Titel:
Einfluss von nachträglich eingeführtem Stand der Technik auf den Erlass einer einstweiligen Verfügung
Normenketten:
EPÜ Art. 64 Abs. 1
PatG § 139 Abs. 1
PatG § 9
PatG § 83
ZPO § 935, § 940
Leitsätze:
1. In der Regel ist zwar davon auszugehen, dass jedes Merkmal eines Patentanspruchs für sich genommen einen eigenständigen Sinngehalt hat. Dies schließt es aber nicht aus, dass die Auslegung des Patentanspruchs anhand der Beschreibung im Einzelfall ergeben kann, dass ein bestimmtes Merkmal schon in einem anderen Merkmal implizit mit enthalten ist und somit eine „Überbestimmung“ vorliegt.
2. Eine Patentverletzung mit äquivalenten Mitteln ist in der Regel zu verneinen, wenn die Beschreibung mehrere Möglichkeiten offenbart, wie eine bestimmte technische Wirkung erzielt werden kann, jedoch nur eine dieser Möglichkeiten in den Patentanspruch aufgenommen worden ist (BGH, GRUR 2016, 921 Rn. 52 – Pemetrexed, u.a. mit Verweis auf BGH, GRUR 2011, 701 – Okklusionsvorrichtung). Allerdings gilt dies nur, wenn das konkrete Mittel einschließlich der Eigenschaften, aus denen sich die (gleichen) patentgemäßen Wirkungen des Mittels ergeben, unmittelbar und eindeutig in der Patentschrift offenbart wurde.
3. Bei einer beantragten einstweiligen Verfügung auf Unterlassung wegen behaupteter Patentverletzung ist im Rahmen des Verfügungsgrunds eine Interessenabwägung vorzunehmen. Im Fall eines (erfolgten oder zeitnah sicher zu erwartenden) Rechtsbestandsangriffs hat das Verletzungsgericht hierbei zu prüfen, ob der (künftige) Rechtsbestand des Verfügungspatents hinreichend gesichert erscheint, mithin eine Prognose darüber zu treffen, ob sich das Patent im Bestandsverfahren voraussichtlich als rechtsbeständig erweisen wird.
4. Kann sich das Verletzungsgericht unter Berücksichtigung des beiderseitigen Parteivorbringens nicht vom künftigen Rechtsbestand überzeugen, gehen die verbleibenden Zweifel im Rahmen der Interessenabwägung regelmäßig zu Lasten des Antragstellers, es sei denn, aufgrund besonderer Umstände sind die Interessen des Gläubigers an einer sofortigen Unterbindung des streitgegenständlichen Verhaltens ausnahmsweise gleichwohl höher zu bewerten als die Interessen des Antragsgegners an einer ungestörten Fortsetzung des möglicherweise objektiv rechtswidrigen Verhaltens. Hierbei kann auf die in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte gebildeten Fallgruppen zurückgegriffen werden, wobei es sich dabei nicht um einen abschließenden Katalog von Ausnahmen handelt. Erforderlich ist vielmehr stets eine umfassende Abwägung der beiderseitigen Interessen anhand der Umstände des Einzelfalls.
5. Hat das Bundespatentgericht einen den Rechtsbestand voraussichtlich bestätigenden qualifizierten Hinweis gemäß § 83 Abs. 1 S. 1 PatG erlassen, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein derartiger Hinweis als qualifizierte Sachaussage des nach dem Gesetz für die Überprüfung der Entscheidungen der Erteilungsbehörden berufenen Bundespatentgerichts, der sich hinreichend klar für die Schutzfähigkeit des Patents ausspricht, aus der Sicht des Verletzungsgerichts in aller Regel zu dem Schluss führt, dass der Rechtsbestand in einem Maße gesichert ist, dass eine Unterlassungsverfügung bei Feststellung einer (begangenen oder drohenden) Patentverletzung ergehen kann. Etwas anderes gilt in diesem Fall nur dann, wenn der Hinweis evident (also für einen mit nicht technischen Richtern besetzten Spruchkörper ohne Weiteres erkennbar) unzutreffend ist und zudem sicher davon auszugehen ist, dass der den Hinweis gebende Senat des Patentgerichts in der von ihm zu treffenden Entscheidung von diesem Hinweis abrücken wird. Allein der Umstand, dass das Verletzungsgericht nach Abwägung der seitens der Parteien vorgetragenen Argumente auch eine andere Bewertung für möglich erachtet, genügt daher nicht, um die Einschätzung im qualifizierten Hinweis des Bundespatentgerichts zu übergehen.
6. Aus Sicht des Senats sprechen gewichtige Argumente dafür, dass auch nachträglich bekanntgewordener bzw. eingeführter Stand der Technik ein Abweichen von der Einschätzung des Bundespatentgerichts in einem qualifizierten Hinweis nur dann rechtfertigt, wenn nach dem neuen Vorbringen die vorläufige Einschätzung in dem Hinweis im Ergebnis offensichtlich keinen Bestand (mehr) haben kann.
Schlagworte:
Patentverletzung, einstweilige Verfügung, Generika-Markt, Äquivalenzverletzung, Interessenabwägung, Rechtsbestand
Vorinstanz:
LG München I, Endurteil vom 19.06.2024 – 21 O 3118/24
Fundstelle:
GRUR-RS 2025, 12677
Tenor
I. Die Berufung der Antragsgegnerin gegen das Endurteil des Landgerichts München I vom 19.06.2024, Az.: 21 O 3118/24, wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Entscheidungsgründe
1
Die Antragstellerin nimmt die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Verfügung wegen drohender unmittelbarer wortsinngemäßer Verletzung sowie Verletzung mit äquivalenten Mitteln des deutschen Teil des am 19.01.2006 unter Inanspruchnahme einer Priorität vom 31.01.2002 angemeldeten und am 22.04.2015 erteilten europäischen Patents 1 845 961 (Verfügungspatent) in Anspruch, dessen Patentanspruch 1 in der englischen Verfahrenssprache wie folgt lautet:
The use of a rapid-release tablet of the compound 5-Chloro-N-({(5S)-2-oxo-3-[4-(3-oxo-4-morpholinyl) phenyl]-1,3-oxazolidin-5-yl}methyl)-2-thiophenecarboxamide for the manufacture of a medicament for the treatment of a thromboembolic disorder administered no more than once daily for at least five consecutive days, wherein said compound has a plasma concentration half life of 10 hours or less when orally administered to a human patient.
2
Die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts (EPA) hatte das erteilte Verfügungspatent zunächst widerrufen, die Beschwerdekammer des EPA hat dieses sodann indes bestätigt. Im Rahmen der von zahlreichen Generika-Herstellern angestrengten Nichtigkeitsklage hat das Bundespatentgericht in einem qualifizierten Hinweis vom 03.01.2024 (Anlage AO 32) das Patent voraussichtlich als rechtsbeständig bewertet. In anderen Mitgliedstaaten des EPÜ haben die jeweiligen nationalen Gerichte den Rechtsbestand des Verfügungspatents zum Teil bejaht, zum Teil verneint.
3
Die Antragstellerin greift folgende Ausführungsformen an, für welche die Antragsgegnerin am 21.03.2024 die die Aufnahme in die Datendienste der IFA beantragt hat:
- Rivaroxaban S. 10 mg Filmtabletten, Zulassungsnummer: 7004860.00.00,
– Rivaroxaban S. 15 mg Filmtabletten, Zulassungsnummer: 7004861.00.00,
– Rivaroxaban S. 20 mg Filmtabletten, Zulassungsnummer: 7004862.00.00,
- Rivaroxaban S. Starterpackung 15 mg und 20 mg Filmtabletten, Zulassungsnummer: 7004863.00.00. (Anlage AO 3).
- Rivaroxaban S. 15 mg Hartkapseln, Zulassungsnummer 7006003.00.00,
– Rivaroxaban S. 20 mg Hartkapseln, Zulassungsnummer 7006004.00.00,
– Rivaroxaban S. Starterpackung 15 mg und 20 mg Hartkapseln, Zulassungsnummer 7006005.00.00. (Anlage AO 3a).
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Die Fachinformationen der angegriffenen Ausführungsformen finden sich in der Anlage AO 4 bzw. Anlage AO 4a.
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Das Landgericht hat auf den am 18.03.2024 eingegangen Verfügungsantrag der Antragstellerin mit Beschluss vom 25.03.2024 ohne mündliche Verhandlung antragsgemäß folgende einstweilige Verfügung gegen die Antragsgegnerin erlassen:
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I. Der Antragsgegnerin wird aufgegeben,
1) es bei Meidung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000 Euro – ersatzweise Ordnungshaft – oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, wobei die Ordnungshaft an dem gesetzlichen Vertreter der Antragsgegnerin zu vollziehen ist,
zu unterlassen, eine die Verbindung 5-Chlor-N-({(5S)-2-oxo-3-[4- (3-oxo-4-morpholinyl) phenyl]-1,3oxazolidin-5-yl}methyl)-2-thiophencarbonsäureamid [Verbindung (I), Rivaroxaban] umfassende Tablette mit schneller Freisetzung zur Herstellung eines Medikaments zur Behandlung einer thromboembolischen Erkrankung, welches nicht mehr als einmal täglich über mindestens fünf aufeinanderfolgende Tage verabreicht wird, wobei die Verbindung bei oraler Verabreichung an einen menschlichen Patienten eine Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger hat,
(Anspruch 1, EP 1 845 961)
in der Bundesrepublik Deutschland herzustellen, anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen,
2) es bei Meidung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000 Euro – ersatzweise Ordnungshaft – oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, wobei die Ordnungshaft an dem gesetzlichen Vertreter der Antragsgegnerin zu vollziehen ist,
zu unterlassen, eine die Verbindung 5-Chlor-N-({(5S)-2-oxo-3-[4- (3-oxo-4-morpholinyl) phenyl]-1,3oxazolidin-5-yl}methyl)-2-thiophencarbonsäureamid [Verbindung (I), Rivaroxaban] umfassende Hartkapsel mit schneller Freisetzung zur Herstellung eines Medikaments zur Behandlung einer thromboembolischen Erkrankung, welches nicht mehr als einmal täglich über mindestens fünf aufeinanderfolgende Tage verabreicht wird, wobei die Verbindung bei oraler Verabreichung an einen menschlichen Patienten eine Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger hat,
(äquivalente Verletzung von Anspruch 1, EP 1 845 961)
in der Bundesrepublik Deutschland herzustellen, anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen.
7
Auf den Widerspruch der Antragsgegnerin hat das Landgericht aufgrund mündlicher Verhandlung mit Endurteil vom 19.06.2024 den Widerspruch zurückgewiesen und die einstweilige Verfügung vom 25.03.2024 bestätigt.
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Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Antragsgegnerin, mit der sie beantragt,
das Urteil des Landgerichts München [sic!] vom 19. Juni 2024 (Az. 21 O 3118/24) aufzuheben und den Antrag auf einstweilige Verfügung zurückzuweisen.
9
Die Antragstellerin verteidigt das angefochten Urteil und die erlassene einstweilige Verfügung und beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
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Im Übrigen wird von einem Tatbestand gemäß § 313a Abs. 1 Satz 1, § 542 Abs. 2 Satz 1 ZPO abgesehen.
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Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Das Landgericht hat zu Recht einen Verfügungsanspruch (dazu I.) und einen Verfügungsgrund (dazu II.) bejaht.
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I. Es besteht ein Verfügungsanspruch. Der Antragstellerin steht gegen die Antragsgegnerin ein auf Erstbegehungsgefahr gestützter Unterlassungsanspruch aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ i.V.m. § 139 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 9 Satz 1 Nr. 1 PatG wegen drohender wortsinngemäßer Patentverletzung durch die angegriffenen Ausführungsformen in Tablettenform und wegen drohender Patentverletzung mit äquivalenten Mitteln durch die angegriffenen Ausführungsformen in Kapselform zu.
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1. Das Verfügungspatent betrifft das Gebiet der Blutgerinnung, konkret eine Therapie zur Behandlung thromboembolischer Störungen durch Verabreichung eines direkten Faktor-Xa-Hemmers (vgl. Abs. [0001]).
14
a) Die Blutgerinnung ist ein Schutzmechanismus des Organismus, der dazu beiträgt, Defekte in der Wand der Blutgefäße schnell und zuverlässig zu „verschließen“. So kann der Blutverlust vermieden oder auf ein Minimum reduziert werden (vgl. Abs. [0002]).
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Die Aufrechterhaltung einer normalen Blutstillung – das Gleichgewicht zwischen Blutung und Thrombose – unterliegt dabei einem komplexen Regulationsmechanismus. So kann die unkontrollierte Aktivierung des Gerinnungssystems oder fehlerhafte Hemmung der Aktivierungsprozesse zur Bildung von lokalen Thromben oder Embolien in Gefäßen (Arterien, Venen) oder in Herzhöhlen führen. Dies kann zu schwerwiegenden Erkrankungen führen, wie z.B. Herzinfarkt, Schlaganfall, Lungenembolien oder tiefen Venenthrombosen (vgl. Abs. [0003]). Diese thromboembolischen Erkrankungen seien in den meisten Industrieländern die häufigste Ursache für Morbidität und Mortalität (vgl. Abs. [0004]).
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In Abs. [0005] bis [0007] der Beschreibung wird weiter ausgeführt, die aus dem Stand der Technik bekannten Antikoagulanzien, d.h. Substanzen zur Hemmung oder Verhinderung der Blutgerinnung, wie Heparin oder Vitamin-K-Antagonisten wiesen verschiedene (näher beschriebene) Nachteile auf. In jüngerer Zeit sei indes im Stand der Technik ein neuartiger therapeutischer Ansatz zur Behandlung und Prophylaxe thromboembolischer Erkrankungen beschrieben worden, der auf die Hemmung des Faktors Xa abziele (vgl. Abs. [0008]). Der Wirkstoff Rivaroxaban stellt einen solchen Faktor-Xa-Hemmer dar.
17
In Abs. [0009] führt das Verfügungspatent weiter aus, generell sei die orale Verabreichung eines Arzneimittels der bevorzugte Verabreichungsweg und ein weniger häufiges Dosierungsschema wünschenswert. Bevorzugt sei insbesondere die einmal tägliche orale Verabreichung aus Gründen der Bequemlichkeit für den Patienten und aus Gründen der Sicherstellung der regelgerechten Anwendung. Dieses Ziel sei mitunter jedoch schwierig zu erreichen, da es vom spezifischen Wirkungsverhalten und den Eigenschaften des Wirkstoffs, insbesondere von dessen Plasmakonzentrationshalbwertszeit abhänge. Die „Halbwertszeit“ sei die Zeit, die benötigt werde, bis die Plasmakonzentration oder die Menge des Arzneimittels im Körper um 50% reduziert sei. Wenn der Wirkstoff in nicht mehr als einer therapeutisch wirksamen Menge verabreicht werden solle, was üblicherweise bevorzugt sei, um eine Belastung des Patienten mit der Substanz sowie Nebenwirkungen möglichst zu vermeiden, müsse dieser ungefähr jede Halbwertszeit verabreicht werden (vgl. Abs. [0010]).
18
b) Vor diesem Hintergrund liegt dem Verfügungspatent die objektive Aufgabe zugrunde, eine wirksame und sichere und zugleich für den Patienten komfortable Verabreichung für den Wirkstoff Rivaroxaban zur Behandlung thromboembolischer Erkrankungen bereitzustellen.
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c) Laut Abs. [0012] sei nun überraschenderweise bei Patienten, die häufig Medikamente einnehmen, festgestellt worden, dass die einmal tägliche orale Verabreichung eines direkten Faktor-Xa-Inhibitors mit einer Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger im Vergleich zur Standardtherapie ebenfalls Wirksamkeit gezeigt habe und zudem genauso wirksam gewesen sei wie bei einer zweimal täglichen Verabreichung.
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Anspruch 1 des Verfügungspatents löst die beschriebene Aufgabe vor diesem Hintergrund in nachgenannter Weise und lässt sich entsprechend der Merkmalsgliederung des Landgerichts wie folgt gliedern:
1. Verwendung der Verbindung 5-Chlor-N-({(5S)-2-oxo-3-[4-(3-oxo-4-morpholinyl) phenyl]-1,3-oxazolidin-5-yl}methyl)-2-thiophencarbon-säureamid zur Herstellung eines Medikaments
2. in einer Tablette mit schneller Freisetzung
3. zur Behandlung einer thromboembolischen Erkrankung;
4. das Medikament wird nicht mehr als einmal täglich über mindestens fünf aufeinanderfolgende Tage verabreicht;
5. die Verbindung hat bei oraler Verabreichung an einen menschlichen Patienten eine Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger.
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2. Die vorgenannten Merkmale bedürfen der näheren Erläuterung.
22
a) Bei der maßgeblichen Fachperson, deren Fachwissen bei der Auslegung des Patentanspruchs zu berücksichtigen ist, handelt es sich um ein Team aus einem Arzt mit Berufserfahrung auf dem Gebiet der Behandlung thromboembolischer Erkrankungen, einem auf dem Gebiet der klinischen Pharmakokinetik berufserfahrenen Pharmakologen und einen pharmazeutischen Technologen mit mehrjähriger Erfahrung im Bereich der Entwicklung von antithrombotischen Arzneimitteln.
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b) Merkmal 1 beinhaltet die Verwendung der Verbindung 5-Chlor-N-({(5S)-2-oxo-3-[4-(3-oxo-4morpholinyl) phenyl]-1,3-oxazolidin-5-yl}methyl)-2-thiophencarbon-säureamid zur Herstellung eines Medikaments.
24
Bei der genannten Verbindung handelt es sich um den Wirkstoff mit der Bezeichnung Rivaroxaban.
25
c) Nach Merkmal 2 erfolgt die vorgenannte Verwendung des Wirkstoffs Rivaroxaban in einer Tablette mit schneller Freisetzung.
26
Was unter einer „schnellen Freisetzung“ im Sinne des Verfügungspatents zu verstehen ist, wird in Abs. [0030] Satz 2 der Beschreibung näher definiert und steht zwischen den Parteien überdies nicht im Streit.
27
d) Merkmal 3 setzt weiter eine Verwendung von Rivaroxaban zur Behandlung einer thromboembolischen Erkrankung voraus.
28
Nach Abs. [0022] umfasst der Begriff “Behandlung” sowohl die therapeutische als auch prophylaktische Behandlung von thromboembolischen Erkrankungen.
29
Die in Betracht kommenden thromboembolischen Erkrankungen werden in den Abs. [0024] bis [0028] näher umschrieben.
30
e) Gemäß Merkmal 4 wird das Medikament nicht mehr als einmal täglich über mindestens fünf aufeinanderfolgende Tage verabreicht.
31
Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, erfordert das Merkmal nicht, dass dieses Dosierungsschema während der gesamten Therapiedauer oder in einer bestimmten Phase der Therapie zur Anwendung kommen muss, sondern es reicht aus, dass in irgendeiner Phase der Therapie eine einmal tägliche Verabreichung über mindestens fünf aufeinanderfolgende Tage vorgesehen ist.
32
f) Merkmal 5 verlangt weiter, dass die Verbindung bei oraler Verabreichung an einen menschli-chen Patienten eine Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger hat. In der englischen Verfahrenssprache lautet das Anspruchsmerkmal wörtlich:
„[…], wherein said compound has a plasma concentration half life of 10 hours or less when orally administered to a human patient.”
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Das Landgericht ist zutreffend im Einklang mit der Beschwerdekammer des EPA (Anlage A 29 unter 3.2.7) und dem Bundespatentgericht in seinem qualifizierten Hinweis (Anlage AO 32, Seite 3 Buchst. b) zu der Auffassung gelangt, dass es sich bei Merkmal 5 um kein gegenüber Merkmal 1 eigenständiges, sondern um ein „redundantes“ Merkmal handelt, weil nach dem Verfügungspatent eine Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger eine intrinsische Eigenschaft des Wirkstoffs Rivaroxaban darstellt.
34
So geht das Verfügungspatent zunächst davon aus, dass es sich bei der in Abs. [0009] näher definierten Halbwertszeit (vgl. bereits oben) um eine dem Wirkstoff – konkret einem Faktor-XaHemmer – innewohnende Stoffeigenschaft handelt (dazu aa)), und weiter, dass dem Wirkstoff Rivaroxaban diese Eigenschaft (generell) zukommt (dazu bb)).
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aa) Das Verfügungspatent versteht die Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger als Stoffeigenschaft und verlangt nicht, dass die Plasmakonzentrationshalbwertszeit bei der konkreten Verabreichung des Wirkstoffs an einen menschlichen Patienten gemäß den Merkmalen 2 bis 4 im jeweiligen Fall 10 Stunden oder weniger beträgt.
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Ein solches Verständnis legt zunächst der Anspruchswortlaut nahe. So bezieht sich Merkmal 5 zum einen auf „said compound“, also den Wirkstoff im Sinne von Merkmal 1, und nicht auf die konkrete Anwendung beim Patienten im Sinne der Merkmale 2 bis 4. Zum anderen bestimmt Merkmal 5, dass der genannte Wirkstoff eine Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger hat. Auch dies legt nahe, dass das Verfügungspatent die Halbwertszeit als Stoffeigenschaft ansieht.
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Auch die Einschränkung in Merkmal 5, dass der Wirkstoff die besagte Halbwertszeit bei oraler Verabreichung an einen menschlichen Patienten („when orally administered to a human patient“) hat, lässt sich nicht als eine Bezugnahme auf die konkrete orale Verabreichung an einen Patienten im Sinne der Merkmale 2 bis 4 verstehen, sondern nur dahingehend, dass dem Wirkstoff diese Eigenschaft generell bei oraler Verabreichungsform – in Abgrenzung zu anderen Verabreichungsformen – zukommt.
38
Dieses vom Anspruchswortlaut nahegelegte Verständnis wird bestätigt durch Abs. [0012] der Beschreibung, wo es heißt, die einmal tägliche Verabreichung eines Faktor-Xa-Hemmers mit einer Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger habe sich als ebenso wirksam erwiesen wie eine zweimal tägliche Verabreichung
(„[…] it has now been found […] that once daily oral administration of a direct factor Xa inhibitor with a plasma concentration half life time of 10 hours or less […] was as effective as after twice daily (bid) administration“).
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Auch hier wird deutlich, dass das Verfügungspatent die Halbwertzeit als eine feststehende stoffimmanente Eigenschaft ansieht und nicht etwa auf die Halbwertszeit in einem konkreten Anwendungsfall abstellt.
40
Dieses Verständnis wird weiter bestätigt durch den Charakter des Verfügungspatents als Anwendungs- bzw. Verwendungspatent. Nach der Rechtsprechung des BGH ist Gegenstand eines auf die Verwendung eines Stoffs zur Behandlung einer Krankheit gerichteten Patentanspruchs die Eignung des Stoffes für einen bestimmten medizinischen Einsatzzweck und damit letztlich eine dem Stoff innewohnende Eigenschaft (BGH, GRUR 2016, 921 Rn. 83 – Pemtrexed, m.w.N.). Dies gilt gleichermaßen für Ansprüche, die – wie hier – entsprechend der früheren Rechtspraxis des EPA in Form eines sog. Swiss type claims auf Verwendung des Stoffs zur Herstellung eines Medikaments gerichtet sind (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 84). Betrachtet man die Anspruchsmerkmale 1 bis 4, ist das Verfügungspatent ersichtlich als Anwendungs- bzw. Verwendungspatent im vorgenannten Sinne konzipiert. Geschützt werden soll die Eignung des Wirkstoffs Rivaroxaban zur Behandlung einer thromboembolischen Erkrankung mittels der Verabreichung einer Tablette mit schneller Freisetzung nicht mehr als einmal täglich über mindestens fünf aufeinanderfolgende Tage. Gegenstand des Patentanspruchs ist insoweit mithin die dem Stoff Rivaroxaban innewohnende Eigenschaft, dass er für diese Behandlungsform geeignet ist. Unter diesen Umständen kann – ungeachtet dessen, ob dies grundsätzlich zulässig wäre – nicht davon ausgegangen werden, dass mit Merkmal 5 – systemwidrig zu den übrigen Anspruchsmerkmalen – eine Art Verfahrenselement in den Anspruch mit aufgenommen werden sollte dergestalt, dass die Verwirklichung des Anspruchs davon abhängen soll, ob es bei der konkreten Verabreichung im Sinne der Merkmale 2 bis 4 jeweils zu einer Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger kommt. Vielmehr spricht die grundsätzliche Konzeption als Anwendungs- bzw. Verwendungspatent dafür, dass es sich auch bei Merkmal 5 – wie bei den übrigen Anspruchsmerkmalen – um eine stoffimmanente Eigenschaft handeln soll.
41
Hierfür streitet nicht zuletzt auch eine funktionsorientierte Betrachtung. So kommt es dem Verfügungspatent für das „Funktionieren“ der Erfindung ersichtlich nicht darauf an, dass die Halbwertszeit jeweils im konkreten Anwendungsfall 10 Stunden oder weniger beträgt. Insbesondere geht das Verfügungspatent nicht davon aus, dass eine einmal tägliche Verabreichung von Rivaroxaban in einer schnell freisetzenden Tablette nur dann sicher und wirksam ist, wenn die Halbwertszeit 10 Stunden oder weniger beträgt, sondern die Erfindung liegt laut Abs. [0012] gerade darin, dass sich auch bei und trotz einer Halbwertszeit 10 Stunden oder weniger die einmal tägliche Verabreichung eines Faktor-Xa-Hemmers als wirksam erwiesen habe.
42
bb) Das Verfügungspatent geht weiter davon aus, dass konkret dem Wirkstoff Rivaroxaban die (Stoff-)Eigenschaft einer Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger innewohnt.
43
Dies ergibt sich aus Abs. [0017], wo ausgeführt wird, für Rivaroxaban sei eine Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 4 bis 6 Stunden – mithin 10 Stunden oder weniger im Sinne von Merkmal 5 – im sog. Steady State bei Menschen in einer (näher bezeichneten) Studie aufgezeigt worden.
44
Das Verfügungspatent weist dabei eine derartige Eigenschaft dem Wirkstoff Rivaroxaban generell zu und nicht etwa nur beschränkt auf bestimmte Gruppen von Personen oder bei bestimmten Dosierungsschemata. Eine derartige Einschränkung bzw. Differenzierung lässt sich dem Verfügungspatent an keiner Stelle entnehmen. Zwar bezog sich die in Abs. [0017] genannte Studie offenbar auf gesunde Männer („healthy male subjects“). Diesem Umstand misst das Verfügungspatent aber offensichtlich keine Bedeutung bei. Vielmehr ergibt sich dies allein aus der Wiedergabe des (in Klammern gesetzten) zitierten Titels der Studie. Bei der eigentlichen Aussage in Abs. [0012] – vor der Klammer – unterscheidet die Beschreibung hingegen nicht zwischen bestimmten Personengruppen, sondern aus Sicht des Verfügungspatents lässt sich das Ergebnis der Studie auf die Anwendung von Rivaroxaban bei sämtlichen Menschen übertragen, da es dort allgemein heißt:
„For (I) [Rivaroxaban] a plasma concentration half life of 4-6 hours has been demonstrated at steady state in humans in a multiple dose escalation study.“
45
Anders als vom Landgericht angenommen (vgl. LGU Rn. 42) kann deshalb auch nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Plasmakonzentrationshalbwertszeit aus der in Abs. [0017] zitierten Studie nicht mit derjenigen gemäß Anspruch 1 des Verfügungspatents gleichsetzen lasse, weil letzterer sich auf Patienten und nicht auf junge gesunde Männer beziehe. Vielmehr ergibt sich aus der Zusammenschau des Anspruchs und Abs. [0017] gerade, dass das Verfügungspatent in Bezug auf die Halbwertszeit von Rivaroxaban als Stoffeigenschaft gerade nicht zwischen kranken und gesunden Personen differenziert, sondern ersichtlich davon ausgeht, dass Rivaroxaban generell – also in Bezug auf alle Personen bzw. Personengruppen – eine Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger hat.
46
cc) Dem gefundenen Ergebnis steht auch nicht entgegen, dass – wie auch der Senat in ständiger Rechtsprechung betont – in der Regel davon auszugehen ist, dass jedes Merkmal eines Patentanspruch für sich genommen einen eigenständigen Sinngehalt hat. Dies schließt es aber nicht aus, dass die Auslegung des Patentanspruchs anhand der Beschreibung im Einzelfall ergeben kann, dass ein bestimmtes Merkmal schon in einem anderen Merkmal implizit mit enthalten ist und somit eine „Überbestimmung“ vorliegt (vgl. Timmann, in: Haedicke/Timmann, PatRHdB, 2. Aufl., § 3 Rn. 82). So verhält es sich hier.
47
Der Patentschrift ist unmittelbar zu entnehmen, dass die (ursprünglich) darin offenbarte Erfindung weiter reicht, als die in den Anspruch 1 letztendlich aufgenommene Ausführungsform. So umfasst die in der Beschreibung offenbarte Erfindung die einmal tägliche Verwendung jeglicher Faktor-Xa-Inhibitoren mit einer Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger. Da die Neuheit und erfinderische Tätigkeit vom Verfügungspatent damit begründet wird, dass sich die Wirksamkeit einer einmal täglichen Verabreichung im Hinblick auf die genannte Halbwertszeit als überraschend dargestellt habe, sollen vom Patentanspruch nur solche FaktorXa-Hemmer erfasst sein, die diese Eigenschaft erfüllen. Vor dem Hintergrund der Gesamtoffenbarung des Verfügungspatents kommt dem Merkmal 5 daher durchaus eine eigenständige Bedeutung zu – nämlich die Beschränkung auf bestimmte Arten von Faktor-Xa-Inhibitoren zur Abgrenzung vom Stand der Technik. Diese Bedeutung ist, wie aus der Patentschrift selbst erkennbar ist, lediglich dadurch entfallen, dass der Anspruch in Merkmal 1 letztlich auf den konkreten Faktor-Xa-Hemmer Rivaroxaban beschränkt wurde, von dem das Verfügungspatent – wie dargelegt – davon ausgeht, dass dieser die betreffende Eigenschaft hat.
48
Der Annahme einer „Überbestimmung“ steht schließlich auch nicht entgegen, dass es sich bei Merkmal 5 aufgrund der Einleitung durch das Wort „wobei“ („wherein“) um den kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1 handeln dürfte. Selbst wenn man mit der Entscheidung des BGH „Luftabscheider für Milchsammelanlage“ (GRUR 2006, 923 Rn. 16) davon ausgehen wollte, dass eine Aufnahme in den Kennzeichnungsteil des Anspruchs darauf hindeutet, dass ihm eine wesentliche Bedeutung im Hinblick auf das mit der Fassung des Anspruchs verfolgte Ziel der Abgrenzung der beanspruchten Lehre vom Stand der Technik zukommen soll und mit dem Merkmal nicht nur eine bloße Selbstverständlichkeit mitgeteilt werden soll (abweichend allerdings wohl BGH, GRUR 2010, 60 Rn. 29 f. – Gelenkanordnung), liegt vorliegend ein implizites bzw. „redundantes“ Merkmal vor. Denn wie im Absatz zuvor dargelegt, dient die Beschränkung des Anspruchs auf bestimmte Faktor-Xa-Hemmer gemäß Merkmal 5, selbst wenn diesem kein eigenständiger technischer Sinngehalt gegenüber Merkmal 1 (mehr) zukommt, gerade der Abgrenzung vom Stand der Technik und stellt insofern auch nicht die bloße Wiedergabe einer „Selbstverständlichkeit“ dar.
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dd) Zusammenfassend bleibt somit festzuhalten, dass das Verfügungspatent dem Wirkstoff Rivaroxaban gemäß Merkmal 1 aufgrund einer patenteigenen Definition (generell) eine Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger als eine dem Stoff immanente Eigenschaft zuweist. Ob die genannten Annahmen in der Patentschrift in technischer Hinsicht tatsächlich zutreffen bzw. von diesen aus Sicht des Fachmanns zum Prioritätszeitpunkt ausgegangen werden konnte, ist vor diesem Hintergrund für das Verletzungsverfahren unbeachtlich und wird ggf. im Nichtigkeitsverfahren zu prüfen sein. Denn es entspricht gerade dem Wesen patenteigener Definitionen (im Sinne eines „patenteigenen Lexikons“), dass die darin enthaltenen Annahmen bei objektiver Betrachtung nicht zwingend zutreffend sein müssen.
50
3. Legt man diese Auslegung zugrunde, werden sämtliche Merkmale des Anspruchs 1 durch die angegriffenen Ausführungsformen in Tablettenform in Kombination mit der Fachinformation gemäß Anlage AO 4 in Form eines sinnfälligen Herrichtens wortsinngemäß verwirklicht.
51
a) Merkmal 1 ist bei den angegriffenen Ausführungsformen in Tablettenform erfüllt, weil diese unstreitig den Wirkstoff Rivaroxaban enthalten.
52
b) Merkmal 2 ist ebenfalls erfüllt. Dass es sich bei den angegriffenen Ausführungsformen um Tabletten mit schneller Freisetzung im Sinne des Verfügungspatents handelt, wird von der Antragsgegnerin nicht bestritten.
53
c) Weiter ist Merkmal 3 verwirklicht.
54
Wie das Landgericht unter Rn. 54 (S. 17 LGU) zutreffend und von der Berufung auch nicht angegriffen ausgeführt hat, ergibt sich aus Anlage AO 4, dass sämtliche angegriffenen Ausführungsformen in Tablettenform zur Behandlung von thromboembolischen Erkrankungen Anwendung finden sollen.
55
d) Merkmal 4 ist ebenfalls verwirklicht, was von der Antragsgegnerin zu Recht nicht infrage gestellt wird. Die Fachinformation gemäß Anlage AO 4 sieht eine einmal tägliche Verabreichung über mindestens fünf aufeinanderfolgende Tage für alle angegriffenen Ausführungsformen in Tablettenform vor.
56
e) Schließlich ist auch Merkmal 5 verwirklicht, da das Merkmal 5 bei zutreffender Auslegung als „redundant“ zu Merkmal 1 anzusehen ist und daher bei der – unstreitig gegebenen – Verwendung des Wirkstoffs Rivaroxaban per definitionem verwirklicht ist.
57
4. Hinsichtlich der angegriffenen Ausführungsformen in Kapselform hat das Landgericht ferner zu Recht eine drohende Patentverletzung mit äquivalenten Mitteln bejaht.
58
a) Die Hartkapseln, welche die Antragsgegnerin am Markt anbieten möchte, enthalten ebenfalls unstreitig den Wirkstoff Rivaroxaban, so dass die Merkmale 1 und 5 (wortsinngemäß) verwirklicht sind. Zudem sind die angegriffenen Hartkapselprodukte der Antragsgegnerin, wenn diese gemäß der Fachinformation nach Anlage AO 4a am Markt angeboten werden, wie auch die angegriffenen Ausführungsformen in Tablettenform sinnfällig hergerichtet für eine Verwendung im Sinne der Merkmale 3 und 4, was zwischen den Parteien außer Streit steht.
59
Merkmal 2 des Anspruchs 1 ist hingegen nicht wortsinngemäß verwirklicht, da in den Anspruch ausdrücklich nur Tabletten mit schneller Freisetzung aufgenommen wurden. Hartkapseln mit schneller Freisetzung fallen hierunter weder nach dem Wortlaut noch nach dem anhand der Beschreibung zu ermittelnden Wortsinn, da das Verfügungspatent an keiner Stelle „Hartkapseln“ – entgegen dem für sich genommen eindeutigen Anspruchswortlaut – im Sinne eines patenteigenen Lexikons ebenfalls als „Tabletten“ definiert.
60
b) Es liegen hinsichtlich des Austauschs des Mittels „Tablette mit schneller Freisetzung“ gegen das Mittel „Hartkapsel mit schneller Freisetzung“ jedoch die Voraussetzungen für eine Patentverletzung mit äquivalenten Mitteln vor.
61
Damit eine vom Wortsinn des Patentanspruchs abweichende Ausführung in dessen Schutzbereich fällt, müssen regelmäßig drei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss die Ausführung das der Erfindung zugrunde liegende Problem mit zwar abgewandelten, aber objektiv gleichwirkenden Mitteln lösen. Zweitens müssen seine Fachkenntnisse den Fachmann befähigen, die abgewandelte Ausführung mit ihren abweichenden Mitteln als gleichwirkend aufzufinden. Drittens müssen die Überlegungen, die der Fachmann hierzu anstellen muss, am Sinngehalt der im Patentanspruch unter Schutz gestellten Lehre orientiert sein (st. Rspr.; vgl. nur BGH, GRUR 2002, 515 – Schneidmesser I; BGH, GRUR 2007, 959 [961] – Pumpeinrichtung; BGH, GRUR 2021, 574 Rn. 39, 40 – Kranarm).
62
aa) Es steht zwischen den Parteien nicht im Streit, dass es sich bei den angegriffenen Ausführungsformen in Kapselform um „Hartkapseln mit schneller Freisetzung“ handelt, die ein gleichwirkendes Mittel zu „Tabletten mit schneller Freisetzung“ im Sinne des Anspruchsmerkmals 2 darstellen. Insbesondere setzen die Kapseln den Wirkstoff Rivaroxaban in gleicher Weise „schnell“ frei wie eine entsprechende Tablette. Die erste Äquivalenzvoraussetzung der Gleichwirkung ist daher erfüllt.
63
bb) Die Feststellung des Landgerichts unter Rn. 69 des Ersturteils, wonach die Verwendung einer schnell freisetzenden Hartkapsel anstelle einer Tablette mit schneller Freisetzung für den Fachmann aufgrund seines Fachwissens auffindbar war, wird von der Berufung ebenfalls zu Recht nicht angegriffen. Damit ist auch die zweite Äquivalenzvoraussetzung gegeben.
64
cc) Schließlich ist auch die dritte Äquivalenzvoraussetzung der Gleichwertigkeit, nämlich eine Orientierung der abgewandelten Ausführungsform am Patentanspruch, zu bejahen.
65
(1) Orientierung am Patentanspruch setzt voraus, dass der Patentanspruch in allen seinen Merkmalen nicht nur den Ausgangspunkt, sondern die maßgebliche Grundlage für die Überlegungen des Fachmanns bildet. Beschränkt sich das Patent bei objektiver Betrachtung auf eine engere Anspruchsfassung, als dies vom technischen Gehalt der Erfindung und gegenüber dem Stand der Technik geboten wäre, darf die Fachwelt darauf vertrauen, dass der Schutz entsprechend beschränkt ist. Dem Patentinhaber ist es dann verwehrt, nachträglich Schutz für etwas zu beanspruchen, was er nicht unter Schutz hat stellen lassen. Dies gilt selbst dann, wenn der Fachmann erkennt, dass die erfindungsgemäße Wirkung als solche (in dem vorstehend ausgeführten engeren Sinn) über den im Patentanspruch unter Schutz gestellten Bereich hinaus erreicht werden könnte. Deshalb ist eine Ausführungsform aus dem Schutzbereich des Patents ausgeschlossen, die zwar offenbart oder für den Fachmann jedenfalls auffindbar sein mag, von der der Leser der Patentschrift aber annehmen muss, dass sie – aus welchen Gründen auch immer – nicht unter Schutz gestellt werden sollte (BGH, GRUR 2016, 921 Rn. 50 – Pemetrexed, m.w.N.).
66
In der Terminologie der Rechtsprechung der britischen Gerichte lässt sich dies auch dahingehend ausdrücken, dass eine abgewandelte Ausführungsform, auch wenn die Abwandlung keinen wesentlichen Einfluss auf die erfindungsgemäße Wirkung hat und dieser Umstand dem Fachmann nahegelegt war, nicht in den Schutzbereich des Patents fällt, wenn dem Patentanspruch aus fachmännischer Sicht zu entnehmen ist, dass die Übereinstimmung mit dem primären Wortlaut zu den wesentlichen Erfordernissen der Erfindung gehört (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 51 unter Verweis auf die britischen Entscheidungen „Catnic“, „Improver“ und „Actavis v. Eli Lilly“).
67
Für Fallgestaltungen, in denen dem Patentanspruch eine Auswahlentscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu Grunde liegt, hat der BGH das Erfordernis der Orientierung am Patentanspruch dahin konkretisiert, dass die fachmännischen Überlegungen zu möglichen Abwandlungen gerade auch mit dieser Auswahlentscheidung in Einklang stehen müssen. Deshalb ist eine Patentverletzung mit äquivalenten Mitteln in der Regel zu verneinen, wenn die Beschreibung mehrere Möglichkeiten offenbart, wie eine bestimmte technische Wirkung erzielt werden kann, jedoch nur eine dieser Möglichkeiten in den Patentanspruch aufgenommen worden ist (BGH, GRUR 2016, 921 Rn. 52 – Pemetrexed, u.a. mit Verweis auf BGH, GRUR 2011, 701 – Okklusionsvorrichtung).
68
(2) Gemessen an diesen Maßstäben ist im Streitfall eine Orientierung am Patentanspruch zu bejahen.
69
(a) Die Ersetzung einer Tablette mit schneller Freisetzung durch eine Hartkapsel mit schneller Freisetzung ist grundsätzlich – zunächst ungeachtet einer etwaigen Auswahlentscheidung, dazu sogleich – als eine am Anspruch des Verfügungspatents orientierte alternative Lösungsmöglichkeit anzusehen. Hierzu wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen des Landgerichts unter Rn. 81-84 des Ersturteils, welchen sich der Senat anschließt, Bezug genommen.
70
(b) Vorliegend kann eine Orientierung des abgewandelten Mittels am Patentanspruch auch nicht deswegen verneint werden, weil in der Patentschrift mehrere Möglichkeiten offenbart wurden, wie eine bestimmte technische Wirkung erzielt werden kann, aber nur eine dieser Möglichkeiten in den Patentanspruch aufgenommen worden ist. Denn das konkrete alternative Mittel ist im Verfügungspatent nicht offenbart.
71
Das Landgericht hat zutreffend darauf abgestellt, dass es für diese Fallgruppe darauf ankommt, dass das konkrete Mittel einschließlich der Eigenschaften, aus denen sich die (gleichen) patentgemäßen Wirkungen des Mittels ergeben, unmittelbar und eindeutig in der Patentschrift offenbart wurde. Denn ungeachtet der Rechtsprechung des BGH zu den Anforderungen an eine Offenbarung im Allgemeinen, kann im vorliegenden Zusammenhang der Leser grundsätzlich nur unter den vorgenannten Voraussetzungen von einer Auswahlentscheidung und damit davon ausgehen, dass das betreffende Mittel nicht vom Patentanspruch umfasst sein soll.
72
Das konkrete abweichende Mittel zur Erzielung der patentgemäßen Wirkungen einer Tablette mit schneller Freisetzung sind hier daher nicht Hartkapseln allgemein, sondern Hartkapseln mit schneller Freisetzung. Solche sind aber in der Verfügungspatentschrift jedenfalls nicht unmittelbar und eindeutig offenbart. Zwar schließt es das Komma vor dem Wort „and“ in Abs. [0029] der Beschreibung unter Berücksichtigung der Grammatikregeln der englischen Sprache nicht aus, dass sich die Wörter „releasing the active compound rapidly“ am Ende des Abs. [0029] auch auf die in der dortigen Aufzählung genannten Hartkapseln beziehen könnte. Es spricht jedoch bereits bei isolierter Betrachtung des Abs. [0029] mindestens ebenso viel dafür, dass sich die Angabe allein auf die in der Aufzählung zuletzt nach dem Komma und dem Wort „and“ genannten Tabletten bezieht. Das letztgenannte Verständnis wird zudem noch dadurch bestärkt, dass die Unterscheidung zwischen schneller Freisetzung und Freisetzung in sonstiger Weise in Abs. [0030] erneut – und nur in Bezug auf Tabletten – aufgegriffen wird. Damit fehlt es jedenfalls an einer eindeutigen Offenbarung von Hartkapseln mit schneller Freisetzung, die einen Rückschluss auf eine Auswahlentscheidung zulassen könnte.
73
(c) Die somit lediglich auffindbare (aber nicht offenbarte) Ausführungsform unter Verwendung von Hartkapseln mit schneller Freisetzung anstelle von Tabletten mit schneller Freisetzung ist auch nicht deswegen aus dem Schutzbereich des Verfügungspatents ausgeschlossen, weil der Leser der Patentschrift aus anderen Gründen annehmen muss, dass diese – aus welchen Motiven auch immer – nicht unter Schutz gestellt werden sollte.
74
(aa) Allein die Auffindbarkeit einer (nicht offenbarten) Ausführungsform rechtfertigt noch nicht die Annahme einer Auswahlentscheidung, weil die Auffindbarkeit eine Grundvoraussetzung für die Bejahung von Äquivalenz ist und der Einsatz abgewandelter Mittel folglich niemals zu einer Patentverletzung führen könnte (vgl. BGH, GRUR 2016, 921 Rn. 61 – Pemetrexed). Gleichwohl kann sich auch in dieser Konstellation aus dem Inhalt der Patentschrift oder aus sonstigen für die Auslegung maßgeblichen Umständen im Einzelfall ergeben, dass die in den Anspruch aufgenommene Ausführungsform auf einer Auswahl beruht, die es ausschließt, weitere Ausführungsformen in den Schutzbereich des Patents einzubeziehen (vgl. BGH, GRUR 2016, 921 Rn. 63 – Pemetrexed). Hierbei kann dahinstehen, ob der vorliegende Sachverhalt mit demjenigen in der Entscheidung „Pemetrexed“ des BGH unmittelbar vergleichbar ist und ob sich die konkreten Erwägungen zum dortigen Klagepatent auf den vorliegenden Fall übertragen lassen. Denn ob ein Ausschluss im vorgenannten Sinne anzunehmen ist, ist stets eine Frage des Einzelfalls, für die keine allgemeinen Regeln aufgestellt werden können (vgl. BGH, GRUR 2016, 921 Rn. 63 – Pemetrexed).
75
(bb) Vorliegend lassen sich der Patentschrift keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass eine entsprechende Auswahl getroffen werden sollte.
76
Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass durch die Beschränkung des Anspruchs auf Tabletten mit schneller Freisetzung sämtliche anderen (allgemein) in Abs. [0029] genannten oralen Verabreichungsformen, insbesondere auch die dort genannten Hartkapseln, vom Schutzbereich des Patents ausgeschlossen werden sollten. Vielmehr erkennt der Leser der Patentschrift, dass sich die Patentschrift – wie bereits ausgeführt – in Abs. [0030] im Speziellen mit Tabletten mit schneller Freisetzung und einer Freisetzung in sonstiger Weise beschäftigt. Ihm drängt sich daher auf, dass das Verfügungspatent eine Auswahlentscheidung zwischen den (unmittelbar und eindeutig offenbarten) Tabletten mit schneller Freisetzung und Tabletten mit Freisetzung in sonstiger Weise getroffen hat, sich die Auswahl also auf die schnelle Freisetzung und der Ausschluss vom Schutzbereich sich auf eine Freisetzung in sonstiger Weise bezieht. Eine Auswahlentscheidung allein zugunsten von Tabletten gegenüber sonstigen oralen Dosierungsformen, insbesondere auch Hartkapseln, ist dagegen nicht erkennbar, zumal das Verfügungspatent eine Tablette zwar als vorzugswürdig bezeichnet vgl. Abs. [0030], die Beschreibung indes an keiner Stelle besondere technische Vorzüge einer Tablette gegenüber anderen Dosierungsformen hervorhebt. Dagegen befasst sich das Verfügungspatent in Abs. [0030], [0031] detailliert mit dem (dort als besonders bevorzugt bezeichneten) Aspekt der schnellen Freisetzung, woraus der Leser der Patenschrift ebenfalls schließen wird, dass gerade diese Eigenschaft im Anspruch festgeschrieben werden sollte.
77
Somit lässt sich festhalten, dass sich in der Verfügungspatentschrift nicht nur keine Anhaltspunkte für eine Auswahlentscheidung zugunsten von Tabletten bzw. einen Ausschluss von anderen Dosierungsformen finden. Vielmehr finden sich sogar positive Anhaltspunkte dafür, dass gerade keine Auswahlentscheidung zwischen Tabletten und Hartkapseln getroffen wurde.
78
(d) Vor diesem Hintergrund kann auch aus einem Vergleich zwischen der geltenden Anspruchsfassung und der ursprünglichen Anspruchsfassung (vgl. dazu BGH, GRUR 2016, 921 Rn. 64 ff. – Pemetrexed) im vorliegenden Fall von vornherein kein Schluss auf einen Ausschluss von Hartkapseln mit schneller Freisetzung vom Schutzbereich des Patents gezogen werden.
79
Denn die Beschränkung im Anmeldeverfahren von einer „oral dosage form“ gemäß der ursprünglichen Anspruchsfassung auf eine „rapid-release tablet“ wie in der geltenden Anspruchsfassung enthalten wird der Leser aufgrund der oben dargelegten Gründe ebenfalls nur als eine Auswahl zugunsten einer oralen Dosierungsform mit schneller Freisetzung, nicht aber als eine Schutzbereichsbeschränkung auf eine Tablette als einzige geschützte orale Verabreichungsform verstehen.
80
Es kann mithin – wie auch vom BGH im Fall „Pemetrexed“ offengelassen – dahinstehen, ob und ggf. welche Unterlagen aus dem Erteilungsverfahren bei der Auslegung der geltenden Fassung eines Patents berücksichtigt werden dürfen (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 64 a.E.). Ebenso kann offenbleiben, ob die Beschränkung des Patentanspruchs im Laufe des Erteilungsverfahrens vorliegend nur aus formalen Gründen oder (auch) aus inhaltlichen Gründen – insbesondere, um sich dadurch vom Stand der Technik abzugrenzen –, erfolgt ist (vgl. dazu BGH, a.a.O., Rn 67 f.). Nur wenn Letzteres aus den Unterlagen aus dem Erteilungsverfahren hinreichend deutlich hervorginge (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 68), könnte nach der Rechtsprechung des BGH eine Auswahlentscheidung in Betracht kommen. Daran dürften im vorliegenden Fall indes Zweifel bestehen, was aber – wie ausgeführt – hier keiner Entscheidung bedarf.
81
5. Das Landgericht ist schließlich zu Recht von einer Erstbegehungsgefahr für ein sinnfälliges Herrichten der angegriffenen Ausführungsformen in Tabletten- und Kapselform im oben genannten Sinne und damit für eine drohende Patentverletzung gemäß Art. 64 Abs. 1 EPÜ i.V.m. § 139 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 9 Satz 1 Nr. 1 PatG ausgegangen.
82
II. Es besteht ferner ein Verfügungsgrund.
83
1. Der Erlass einer einstweiligen Verfügung setzt gem. §§ 935, 940 ZPO eine objektiv begründete Gefahr voraus, dass die Rechtsverwirklichung des Antragstellers mittels eines erst im Hauptsacheprozess erlangten Urteils unzumutbar vereitelt oder erschwert werden könnte. Dies bedingt zum einen eine für die Eilmaßnahme sprechende – hier gegebene – rein zeitliche Dringlichkeit. Zum anderen ist eine Interessenabwägung zwischen den dem Schutzrechtsinhaber ohne den Erlass der beantragten Verfügung drohenden Nachteilen und den Interessen des als Verletzer im Wege einer vorläufigen Eilmaßnahme in Anspruch genommenen Antragsgegners vorzunehmen.
84
a) Bei der Interessenabwägung ist im Fall eines (erfolgten oder zeitnah sicher zu erwartenden) Rechtsbestandsangriffs insbesondere auch zu prüfen, ob der (künftige) Rechtsbestand des Verfügungspatents hinreichend gesichert erscheint, mithin eine Prognose darüber zu treffen, ob sich das Patent im Bestandsverfahren voraussichtlich als rechtsbeständig erweisen wird. Die Entscheidung „Phoenix Contact/Harting“ des EuGH (GRUR 2022, 811) hat hieran grundsätzlich nichts geändert (vgl. Senat, Urt. v. 12.10.2023 – 6 U 2570/23 e).
85
Nach der Rechtsprechung des Senats gilt hierbei, dass dann, wenn sich das Verletzungsgericht unter Berücksichtigung des beiderseitigen Parteivorbringens nicht vom künftigen Rechtsbestand überzeugen kann, die verbleibenden Zweifel im Rahmen der Interessenabwägung grundsätzlich zu Lasten des Antragstellers gehen, es sei denn, aufgrund besonderer Umstände sind die Interessen des Gläubigers an einer sofortigen Unterbindung des streitgegenständlichen Verhaltens ausnahmsweise gleichwohl höher zu bewerten als die Interessen des Antragsgegners an einer ungestörten Fortsetzung des möglicherweise objektiv rechtswidrigen Verhaltens. Hierbei kann auf die in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte gebildeten Fallgruppen zurückgegriffen werden, wobei es sich dabei nicht um einen abschließenden Katalog von Ausnahmen handelt. Erforderlich ist vielmehr stets eine umfassende Abwägung der beiderseitigen Interessen anhand der Umstände des Einzelfalls (Senat, Urt. v. 12.10.2023 – 6 U 2570/23 e).
86
Dass das Verfügungspatent ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat, ist nicht Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Verfügung. Ohne eine erstinstanzliche Bestandsentscheidung oder einen qualifizierten Hinweis des Bundespatentgerichts wird es für das Verletzungsgericht erfahrungsgemäß aber schwierig sein, im Verfügungsverfahren eine hinreichend verlässliche Prognose über den künftigen Rechtsbestand zu treffen (vgl. Senat, Urt. v. 12.10.2023 – 6 U 2570/23 e).
87
b) Hat das Bundespatentgericht einen den Rechtsbestand voraussichtlich bestätigenden qualifizierten Hinweis gemäß § 83 Abs. 1 S. 1 PatG erlassen, ist hingegen grundsätzlich davon auszugehen, dass ein derartiger Hinweis als qualifizierte Sachaussage des nach dem Gesetz für die Überprüfung der Entscheidungen der Erteilungsbehörden berufenen Bundespatentgerichts, der sich hinreichend klar für die Schutzfähigkeit des Patents ausspricht, aus der Sicht des Verletzungsgerichts in aller Regel zu dem Schluss führt, dass der Rechtsbestand in einem Maße gesichert ist, dass eine Unterlassungsverfügung bei Feststellung einer (begangenen oder drohenden) Patentverletzung ergehen kann. Etwas anderes gilt in diesem Fall nur dann, wenn der Hinweis evident unzutreffend ist und zudem sicher davon auszugehen ist, dass der den Hinweis gebende Senat des Patentgerichts in der von ihm zu treffenden Entscheidung von diesem Hinweis abrücken wird.
88
Hierbei ist zu beachten, dass das Verletzungsgericht bei der Überprüfung auf offenkundige Fehlerhaftigkeit dem vom Gesetzgeber vorgegebenen Trennungsprinzip Rechnung zu tragen hat, so dass dem Verletzungsgericht nicht die Aufgabe einer Rechtsmittelinstanz in Bezug auf Entscheidungen zum Rechtsbestand der für diese zuständigen Gerichtsbarkeit zukommt. Der Hinweis ist daher nicht „auf Herz und Nieren“ auf (vermeintlich) offensichtliche Fehler hin zu überprüfen. Die vom Verletzungsgericht im Rahmen des Verfügungsverfahrens anzustellende Überprüfung einer solchen Entscheidung hat sich vielmehr von vornherein auf die Frage zu beschränken, ob eine evidente, also eine einem mit nicht technischen Richtern besetzten Spruchkörper ohne Weiteres erkennbare Fehlbeurteilung vorliegt. Allein der Umstand, dass das Verletzungsgericht nach Abwägung der seitens der Parteien vorgetragenen Argumente auch eine andere Bewertung für möglich erachtet, genügt daher nicht, um die Einschätzung im qualifizierten Hinweis des Bundespatentgerichts zu übergehen.
89
2. Nach diesen Grundsätzen fällt die Interessenabwägung vorliegend zugunsten des Erlasses der beantragten einstweiligen Verfügung aus.
90
a) Vorliegend ist nicht ersichtlich, dass die Würdigung des Bundespatentgerichts in dem qualifizierten Hinweis vom 03.01.2024 (Anlage AO 32) evident unzutreffend ist und bei zutreffender Würdigung zwingend ein anderes Ergebnis – nämlich die Verneinung des Verfügungspatents – angenommen werden muss.
91
Der Umstand, dass die vorläufige Auffassung des Bundespatentgerichts im qualifizierten Hinweis im Einklang mit der Einschätzung der Beschwerdekammer des EPA sowie im Übrigen mit derjenigen mehrerer anderer nationaler Gerichte steht, schließt es vielmehr aus, dass der Hinweis des Bundespatentgerichts als offensichtlich unrichtig gemäß dem oben aufgezeigten Prüfungsmaßstab angesehen werden könnte.
92
Der Senat verkennt nicht, dass auch mehrere andere nationale Gerichte den Rechtsbestand abweichend beurteilt und diesen verneint haben. Dies kann sich vorliegend jedoch nicht entscheidend auswirken, da es für das hiesige Verfahren (nur) darauf ankommt, ob der deutsche Teil des Verfügungspatents voraussichtlich Bestand haben wird, was maßgeblich von der Einschätzung des deutschen Bundespatentgerichts abhängt, dessen vorläufige Einschätzung – wie aufgezeigt – aber nicht als evident unrichtig angesehen werden kann.
93
b) Auch soweit nachträglich (behaupteter) Stand der Technik vorgebracht worden ist, welchen das Bundespatentgericht bei seinem Hinweis noch nicht berücksichtigen konnte (und folglich nicht berücksichtigt hat), führt dies im Ergebnis nicht dazu, dass die Interessenabwägung vorliegend wegen ungesicherten Rechtsbestands zugunsten der Antragsgegnerin ausfällt.
94
aa) Aus Sicht des Senats sprechen bereits gewichtige Argumente dafür, den oben dargelegten Offensichtlichkeitsmaßstab auch in dieser Fallkonstellation anzulegen, mit der Folge, dass auch nachträglich bekanntgewordener bzw. eingeführter Stand der Technik ein Abweichen von der Einschätzung des Bundespatentgerichts in einem qualifizierten Hinweis nur dann rechtfertigt, wenn nach dem neuen Vorbringen die vorläufige Einschätzung in dem Hinweis im Ergebnis offensichtlich keinen Bestand (mehr) haben kann.
95
Zwar ist zuzugeben, dass das Bundespatentgericht das neue Vorbringen noch nicht geprüft hat und dieses damit nicht in seine vorläufige Einschätzung eingeflossen ist. Die Bedeutung, die der Gesetzgeber dem qualifizierten Hinweis durch seine ausdrückliche Kodifizierung beigemessen hat, würde jedoch erheblich geschwächt und dieser teilweise „entwertet“, wenn in Bezug auf nach dem Hinweis neu vorgebrachten Stand der Technik die Verletzungsgerichte bei der Prüfung des Rechtsbestands insoweit stets wieder „bei null“ anfangen müssten. Bei § 83 Abs. 1 PatG handelt es sich gerade um die „Verzahnung“ von Verletzungs- und Nichtigkeitsverfahren innerhalb des im deutschen Recht geltenden Trennungsprinzips, durch welche den aus der unterschiedlichen Zuständigkeitsverteilung resultierenden Schwierigkeiten entgegengewirkt werden soll. Die Wichtigkeit – und damit grundsätzliche Beachtlichkeit – des qualifizierten Hinweises im Verletzungserfahren hat der Gesetzgeber durch das Zweite Patentrechtsmodernisierungsgesetz (2. PatMoG) vom 10.8.2021 (BGBl. I S. 3490) noch einmal erheblich gestärkt, indem er insbesondere § 83 Abs. 1 Satz 2 und 3 PatG n.F. eingeführt hat, wonach der Hinweis innerhalb von sechs Monaten nach Zustellung der Klage erteilt werden und dieser von Amts wegen an das Verletzungsgericht übermittelt werden soll.
96
Überdies ist zu sehen, dass die Rechtfertigung, trotz unzweifelhaft jedenfalls zum Schluss der mündlichen Verhandlung gegebenen (und daher im Rahmen des Verfügungsanspruchs zugrunde zu legenden) Rechtsbestands im Rahmen des Verfügungsgrunds den Rechtsfortbestand in Zweifel zu ziehen, vor allem darin zu sehen ist, dass statistisch betrachtet die überwiegende Zahl der erteilten Patente einem Rechtsbestandsangriff nicht oder nicht vollständig standhält (vgl. OLG Düsseldorf Urt. v. 4.3.2021 – 2 U 25/20, GRUR-RS 2021, 4420 Rn. 16; Senat, GRUR 2023, 796 Rn. 5 – Aminopyridin). Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Wahrscheinlichkeit einer (vollständigen oder teilweisen) Vernichtung eines Patents – empirisch betrachtet – bei Vorliegen eines den Rechtsbestand bestätigenden Hinweises des Bundespatentgerichts jedenfalls deutlich verringert ist, was aus Sicht des Senats ebenfalls dafür spricht, den Rechtsbestand im Verfügungsverfahren in diesen Fällen generell und insgesamt weniger kritisch zu hinterfragen.
97
bb) Legt man im konkreten Fall insgesamt den vorgenannten Offensichtlichkeitsmaßstab zugrunde, vermögen auch die nachträglich ins Feld geführten Entgegenhaltungen NiK 24, NiK 25 und NiK 26 das Ergebnis des qualifizierten Hinweises des Bundespatentgerichts nicht in Zweifel zu ziehen. Denn die Entgegenhaltungen stellen weder eindeutig zu berücksichtigenden Stand der Technik dar, noch führen die Entgegenhaltungen – selbst wenn man Vorheriges unterstellt – ihrem Inhalt nach offensichtlich zu einer Neuheitsschädlichkeit oder Verneinung einer erfinderischen Tätigkeit und daher zwingend im Ergebnis zu einer anderen Einschätzung als im qualifizierten Hinweis.
98
Dies ergibt sich insbesondere aus den Ausführungen des Landgerichts unter Rn. 159-176 des Ersturteils. Selbst wenn man den dortigen Erwägungen nicht folgen wollte, so handelt es sich hierbei jedenfalls um eine gut vertretbare Auffassung, von welcher nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Bundespatentgericht sich dieser im Ergebnis in seiner Endentscheidung anschließen wird.
99
c) Doch auch wenn man in Bezug auf nach einem qualifizierten Hinweis neu vorgebrachten Stand der Technik nicht den vorgenannten Offensichtlichkeitsmaßstab anlegen wollte, sondern in Bezug auf die neuen Entgegenhaltungen denjenigen Maßstab, der für noch nicht im Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren (vorläufig) geprüfte Schutzrechte gilt, fällt die Interessenabwägung vorliegend zugunsten der Antragstellerin aus.
100
Zwar erscheint es auch nicht ausgeschlossen, dass das Bundespatentgericht in Bezug auf die Entgegenhaltungen NiK 24, NiK 25 und NiK 26 der Einschätzung des Landgerichts im Ergebnis nicht folgen wird. Selbst wenn man zugunsten der Antragsgegnerin unterstellt, dass deshalb Zweifel am Rechtsfortbestand in einem solchen Maße bestehen, dass der Verfügungsgrund grundsätzlich zu verneinen wäre, liegen hier besondere Umstände vor, aufgrund derer die Interessen der Antragstellerin an einer sofortigen Unterbindung des streitgegenständlichen Verhaltens ausnahmsweise gleichwohl höher zu bewerten sind als die Interessen der Antragsgegnerin an einer Aufnahme des möglicherweise objektiv rechtswidrigen Verhaltens.
101
Denn vorliegend steht eine (drohende) Patentverletzung durch ein Generikaunternehmen inmitten, bei der nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung im Rahmen der Interessenabwägung ein Abwarten des Ausgangs eines Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens als für den Patentinhaber regelmäßig nicht zumutbar angesehen wird. So ist bei einer Patentverletzung durch ein Generikaunternehmen der hierdurch entstehende Schaden im Falle einer späteren Aufrechterhaltung des Patents vielfach sehr hoch und – mit Rücksicht auf den durch eine entsprechende Festsetzung von Festbeträgen verursachten Preisverfall – nicht wiedergutzumachen. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass das Generikaunternehmen für seine Marktpräsenz im Allgemeinen keine eigenen wirtschaftlichen Risiken eingeht, weil das Präparat dank des Patentinhabers medizinisch hinreichend erprobt und am Markt etabliert ist. Daher kann in diesen Fällen eine Verbotsverfügung auch dann ergehen, wenn für das Verletzungsgericht keine endgültige Sicherheit über den Rechtsbestand gewonnen werden kann (vgl. Senat, GRUR 2023, 796 Rn. 8 – Aminopyridin; Senat, GRUR-RS 2021, 12272 Rn. 60 – Cinacalcet; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2013, 236 – Flupirtin-Maleat; OLG Düsseldorf, GRUR-RS 2021, 4420 Rn. 22 – Cinacalcet II; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2021, 400 Rn. 47 – MS-Therapie II; Kühnen, HdP, 16. Aufl., Kap G Rn. 86 ff.).
102
Der Senat sieht weder allgemein Anlass, von dieser gefestigten Rechtsprechung abzuweichen, noch sind im konkreten Fall Umstände ersichtlich, die es geboten erscheinen ließen, vom dargelegten Regelfall in den sog. Generika-Fällen abzuweichen.
103
Insbesondere lässt auch der Umstand, dass das Verfügungspatent im Januar 2026 auslaufen wird und sich dadurch der der Antragstellerin (insbesondere auch unter dem Aspekt eines langfristigen Preisverfalls) drohende Schaden relativiert, ein Überwiegen der Interessen der Antragstellerin vorliegend nicht entfallen. Denn der Antragstellerin würden auch in diesem verbleibenden Zeitraum im Fall eines Markteintritts der Antragsgegnerin erhebliche Umsätze bzw. Gewinne entgehen, die sie zum einen zur Amortisation ihrer Aufwendungen für Forschungs- und Entwicklungsarbeiten sowohl in Bezug auf die Erfindung des Verfügungspatents als auch allgemein benötigt, und die zum anderen eine Belohnung des Originators für diese Tätigkeiten darstellen.
104
Darüber hinaus handelt es sich bei der relativ kurzen Restlaufzeit des Verfügungspatents, innerhalb der die Antragstellerin aus Zeitgründen keinen oder zumindest keinen effektiven Rechtsschutz durch eine Hauptsacheklage mehr erlangen könnte, um einen weiteren Aspekt, der im Rahmen der Interessenabwägung nicht gegen, sondern gerade für den Erlass einer einstweiligen Verfügung trotz verbleibender Zweifel am Rechtsbestand spricht (vgl. Kühnen, a.a.O., Kap G Rn. 95, m.w.N.).
105
3. In der Gesamtschau sind nach alledem die Interessen der Antragstellerin am Erlass der einstweiligen Verfügung höher zu gewichten als die Interessen der Antragsgegnerin an einem sofortigen Marktzutritt, so dass das Landgericht neben dem Verfügungsanspruch auch einen Verfügungsgrund zu Recht bejaht hat und die Berufung daher als unbegründet zurückzuweisen war.
106
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
107
Ein Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit entfällt, da einstweilige Verfügungen ihrer Natur nach sofort vollziehbar sind.
108
Eine Zulassung der Revision kommt nicht in Betracht, § 542 Abs. 2 Satz 1 ZPO.