrieben, dass durch Anpassung des Keilwinkels Doppelbilder bei Benutzung des HUD-Systems vermieden werden können. Durch die unterschiedlichen Winkel der Folien könnten die Spiegelungen der Projektionen so positioniert werden, dass ihre Abbildung auf der Windschutzscheibe klar und ohne Dopplungen dargestellt wird. Wie genau die einzelnen Winkel zu wählen sind, ist abhängig von der konkreten Ausgestaltung der Scheibe und der Positionierung des HUD. Da das HUD aber nur an einer bestimmten Position Verwendung findet, erfordert es die technische Lehre des Klagepatents auch nur, dass die entsprechende Ausgestaltung dort vorhanden sein muss, wo die Projektion des HUD auf die Scheibe gelangt.
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In Abs. [0014] beschreibt das Klagepatent, dass die Keilform der schallisolierenden Schicht (Merkmal 3) dazu führe, dass die Folie besonders gute Entschäumungseigenschaften aufweise, d.h. durch Verwendung einer keilförmigen Schallschutzschicht die Bildung von Luftblasen bei der Herstellung des Verbundglases (Abs. [0057]) verhindert werden könne. Dies ist von besonderer Bedeutung, weil ein Verbundglas mit Luftblasen keine Verwendung im Fahrzeugbau finden kann. Dabei versteht die Kammer Abs. [0014] in Verbindung mit Abs. [0057] dahingehend, dass es um die keilförmige Ausgestaltung der gesamten Zwischenschichtfolie (und nicht nur um die schallisolierende Schicht) geht, weil lediglich die fertige Verbundfolie im Rahmen des Verbundprozesses in Eingriff mit den Scheiben kommt. Die Benennung der schallisolierenden Schicht in Abs. [0014] erwähnt allein, dass die Vorteile der keilförmigen Ausgestaltung noch gesteigert werden können, wenn auch die schallisolierende Schicht (und nicht nur die Schutzschichten) eine keilförmige Ausgestaltung habe.
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Nach Merkmal 4 haben die Keilformen der Schutzschichten einen maßgeblichen Anteil daran, dass die Verbundfolie ihre Keilform erhält (vgl. Abs. [0039] und [0066]), sodass an ihre Ausgestaltung grundsätzlich dieselben Anforderungen zu stellen sind wie an die der Zwischenschichtfolie (Merkmal 2).
43
Als weitere Funktion der Schutzschichten stellt Abs. [0039] klar, dass diese verhindern sollen, dass die in der schallisolierenden Schicht enthaltenen Weichmacher „ausbluten“ und so die Hafteigenschaften der Zwischenschichtfolie verschlechtern. Aus der Figur 2 ergibt sich, dass durch die keilförmige Ausgestaltung der schallisolierenden Schicht im „dünneren“ Bereich der Verbundfolie sichergestellt wird, dass ein Durchdringen von Weichmachern durch die Schutzschichten verhindert werden kann. Dies wird dadurch erreicht, dass den dünneren Schutzschichten eine ebenfalls verjüngte Schallschutzschicht gegenübersteht. Auf Grund dieser Zielsetzung ist es ausreichend, wenn sich die schallisolierende Schicht allein in dem Bereich verjüngt, in dem auch die Schutzschichten verjüngt sind.
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Zusammengefasst werden dem Begriff der „Keilform“ unterschiedliche Funktionen und Eigenschaften zugewiesen. In allen Fällen ist es nicht erforderlich, dass die Keilform durchgängig von einem Ende der Folie bis zum anderen Ende (übertragen auf die fertige Windschutzscheibe von ganz unten bis zum oberen Rand) vorhanden ist. Ausreichend ist vielmehr, wenn die Keilform an der „Funktionsstelle“ vorhanden ist – d.h. bei der gesamten Folie und den Schutzschichten im Bereich des HUD, bei der schallisolierenden Schicht im Bereich des HUD oder im unteren Bereich, dort wo sich die Schutzschichten verjüngen. Wobei es aber auch nicht ausgeschlossen ist, wenn sich die schallisolierende Schicht durchgehend verjüngt und dadurch die Formbildung der gesamten Zwischenschichtfolie unterstützt.
45
II. Unter Berücksichtigung der zuvor dargestellten Auslegung der zwischen den Parteien streitigen Merkmale 2, 2a, 3 und 4 ist eine unmittelbare und wortsinngemäße Verwirklichung von Anspruch 1 des Klagepatents durch die angegriffene Ausführungsform zu bejahen. Die Verwirklichung der übrigen Merkmale wird von der Beklagten zurecht nicht bestritten, da die angegriffene Ausführungsform davon Gebrauch macht.
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1. Merkmal 2 ist wortsinngemäß verwirklicht, weil die Zwischenschichtfolie eine Keilform als Querschnittsform aufweist. Dies veranschaulichen die graphischen Darstellungen der von der Klägerin durchgeführten Untersuchungen, die sich auf S. 4 der Anlage K-A-11
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und S. 4 der Anlage K-A-26 finden:
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a. Wie ausgeführt, ist es für die Annahme der Keilform der Zwischenschichtfolie ausreichend, dass diese an einem Ende dünner ist als am anderen Ende. Gleichfalls sind Plateauabschnitte vor oder nach der Keilform unschädlich. Eine kontinuierliche Abnahme der Dicke der Folie ist ebenfalls nicht erforderlich, da der maßgebliche technische Zweck, die Vermeidung von Doppelbildern, auch bei einer Ausgestaltung mit über den Verlauf hinweg gesehen schwankenden Dicke erreicht wird, solange die grundsätzliche Keilform wie hier im Funktionsbereich des HUD eingehalten wird. Dies gilt umso mehr, als die Beklagten nicht vorgetragen haben, dass die angegriffene Ausführungsform für die Erreichung des technischen Zwecks, nämlich der Vermeidung von Doppelbildern, ungeeignet wäre.
49
b. Entgegen der Ansicht der Beklagten kommt es nicht darauf an, dass die von der Klägerin untersuchten Folien in der ... und nicht in der Bundesrepublik Deutschland hergestellt wurden. Die Beklagte hat jedenfalls nicht hinreichend substantiiert bestritten, dass die in den deutschen Produktionsstätten hergestellten und für den hiesigen Markt bestimmten angegriffenen Ausführungsformen ebenfalls eine patentverletzende Ausgestaltung aufweisen.
50
Die Klägerin trägt hinsichtlich der Verwirklichung der einzelnen Merkmale und damit der Verletzung des Klagepatents die Darlegungs- und Beweislast. Dies bedeutet, dass sie die einzelnen Tatsachen, aus denen sich die in Streit stehenden Merkmale ergeben, zunächst schlüssig vortragen muss. Die Beklagtenseite ist grundsätzlich nicht – auch nicht unter dem Aspekt der Sachnähe – verpflichtet, der Klägerin die Führung des Beweises zu erleichtern (Grabinski/Zülch/Tochtermann/Benkard, PatG, 12. Auflage 2023, § 139 Rn. 115, m.w.N.). Zudem darf sie einen pauschalen Vortrag ebenfalls pauschal bestreiten (a.a.O.). Sofern jedoch qualifizierter Vortrag der beweisbelasteten Partei vorliegt, muss die Gegenseite – um der Rechtsfolge des § 138 Abs. 3 ZPO zu entgehen – mit dem gleichen Detailierungsgrad den Vortrag substantiiert bestreiten.
51
Für den vorliegenden Fall bedeutet das, dass die Beklagte sich nicht darauf zurückziehen darf, dass die seitens der Klägerin vermessenen Folien nicht in ihren inländischen Produktionsstätten hergestellt wurden. Vielmehr hätte sie substantiiert darlegen müssen, dass die angegriffenen Ausführungsformen anders aufgebaut sind als von der Klägerin vorgetragen, mithin dass die im Inland produzierten Folien anders ausgestaltet sind als die in der ... hergestellten Folien.
52
Dieser Verpflichtung ist die Beklagte nicht nachgekommen. Zwar hat sie eine eigene Messung vorgenommen, deren graphische Darstellung sich auf S. 21 der Duplik findet:
53
Da jedoch die beiden Messungen der Klägerin einen unterschiedlichen Aufbau der Folien zeigen, hätte die Beklagte substantiiert darlegen müssen, dass keine der Varianten der angegriffenen Ausführungsformen vom Gegenstand des Klagepatents Gebrauch macht. Dazu hätte sie vortragen müssen, dass und gegebenenfalls inwiefern die von ihr in Deutschland hergestellten Folien anders aufgebaut sind als die in der Republik Südkorea hergestellten Folien. Da sie dieser Obliegenheit nicht nachgekommen ist, gilt der Vortrag der Klägerin nach § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden.
54
Nur ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass nach obiger Auslegung auch die Messungen der Beklagten die Verwirklichung von Merkmal 2 belegen, da wie ausgeführt der technische Zweck auch bei der gewählten Ausgestaltung erreicht wird.
55
2. Merkmal 2a ist ebenfalls wortsinngemäß verwirklicht, weil die angegriffene Ausführungsform einen Keilwinkel von 0,1 bis 0,7 mrad aufweist.
56
Dabei führt es entgegen der Ansicht der Beklagten nicht aus der Verletzung heraus, dass der Keilwinkel bei der schematischen Darstellung der angegriffenen Ausführungsform nicht gemessen werden kann. Ausweislich der unbestrittenen Angaben der Beklagten im Rahmen ihres Internetauftritts (Anlage K-A-14) bietet die Beklagte die angegriffenen Ausführungsformen mit einem Keilwinkel von 0,15 mrad bis 0,70 mrad an. Dies ist für die Merkmalsverwirklichung ausreichend, zumal die Beklagte nicht vorgetragen hat, dass sie die Folien mit anderen Keilwinkeln herstellt.
57
3. Auch Merkmal 3 ist wortsinngemäß verwirklicht, da die schallisolierende Schicht der angegriffenen Ausführungsform eine Keilform als Querschnittsform aufweist.
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a. Die graphische Darstellung der Messungen der Klägerin findet sich auf S. 4 der Anlage K-A-11
59
bzw. S. 5 der Anlage K-A-26:
60
b. Wie bereits dargelegt, ist es für die Merkmalsverwirklichung ausreichend, wenn eine Keilform der schallisolierenden Schicht in dem Bereich besteht, in dem der technische Zweck der patentgemäßen Ausgestaltung, das Verhindern von Ausschäumung, erreicht werden soll. Dieser technische Zweck wird wie ausgeführt in erster Linie durch die Keilform der Zwischenschichtfolie erreicht, so dass die zusätzliche Verbesserung durch die Keilform der schallisolierenden Schicht insbesondere in dem Bereich relevant ist, bei dem in der Windschutzscheibe eingeschlossene Luftblasen besonders störend wären, mithin in dem funktional relevanten Sichtfeld des Fahrers, auf den auch das HUD projiziert wird und dem unteren, motorseitigen Bereich der Folie.
61
Es kann dahingestellt bleiben, ob bei der ausweislich Anlage K-A-11 vermessenen Zwischenschichtfolie unter Berücksichtigung der zuvor dargestellten Auslegung die schallisolierende Schicht eine patentgemäße Keilform aufweist. Selbst wenn dem nicht so wäre, würde dies aus der Merkmalsverwirklichung nicht hinausführen. Das begründet sich damit, dass sich die schallisolierende Schicht der in Anlage K-A-26 untersuchten Folie in dem Bereich von 400 mm bis 1129 mm, d.h. im Bereich des dünnen Endes der Folie, deutlich verjüngt. So wurde in dem Bereich von 400 mm eine Dicke von etwa 175 µm gemessen, bei 1129 mm betrug die Dicke nur noch etwa 85 µm. In diesem Bereich von 400 mm bis 1129 mm, in dem sich auch das HUD befindet, weist die schallisolierende Schicht somit eine Keilform auf, was für die Verwirklichung von Merkmal 3 ausreichend ist.
62
Wenn – wie hier – die angegriffene Ausführungsform in unterschiedlichen Spezifikationen angeboten wird, und nicht ohne Weiteres erkannt werden kann, ob ein Produkt von der Lehre des Klagepatents Gebrauch macht oder nicht, unterfallen alle angegriffenen Ausführungsformen dem Unterlassungstenor. In dieser Konstellation ist es Sache des Beklagten durch eine klare Abgrenzbarkeit der einzelnen Ausgestaltungen für Klarheit zu sorgen.
63
4. Schließlich ist auch Merkmal 4 wortsinngemäß verwirklicht, da die Schutzschichten der angegriffenen Ausführungsform unter Berücksichtigung der zuvor dargestellten Auslegung jeweils eine Keilform als ihre Querschnittsform aufweisen. Dies ergibt sich zum einen aus den Messungen der Klägerin, s. S. 4 der Anlage K-A-11
bzw. S. 5 der Anlage K-A-26
wie auch den unter II.1. erläuterten eigenen Messungen der Beklagten.
64
5. Ergänzend sei angemerkt, dass auch die – mittlerweile von der Webseite der Beklagten entfernte – schematische Abbildung der angegriffenen Ausführungsform ein patentverletzendes Angebot darstellt (zu den Grundsätzen vgl. LG Düsseldorf, GRUR-RS 2022, 20507). Unter Zugrundelegung obiger Auslegung zeigt die schematische Darstellung die Keilform der gesamten Folie (Merkmal 2), der schallisolierenden Schicht (Merkmal 3) wie auch der beiden Schutzschichten (Merkmal 4). Da die Beklagte selbst Angaben dazu macht, mit welchen Keilwinkeln (Merkmal 2a) die angegriffene Ausführungsform geliefert werden kann, ist es nicht erheblich, ob der Keilwinkel aus der schematischen Darstellung selbst erkennbar wird.
65
III. Die Beklagte bietet die angegriffene Ausführungsform in der Bundesrepublik Deutschland an, vertreibt sie und macht damit widerrechtlich von der Lehre des Klagepatents im Sinne von § 9 S. 2 Nr. 1 PatG Gebrauch. Der Klägerin stehen mithin Ansprüche auf Unterlassung, Auskunftserteilung und Rechnungslegung, Feststellung der Schadenersatzpflicht dem Grunde nach sowie auf Rückruf und Vernichtung aus §§ 139 Abs. 1 und 2, 140a Abs. 1 und 3, 140b Abs. 1 und 3 PatG, 242, 259 BGB zu.
66
1. Dem Unterlassungsanspruch nach § 139 Abs. 1 PatG steht nicht entgegen, dass die Beklagte die schematische Darstellung der angegriffenen Ausführungsform mittlerweile von ihrer Webseite entfernt hat. Da sie keine strafbewehrte Unterlassungserklärung abgegeben hat, wurde die Wiederholungsgefahr durch diesen rein tatsächlichen Akt nicht beseitigt.
67
2. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Landgerichts München I, dass die Klägerin im Rahmen des § 140 b Abs. 1 PatG Anspruch auf Erteilung der Auskünfte in elektronischer Form hat (vgl. LG München I, GRUR-RS 2021, 40241 – Palettenbehälter).
68
3. Hinsichtlich des Rückruf- und Vernichtungsanspruchs nach § 140a Abs. 1 und 3 PatG kann sich die Beklagte nicht auf Verhältnismäßigkeitserwägungen (§ 140a Abs. 4 PatG) berufen, weil sie nicht dargelegt hat, dass mit dem Rückruf der angegriffenen Ausführungsform eine besondere, über die regelmäßige Folge eines Rückrufanspruchs hinausgehende Härte verbunden ist.
69
Für eine Aussetzung der Verhandlung besteht keine Veranlassung, § 148 ZPO.
70
1. Nach ständiger Rechtsprechung der Kammern des Landgerichts München I (vgl. GRUR-RS 2023, 26656 Rn. 93; GRUR-RS 2019, 31034 Rn. 66; GRUR-RS 2019, 31037 Rn. 63; BeckRS 2018, 41093 Rn. 147) stellen ein Einspruch oder die Erhebung einer Nichtigkeitsklage als solche noch keinen Grund dar, den Verletzungsrechtsstreit auszusetzen, weil dies faktisch darauf hinauslaufen würde, dem Angriff auf das Klagepatent eine den Patentschutz hemmende Wirkung beizumessen. Das ist dem Gesetz jedoch fremd. Die Interessen der Parteien sind vielmehr gegeneinander abzuwägen, wobei grundsätzlich dem Interesse des Patentinhabers an der Durchsetzung seines erteilten Patents Vorrang gebührt. Die Aussetzung kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein Widerruf oder eine Vernichtung des Klagepatents zu erwarten ist. Dies kann regelmäßig dann nicht angenommen werden, wenn der dem Klagepatent am nächsten kommende Stand der Technik bereits im Erteilungsverfahren berücksichtigt worden ist oder wenn neuer Stand der Technik lediglich belegen soll, dass das Klagepatent nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, sich jedoch auch für eine Bejahung der Erfindungshöhe, die von der wertenden Beurteilung der hierfür zuständigen Instanzen abhängt, zumindest noch vernünftige Argumente finden lassen.
71
Im Rahmen der Beurteilung, ob eine Aussetzung in Bezug auf ein anhängiges Nichtigkeitsverfahren stattfindet, werden allenfalls präsente Beweismittel berücksichtigt, zumal § 148 ZPO lediglich eine Prognoseentscheidung im Rahmen der Ermessensausübung fordert, aber keine vollständige Sachverhaltsaufklärung im Verletzungsverfahren vorsieht. Die Entscheidung ist im Freibeweisverfahren zu treffen (Zigann/Haedicke/Timmann, Handbuch des Patentrechts, 2. Auflage 2020, § 15 Rn. 479), bei dem höchstens präsente Zeugen vernommen werden können (LG München I, GRUR-RS 2023, 41793 – Proteinbestimmung). Die Erholung eines Sachverständigengutachtens kommt nicht in Betracht.
72
Aufgrund des Vortrags der Beklagten kann vorliegend nicht von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Widerrufs des Klagepatents ausgegangen werden.
73
2. Der Gegenstand von Anspruch 1 ist neu.
74
a. Der Gegenstand von Anspruch 1 wird nicht durch eine – von der Beklagten behauptete und der Klägerin bestrittene – Vorbenutzung vorweggenommen.
75
(1.) Nach § 3 Abs. 1 S. 2 PatG scheidet die Neuheit und damit auch Patentfähigkeit hinsichtlich solcher technischer Lehren aus, die durch Benutzung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind. Dieser Begriff ist entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch weit zu verstehen und umfasst alle Handlungen, mit denen die der Erfindung zugrundeliegenden technischen Informationen objektiv einem unbestimmten Personenkreis bekannt gegeben wurden (Melullis, Benkard, PatG, 12. Aufllage, § 3 Rn. 122). Dafür ist erforderlich, dass beliebige Dritte, und damit auch fachkundige Personen zuverlässige, ausreichende Kenntnisse von der Erfindung erhalten (BGH GRUR 1996, 747, 752 – Lichtbogen-Plasma-Beschichtungssystem; BGH GRUR 1986, 372, 373 – Thrombozyten-Zählung). Diese müssen in die Lage versetzt werden, die offenbarte technische Lehre ohne eigene erfinderische Tätigkeit nachzuarbeiten (Melullis, a.a.O., Rn. 125). Der Annahme einer offenkundigen Vorbenutzung steht es nicht entgegen, wenn die Fachwelt die benötigten Informationen erst bei einer Untersuchung des auf dem Markt erhältlichen Produkts gewinnen kann (BGH a.a.O. – Thrombozyten-Zählung). Auf die Frage, ob mit einer derartigen Untersuchung zu rechnen ist, kommt es für die Beurteilung der Offenkundigkeit nur dann an, wenn eine Untersuchung des Gegenstands im Verhältnis zu dem mit dem Produkt erwarteten Gewinn in keinem wirtschaftlich vernünftigen Verhältnis steht (Melullis, a.a.O., Rn. 131).
76
Sofern der Aussetzungsantrag auf eine angebliche offenkundige Vorbenutzung gestützt ist, kann dem nur unter strengen Voraussetzungen stattgegeben werden (vgl. OLG Düsseldorf, GRUR 1979, 636, 637). So ist eine schlüssige und detaillierte Darstellung des Vorbenutzungssachverhalts mit entsprechendem Beweisantritt im Nichtigkeitsverfahren erforderlich. Dabei müssen auch objektive Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Vorbenutzungsbehauptung vorliegen. Die Aussetzung nach § 148 ZPO im Hinblick auf ein anhängiges Nichtigkeitsverfahren kann nicht auf offenkundige Vorbenutzung gestützt werden, wenn die Patentinhaberin die Vorbenutzung bestreitet und zu ihrem Nachweis ein Sachverständigengutachten erholt werden müsste.
77
(2.) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze scheidet die Annahme einer neuheitsschädlichen Vorbenutzung aus. Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob die Untersuchungen der Beklagten die Verwirklichung sämtlicher Merkmale des Patentanspruchs ergeben haben.
78
Grundsätzlich käme eine offenkundige Vorbenutzung auch dann in Betracht, falls sich die Kenntnis von der technischen Lehre erst durch die Untersuchung ergeben hätte. Im konkreten Fall steht dem jedoch entgegen, dass die Klägerin (auch) bestritten hat, dass die Zwischenfolie bereits vor Einbau in das Verbundglas patentgemäß ausgestaltet gewesen sei und sich eine etwaige (von der Klägerin ebenfalls bestrittene) patentgemäße Ausgestaltung nicht erst durch den Einbauprozess ergeben habe. Diese Frage kann nicht mit dem seitens der Beklagten angebotenen Zeugenbeweis geführt werden. Ob ein Sachverständigengutachten zu dem gewünschten Ergebnis führt, braucht vorliegend nicht entschieden werden, da das Ergebnis einer Beweisaufnahme nicht vorhersehbar ist und nicht die Aussetzung begründen kann. Gleichwohl sprechen sowohl die Tatsache, dass die Klägerin erst im Oktober 2008 die Markteinführung einer patentgemäßen Folie publik gemacht hat, als auch dass das im Jahr 2005 hergestellte Fahrzeug noch nicht über ein – die hiesige Technologie erst erforderndes – HUD verfügt, gegen eine offenkundige Vorbenutzung.
79
b. Die Entgegenhaltung EP 1 800 855 A1 (Anlage HL 3 – NK 3, nachfolgend: NK 3), die bereits Gegenstand des Erteilungsverfahrens war, steht dem Bestand des Klagepatents nicht neuheitsschädlich entgegen, da sie Merkmal 5 und Merkmal 6b nicht eindeutig offenbart.
80
(1.) Die Entgegenhaltung offenbart Verbundglas für eine Windschutzscheibe, das zur Anwendung in einem HUD-System geeignet ist (Abs. [0001] der NK 3). Die Beklagte stützt sich insbesondere auf die Abbildung der Figur 5 der Entgegenhaltung, welche das dritte Ausführungsbeispiel zeigt:
81
Die Beschreibung führt hierzu in Abs. [0093] aus (Hervorhebungen durch das Gericht):
[0093] The interlayer is a multi-layer film containing surface layers 12 a and 12 b and a sound insulation layer 12c sandwiched by the surface layers, and the interlayer is bonded to the 2nd face of the glass sheet 11a and the 3rd face of the glass sheet 11b, to form the laminated glass 10. The surface layers 11 a (sic) and 12 b and the sound insulation layer 12 c each has a wedge-shaped thickness profile in which the upper side is thick and the lower side is thin, and the sound insulation layer 12c is made of a resin having lower hardness than the surface layers.
82
Hinsichtlich der Dicke der Funktionsschicht (und damit des Merkmals 5) berufen sich die Beklagten auf Abs. [0057], welcher für die Schallschutzschicht eine Dicke von höchstens 0,5 mm, vorzugsweise mindestens 0,1 mm offenbart. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese für das erste Ausführungsbeispiel mit einer gleichbleibend dicken schallisolierenden Schicht genannten Maße auch auf das dritte Ausführungsbeispiel mit einer keilförmig ausgestalteten Schallschutzschicht übertragbar sind. Jedenfalls offenbart die Entgegenhaltung NK 3 nicht, dass diese Schicht auch deutlich dünner als mindestens 0,1 mm (nämlich wie bei Merkmal 5 des Klagepatents mit 0,02 mm) ausgestaltet werden kann.
83
Auch die mit Merkmal 6b beanspruchte genaue chemische Zusammensetzung der schallisolierenden Schicht wird durch die Entgegenhaltung NK 3 nicht offenbart. Die Entgegenhaltung NK 3 nennt in Abs. [0099] beispielhaft den Acetalisierungsgrad von 60,2 Mol-%, welcher außerhalb der der beanspruchten Spanne von 70–85 Mol-% liegt.
84
3. Ausgehend von den Entgegenhaltungen NK 8 und NK 11 beruht der Gegenstand von Anspruch 1 auf erfinderischer Tätigkeit.
85
a. Der Gegenstand einer Erfindung ist dann naheliegend, wenn der Fachmann mit seinen durch seine Ausbildung und berufliche Erfahrung gewonnenen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Lage war, die erfindungsgemäße Lösung des technischen Problems aus dem Vorhandenen zu entwickeln. Darüber hinaus bedarf es regelmäßig zusätzlicher, über die Erkennbarkeit des technischen Problems hinausgehender Anstöße, Hinweise, Anregungen oder sonstiger Anlässe dafür, die Lösung des technischen Problems gerade auf dem Weg der Erfindung zu suchen (BGH BeckRS 2018, 13279 Rn. 49 f. – Patentfähigkeit eines Tongebers für Einparkhilfesysteme von Fahrzeugen; BGH, BeckRS 2009, 12874, Rn. 20 – Betrieb einer Sicherheitseinrichtung; BGH GRUR 2010, 407, Rn. 17 – Einteilige Öse). Regelmäßig ist dafür erforderlich, dass entweder im Stand der Technik schon ein Hinweis auf die Lösung vorhanden war oder dass die Lösung als ein generelles, für eine Vielzahl von Anwendungsfällen in Betracht zu ziehendes Mittel ihrer Art nach zum allgemeinen Fachwissen der angesprochenen Fachperson gehört (BGH, GRUR 2014, 647, Rn. 26 – Farbversorgungssystem).
86
b. Ausgehend von der Entgegenhaltung US 2002/0086141 A1 (Anlage HL 3 – NK 8, nachfolgend: NK 8) beruht das Klagepatent auf erfinderischer Tätigkeit.
87
Die Entgegenhaltung NK 8 war – wie auch die Entgegenhaltung NK 3 – bereits Gegenstand des Erteilungsverfahrens. Sie beansprucht eine Windschutzscheibe aus einem Verbundglas, welches zur Anwendung in einem HUD-System geeignet ist. Die Ansprüche 1, 3 und 4 der Entgegenhaltung lauten:
1. A laminated glass windscreen having a taper angle for a reflector in a HUD system, comprising: (i) a first pane, (ii) a second pane, (iii) a intermediate layer having a wedge-shaped cross-section, between said first and second panes, comprising (a) a first thermoplastic sheet comprising a tinted filtering strip at an upper edge of said first thermoplastic sheet, and
(b) a second thermoplastic sheet, on said first thermoplastic sheet, wherein said second thermoplastic sheet has a wedge-shaped cross-section.
3. The laminated glass windscreen of claim 1, wherein said first thermosplastic sheet has a wedge-shaped cross-section.
4. The laminated glass windscreen of claim 1, wherein said intermediate layer further comprises a support sheet comprising a functional layer, between said first thermoplastic sheet and said second thermoplastic sheet.
(Hervorhebungen durch das Gericht)
88
Die Entgegenhaltung NK 8 offenbart demnach eine Windschutzscheibe aus Verbundglas mit einem vorgegebenen Verjüngungswinkel (Abs. [0002]), bestehend aus zwei Scheiben und einer dazwischen befindlichen keilförmigen Zwischenschicht, die aus zwei thermoplastischen Schichten und einer dazwischenliegenden Funktionsschicht besteht. Eine bevorzugte Ausführungsform wird in der Abbildung der Figur 3 der NK 8 dargestellt.
89
Die Entgegenhaltung NK8 lässt offen, wie die Funktionsschicht ausgestaltet werden soll.
90
Entgegen der Ansicht der Beklagten ist es nicht naheliegend, die Funktionsschicht als Schallschutzschicht auszugestalten. Dabei kommt es nicht darauf an, ob im Stand der Technik bereits – wie von der Beklagten unter Vorlage der Anlage NK 6 (Artikel „Kfz-Fensterglas“ in der Zeitschrift Kinzoku Materials Science & Technology) vorgetragen – bekannt war, Kraftfahrzeugwindschutzscheiben mit Funktionen für verschiedene Bedürfnisse bereitzustellen. Es ist weiter unschädlich, dass sich unter diesen Funktionen die keilförmige Ausgestaltung zur Verwendung in einem HUD wie auch die Verwendung einer schalldämpfenden Zwischenschicht befand. Denn es steht der Patentfähigkeit einer technischen Lehre nicht zwangsläufig entgegen, dass jedes ihrer Merkmale für sich genommen im Stand der Technik bekannt ist. Entscheidend ist die technische Lehre in ihrer Gesamtheit (BGH GRUR 2011, 903 Rn. 21 – Atemgasdrucksteuerung).
91
Selbst wenn man davon ausginge, dass der Fachmann Veranlassung hatte, die Funktionsschicht als schallisolierende Schicht auszugestalten, würde dies nicht unmittelbar und in naheliegender Weise zu dem beanspruchten Gegenstand führen, zumal zu viele mögliche Ausgestaltungen in Betracht kommen und der Fachmann eine Vielzahl von Schritten unternehmen müsste, um zu der beanspruchten Merkmalskombination zu gelangen. Der Fachmann hatte weder Grund zur keilförmigen Ausgestaltung (Merkmal 3) der Schallschutzschicht noch Veranlassung, diese in einer Dicke von mindestens 0,02 mm auszugestalten. Schließlich hatte er auch keine Veranlassung, die in der Merkmalsgruppe 6 offenbarte chemische Zusammensetzung der schallisolierenden Schicht zu wählen. Die Annahme des Naheliegens verstieße vorliegend gegen das Verbot der rückschauenden Betrachtung.
92
c. Schließlich liegt erfinderische Tätigkeit auch ausgehend von der Entgegenhaltung JP U 06-115980 A (Anlage HL 3 – NK11, nachfolgend: NK 11) vor. Die Entgegenhaltung NK 11 stellt Stand der Technik dar, der noch weiter vom Gegenstand des Klagepatents entfernt ist als die Entgegenhaltung NK 8, zumal sie sich nicht mit der Problematik von Doppelbildern bei HUD-Systemen befasst.
93
Aufgrund dieser Umstände kann nicht angenommen werden, dass das Klagepatent mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vernichtet werden wird. Daher übt die Kammer das ihr eingeräumte Ermessen dahingehend aus, das Verfahren nicht auszusetzen.
94
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.
95
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Grundlage in § 709 ZPO.