Inhalt

OLG Nürnberg, Hinweisbeschluss v. 22.10.2025 – 3 U 1028/25
Titel:

Prüfung der technischen Bedingtheit der Merkmale eines Designs

Normenkette:
UGV Art. 8 Abs. 1, Art. 10, Art. 19 Abs. 1
Leitsatz:
Die Nichtsichtbarkeit eines Designs bei der bestimmungsgemäßen Verwendung durch den Endbenutzer stellt ein Indiz dafür dar, dass die Erscheinungsmerkmale des Erzeugnisses überwiegend durch dessen technische Funktion bedingt sind.
Schlagworte:
Designschutz, Geschmacksmusterverletzung, technische Bedingtheit, Gesamteindruck, Schutzumfang, Nichtigkeitsverfahren, Berufungsrücknahme
Vorinstanz:
LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 16.05.2025 – 4 HK O 3245/21
Fundstellen:
GRUR-RR 2026, 19
GRUR-RS 2025, 30279

Tenor

Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 16.05.2025, Az. 4 HK O 3245/21, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.

Tatbestand

A.
1
Die Klägerin ist Inhaberin des eingetragenen Unionsgeschmacksmusters Nr. […] für „Befestigungsvorrichtungen, Klickelemente, Kupplung, Seildichtungen, Bindeelemente“ (Anlage K 2; im Folgenden: Klagemuster):
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Das Klagemuster steht in Kraft. Im von der Beklagten zu 1) angestrengten Nichtigkeitsverfahren (Az. R0789/2024-3) bestätigte die Beschwerdekammer des EUIPO mit Beschluss vom 22.07.2025 die Rechtsbeständigkeit des Geschmacksmusters. Es betrifft eine Einzelrohrabdichtung zum Montieren an einen Endabschnitt eines Kunststoffrohres, in dem ein Datenkabel, wie z.B. ein Glasfaserkabel, geführt ist. Die Einzelrohrabdichtungen der Klägerin schließen Rohre und Kabel gas- und wasserdicht ab und schützen somit unterirdische Teile von Telekommunikations-Netzwerken gegen äußere Einflüsse. Das Klagemuster soll eine Abdichtung zwischen einem Rohr/Kabel mit einem Außendurchmesser von 7 mm und einem Glasfaserkabel mit einem Außendurchmesser von 1,25 mm gewährleisten und richtet sich ausschließlich an Fachkreise. Die Abdichtungen werden von technischen Fachleuten unter Grund oder in Verteilerkästen verlegt.
3
Die Klägerin beanstandet die wie folgt ausgestalteten Einzelzugabdichtungen der Beklagten in zwei Ausführungsformen (transparent und opak):
4
Das Landgericht wies die auf das Klagemuster gestützte Klage auf Unterlassung, Schadensersatzfeststellung, Auskunftserteilung, Vernichtung und Rückruf ab. Das Klagemuster werde weder durch die transparente noch durch die opake Ausführung der Beklagten verletzt, da die beanstandeten Ausführungsformen beim informierten Benutzer einen anderen Gesamteindruck als beim Klagemuster erwecken würden. Darüber hinaus wies das Erstgericht die Widerklage auf Erklärung der Nichtigkeit des Klagemusters ab.
5
Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin teilweise mit ihrer Berufung. Sie beantragt, unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils:
Der Klage wird in dem aus dem Urteil des LG Nürnberg-Fürth vom 16.05.2025 (S. 8-10) ersichtlichen Umfang stattgegeben.
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Das Landgericht habe den Umfang der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers falsch beurteilt. Insbesondere habe es die technische Bedingtheit der einzelnen Merkmale des Klagemusters unzutreffend angenommen. Vor diesem Hintergrund sei das Erstgericht rechtsfehlerhaft zu dem Ergebnis gekommen, dass der Gesamteindruck des angegriffenen Musters von dem des Klagemusters abweiche.
7
Die Beklagten akzeptieren die Abweisung der Widerklage. Im Übrigen verteidigen sie das erstinstanzliche Urteil und beantragen die Zurückweisung der klägerischen Berufung.
B.
8
Die Berufung der Klägerin ist zur übereinstimmenden Überzeugung der Mitglieder des Senats unbegründet. Das Erstgericht ging zu Recht davon aus, dass die angegriffenen Einzelzugabdichtungen der Beklagten in zwei Ausführungsformen nicht in den – sehr eng zu bemessenden – Schutzbereich des Klagemusters fallen. Der Klägerin stehen daher die geltend gemachten Ansprüche nicht zu.
9
I. Ein eingetragenes Unionsgeschmacksmuster gewährt seinem Inhaber das ausschließliche Recht, es zu benutzen und Dritten zu verbieten, es ohne die Zustimmung des Inhabers zu benutzen (Art. 19 Abs. 1 der Unionsgeschmacksmuster-VO in der seit 01.05.2025 geltenden Fassung, nachfolgend: UGV). Der Umfang des Schutzes aus dem Unionsgeschmacksmuster erstreckt sich nach Art. 10 Abs. 1 UGV auf jedes Geschmacksmuster, das beim informierten Benutzer keinen anderen Gesamteindruck erweckt. Die Prüfung, ob ein Modell in den Schutzbereich eines Geschmacksmusters eingreift, erfordert, dass der Schutzumfang des Geschmacksmusters bestimmt sowie sein Gesamteindruck und derjenige des angegriffenen Modells ermittelt und verglichen werden (BGH, Urteil vom 09.03.2023 – I ZR 167/21, GRUR 2023, 887, Rn. 14 – Tellerschleifgerät).
10
II. Der Schutzumfang des Klagemusters ist unter Berücksichtigung seiner weit überwiegend technischen Bedingtheit (nachfolgend unter Ziffer 1.) sowie der Tatsache, dass es sich um ein Kombinationserzeugnis handelt (nachfolgend unter Ziffer 2.) als äußerst gering anzusehen. Auf die Musterdichte kommt es vor diesem Hintergrund nicht entscheidend an (nachfolgend unter Ziffer 3.).
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1. Der geringe Schutzumfang ergibt sich vor allem aus dem Umstand, dass die Merkmale des Klagemusters weit überwiegend funktional oder technisch bedingt sind.
12
a) Folgenden Rechtsrahmen legt der Senat seiner Entscheidung zugrunde:
13
aa) Bei der Beurteilung des Schutzumfangs ist der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung seines Geschmacksmusters zu berücksichtigen (Art. 10 Abs. 2 UGV). Dabei ist gemäß Art. 8 Abs. 1 UGV zu berücksichtigen, dass ein Unionsgeschmacksmuster nicht an Erscheinungsmerkmalen eines Erzeugnisses besteht, die ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind. Eine Übereinstimmung in solchen Merkmalen kann eine Verletzung des Schutzbereichs eines Geschmacksmusters nicht begründen. Die Vorschrift enthält nicht nur einen Schutzausschlussgrund für das Muster in seiner Gesamtheit, sondern auch einen „Schutzerschwerungsgrund“ in dem Sinn, dass auch einzelne Merkmale des Musters, die funktional oder technisch bedingt sind, bei der Prüfung von Schutzfähigkeit und Schutzumfang „ausgeblendet“ werden müssen (OLG Frankfurt, Urteil vom 04.10.2018 – 6 U 206/16, GRUR 2019, 67, Rn. 32 – Penisextensionsvorrichtung; OLG Nürnberg, Beschluss vom 08.01.2020 – 3 U 2219/19, MD 2020, 644 juris-Rn. 50 – Spannseil-Set). Denn Ähnlichkeiten der Geschmacksmuster in Merkmalen, die durch eine technische Funktion bedingt sind, haben für den beim informierten Benutzer hervorgerufenen Gesamteindruck eine eher geringe Bedeutung (BGH, Urteil vom 12.07.2012 – I ZR 102/11, GRUR 2013, 285, Rn. 60 – Kinderwagen II). Aus der Abhängigkeit des Schutzumfangs von der Existenz eines Gestaltungsspielraums und dessen Nutzung ist abzuleiten, dass einem sogar einzigartigen Klagemuster ohne vorbekanntem Formenschatz unter Umständen ein lediglich geringer Schutzumfang zugebilligt werden kann, wenn dem Entwerfer, insbesondere wegen technischer Vorgaben ein nur geringer Gestaltungsspielraum zur Verfügung steht (OLG Frankfurt a. M., Urteil vom 04.07.2024 – 6 U 40/20, GRUR-RS 2024, 20188, Rn. 30 – Tellerschleifgerät II).
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bb) Bei der Beurteilung, ob Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind, ist zu ermitteln, ob diese Funktion der einzige diese Merkmale bestimmende Faktor ist. Die Vorschrift schließt den geschmacksmusterrechtlichen Schutz für Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses aus, wenn Erwägungen anderer Art als das Erfordernis, dass dieses Erzeugnis seine technische Funktion erfüllt, insbesondere solche, die mit der visuellen Erscheinung zusammenhängen, bei der Entscheidung für diese Merkmale keine Rolle gespielt haben, und zwar auch dann, wenn es andere Geschmacksmuster gibt, mit denen sich dieselbe Funktion erfüllen lässt (BGH, a.a.O. Rn. 17 – Tellerschleifgerät). Die Beurteilung ist insbesondere mit Blick auf das fragliche Geschmacksmuster, auf die objektiven Umstände, aus denen die Motive für die Wahl der Erscheinungsmerkmale des betreffenden Erzeugnisses deutlich werden, auf Informationen über dessen Verwendung oder auch auf das Bestehen alternativer Geschmacksmuster, mit denen sich dieselbe technische Funktion erfüllen lässt, vorzunehmen, soweit für diese Umstände, Informationen oder Alternativen tragfähige Beweise vorliegen (BGH, a.a.O. Rn. 18 – Tellerschleifgerät).
15
Bei der Feststellung, ob der (objektive) Beweggrund für die Wahl einer bestimmten Gestaltung ausschließlich die technische Funktion war, sind die gangbaren Designalternativen ein Beurteilungskriterium. Relevant sind daneben der konkrete Gegenstand und dessen Einsatzzweck. Bei technischen Geräten ist davon auszugehen, dass deren Funktion in erster Linie ihre Wertschätzung und ihre Verkäuflichkeit gewährleisten. Gestalterische Entscheidungen mögen die Verkäuflichkeit erhöhen, aber nicht im Vordergrund stehen. Deshalb ist grundsätzlich auch davon auszugehen, dass dem Entwerfer nicht nur die technisch notwendigen, sondern auch die technisch zweckmäßigen Lösungen vorgegeben sind und dass ihm in diesem Zusammenhang keine Gestaltungsmöglichkeiten bleiben (OLG Frankfurt a. M., a.a.O. Rn. 32 – Tellerschleifgerät II).
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Für die Beurteilung wird man auch Werbeunterlagen heranziehen können, in denen der Rechtsinhaber entweder gestalterische Aspekte oder technische Aspekte herausstellt. Von Bedeutung können daneben parallele technische Schutzrechte sein, weil man von einer durch die technische Funktion vorgegebenen Ausgestaltung dann eher ausgehen kann, wenn einer Ausgestaltung in einer Patentschrift konkrete technische Vorteile zugesprochen werden (OLG Nürnberg, a.a.O. juris-Rn. 53 – Spannseil-Set). Daher ist ein Indiz dafür, dass Merkmale als ausschließlich technisch bedingt einzustufen sind, dass diese Merkmale zugleich Bestandteile eines vom Musterinhaber beanspruchten Patents sind (OLG Frankfurt, a.a.O. Rn. 36 – Penisextensionsvorrichtung). Die Ansprüche, Beschreibungen und Zeichnungen einer Offenlegungsschrift sind als objektive Umstände der Klärung der technischen Bedingtheit von Erscheinungsmerkmalen grundsätzlich geeignet, weil sie Aufschluss darüber geben können, welche Merkmale die dem Patent zugrunde liegende technische Lehre verwirklichen und daher zumindest auch technisch bedingt sind (BGH, Urteil vom 07.10.2020 – I ZR 137/19, GRUR 2021, 473 Rn. 24 – Papierspender).
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cc) Der Senat schließt sich der Rechtsauffassung an, wonach der Nichtsichtbarkeit eines Designs bei der Verwendung durch den Endbenutzer eine indizielle Bedeutung dafür zukommt, ob die Erscheinungsmerkmale des Erzeugnisses überwiegend durch dessen technische Funktion bedingt sind. Denn bei technisch geprägten Erzeugnissen, die bestimmungsgemäß nicht sichtbar sein sollen, weil sie verbaut werden, ist zu vermuten, dass gestalterische Erwägungen keine Rolle bei der Schaffung des Erscheinungsbildes gespielt haben (vgl. Hackbarth, GRUR 2018, 614 (615)).
18
Ein Sichtbarkeitserfordernis bei bestimmungsgemäßer Verwendung – also in unmittelbarem Zusammenhang mit der Verfolgung des vom Hersteller definierten (Haupt-)Verwendungszwecks (BGH, Beschluss vom 15.06.2023 – I ZB 31/20, GRUR 2023, 1290, Rn. 23 – Sattelunterseite II) – gibt es als Schutzvoraussetzung zwar nach Art. 4 Abs. 2 lit. a UGV nur für Bauelemente, die in komplexe Erzeugnisse eingefügt sind. Damit soll nach dem Willen des Verordnungsgebers berücksichtigt werden, dass es für die Gewährung eines Monopolrechts für Gestaltungen, die in der normalen Verwendung verborgen bleiben, keinen Anlass gibt (Münchener Anwaltshandbuch, GewRS/Späth, 6. Aufl. 2022, § 44 Rn. 14).
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Aus dieser gesetzlich geregelten Schutzbeschränkung bei zerlegbaren Einzelteilen eines Gesamterzeugnisses folgt jedoch nicht (im Umkehrschluss), dass im Rahmen der Prüfung des Schutzumfangs sonstiger Muster die Sichtbarkeit des Designs bei der bestimmungsgemäßen Verwendung nicht berücksichtigt werden dürfe. Vielmehr ist der damit verbundene Rechtsgedanke – dass für die angesprochenen Verkehrskreise die ästhetische Ausgestaltung von Bauteilen, welche bei bestimmungsgemäßer Verwendung nicht sichtbar sind, keine Rolle spielen (Jestaedt/Fink/ Meiser/Jestaedt, 7. Aufl. 2023, GGV Art. 4 Rn. 4) – auf die Prüfung des Vorliegens des „Schutzerschwerungsgrundes“ der technischen oder funktionalen Bedingtheit übertragbar. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass der Erwägungsgrund 12 der UGV allgemein ausführt, dass der Schutz sich nicht auf Bauelemente erstrecken solle, die während der bestimmungsgemäßen Verwendung eines Erzeugnisses nicht sichtbar sind, ohne (ausdrücklich) das Erfordernis des Einfügens in ein komplexes Erzeugnis aufzustellen.
20
Daher stellt es bei der Frage nach gestalterischen Erwägungen generell ein Indiz dar, dass die Erscheinungsmerkmale durch die technische Funktion des Erzeugnisses bedingt sind, wenn das geschmacksmustergeschützte Produkt nach der bestimmungsgemäßen Verwendung (mit Ausnahme der Instandhaltung, Wartung und Reparatur) für den Endbenutzer nicht mehr erkennbar ist. Denn in diesem Fall hat in der Regel das Erscheinungsbild dieser Erzeugnisse für den angesprochenen Fachverkehr keine Bedeutung (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 07.07.2016 – I-20 U 124/15, GRUR-RR 2016, 445, Rn. 14 – Zentrierstifte).
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b) Unter Berücksichtigung dieses rechtlichen Maßstabs sprechen im vorliegenden Fall die folgenden allgemeinen Umstände dafür, dass die Merkmale des Klagemusters überwiegend technisch bedingt sind:
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aa) Ein Indiz für die technische Bedingtheit der Merkmale des Klagemusters ist der (technische) Einsatzzweck der vom Klagemuster umfassten „Befestigungsvorrichtungen, Klickelemente, Kupplung, Seildichtungen, Bindeelemente“.
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Das Klagemuster betrifft eine Einzelrohrabdichtung zum Montieren an einen Endabschnitt eines Kunststoffrohres, in dem ein Datenkabel, wie z.B. ein Glasfaserkabel, geführt ist. Die Einzelrohrabdichtungen der Klägerin schließen Rohre und Kabel gas- und wasserdicht ab und schützen somit unterirdische Teile von Telekommunikations-Netzwerken gegen äußere Einflüsse. Das Klagemuster soll eine Abdichtung zwischen einem Rohr/Kabel mit einem Außendurchmesser von 7 mm und einem Glasfaserkabel mit einem Außendurchmesser von 1,25 mm gewährleisten und richtet sich ausschließlich an Fachkreise.
24
Es handelt sich damit bei den vom Klagemuster umfassten Produkten um technische Erzeugnisse. Bei derartigen technischen und lediglich von technischen Fachleuten erworbenen Einzelzugabdichtungen ist nach der Lebenserfahrung davon auszugehen, dass deren Funktion sowie technisch-praktikable Qualitäten und der Preis ihre Wertschätzung und ihre Verkäuflichkeit gewährleisten. Gestalterische Erwägungen sind dagegen für die angesprochenen Installateure völlig untergeordnet.
25
Eine andere Beurteilung ist auch nicht aufgrund des Vortrags der Klägerin veranlasst, dass gerade im Bereich der Netzwerktechnik, insbesondere bei der Installation in Verteilerkästen, das Kabelmanagement ein komplexer Vorgang sei, bei dem Übersichtlichkeit auch im Sinne einer Ästhetik, Handhabung und Wiedererkennbarkeit eine zentrale Rolle spielen, und die visuelle Gestaltung – etwa durch Form, Farbe, Symmetrie oder Griffstruktur – die Übersicht, Zuordnung, Montage und Wartung erleichtere. Gerade die von der Klägerin behauptete Relevanz von Form, Symmetrie und Griffstruktur des relevanten Abschlussstücks bei der Montage und Installation qualifiziert diese Charakteristika nicht als ästhetisch. Vielmehr handelt es sich bei der Griffstruktur um einen technischen und rein zweckmäßigen Aspekt. Dieser – wie weitere nicht-gestaltungsbezogene Eigenschaften des technischen Abschlussstücks (wie technische Verlässlichkeit, Preis, einfache Handhabung) – wird den relevanten Fachmann bei seiner Kaufentscheidung die Auswahl innerhalb relevanter Konkurrenzprodukte treffen lassen.
26
Die Klägerin trägt in der Berufungsbegründung selbst vor, dass sie die erste Anbieterin und Herstellerin von endseitigen Abdichtungskappen für Glasfaserverlegerohre sei, welche die im Stand der Technik bekannten geteilten Muffen nicht enthalten würden. Auch diese (eigenen) Ausführungen zeigen, dass eigentliches Motiv für die Wahl der Erscheinungsmerkmale der Einzelrohrabdichtungen eine technische Lösung ist.
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bb) Ein weiteres Indiz für die überwiegend technische Bedingtheit der Merkmale besteht darin, dass eine Vielzahl der Merkmale des Klagemusters in der von der Klägerin beanspruchten Patentanmeldung „PROTECTIVE PLASTIC PIPE END FITTING SYSTEM AND METHOD“, Az. WO 2020/204699A1 (Anlage B 2, vgl. auch Gegenüberstellung in Anlage B 6), abgebildet und beschrieben sind. Die Merkmale des Klagemusters sind, wie das Landgericht zutreffend ausführt, in einem konkreten Ausführungsbeispiel aus den Zeichnungen Fig. 3a bis Fig. 3f ersichtlich und werden hinsichtlich ihrer technischen Funktion in der Beschreibung mit entsprechenden Bezugsziffern erläutert.
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Dabei stellt der Senat zwar nicht in Abrede, dass es der Schutzfähigkeit eines Erzeugnisses als Design oder Unionsgeschmacksmuster grundsätzlich nicht entgegensteht, dass für dasselbe Erzeugnis ein technisches Schutzrecht beantragt oder erteilt wurde. Entscheidend ist, ob unter Berücksichtigung der objektiven Umstände die gefundene Gestaltung allein dem Bedürfnis, eine technische Lösung zu entwickeln, entspricht oder auch gestalterische Überlegungen eine Bedeutung hatten.
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Die Darstellung der Merkmale in den Zeichnungen in Bezug auf das konkrete Ausführungsbeispiel Fig. 3c und die entsprechende Beschreibung in der Patentanmeldung erlauben jedoch gewisse Rückschlüsse auf die technische Bedingtheit des Klagemusters. Denn durch die Übereinstimmung zwischen der in der Patentschrift gezeigten Ausführungsform und dem Klagemuster zeigt sich zum einen, dass die Klägerin der Ausgestaltung in der Patentschrift konkrete technische Vorteile zuspricht. Zum anderen lassen sich damit die relevanten Erscheinungsmerkmale des Klagemusters auf die Motivation zurückführen, eine technische Lösung für die Abdichtungskappe zu verwirklichen.
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cc) Ein nicht außer Acht zu lassendes Indiz für die technische Bedingtheit der Merkmale ist darüber hinaus, dass die Klägerin die eigene Umsetzung des Klagemusters in Werbeunterlagen in seinen technischen Eigenschaften und gerade nicht unter ästhetischen Gesichtspunkten anpreist.
31
Die Klägerin bewirbt unter https://www.[…] die dem Klagemuster entsprechende Einzelzugabdichtung. Dabei hebt sie die technischen Eigenschaften der Abdichtung hervor (vgl. Screenshot auf S. 10 der Klageerwiderung sowie das herunterladbare Produktblatt und ein dort verfügbares Video, Anlage B 3). Sie betont rein technische Funktionalitäten – wie die konische Form des Dichtelements, die komplette Abdichtung oder die teilbare Form der Dichtung – und weitere funktionale Eigenschaften – wie gas- und wasserdicht, schlanke Bauform, Gummidichtung oder einfache Handhabung. Die Klägerin hebt in ihrer Werbung somit gerade nicht hervor, dass ihre Abdichtungen ein besonderes ästhetisches Erscheinungsbild aufweisen würden oder aufgrund ihres besonderen Designs leicht von denen der Konkurrenz zu unterscheiden seien.
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Zwar ist der Einwand der Klägerin grundsätzlich zutreffend, dass die Tatsache, dass ein Produkt in der Werbung mit funktionalen Vorteilen beschrieben wird, nicht den (automatischen) Schluss zulässt, dass in das Geschmacksmuster keine gestalterischen Erwägungen eingeflossen sind. Im Rahmen der Gesamtwürdigung stellt es jedoch ein nicht zu vernachlässigendes Indiz dar, dass der Rechtsinhaber selbst bei der Bewerbung seines Produktes nicht gestalterische, sondern technische und funktionale Aspekte herausstellt. Denn dadurch werden die Motive für die Wahl der Erscheinungsmerkmale der Einzelrohrabdichtung deutlich. Darüber hinaus spiegeln die Werbeaussagen den Erwartungshorizont der potenziellen Käufer mit deren Fokus auf technische Eigenschaften des Produkts wider. Immerhin adressieren Werbeaussagen die typischen Entscheidungskriterien der angesprochenen Verkehrskreise.
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dd) Dass das Design der Hülse bei bestimmungsgemäßer Verwendung nicht sichtbar ist, ist ein weiteres starkes Indiz dafür, dass die Erscheinungsmerkmale des streitgegenständlichen Erzeugnisses der Klägerin durch dessen technische Funktion bedingt sind.
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Das Klagemuster betrifft – wie ausgeführt – eine Einzelrohrabdichtung zum Montieren an einen Endabschnitt eines Kunststoffrohres, und schützt unterirdische Telekommunikationsnetzwerke gegen äußere Einflüsse. Die Abdichtungen werden von Fachleuten entweder unter Grund oder in Verteilerkästen verlegt, sodass diese bestimmungsgemäß nicht sichtbar sind.
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Zwar ist der Einwand der Berufung grundsätzlich zutreffend, dass die Einzelrohrabdichtung im Erwerbs- und Auswahlprozess durch den Fachverkehr visuell wahrgenommen und bewertet wird. Die angesprochenen Fachkreise, die entsprechende Einzelzugabdichtungen als Plastikhülse mit Gummidichtkörper erwerben und verbauen, werden vor dem Hintergrund der bestimmungsgemäßen Verwendung dabei jedoch in erster Linie auf die Funktionalität, Praktikabilität, Kompatibilität und den Preis der Abdichtungen achten. Dagegen ist – weil die Abdichtungen nach bestimmungsgemäßer Verwendung für den Endbenutzer nicht mehr sichtbar sind – eine ästhetische Gestaltung absolut nachrangig. Vor diesem Hintergrund bringt das Klagemuster als „elegantes“ Design auch keinen wirtschaftlichen Vorteil, da Designerwägungen wegen des Einbaus im Untergrund oder in Verteilerkästen beim Klagemuster keinen Anreiz für eine attraktive Verkaufsalternative im Vergleich zu Konkurrenzprodukten darstellen.
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c) Vor dem Hintergrund des dargestellten Rechtsrahmens und unter Berücksichtigung dieser allgemeinen (indiziellen) Umstände führt die Einzelanalyse der Merkmale des Klagemusters zu dem Ergebnis einer überwiegenden technischen Bedingtheit der Merkmale des Klagemusters.
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aa) Nach den in der Berufung nicht angegriffenen Ausführungen des Landgerichts wird der Gesamteindruck des Klagemusters durch die folgenden Merkmale bestimmt:
· M1 Milchigtransparente hohle zylindrische Hülse
· M2 Deutlich sichtbarer konkaver Griffabschnitt, der sich über etwa 50% der Gesamtlängserstreckung der Hülse erstreckt
· M3 Längsseitiger Hülsenschlitz mit in einem etwa auf halber Axialhöhe ein gegenüber dem Längsschlitz verbreiterten Einführfenster
· M4 Blauer Dichtungskörper
· M5 Der Dichtungskörper weist einen deutlich sichtbaren Durchgangskanal auf
· M6 Längsgeschlitzter Dichtungskörper
· M7 Dichtungskörper mit Konus an beiden Axialenden
· M8 Symmetrischer Dichtungskörper
· M9 Dichtungskörper mit einer vom zylindrischen Dichtungskörperabschnitt nach radial außen vorstehende und sich in Längsrichtung erstreckende, längliche Positioniernase.
38
bb) In Bezug auf die milchig-transparente hohle zylindrische Hülse gemäß Merkmal M1 ist die längliche Form der Hülse zur Anpassung an das längliche Mikrorohr technisch bedingt. Auch dass die Hülse hohl ist, ist zwingend erforderlich, um ein Mikrorohr aufnehmen zu können.
39
Die Transparenz des Kunststoffmaterials erweist sich – selbst wenn die Wahl dieser „Farbe“ der Hülse nicht als rein technisch bedingt anzusehen ist – jedenfalls als hilfreich, um die korrekte Positionierung und Anordnung der Hülse bzw. des Dichtungselements in Bezug auf das Mikrorohr über eine Sichtkontrolle einfacher zu gewährleisten. Die Transparenz der Hülse erleichtert somit zumindest die Handhabung bei der Montierung der Einzelzugabdichtung und ist somit auch funktional bedingt.
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Dass es hinsichtlich der zylindrischen Gestaltung der Hülse mehrere technisch gleichwertige Alternativen gibt – etwa polygonale, ovale oder asymmetrische Querschnitte – führt per se zu keiner anderen Beurteilung. Denn die Existenz einer alternativen Gestaltung genügt nicht, um die Anwendung des Art. 8 Abs. 1 UGV auszuschließen (EuGH, Urteil vom 08.03.2018 – C-395/16, GRUR 2018, 612 Rn. 30 – Doceram). Entscheidend ist vielmehr, ob unter Berücksichtigung der objektiven Umstände, also nicht aufgrund subjektiver Überlegungen des Designers, die gefundene Gestaltung allein dem Bedürfnis, eine technische Lösung zu entwickeln, entspricht oder auch gestalterische Überlegungen eine Bedeutung hatten (Jestaedt/Fink/Meiser/Jestaedt, 7. Aufl. 2023, DesignG § 3 Rn. 10 f.). Der Geschmacksmusterschutz dient nicht dazu, bestimmte technische Lösungen zu monopolisieren und kann nicht dazu führen, Konkurrenten auf die Wahl anderer technischer Mittel zu verweisen (OLG Frankfurt a.a.O. Rn. 50 – Tellerschleifgerät). Daraus folgt, dass das Aufzeigen gangbarer Designalternativen nicht zu einer Verneinung der technischen Bedingtheit führt, wenn – wie im Streitfall – gestalterische Erwägungen nicht im Vordergrund standen.
41
Darüber hinaus ist hinsichtlich der zylindrischen Außenform der Hülse zu berücksichtigen, dass diese vor dem Hintergrund, dass die Hülse bestimmungsgemäß ein zylindrisch geformtes Kabel bzw. Rohr aufnimmt, durchaus zweckmäßig und naheliegend ist. Dieser Gleichlauf zwischen Außen- und Innenform im Sinne einer „Ummantelung“ ist zum einen bedingt durch Ersparnis an Material und damit Materialkosten sowie Gewicht und Platz und führt zum anderen zu einer besseren Handhabung. Vor diesem Hintergrund ist eine außenzylindrische Gestaltung auch der Hülse als Ummantelung des Mikrorohres der übliche Standard bei Ummantelungen von Rohren und Kabeln.
42
cc) Hinsichtlich des Merkmals M2 – deutlich sichtbarer konkaver Griffabschnitt, der sich über etwa 50% der Gesamtlängserstreckung der Hülse erstreckt – schließt sich der Senat der Einschätzung des Landgerichts an, dass es technisch-ergonomische Gründe hat, dass der einführungsseitige Abschnitt des Hülsenmantels konkav geformt ist. Während der daran anschließende, ausgangsseitige Abschnitt des Hülsenmantels ein gegenüber dem Längsschlitz breiteres Einsetzfenster aufweist, dient der einführungsseitige Abschnitt zum Ergreifen und Handhaben der Hülse. Derartige konkave Einbuchtungen sind z.B. bei Stiften bekannt und vereinfachen und verbessern die Handhabung der Hülse. Dies sieht auch die Klägerin so, da sie diesen Abschnitt als „Griffbereich“ bezeichnet und auch in ihrer Patentanmeldung, WO 2020/204699A1 zur Darstellung der darin beschriebenen technischen Erfindung genau diese Struktur der Hülse gewählt hat.
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Dass es in Bezug auf die Tiefe, Länge und Form der konkaven Einbuchtung ergonomisch funktionale Alternativen gibt, führt per se zu keiner anderen Beurteilung. Auf die obigen Ausführungen unter B.II.1.c) bb) wird Bezug genommen. Darüber hinaus sind die Abmessungen der klagemustergemäßen Dichtungskappen zu berücksichtigen: Vor dem Hintergrund einer Gesamtlänge von ca. 2 cm ist die Länge des Griffabschnitts über wenigstens 50% der Gesamtlängserstreckung der Hülse überwiegend ergonomisch bedingt, da dadurch sichergestellt wird, dass der – von der Klägerin selbst als solcher bezeichnete – Griffabschnitt zuverlässig durch einen Nutzer ergriffen werden kann.
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dd) In Bezug auf das Merkmal M3 – längsseitiger Hülsenschlitz mit in einem etwa auf halber Axialhöhe ein gegenüber dem Längsschlitz verbreiterten Einführfenster – sind die Ausführungen des Landgerichts zutreffend, dass der längsseitige Hülsenschlitz die Funktion hat, dass die Hülse radial auf ein Datenkabel aufgesetzt werden kann, ohne dass es notwendig ist, ein gegebenenfalls langes Datenkabel durch die Hülse hindurchzuführen. In technischer Sicht werden damit deutliche Verbesserungen und Vereinfachungen bei der Montage erzielt. Über das breitere Einsetzfenster ist es möglich, die Hülse auch auf ein Dichtungselement aufzuschieben, welches bereits an das Datenkabel montiert ist. Genau diese Funktionsweise beschreibt die Klägerin auch in ihrer Patentanmeldung bei Figur 3c.
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ee) Der Grund für die blaue Farbe des Dichtungskörpers (Merkmal M4) stellt kein ästhetisches, designrelevantes Wiedererkennungsmerkmal dar, sondern hängt mit der genormten Farbkodierung zur Festlegung der Faserreihenfolge bei Lichtwellenleitern zusammen.
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Es gibt zwölf genormte Kennzeichnungsfarben, die DINgenormt sind, wobei die Reihenfolge der Farben den Telekomgesellschaften/Betreibern selbst obliegt. Diese fordern die exakte Einhaltung der Farbreihenfolge und weisen das expliziert in ihren technischen Spezifikationen aus. Es herrscht insofern ein Zwang für die Zulieferer, wie es beide Parteien sind, die festgelegten Kennzeichnungsfarben zu verwenden. Die Farbe Blau ist mithin ein (vorgeschriebener) Hinweis auf die in dem Mikrorohr geführte Faser. Insofern konsequent bewirbt die Klägerin auf ihrer Homepage die Einzelzugabdichtung in Kombination mit Dichtungselementen der anderen genormten Farben.
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Die Einwände der Berufung, wonach regelmäßig ein Spielraum bei der Umsetzung bestehe, da die Farbe in ihrer Sättigung, Transparenz, Oberflächenstruktur oder Kombination mit anderen Elementen bewusst gestaltet werden könne, führen nach Maßgabe der obigen Ausführungen zu keiner anderen Beurteilung.
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ff) Das Merkmal M5 – wonach der Dichtungskörper einen deutlich sichtbaren Durchgangskanal aufweist – ist technisch/funktional erforderlich, um das Datenkabel verlegen zu können. Das Dichtungselement dichtet ein offenes Ende eines Mikrorohrs ab. Es ermöglicht über seinen Durchgang das Hindurchführen des in dem Mikrorohr aufgenommenen Datenkabels. Diese technische Funktion wird von der Klägerin in ihrer Patentanmeldung auch dort auf Seite 11, Zeilen 21 bis 24 (Anlage B 2) so beschrieben. Auch die deutliche Sichtbarkeit des Durchgangskanals ist funktional hilfreich, etwa zur Kontrolle der korrekten Positionierung.
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gg) Die Längsschlitzung des Dichtungskörpers entsprechend Merkmal M6 ist technisch und funktional bedingt, weil dadurch die (nachträgliche) Montage ermöglicht wird. Über den in Radialrichtung orientierten Längsschlitz des Dichtungselements kann dieses radial auf ein Datenkabel aufgesetzt beziehungsweise montiert werden. Dadurch, dass der Dichtungskörper über die gesamte Länge geschlitzt ist, kann auf diese Weise das Datenkabel zuverlässig in den Durchgang gelangen bzw. der Dichtungskörper auch noch nachträglich auf ein bereits in einem Mikrorohr eingesetztes Datenkabel montiert werden, ohne dass es notwendig ist, das evtl. lange Datenkabel durch den Dichtungskörper hindurchzuziehen. Diese Funktion ist auch auf Seite 11, Zeilen 28 bis 29 in der Patentanmeldung der Klägerin beschrieben.
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Damit betrifft die Entscheidung der Klägerin, statt einer bislang üblichen zweiteiligen Ausführung, bei der zwei Halbschalen auf das Kabel aufgesteckt wurden, eine einteilige, durchgehend geschlitzte Variante zu verwenden, keine gestalterische, sondern eine funktionale und „im Technischen aufgehängte“ Frage.
51
hh) Der Dichtungskörper weist an seinen beiden Axialenden eine Kegelform bzw. eine Kegelstumpfform (Konus) auf (Merkmal M7), damit der Dichtungskörper axial in das Mikrorohr eingesetzt werden kann und sich damit unter Ausbildung eines Dichtkontakts verkeilen kann. Die Kegelform beziehungsweise die Kegelstumpfform ermöglicht ein besonders effektives Abdichten von Mikrorohren unterschiedlicher Durchmesser. Diese technische Funktion wird ebenfalls in der Patentanmeldung auf Seite 11 Zeilen 18 bis 20 beschrieben.
52
Dass es Alternativen in Bezug auf Winkel, Länge, Symmetrie oder die Übergänge zur zylindrischen Mitte gibt, ist – wie bereits ausgeführt – für die Frage des engen Schutzbereiches des Klagemusters ohne Relevanz.
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ii) Die Symmetrie des Dichtungskörpers (Merkmal M8) resultiert aus montagetechnischen und damit funktionalen Erwägungen: Aufgrund der Symmetrie des Dichtungskörpers können Fehlmontagen vermieden werden, da das Dichtungselement über beide Enden und somit in beide Richtungen montiert werden kann.
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jj) Dass der Dichtungskörper eine vom zylindrischen Dichtungskörperabschnitt nach radial außen vorstehende und sich in Längsrichtung erstreckende, längliche Positioniernase aufweist (Merkmal M9), dient – als Montagehilfe oder zur Vermeidung von Verdrehung – der Erfüllung einer technischen Funktion: Die Positioniernase dient dazu, die richtige Umfangsorientierung des Dichtungskörpers in Bezug auf die Hülse sicherzustellen. Dies ist in Abbildung 2 des Klagemusters zu erkennen: Wenn die Positioniernase bezüglich des Längsschlitzes der Hülse ausgerichtet ist, kann das Dichtungselement axial in die Hülse eingesetzt werden. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass der Dichtungselementlängsschlitz um 90° bezüglich der Positioniernase und damit bezüglich des Hülsenlängsschlitzes versetzt ist, sodass sichergestellt ist, dass das Datenkabel nicht unerwünscht aus dem Dichtungskörper und sogar aus der Hülse herausrutschen kann (vergleiche hierzu übereinstimmend auch Seite 16, Zeilen 8 bis 9 der Patentanmeldung). Ferner folgt die Breite der Positioniernase der Dimensionierung des Hülsenschlitzes und ist damit technischer Natur.
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d) Die Analyse der vorgenannten Merkmale des Klagemusters zeigt im Zusammenspiel mit den allgemein zu berücksichtigenden Indizien, dass diese weit überwiegend rein funktional und technisch bedingt sind und den visuellen Aspekt betreffende Erwägungen in den Gestaltungsprozess des Klagemusters mit ganz wenigen Ausnahmen nicht einbezogen wurden. Der Schutzumfang des Klagemusters ist daher – unabhängig vom Formenschatz – entsprechend eingeschränkt, da der technische Gehalt im unionsgeschmacksmusterrechtlichen Schutzumfang keine Berücksichtigung finden kann.
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Gerade die angesprochenen Fachkreise, die entsprechende Einzelzugabdichtungen erwerben und verbauen, werden in erster Linie auf die Funktionalität, Praktikabilität, Kompatibilität und den Preis der Abdichtungen achten. Die Ästhetik ist dem Fachmann bei diesem Produkt nicht wichtig.
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2. Im Rahmen des Schutzumfangs ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass das Klagemuster nur in seiner Gesamtheit – also des Korpusses mitsamt Dichtungselement – Schutz vermittelt.
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Im Fall eines Kombinationserzeugnisses ist ein isolierter Schutz für die Komponenten des Kombinationserzeugnisses – ohne eine gesonderte Anmeldung – ausgeschlossen, weil das Designrecht keinen Schutz für Teile oder Elemente eines eingetragenen Designs kennt (BGH, Urteil vom 24.03.2022 – I ZR 16/21, GRUR 2022, 911, Rn. 34 – Schneidebrett). Teile oder Elemente eines eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters sind nach der Unionsgeschmacksmusterverordnung nicht eigenständig geschützt (BGH, Urteil vom 08.03.2012 − I ZR 124/10, GRUR 2012, 1139, Rn. 35 ff. – Weinkaraffe).
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Im vorliegenden Fall bezieht sich das Klagemuster auf ein Kombinationserzeugnis, weil es sich aus mehreren Gegenständen zusammensetzt, die nach der Verkehrsauffassung ein einheitliches Erzeugnis bilden. Dies liegt insbesondere dann nahe, wenn die abgebildeten Einzelgegenstände ästhetisch aufeinander abgestimmt sind und miteinander in einem funktionalen Zusammenhang stehen (BGH a.a.O. Rn. 35 – Schneidebrett). Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall gegeben, weshalb das Klagemuster ein einziges Unionsgeschmacksmuster mit drei verschiedenen Ansichten einer transparenten Hülse und eines spezifischen blauen Dichtungselements darstellt, deren Gesamteindruck das Muster und dessen Schutzumfang definiert.
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3. Der von der Klägerin behauptet fehlende Formenschatz führt zu keiner anderen Beurteilung.
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a) Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Schutzumfang eines Geschmacksmusters nicht allein durch das Fehlen eines Formenschatzes bestimmt wird. Zwar kann grundsätzlich eine geringe Musterdichte einen weiten Schutzumfang des Musters zur Folge haben, so dass selbst größere Gestaltungsunterschiede beim informierten Benutzer möglicherweise keinen anderen Gesamteindruck erwecken (BGH, Urteil vom 12.07.2012 – I ZR 102/11, GRUR 2013, 285, Rn. 31 – Kinderwagen II). Die Beurteilung der Gestaltungsfreiheit hängt aber neben der Musterdichte von weiteren Aspekten ab, insbesondere technischen oder funktionalen Einschränkungen (Jestaedt/Fink/ Meiser/Jestaedt, 7. Aufl. 2023, GGV Art. 10 Rn. 27). Wie bereits unter Ziffer B.II.1.a) aa) ausgeführt, kann sogar einem Klagemuster ohne vorbekannten Formenschatz unter Umständen ein lediglich geringer Schutzumfang zugebilligt werden, wenn – wie im vorliegenden Fall – dem Entwerfer, insbesondere wegen technischer Vorgaben ein nur geringer Gestaltungsspielraum zur Verfügung steht. Dies ergibt sich aus der Abhängigkeit des Schutzumfangs von der Existenz eines Gestaltungsspielraums und dessen Nutzung.
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b) Im Streitfall sind hülsenartige Hohlstrukturen, um darin Verlegerohre oder Glasfaserkabel aufzunehmen und zu führen, aus dem Formenschatz hinlänglich bekannt. Diese weisen – wie die nachfolgenden Bilder zeigen – teilweise die gleichen Merkmale wie das Klagemuster – wie etwa die zylindrische Form mit Längsschlitz – auf.
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III. Unter Berücksichtigung dieses äußerst geringen Schutzumfangs unterscheidet sich der Gesamteindruck der angegriffenen Modelle aus der Sicht des informierten Benutzers deutlich von dem Klagemuster in seiner Gesamtheit (Art. 10 Abs. 1 UGV).
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1. Der informierte Benutzer ist im Streitfall ein Fachmann auf dem technischen Gebiet der Verlegung von Lichtwellenleitern unter Grund.
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Die Frage der Übereinstimmung des Gesamteindrucks ist aus der Sicht eines informierten Benutzers zu beurteilen (Art. 10 Abs. 1 GGV). Als „informiert“ wird ein Benutzer bezeichnet, der verschiedene Geschmacksmuster kennt, die es in dem betreffenden Wirtschaftsbereich gibt, gewisse Kenntnisse über die Elemente besitzt, die die Geschmacksmuster regelmäßig aufweisen, und die Produkte aufgrund seines Interesses an ihnen mit vergleichsweise großer Aufmerksamkeit verwendet. Seine Kenntnisse und der Grad der Aufmerksamkeit sind zwischen denen eines durchschnittlich informierten, situationsadäquat aufmerksamen Verbrauchers und denen eines Fachmanns anzusiedeln (BGH, Urteil vom 24.01.2019 – I ZR 164/17, GRUR 2019, 398, Rn. 30 – Meda Gate).
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Im vorliegenden Fall ist auf einen Fachmann auf dem technischen Gebiet der Verlegung von Lichtwellenleitern unter Grund abzustellen. Denn der Gegenstand des Klagemusters richtet sich ausschließlich an Fachkreise. Einzelabzugsdichtungen sind keine Endverbraucher-Produkte. Aufgrund seines technischen Hintergrundes vergleicht der maßgebliche informierte Benutzer die Einzelzugabdichtungen mit erhöhter Wachsamkeit, insbesondere mit Blick auf die technischen Merkmale. Der informierte Benutzer ist unter Berücksichtigung der großen Aufmerksamkeit in der Lage, auch kleinere Unterschiede zwischen den Gestaltungen zu erkennen.
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2. Die angegriffenen Muster weichen vor dem Hintergrund des engen Schutzumfangs aus der Sicht eines Fachmanns auf dem technischen Gebiet der Verlegung von Lichtwellenleitern sowohl in der transparenten als auch in der opaken Ausführungsform in ihrem Gesamteindruck derart vom Klagemuster ab, dass keine Verletzung des Klagemusters vorliegt.
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a) Bei der Prüfung, ob der Gesamteindruck des angegriffenen Modells beim informierten Benutzer den gleichen Gesamteindruck wie das Klagemuster erweckt, sind sowohl die Übereinstimmungen als auch die Unterschiede der Muster zu berücksichtigen. Dabei ist eine Gewichtung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Merkmalen danach vorzunehmen, ob sie aus der Sicht des informierten Benutzers für den Gesamteindruck von vorrangiger Bedeutung sind oder in den Hintergrund treten (BGH a.a.O. Rn. 31 – Meda Gate). Ein kleiner Gestaltungsspielraum des Entwerfers kann zu einem engen Schutzumfang des Musters mit der Folge führen, dass bereits geringe Gestaltungsunterschiede beim informierten Benutzer einen anderen Gesamteindruck hervorrufen (BGH, Urteil vom 12.07.2012 – I ZR 102/11, GRUR 2013, 285 Rn. 31 – Kinderwagen II; EuG, Urteil vom 07.02.2019 – T-767/17, BeckRS 2019, 935, Rn. 45). Daher haben Ähnlichkeiten der Geschmacksmuster in Merkmalen, die durch eine technische Funktion bedingt sind, für den beim informierten Benutzer hervorgerufenen Gesamteindruck eine eher geringe Bedeutung (BGH a.a.O. Rn. 60 – Kinderwagen II).
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b) Unter Berücksichtigung dieses rechtlichen Maßstabs weicht der Gesamteindruck der angegriffenen Einzelzugabdichtung in der transparenten Ausführungsform von dem des Klagemusters ab.
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aa) Die Hülse des Klagemusters ruft beim informierten Benutzer – insbesondere wegen ihrer schmalen länglichen und stromlinienförmigen Gestalt – einen filigranen Eindruck hervor. Dies wird unterstützt durch die schmale Schlitzbreite und die geschwungene Taillierung im Mantelbereich. Insgesamt macht das Klagemuster einen elaborierten, eleganten Eindruck. Das beanstandete Muster wirkt dagegen – insbesondere wegen der breiteren Schlitzabmessung und des stark axial-komprimierten, dafür in Umfangsrichtung geweiteten Dichtungskörpers – deutlich klobiger und kompakter.
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Dabei sind insbesondere die folgenden Unterschiede im Vergleich zum Klagemuster maßgeblich:
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Die Hülse ist bei dem Klagemuster deutlich wahrnehmbar tailliert, während eine solch stark ausgeprägte Taillierung bei dem Verletzungsmuster nicht festzustellen ist, was den Gesamteindruck erheblich beeinflusst.
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Das Verletzungsmuster verfügt über markante („kiemenartige“) Umfangsrillen, welche beim Klagemuster nicht vorhanden sind. Auch dies ist ein Kriterium mit einem eher stärkeren Gewicht.
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Das angegriffene Muster weist einen T-förmigen Schlitz mit großflächigem Einsetzfenster auf, das sich auf den nahezu gesamten Umfangsrillenfreien Bereich der Hülse erstreckt. Das Klagemuster hat einen kreuzförmigen Schlitz mit wesentlich kleinerem Einsetzfenster. Diese Unterschiede in der Schlitzform sind für den Gesamteindruck entscheidend.
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Schließlich ist der Dichtungskörper beim Klagemuster erkennbar symmetrisch gestaltet, was beim Verletzungsmuster nicht der Fall ist. Vielmehr weist der Dichtungskörper des angegriffenen Musters nur auf einer Stirnseite des zylindrischen Abschnitts einen Dichtungskegel auf.
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bb) Auch die Dichtungselemente weisen derartige Unterschiede auf, dass die angegriffene Ausführungsform beim informierten Benutzer einen anderen Gesamteindruck erweckt.
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Das Dichtungselement des Klagemusters weist an beiden Axialenden Kegelstumpfabschnitte auf, die kontinuierlich und vorsprungsfrei in einen zylindrischen Mittelabschnitt übergehen. Hingegen ist am Dichtungselement des angegriffenen Musters ein sofort ersichtlicher, signifikanter Radialabsatz (Durchmessersprung) vorgesehen. Das Dichtungselement befindet sich hier nur auf einer der beiden axialen Enden der Abdichtung.
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Ferner enthält das Dichtungselement des Klagemusters einen dominanten und breiten Längsschlitz. Bei dem beanstandeten Muster sind dagegen die Dichtungselementschlitze minimalst bemessen.
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Das Klagemuster hat einen blauen Dichtungskörper, der einen markanten farblichen Kontrast zur transparenten Hülse bildet. Die angegriffenen Muster weisen dagegen andere Farben mit einem geringeren farblichen Kontrast auf, was den Gesamteindruck verändert. Dieses Merkmal hat allerdings ein eher geringes Gewicht.
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c) Die angegriffene opake Ausführungsform weist zudem einen weiteren Unterschied zum Klagemuster auf:
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Die opake Form der angegriffenen Muster ist in monochromer, intransparenter glänzender schwarzer Farbe gehalten, während das Klagemuster eine milchig-matte, transparente Hülse und einen blauen Dichtungskörper hat. Diese farblichen Unterschiede sind für den Gesamteindruck entscheidend.
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Auch die kiemenartigen Umfangsrillen sind bei der opaken Ausführungsform in schwarzer Farbe besonders deutlich sichtbar.
C.
83
Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt das Gericht aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).
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Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Hinweises.