Titel:
EuGH-Vorlage zum Datenschutz: Aufsichtsbehörde als Verantwortlicher im Rahmen des Beschwerdeverfahrens?
Normenketten:
GRCh Art. 8 Abs. 2 S. 2
BayDSG Art. 20 Abs. 2
AEUV Art. 267
DS-GVO Art. 4 Nr. 7, Nr. 21, Art. 15, Art. 23, Art. 77
Leitsätze:
1. Es ist unsionsrechtlich zweifelhaft, ob eine Datenschutzaufsichtsbehörde gleichzeitig Aufsichtsbehörde iSd Art. 4 Nr. 21 DS-GVO und Verantwortlicher und Anspruchsgegner iSd Art. 15 DS-GVO iVm Art. 4 Nr. 7 DS-GVO sein kann. (Rn. 20 – 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Soweit ein solches Nebeneinander möglich ist, ist unionsrechtlich überdies zweifelhaft, ob ein pauschaler Ausschluss des Auskunftsrechts des Art. 15 DS-GVO, wie ihn Art. 20 Abs. 2 BayDSG vorsieht, den Voraussetzungen der Öffnungsklausel des Art. 23 Abs. 1 DS-GVO genügt. (Rn. 22 – 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Vorlage an EuGH zur Vorabentscheidung, Aufsichtsbehörde als Verantwortlicher im Rahmen des Beschwerdeverfahrens, Auskunftspflicht der Datenschutzaufsichtsbehörde, Vereinbarkeit des Art. 20 Abs. 2 BayDSG mit Art. 23 DS-GVO, Datenschutz-Grundverordnung, Auskunft, Auskunftsrecht, Beschwerdeverfahren, Datenschutzaufsichtsbehörde, Unionsrecht, EuGH-Vorlage, DS-GVO, DSGVO
Fundstelle:
GRUR-RS 2025, 3839
Tenor
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden nach Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 15 VO (EU) 2016/679 i.V.m. Art. 4 Nr. 7 VO (EU) 2016/679 dahingehend auszulegen, dass eine Aufsichtsbehörde nach Art. 4 Nr. 21 VO (EU) 2016/679, die im Rahmen eines von einer betroffenen Person eingeleiteten Beschwerdeverfahrens nach Art. 77 VO (EU) 2016/679 tätig wird, gleichzeitig im Sinne von Art. 15 VO (EU) 2016/679 i.V.m. Art. 4 Nr. 7 VO (EU) 2016/679 „Verantwortlicher“ und damit auf Grundlage des Art. 15 VO (EU) 2016/679 gegenüber der betroffenen Person zur Auskunft verpflichtet ist?
2. Für den Fall, dass Frage 1 mit „ja“ beantwortet wird:
Ist das Unionsrecht, insbesondere Art. 23 VO (EU) 2016/679, dahingehend auszulegen, dass es einer nationalen Regelung – wie dem im Ausgangsverfahren streitigen Art. 20 Abs. 2 BayDSG – entgegensteht, wonach Auskunfts- oder Einsichtsrechte hinsichtlich Akten und Dateien der Aufsichtsbehörden nach Art. 4 Nr. 21 VO (EU) 2016/679 pauschal nicht bestehen?
II. Das Klageverfahren wird für die Dauer des Vorabentscheidungsverfahrens ausgesetzt.
Gründe
A. Gegenstand und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens
I. Streitgegenstand und Sachverhalt
1
Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die Ablehnung eines Auskunftsersuchens nach Art. 15 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der RL 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung, im Folgenden DS-GVO) durch das beklagte Bayerische Landesamt für Datenschutzaufsicht (Landesamt) rechtswidrig war.
2
Das Landesamt überwacht die Einhaltung des Datenschutzrechts im nicht-öffentlichen Bereich im Freistaat Bayern und ist damit innerhalb Bayerns als Aufsichtsbehörde unter anderem zuständig für Datenschutzbeschwerden (Art. 77 DS-GVO) Privater gegen nicht-öffentliche Stellen. Der Kläger ist Journalist und betreibt einen Blog, der sich unter anderem mit dem Datenschutz beschäftigt. Seit 2021 hat der Kläger mehrere Beschwerdeverfahren beim Landesamt eingeleitet.
3
Das Landesamt leitete nach einer Datenschutzbeschwerde des Klägers vom 13. Mai 2022 ein aufsichtliches Beschwerdeverfahren gegen einen Dritten ein. Das Landesamt informierte den Kläger mit E-Mail vom 11. Oktober 2022, dass es in diesem Zusammenhang Datenschutzverstöße des Beschwerdegegners festgestellt habe. Nach Ablauf der Umsetzungsfrist hierfür werde bei erneuten Verstößen des Beschwerdegegners eine kostenpflichtige Verwarnung ausgesprochen. Mit E-Mail vom selben Tag begehrte der Kläger die Mitteilung weiterer Details hinsichtlich der durch das Landesamt ergriffenen Maßnahmen. Nachdem das Landesamt diesem Begehren nicht nachkam, beantragte der Kläger mit E-Mail vom 11. Oktober 2022 eine vollständige Auskunft nach Art. 15 Abs. 1 und 3 DS-GVO.
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Mit E-Mail und Bescheid vom 20. Oktober 2022 entschied das Landesamt, dass der Antrag auf Auskunft gemäß Art. 15 Abs. 1 und Abs. 3 DS-GVO abgelehnt werde. Die Ablehnung begründete das Landesamt damit, dass gemäß ausdrücklicher Regelung in Art. 20 Abs. 2 BayDSG Auskunfts- oder Einsichtsrechte hinsichtlich Akten und Dateien der Aufsichtsbehörden nicht bestünden.
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Dagegen erhob der Kläger mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 6. Dezember 2022 beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach Klage und beantragte zunächst, das Landesamt zu verpflichten, dem Kläger eine Kopie aller Daten in der Akte des am 13. Mai 2022 eingeleiteten Beschwerdeverfahrens zur Verfügung zu stellen.
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Am 23. Februar 2024 gewährte das Landesamt – allerdings ohne Anerkennung einer entsprechenden Rechtspflicht – elektronisch Einsicht in die Akte des durch den Beklagten angestoßenen Beschwerdeverfahrens.
7
Nunmehr beantragt der Kläger im Ausgangsverfahren ausschließlich die Feststellung,
dass der Bescheid vom 20. Oktober 2022, mit dem das Landesamt das Auskunftsersuchen des Klägers ablehnte, rechtswidrig war.
II. Nationaler Rechtsrahmen
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Das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) lautet auszugsweise wie folgt:
„§ 40 Aufsichtsbehörden der Länder
(1) Die nach Landesrecht zuständigen Behörden überwachen im Anwendungsbereich der Verordnung (EU) 2016/679 bei den nichtöffentlichen Stellen die Anwendung der Vorschriften über den Datenschutz. (…)“
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Das Bayerische Datenschutzgesetz (BayDSG), eine Rechtsnorm des Freistaats Bayern, die nur für den Freistaat Bayern Gültigkeit besitzt, lautet auszugsweise wie folgt:
„Art. 10 Auskunftsrecht der betroffenen Person (zu Art. 15 DSGVO)
(1) 1Ob einer Person Auskunft erteilt wird, dass personenbezogene Daten an die Staatsanwaltschaft, Polizei, Finanzverwaltung, Organe der überörtlichen Rechnungsprüfung, den Verfassungsschutz, den Bundesnachrichtendienst, den Militärischen Abschirmdienst oder andere Behörden des Bundesministeriums der Verteidigung übermittelt wurden, entscheidet der Verantwortliche im Einvernehmen mit den Stellen, an die diese Daten übermittelt wurden. 2Dies gilt auch für die Auskunft über personenbezogene Daten, die dem Verantwortlichen von einer der in Satz 1 genannten Stellen übermittelt wurden.
(2) Unbeschadet des Abs. 1 unterbleibt die Auskunft, soweit
1. die Auskunft die ordnungsgemäße Erfüllung von Aufgaben der Gefahrenabwehr oder die Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten, Ordnungswidrigkeiten oder berufsrechtlichen Vergehen oder die Strafvollstreckung gefährden würde,
- 2.
-
die Auskunft die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die Landesverteidigung oder ein wichtiges wirtschaftliches oder finanzielles Interesse des Freistaates Bayern, eines anderen Landes, des Bundes oder der Europäischen Union – einschließlich Währungs-, Haushalts- und Steuerangelegenheiten – gefährden würde,
- 3.
-
personenbezogene Daten oder die Tatsache ihrer Speicherung zum Schutz der betroffenen Person oder wegen der überwiegenden berechtigten Interessen Dritter geheim gehalten werden müssen,
- 4.
-
personenbezogene Daten ausschließlich zu Zwecken der Datensicherung oder der Datenschutzkontrolle verarbeitet werden, eine Auskunftserteilung einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern würde und eine Verarbeitung zu anderen Zwecken durch geeignete technische und organisatorische Maßnahmen ausgeschlossen ist oder
- 5.
-
personenbezogene Daten weder automatisiert verarbeitet werden noch in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen und a) die betroffene Person keine Angaben macht, die das Auffinden der Daten ermöglichen, oder
b) der für die Erteilung der Auskunft erforderliche Aufwand außer Verhältnis zu dem geltend gemachten Informationsinteresse steht.
(3) 1Wird die Auskunft nicht oder nur eingeschränkt erteilt,
- 1.
-
sind die Gründe dafür aktenkundig zu machen,
- 2.
-
ist die betroffene Person unter Darlegung der Gründe zu unterrichten, soweit dies nicht einem der in Abs. 2 Nr. 1 bis 3 genannten Zwecke zuwiderliefe, und
- 3.
-
ist auf Verlangen der betroffenen Person uneingeschränkte Auskunft der Aufsichtsbehörde zu erteilen.
2Die Aufsichtsbehörde darf der betroffenen Person ohne Zustimmung der in Abs. 1 Satz 1 genannten Stellen keine Informationen mitteilen, die Rückschlüsse auf deren Erkenntnisstand zulassen.
Einrichtung und Aufgaben (zu Art. 51 bis 58 und 85 DSGVO)
(1) 1Das Landesamt für Datenschutzaufsicht (Landesamt) ist Aufsichtsbehörde nach Art. 51 DSGVO und nach § 40 des Bundesdatenschutzgesetzes für nicht öffentliche Stellen. (…)“
Anrufung der Aufsichtsbehörden (zu Art. 77 DSGVO)
(1) 1Jeder kann sich an die Aufsichtsbehörden mit dem Vorbringen wenden, bei der Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten in seinen Rechten verletzt worden zu sein. 2Durch die Anrufung der Aufsichtsbehörden dürfen der betroffenen Person keine Nachteile entstehen.
(2) Auskunfts- oder Einsichtsrechte hinsichtlich Akten und Dateien der Aufsichtsbehörden bestehen nicht.“
10
Die Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 17/19628, dort S. 42 f.) zu Art. 20 BayDSG lautet wie folgt:
„Die Vorschrift konkretisiert das in der DSGVO bereits unmittelbar gewährleistete Beschwerderecht gemäß Art. 77 DSGVO bzw. das Beschwerdeverfahren gemäß Art. 52 der Richtlinie zum Datenschutz bei Polizei und Justiz.
Sie enthält damit mitgliedstaatliche Verfahrensregelungen auf Grundlage von Art. 58 Abs. 4 DSGVO bzw. Art. 47 Abs. 4 der Richtlinie zum Datenschutz bei Polizei und Justiz.
Die in Anknüpfung an die Verwaltungspraxis und Rechtsprechung zum bisherigen Beschwerderecht nach Art. 9 BayDSG (alt) in Abs. 1 Satz 2 und 3 sowie Abs. 2 getroffenen Regelungen stellen klar, dass das datenschutzrechtliche Beschwerdeverfahren dem parlamentarischen Petitionsverfahren gleichzustellen ist (vgl. ausführlich Wilde u. a., Datenschutz in Bayern, Art. 9 BayDSG, Rn. 13).
Die Regelung unterstreicht damit im Interesse effektiver Datenschutzkontrolle in Übereinstimmung mit dem Unionsrecht, dass das durch die Grundrechtecharta verbürgte Beschwerderecht einen Anspruch auf umfassende Überprüfung des Beschwerdevorbringens vermittelt (vgl. EuGH vom 6. Oktober 2015, Rs. C 362/15), aus dem sich alleine eine Verpflichtung der Aufsichtsbehörde zur sachgemäßen Nachforschung und ggf. zur Erteilung eines rechtsmittelfähigen Bescheids ergibt (Nemitz in Ehmann/Selmayr, Datenschutz-Grundverordnung, Art. 77 Rn. 12).
Anders als im Bereich der Bauaufsicht und anderer aufsichtlicher Dreiecksverhältnisse besteht daher kein einklagbarer subjektiv-öffentlicher Anspruch auf aufsichtsbehördliches Einschreiten.
Abs. 2 trifft Bestimmungen zur Begrenzung datenschutzrechtlicher und sonstiger Auskunfts- und Einsichtsrechte. Soweit die Regelung durch die DSGVO begründete Betroffenenrechte einschränkt, stützt sie sich auf Art. 23 DSGVO. Die Regelung unterstreicht insgesamt die besondere Zweckbindung der in Wahrnehmung der datenschutzrechtlichen Überwachungsaufgaben gewonnenen Informationen. Sie erstreckt sich deshalb sowohl auf die durch die DSGVO begründeten Betroffenenrechte als auch auf sonstige individuelle Informationszugangsrechte des nationalen Rechts.“
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Demnach ist das Landesamt innerhalb des Freistaats Bayern Aufsichtsbehörde nach Art. 51 DS-GVO für nicht-öffentliche Stellen. Es ist damit innerhalb Bayerns als Aufsichtsbehörde zuständig unter anderem für Datenschutzbeschwerden privater Bürger gegen nicht-öffentliche Stellen.
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Art. 20 Abs. 2 BayDSG kommt immer dann zur Anwendung und schließt nach nationalem Recht ein Auskunftsrecht nach Art. 15 DS-GVO vollumfänglich aus, wenn es gegenüber dem Landesamt geltend gemacht wird in Bezug auf seine Akten und Dateien. Art. 20 Abs. 2 BayDSG schließt auch Auskunfts- und Einsichtsrechte hinsichtlich der Akten und Dateien des Bayerischen Landesbeauftragten für den Datenschutz – nach Art. 15 Abs. 1 Satz 1 BayDSG zuständige Aufsichtsbehörde nach Art. 51 DS-GVO in Bezug auf öffentliche Stellen – aus. Der Anwendungsbereich von Art. 20 Abs. 2 BayDSG beschränkt sich nach der Auslegung des Gerichts und nach der Anwendungspraxis des Landesamts nicht auf Auskunftsersuchen, die sich auf Akten beziehen, die Beschwerdeverfahren nach Art. 77 DS-GVO betreffen, sondern erstreckt sich auch auf im Rahmen der übrigen Tätigkeit des Landesamts erhobene und verarbeitete Daten.
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Das BayDSG enthält keine Normen, die gegenüber Art. 20 Abs. 2 BayDSG Gegenausnahmen vorsehen.
B. Vorlagefragen und Entscheidungserheblichkeit
I. Unionsrechtlicher Rechtsrahmen
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Die DS-GVO enthält die für den Rechtsstreit zentralen Vorschriften des Unionsrechts. Primär maßgeblich sind Art. 4 Nr. 7 und Nr. 21 DS-GVO, Art. 15 DS-GVO mit Erwägungsgrund 63 sowie Art. 23 DS-GVO mit dem dazugehörigen Erwägungsgrund 73. Im Zusammenhang mit der Auslegung des Art. 23 DS-GVO ist insbesondere Art. 8 Abs. 2 Satz 2 GRCh relevant.
II. Entscheidungserheblichkeit der Auslegungsfragen für das Ausgangsverfahren
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Beide Fragen zur Auslegung der DS-GVO sind für das Ausgangsverfahren entscheidungserheblich.
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Wird die Vorlagefrage 1 mit „nein“ beantwortet, dann war ein Auskunftsrecht des Klägers nach Art. 15 DS-GVO gegen das Landesamt in der gegebenen Konstellation eines zugrundeliegenden Beschwerdeverfahrens nach Art. 77 DS-GVO bereits nach Maßgabe des Unionsrechts ausgeschlossen, sodass es nicht auf die Anwendbarkeit des Art. 20 Abs. 2 BayDSG ankommt.
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Wird die Vorlagefrage 1 mit „ja“ beantwortet kommt es für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits darauf an, ob Art. 20 Abs. 2 BayDSG durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts ausgeschlossen ist. Denn das Landesamt war in diesem Fall nach dem Unionsrecht grundsätzlich Anspruchsgegner eines Auskunftsanspruchs des Klägers nach Art. 15 DS-GVO, der als (potenziell) betroffene Person Auskunft insbesondere über seine – in der geforderten Beschwerdeakte unstreitig vorhandenen – personenbezogenen Daten (Art. 4 Nr. 1 DS-GVO) verlangen konnte, außer Art. 20 Abs. 2 BayDSG schloss diesen Anspruch aus. Anhaltspunkte für die Missbräuchlichkeit des Auskunftsverlangens im Sinne von Art. 12 Abs. 5 Satz 2 DS-GVO sieht das Gericht nicht.
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Wird die Vorlagefrage 2 mit „nein“ beantwortet, so konnte sich das Landesamt in rechtmäßiger Weise auf Art. 20 Abs. 2 BayDSG berufen und das Auskunftsersuchen des Klägers ablehnen; die Klage wäre abzuweisen.
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Wird die Vorlagefrage 2 mit „ja“ beantwortet, so konnte sich das Landesamt nicht in rechtmäßiger Weise auf Art. 20 Abs. 2 BayDSG berufen und das Auskunftsersuchen des Klägers ablehnen.
III. Zweifel an der Auslegung des Unionsrechts
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Wenn ein Beschwerdeführer – wie hier der Kläger – nach Art. 77 DS-GVO ein Beschwerdeverfahren bei einer Datenschutzaufsichtsbehörde – wie hier dem Landesamt – einleitet, dann tritt diese Behörde im Rahmen des Beschwerdeverfahrens dem Beschwerdeführer als Aufsichtsbehörde i.S.d. Art. 4 Nr. 21 DS-GVO gegenüber. Teilweise wird angenommen, dass dadurch ausgeschlossen ist, dass die Datenschutzaufsichtsbehörde im Verhältnis zum Beschwerdeführer „Verantwortlicher“ im Sinne der Art. 15 DS-GVO i.V.m. Art. 4 Nr. 7 DS-GVO ist (so wohl Engelbrecht in Schröder, Bayerisches Datenschutzgesetz, 1. Aufl. 2021, BayDSG Art. 20 Rn. 20; vgl. auch VG München, B.v. 24.3.2021 – M 13 K 20.6765, ECLI:DE:VGMUENC:2021:0324.M13K20.6765.00 – juris Rn. 25), und dass folglich ein Auskunftsrecht des Beschwerdeführers gegen die Datenschutzaufsichtsbehörde, das sich auf personenbezogene Daten aus dem Beschwerdeverfahren bezieht, von vornherein ausscheidet. Das Landesamt bringt vor, die Pflichten der Aufsichtsbehörde im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens – und damit einhergehend die Rechte des Beschwerdeführers – seien in Art. 77 und 78 DS-GVO abschließend geregelt, was einen Rückgriff auf die allgemeinen Betroffenenrechte ausschließe.
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Das vorlegende Gericht geht dagegen davon aus, dass eine Datenschutzaufsichtsbehörde gleichzeitig Aufsichtsbehörde i.S.d. Art. 4 Nr. 21 DS-GVO und Verantwortlicher und Anspruchsgegner i.S.d. Art. 15 DS-GVO i.V.m. Art. 4 Nr. 7 DS-GVO sein kann. Es ist nicht erkennbar, dass es der Unionsgesetzgeber im System der DS-GVO angelegt hat, dass die Datenschutzaufsichtsbehörde, die ihrer Konzeption nach im Rahmen des Beschwerdeverfahrens personenbezogene Daten verarbeiten muss, systemwidrig dabei nicht i.S.d. Art. 15 DS-GVO, Art. 4 Nr. 7 DS-GVO Verantwortliche sein kann. Insbesondere der Zweck von Art. 15 DS-GVO, eine betroffene Person in die Lage zu versetzen, die Rechtmäßigkeit einer Datenverarbeitung überprüfen zu können (vgl. Erwägungsgrund 63 zur DS-GVO), kann auch durch die Geltendmachung eines Auskunftsrechts gegenüber der Datenschutzaufsichtsbehörde erreicht werden, die genauso wie andere Behörden ihrerseits an das Datenschutzrecht gebunden ist.
22
Vorlagefrage 2 stellt sich nur dann, wenn die Frage 1 mit „ja“ beantwortet wird. Dann stellt sich nämlich im Ausgangsverfahren die Frage, ob Art. 20 Abs. 2 BayDSG dem Auskunftsanspruch des Klägers nach Art. 15 DS-GVO entgegenstand.
23
a) Das vorlegende Gericht hat erhebliche Zweifel daran, dass ein – bezogen auf Akten und Dateien der Aufsichtsbehörde – derart pauschaler Ausschluss des Auskunftsrechts des Art. 15 DS-GVO, wie ihn Art. 20 Abs. 2 BayDSG vorsieht, den Voraussetzungen der Öffnungsklausel des Art. 23 Abs. 1 DS-GVO genügt.
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Es ist aus Sicht des vorlegenden Gerichts unter Beachtung von Erwägungsgrund 73 zur DS-GVO fragwürdig, ob Art. 20 Abs. 2 BayDSG in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme darstellt, um ein in Art. 23 Abs. 1 Buchst. a bis j DS-GVO aufgelistetes Ziel sicherzustellen.
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Das vorlegende Gericht bezweifelt bereits die Eignung des Art. 20 Abs. 2 BayDSG, um ein in Art. 23 Abs. 1 Buchst. a bis j DS-GVO aufgelistetes Ziel sicherzustellen.
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Die Gesetzesbegründung nennt zwar ausdrücklich Art. 23 DS-GVO als Rechtsgrundlage für Art. 20 Abs. 2 BayDSG, bezieht sich aber nicht auf ein dort aufgelistetes Ziel. Es wird lediglich aufgeführt, die Regelung unterstreiche insgesamt die besondere Zweckbindung der in Wahrnehmung der datenschutzrechtlichen Überwachungsaufgaben gewonnenen Informationen. Das Landesamt bringt vor, Behörden der Datenschutzaufsicht seien für die effektive Erfüllung ihrer Aufgaben besonders darauf angewiesen, Verantwortlichen und Auftragsverarbeitern Vertraulichkeit zusichern zu können. Art. 20 Abs. 2 BayDSG gewährleiste auch die berechtigten Vertraulichkeitserwartungen der Beschwerdeführer, denn das Auskunftsrecht bestehe auch gegenüber Verantwortlichen. Art. 20 Abs. 2 BayDSG sei letztlich auch eine mitgliedstaatliche Ausprägung der in Art. 54 Abs. 2 DS-GVO vorgesehenen Verschwiegenheitspflicht der Mitglieder und Bediensteten der Aufsichtsbehörden. Überdies rechtfertige die den Datenschutzaufsichtsbehörden eingeräumte völlige Unabhängigkeit eine Freistellung vom Auskunftsrecht; ein Auskunftsrecht würde bei den Datenschutzaufsichtsbehörden ein Spannungsverhältnis zur Wahrnehmung ihrer unabhängigen Kontrollaufgabe gegenüber der Exekutive bzw. den datenverarbeitenden privaten Stellen schaffen. Durch diese Zwecke seien Art. 23 Abs. 1 Buchst. c, e, h und i DS-GVO verwirklicht. Die Norm sei nicht wegen Art. 15 Abs. 4 DS-GVO entbehrlich, weil Art. 20 Abs. 2 BayDSG nicht nur die Rechte Dritter schütze, sondern auch die des Landesamts.
27
Die Funktionsfähigkeit der Datenschutzaufsichtsbehörden mag ein wichtiges Ziel des allgemeinen öffentlichen Interesses (Art. 23 Abs. 1 Buchst. e, h DS-GVO) darstellen können. Dass die Erfüllung von Auskunftsbegehren insbesondere das Landesamt in seiner Funktionsfähigkeit einschränken könnte, ist allerdings nach der Überzeugung des vorlegenden Gerichts zweifelhaft. Zwar werden durch die Erfüllung von Auskunftsersuchen Ressourcen gebunden, dass dies allerdings zu einer Lähmung der Arbeit der Aufsichtsbehörden führen könnte, erscheint fernliegend. Anderen deutschen Aufsichtsbehörden steht eine mit Art. 20 Abs. 2 BayDSG vergleichbare landesrechtliche Regelung nicht zur Seite, ohne dass diese nicht mehr zur Erfüllung ihrer Aufgaben in der Lage wären. Entsprechend ist es wenig überzeugend, Art. 20 Abs. 2 BayDSG unter Berufung auf die öffentliche Sicherheit zu rechtfertigen (Art. 23 Abs. 1 Buchst. c DS-GVO). Das vorlegende Gericht sieht auch kein besonderes Spannungsverhältnis zwischen der unabhängigen Kontrollaufgabe der Datenschutzaufsichtsbehörden und dem Auskunftsrecht. Das schematische Abarbeiten von Auskunftsersuchen zugunsten von Auskunftsberechtigten gefährdet in keiner Weise die Unabhängigkeit der Aufgabenerfüllung der Auskunftsbehörde. Unabhängigkeit verlangt nicht, dass die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Aufsichtsbehörde keiner Überprüfung durch die Betroffenen zugänglich sein darf. Die durch das Landesamt vorgebrachte Gefahr einer „Einflussnahme“, die durch einen Informationszugang begünstigt werden könnte, kann das vorlegende Gericht nicht nachvollziehen.
28
Die Rechte Dritter (Art. 23 Abs. 1 Buchst. i DS-GVO) werden – wie offenbar auch das Landesamt erkennt – bereits durch Art. 15 Abs. 4 DS-GVO geschützt. Ein gänzlicher Ausschluss des Auskunftsrechts würde noch darüber hinaus allenfalls eine geringfügige Minimierung der Wahrscheinlichkeit, dass personenbezogene Daten Dritter einem Auskunftsberechtigten preisgegeben werden, bedeuten.
29
Jedenfalls stellt Art. 20 Abs. 2 BayDSG nach Dafürhalten des vorlegenden Gerichts keine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme zur Zielerreichung dar. Die Ziele des Art. 23 Abs. 1 DS-GVO werden durch die gegenständliche Norm allenfalls am Rande geschützt, sodass ihr Gewicht in der vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung ein geringes ist. Demgegenüber hat das Auskunftsrecht des Art. 15 DS-GVO Grundrechtsrang (Art. 8 Abs. 2 Satz 2 GRCh). Das vorlegende Gericht kann nicht erkennen, dass die Datenschutzaufsichtsbehörden – gerade im Vergleich zu anderen Behörden – eines besonderen Schutzes vor Auskunftsansprüchen bedürfen könnten, ohne den ihre effektive und unparteiische Aufgabenerfüllung gefährdet ist. Daher erscheint der in Art. 20 Abs. 2 BayDSG normierte, pauschale Ausschluss von Auskunfts- und Einsichtsrechten unverhältnismäßig.
30
Dass das Beschwerderecht entgegen der Gesetzesbegründung nicht lediglich ein petitionsähnliches Recht ist, hat der EuGH inzwischen klargestellt (EuGH, U.v. 7.12.2023 – C-26/22, C-64/22, ECLI:ECLI:EU:C:2023:958 – juris Rn. 58 ff.).
31
Obschon die Beschränkung des Art. 20 Abs. 2 BayDSG jedenfalls das Grundrecht aus Art. 8 Abs. 2 Satz 2 GRCh tangiert, geht das vorlegende Gericht nicht davon aus, dass die dadurch vorgenommene Beschränkung des Art. 15 DS-GVO den Wesensgehalt der Grundrechte und Grundfreiheiten missachtet.
32
b) Das vorlegende Gericht zweifelt ebenfalls daran, dass Art. 20 Abs. 2 BayDSG die formellen Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 2 DS-GVO erfüllt.
33
Zwar muss, wie etwa die englische Sprachfassung des Art. 23 Abs. 2 DS-GVO deutlich macht („where relevant“), nicht jede beschränkende nationale Gesetzgebungsmaßnahme die formellen Vorgaben dieser Norm kumulativ beachten. Denn nicht jede formelle Vorgabe nach Art. 23 Abs. 2 DS-GVO eignet sich für eine Norm, die das Auskunftsrecht gemäß Art. 15 DS-GVO einschränkt.
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Allerdings ist festzustellen, dass Art. 20 Abs. 2 BayDSG in der Sache das Recht aus Art. 15 DS-GVO einschränkt, ohne dass durch die Norm selbst oder anderweitig in dessen systemischen Zusammenhang darauf hingewiesen wird, dass Art. 15 DS-GVO eingeschränkt wird. Daher ist fraglich, ob Art. 23 Abs. 2 Buchst. c DS-GVO genügt ist, der grundsätzlich verlangt, dass eine Gesetzgebungsmaßnahme gegebenenfalls spezifische Vorschriften in Bezug auf den Umfang der vorgenommenen Beschränkungen enthält. Auch ist fraglich, inwieweit vorliegend – bei einem pauschalen Ausschluss des Auskunftsrechts in Bezug auf Akten und Dateien der Aufsichtsbehörde – nach Art. 23 Abs. 2 Buchst. g und h DS-GVO spezifische Vorschriften in Bezug auf die Risiken für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen und das Recht der betroffenen Personen auf Unterrichtung über die Beschränkung in der gegenständlichen Gesetzgebungsmaßnahme fehlen. Dass dem Bayerischen Gesetzgeber die Vorgaben des Art. 23 Abs. 2 DS-GVO bekannt sind, hat er an anderer Stelle des BayDSG gezeigt: So setzt Art. 10 BayDSG, der ausdrücklich Art. 15 DS-GVO benennt und in seinem Abs. 3 insbesondere bei nicht oder nur eingeschränkt erteilter Auskunft eine Unterrichtungspflicht der betroffenen Person normiert, Art. 23 Abs. 2 DS-GVO anschaulich um.
C. Aussetzung des Verfahrens
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Nach § 94 VwGO wird das Verfahren bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Vorlagefragen ausgesetzt.