Inhalt

LG München I, Endurteil v. 14.06.2024 – 21 O 4172/24
Titel:

Rechtsmißbrauch, Neuheitsschädlichkeit, Erstbegehungsgefahr, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Einheitliches Patentgericht, Kostenentscheidung, Erteilungsverfahren, Patentfähigkeit, Verwendungspatente, Nichtigkeitsverfahren, Einstweiliges Verfügungsverfahren, Anordnung einer Sicherheitsleistung, Nichtigkeitsklage, Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, Äquivalente Patentverletzung, Entgangener Gewinn, Schadensersatzprozeß, ausländisches Gericht, Interessenabwägung, Große Beschwerdekammer

Schlagworte:
Patentverletzung, einstweilige Verfügung, Verfügungsgrund, Verfügungsanspruch, Äquivalenzverletzung, Interessenabwägung
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Endurteil vom 10.04.2025 – 6 U 3325/24 e
Fundstelle:
GRUR-RS 2024, 46850

Tenor

I. Der Widerspruch der Verfügungsbeklagten vom 24.04.2024 gegen die einstweilige Verfügung vom 11.04.2024 wird zurückgewiesen.
II. Die einstweilige Verfügung vom 11.04.2024 wird bestätigt.
III. Die Verfügungsbeklagte trägt die weiteren Kosten des Rechtsstreits.

Tatbestand

1
Die Verfügungsklägerin nimmt die Verfügungsbeklagte wegen Verletzung des nationalen deutschen Teils des europäischen Patents 1 845 961 (Verfügungspatent) in Anspruch.
2
Das Verfügungspatent wurde am 19. Januar 2006 unter Inanspruchnahme einer Priorität vom 31. Januar 2005 angemeldet und am 22. April 2015 erteilt; es ist für die Bundesrepublik Deutschland validiert und steht in Kraft (Anlage AO 2, 2a, 2b).
3
Anspruch 1 lautet in der Sprache der Erteilungsverfahrens:
„The use of a rapid-release tablet of the compound 5-Chloro-N-({(5S)-2-oxo-3-[4-(3-oxo-4-morpholinyl) phenyl]-l,3-oxazolidin-5-yl}methyl)-2-thiophenecarbox-amide for the manufacture of a medicament for the treatment of a thromboembolic disorder administered no more than once daily for at least five consecutive days, wherein said compound has a plasma concentration half life of 10 hours or less when orally administered to a human patient.“
4
Gegen die Erteilung des Verfügungspatents wurde Einspruch beim Europäischen Patentamt eingelegt. Insgesamt griffen dreizehn Einsprechende die Erteilungsentscheidung an und machten hierbei vor allem fehlende Neuheit und fehlende erfinderische Tätigkeit geltend (vgl. Anlage AO 29, Summary of Facts and Submissions, Ziffer IV.). Auf den Einspruch wurde das Verfügungspatent wegen Naheliegens für nichtig erklärt. Bei dieser Entscheidung lagen der Einspruchsabteilung zweiundzwanzig (22) Entgegenhaltungen vor (vgl. Anlage AO 29, Summary of Facts and Submissions, Ziffer VI.). Die Technische Beschwerdekammer des Europäischen Patentsamts hielt aufgrund der hiergegen von der Verfügungsklägerin eingelegten Beschwerde das Verfügungspatent mit Entscheidung vom 27.10.2021, Az. T 1732/18, uneingeschränkt aufrecht und revidierte damit die Entscheidung der Einspruchsabteilung (Anlage AO 29). Im Rahmen des Beschwerdeverfahren wurden zahlreiche weitere Dokumente vorgelegt (vgl. Anlage AO 29, Ziffer XV.). Ein nachfolgender Antrag auf Überprüfung der Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer durch die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts wurde nach einem entsprechenden Hinweis (Anlage AO 31) zurückgenommen.
5
In den im Anschluss daran in Teilen Europas und der Welt durchgeführten Gerichtsverfahren wurde die Rechtsbeständigkeit des jeweiligen nationalen Teils des Verfügungspatents unterschiedlich bewertet. Manche Gerichte sahen es als nicht rechtsbeständig an. Andere bestätigten den Rechtsbestand.
6
Infolge der gegen den nationalen deutschen Teil des Verfügungspatents erhobenen Nichtigkeitsklage (Az. 3 Ni 14/23 (EP)) nahm das Bundespatentgericht mit Hinweis vom 03.01.2024 gemäß § 83 S. 1 PatG dessen Rechtsbeständigkeit vorläufig an (Anlage AO 32).
7
Die Verfügungsbeklagte ist ein Generikaanbieter.
8
Die Verfügungsbeklagte hat am 31. Mai 2019 arzneimittelrechtliche Marktzulassungen für ihr Generikum Rivaroxaban beta Filmtabletten (im Folgenden auch „angegriffene Ausführungsform in Tablettenform“) vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (im Folgenden „BfArM“) in folgenden Stärken erhalten:
-
Rivaroxaban beta 10 mg Filmtabletten, Zulassungsnummer: 99548.00.00,
-
Rivaroxaban beta 15 mg Filmtabletten, Zulassungsnummer: 99549.00.00,
-
Rivaroxaban beta 20 mg Filmtabletten, Zulassungsnummer: 99550.00.00
(Anlage AO 3).
9
Die Fachinformation der angegriffenen Ausführungsform in Tablettenform finden sich in der Anlage AO 4.
10
Darüber hinaus hat die Verfügungsbeklagte am 25. Juli 2023 arzneimittelrechtliche Marktzulassungen für ihr Generikum Rivaroxaban bata Hartkapseln (im Folgenden auch „angegriffene Ausführungsform in Kapselform“) vom BfArM in folgenden Stärken erhalten:
-
Rivaroxaban beta 10 mg Hartkapseln, Zulassungsnummer 2203144.00.00,
-
Rivaroxaban beta 15 mg Hartkapseln, Zulassungsnummer 2203145.00.00,
-
Rivaroxaban beta 20 mg Hartkapseln, Zulassungsnummer 7011986.00.00.
(Anlage AO 3a).
11
Die Fachinformation der angegriffenen Ausführungsform in Kapselform liegt als Anlage AO 4a vor.
12
Hinsichtlich der beta 15 mg Filmtabletten beantragte die Verfügungsbeklagte eine Änderung der Zulassung betreffend unter anderem den „Wegfall von Angaben entsprechend § 11a Abs. 1e AMG (Patentschutz)“, welcher am 19. Februar 2024 vom BfArM genehmigt wurde (Anlage AO 9, dazugehörige Fachinformation in der Anlage AO 4b).
13
Die Verfügungsklägerin erfuhr von der beantragten Listung der angegriffenen Ausführungsform in Tablettenform (Carve-out) erstmals am 22. März 2024 (Anlage AO 15). Von der bevorstehenden Listung der angegriffenen Ausführungsform in Kapselform erfuhr sie erstmals am 28. März 2024 (Anlage AO 18, AO 19). Kenntnis von der bevorstehenden Listung der angegriffenen Ausführungsform in Tablettenform (Full Label) erhielt die Verfügungsklägerin am 4. April 2024 (Anlage AO 19a).
14
Mit Schriftsatz vom 10. April 2024 hat die Verfügungsklägerin bei der hiesigen Kammer einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen die angegriffenen Ausführungsformen in Tabletten- und Kapselform beantragt. Die Kammer hat nach Kenntnisnahme der Schutzschrift vom 10.04.2024 antragsgemäß eine einstweilige Verfügung am 11.04.2024 erlassen.
15
Die Verfügungsklägerin macht geltend, die angegriffene Ausführungsform verletzte Anspruch 1 des Verfügungspatents unmittelbar und wortsinngemäß. Begründete Zweifel am Rechtsbestand des Verfügungspatents bestünden angesichts der bestätigenden Entscheidung der Beschwerdekammer des Europäischen Patentsamts sowie des qualifizierten Hinweises des Patentgerichts vom 03.01.2024 nicht. Auch die Interessenabwägung spreche zu ihren Gunsten, die zeitliche Dringlichkeit sei ebenso eingehalten.
16
Die Verfügungsklägerin beantragt: wie tenoriert.
17
Die Verfügungsbeklagte beantragt,
1.
Die einstweilige Verfügung des Landgerichts München I, Az.: 21 O 4172/24 wird aufgehoben.
2.
Die Vollstreckung aus der einstweiligen Verfügung wird mit sofortiger Wirkung – notfalls gegen Sicherheitsleistung – eingestellt.
3.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
18
Die Verfügungsbeklagte ist der Ansicht, die einstweilige Verfügung sei aufzuheben. Das Verfügungspatent sei nicht verletzt. Eine äquivalente Verwirklichung von Merkmal 4 durch den Austausch der Tablette durch eine Hartkapsel sei nicht gegeben. Die 15 mg-Filmtablette sei aufgrund eines carve-out ebenfalls nicht patentverletzend. Das Verfügungspatent sei zudem nicht rechtsbeständig, der qualifizierte Hinweis des Patentgerichts sei fehlerhaft und unrichtig. Jedenfalls aufgrund des noch in keinem Verfahren geprüften neuen Stands der Technik müsse das Verfügungspatent widerrufen werden. Weiterhin sei der Verfügungsklägerin aufgrund bewusst unrichtiger Angaben zum Stand der Technik im Erteilungsverfahren eine Durchsetzung des Verfügungspatents gemäß § 242 BGB verwehrt.
19
Im Übrigen wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 14.06.2024 verwiesen.

Entscheidungsgründe

20
Der zulässige Widerspruch ist unbegründet. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Verfügung bestehen fort. Diese ist aufrechtzuerhalten.
21
Die Verfügungsklägerin hat glaubhaft gemacht, dass Verfügungsanspruch (A.) und Verfügungsgrund vorliegen (B.).
A.
22
I.  Das Verfügungspatent betrifft das Gebiet der Blutgerinnung, konkret eine Therapie von thromboembolischen Störungen mit Rivaroxaban, einem direkten Faktor-Xa-Inhibitor.
23
1. Die Beschreibung des Verfügungspatents führt zum Hintergrund aus: Die Blutgerinnung sei ein Schutzmechanismus des Organismus, der dazu beitrage, Defekte in der Wand der Blutgefäße schnell und zuverlässig zu „verschließen“. Dadurch könnten Blutverluste vermieden oder auf ein Minimum beschränkt werden. Die Blutstillung nach Verletzungen der Blutgefäße werde hauptsächlich durch das Gerinnungssystem bewirkt, in dem eine enzymatische Kaskade komplexer Reaktionen von Plasmaproteinen ausgelöst werde. An diesem Prozess seien zahlreiche Blutgerinnungsfaktoren beteiligt, von denen jeder bei Aktivierung die jeweils nächste inaktive Vorstufe in seine aktive Form umwandelte. Am Ende der Kaskade stehe die Umwandlung von löslichem Fibrinogen in unlösliches Fibrin, was zur Bildung eines Blutgerinnsels führe. Bei der Blutgerinnung unterscheide man traditionell den intrinsischen und den extrinsischen Weg, die in einem gemeinsamen Reaktionsweg endeten. Dabei spiele der Faktor Xa, der aus dem Proenzym Faktor X gebildet werde, eine Schlüsselrolle, weil er die beiden Gerinnungswege verbinde. Die aktivierte Serinprotease Xa spalte Prothrombin zu Thrombin. Das entstehende Thrombin spalte wiederum Fibrinogen zu Fibrin, einem faserigen/gallertartigen Koagulans. Darüber hinaus sei Thrombin ein potenter Effektor der Thrombozytenaggregation, der ebenfalls wesentlich zur Hämostase beitrage, [0002]. Die Aufrechterhaltung einer normalen Hämostase, also des Gleichgewichts zwischen Blutung und Thrombose, unterliege einem komplexen Regelungsmechanismus. Eine unkontrollierte Aktivierung des Gerinnungssystems oder eine mangelhafte Hemmung der Aktivierungsvorgänge könne zur Bildung lokaler Thromben oder Embolien in Gefäßen (Arterien, Venen) oder in Herzhöhlen führen. Dies könne zu schwerwiegenden thromboembolischen Erkrankungen führen (z. B. Herzinfarkt, Schlaganfall, Lungenembolien oder tiefe Venenthrombosen), [0003], die die häufigsten Todesursachen in Industrieländern seien, [0004].
24
Zum Stand der Technik führt die Beschreibung der Verfügungspatentschrift aus, die bekannten Antikoagulanzien, also Substanzen zur Hemmung oder Verhinderung der Blutgerinnung, wiesen verschiedene, oft gravierende Nachteile auf, [0005]: Bei der Verabreichung von Heparin könne keine selektive Wirkung erzielt werden, weil es mehrere Faktoren der Blutgerinnungskaskade gleichzeitig hemme, [0006]. Darüber hinaus bestehe ein hohes Blutungsrisiko, [0006]. Daneben habe es im Stand der Technik als Antikoagulanzien Vitamin-K-Antagonisten gegeben, die aber die Synthese verschiedener Produkte bestimmter Vitamin-K-abhängiger Gerinnungsfaktoren in der Leber nicht selektiv hemmten. Außerdem wirkten sie sehr langsam (Latenz bis Wirkungseintritt 36 bis 48 Stunden). Auch sei eine orale Verabreichung zwar möglich, erfordere aber aufgrund des hohen Blutungsrisikos und der geringen therapeutischen Breite eine zeitaufwändige individuelle Einstellung und Überwachung des Patienten, [0007].
25
An diesen bekannten Antikoagulanzien kritisiert die Verfügungspatentschrift vor allem, dass sie die Einbindung von medizinischem Fachpersonal erforderten und vor allem nicht spezifisch genug wirkten. Denn sie hätten auf verschiedene Faktoren auf einmal eingewirkt, hätten vergleichsweise enge therapeutische Fenster und seien insgesamt nur schwer beherrschbar gewesen. Demzufolge habe ein großes medizinisches Bedürfnis an einem unkompliziert verabreichbaren und dennoch sicheren Antikoagulanz bestanden; [0002] – [0007].
26
Weiter beschreibt die Verfügungspatentschrift, dass ein neuer therapeutischer Ansatz zur Behandlung und Prophylaxe thromboembolischer Erkrankungen gefunden sei. Dieser ziele auf die Hemmung von Faktor Xa. Es sei darin gezeigt, dass in Tiermodellen verschiedene sowohl peptidische als auch nicht-peptidische Verbindungen als Faktor Xa-Inhibitoren wirksam seien, [0008]. Zu diesen Inhibitoren gehört auch der im Anspruch 1 bezeichnete Wirkstoff, der Rivaroxaban genannt wird.
27
2. Dem Verfügungspatent liegt die objektiv zu bestimmende Aufgabe zugrunde, eine wirksame und sichere Verabreichung für den Wirkstoff Rivaroxaban zur Behandlung thromboembolischer Erkrankungen bereitzustellen. Das bedeutet, dass mittels des Wirkstoffs Rivaroxaban einerseits eine wirksame Behandlung thromboembolischer Erkrankungen erfolgen kann, die andererseits auch sicher ist, nämlich nicht dazu führt, dass der Patient an einer zu geringen Blutgerinnung stirbt.
28
3. Anspruch 1 löst diese Aufgabe und ist entsprechend dem Vorschlag der Verfügungsklägerin wie folgt zu gliedern:
1.
Verwendung der Verbindung 5-Chlor-N-({(5S)-2-oxo-3-[4-(3-oxo-4-morpholinyl)phenyl]-1,3-oxazolidin-5-yl}methyl)-2-thiophencarbon-säureamid zur Herstellung eines Medikaments
2.
in einer Tablette mit schneller Freisetzung
3.
zur Behandlung einer thromboembolischen Erkrankung;
4.
das Medikament wird nicht mehr als einmal täglich über mindestens fünf aufeinanderfolgende Tage verabreicht;
5.
die Verbindung hat bei oraler Verabreichung an einen menschlichen Patienten eine Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger.
29
4. Einige dieser Merkmale bedürfen vor dem Hintergrund des Streits der Parteien der näheren Erläuterung.
30
Die Auslegung erfolgt aus Sicht der zuständigen Fachperson, bei der es sich gemäß der übereinstimmenden Definition der Parteien (im Anschluss an die des Bundespatentgerichts) um ein Team aus einem Arzt mit Berufserfahrung auf dem Gebiet der Behandlung thromboembolischer Erkrankungen, einem auf dem Gebiet der klinischen Pharmakokinetik berufserfahrenen Pharmakologen und einen pharmazeutischen Technologen mit mehrjähriger Erfahrung im Bereich der Entwicklung von antithrombotischen Arzneimitteln handelt (vgl. Protokoll und BPatG, Hinweis, Seite 2).
31
a) Der streitgegenständliche Patentanspruch betrifft im Wesentlichen die einmal tägliche Verabreichung des pharmazeutisch wirksamen Stoffes Rivaroxaban mittels einer schnell freisetzenden Tablette zur therapeutischen Behandlung von thromboembolischen Störungen in menschlichen Patienten.
32
Der Anspruch ist als Verwendungspatent konzipiert. Das folgt bereits aus dem Wortlaut, wonach die Verwendung eines therapeutisch wirksamen Stoffes zur Herstellung eines Medikaments zur Behandlung einer thromboembolischen Erkrankung beansprucht wird. Der Schutzgegenstand erstreckt sich auf die Verwendung von Rivaroxaban zur therapeutischen Behandlung einer thromboembolischen Erkrankung. Beansprucht ist zudem ein bestimmtes Dosierungs- bzw. Verabreichungsschema von Rivaroxaban zur therapeutischen Behandlung thromboembolischer Erkrankung. Das ist konkret die einmal tägliche Verabreichung für mindestens fünf Tage mittels einer Tablette mit schneller Freisetzung.
33
b) Das Merkmal „Tablette mit schneller Freisetzung“ in Merkmalsgruppe 2 versteht die Fachperson dahin, dass eine Tablette beansprucht ist, die den Wirkstoff schnell, also nicht verzögernd, retardierend, freisetzt. Die Fachperson erkennt, dass bei der oralen Verabreichung eine schnelle Freisetzung von Rivaroxaban erfolgt.
34
In dieser Einschätzung sieht sich die Fachperson durch die Beschreibung des Verfügungspatents bestätigt, [0029] bis [0031].
35
c) Das Merkmal 4 beansprucht die nicht mehr als einmal tägliche Verabreichung von Rivaroxaban mittels einer schnell freisetzenden Tablette für einen Zeitraum von mindestens fünf aufeinanderfolgenden Tagen.
36
Eine Einschränkung dahingehend, dass dieses Dosierungsschema während der gesamten Therapie stets, also durchgängig so ausgeführt werden muss, ist weder dem Anspruchswortlaut noch den Wortsinn zu entnehmen. Die Beschreibung weist ebenfalls nicht in diese Richtung. Gleichfalls gibt der Anspruch nicht vor, dass zu Beginn und/oder zum Ende der Behandlung das merkmalsgemäße Dosierungsregime erfüllt sein muss. Die Fachperson erkennt, dass es allein maßgeblich ist, überhaupt die beanspruchte Formulierung von Rivaroxaban zur Behandlung einer thromboembolischen Erkrankung einmal täglich über mindestens fünf aufeinanderfolgende Tage zu verwenden. Wann dieses Dosisregime bei der Behandlung eingesetzt wird, überlässt der Anspruch jedoch dem fachmännischen Können und macht insofern keine Vorgaben.
37
d) In Merkmal 5 beansprucht das Verfügungspatent eine Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger bei Verabreichung an menschliche Patienten. Dieses Merkmal definiert und bestimmt die Verbindung gemäß Merkmal 1. Bei der angegebenen Halbwertszeit geht es bei zutreffendem technischem Verständnis um ein intrinsisches Merkmal dieses Wirkstoffs und nicht um die konkrete Halbwertszeit bei einzelnen Patienten oder Patientengruppen.
38
Der Begriff der Plasmakonzentrationshalbwertszeit ist für die Fachperson zunächst mehrdeutig. Denn schon der Begriff „Halbwertszeit“ kann unterschiedliche Bedeutungen haben. So kann er sowohl die terminale, das heißt die letzte Halbwertszeit, als auch die klinisch effektive Halbwertszeit bei therapeutisch relevanten Plasmakonzentrationsspiegeln meinen.
39
Bei Hinzuziehung der Beschreibung des Verfügungspatents entnimmt die Fachperson aus [0009], dass das Verfügungspatent unter Halbwertszeit die Zeit versteht, die vergeht, bis sich die Plasmakonzentration um fünfzig Prozent reduziert. Gemäß [0010] soll ein pharmazeutisch wirksamer Stoff optimalerweise zur Verhinderung von unerwünschten Nebenwirkungen so wenig wie möglich verabreicht werden, aber auch so viel wie nötig, um die therapeutische Wirkung zuverlässig zu erzielen. Dementsprechend beschreibt das Verfügungspatent dort unter Verweis auf zwei Literaturstellen die (allgemeine) Regel, dass ein Wirkstoff normalerweise ein Mal pro Halbwertszeit verabreicht wird, also das Arzneimittel etwa alle Halbwertszeiten verabreicht werden muss.
40
Soll ein Wirkstoff über längere Zeit seine therapeutische Wirkung im menschlichen Körper entfalten, ist es notwendig, dass er die therapeutisch relevante Plasmakonzentration längerfristig im Körper hält. Das ist auch bei dem Wirkstoff Rivaroxaban der Fall. Dieser soll einerseits die Gefahr einer Thrombose nicht nur kurzfristig, sondern über einen längeren Zeitraum eindämmen, ohne dass es andererseits zu unerwünschten Blutungen des Patienten kommt. Eine therapeutisch Zielplasmakonzentration („approximate steady state“) werde nach 3 bis 5 Halbwertszeiten erreicht, [0011]. Im Steady-State wiederholten sich die Konzentrationen der Medikamente, die während jedes Intervalls zwischen den Dosen steigen und fallen, in jedem Intervall zwischen den Dosen identisch, [0011].
41
Das Verfügungspatent betrifft gemäß Anspruch 1 als auch gemäß [0013] nicht allein eine Halbwertszeit, sondern die Plasmakonzentrationshalbwertszeit. Plasmakonzentrationshalbwertszeit im Sinne des Verfügungspatents ist im Lichte von [0011] die Zeit, bis der Wirkstoff so weit metabolisiert ist, dass eine erneute Verabreichung zur Aufrechterhaltung der therapeutisch wirksamen Plasmakonzentration („steady state“) erforderlich ist (vgl. insoweit auch BPatG, Hinweis, Seite 5 Buchst. b, ltz. Satz:
„Bei den im Poster NIK22 angegebenen Halbwertszeiten handelt es sich daher zumindest nicht um die relevante Halbwertszeit im Steady State bei Mehrfachdosierung von Rivaroxaban, die der Fachmann aber bei der Dosisplanung berücksichtigt.“
(Hervorhebung durch das Gericht).
42
Bezugsobjekt hierfür ist ausweislich des Anspruchswortlauts der Patient. Die in [0017] zitierte Studie von Kubitza et al. (Anlage AO 24) betreffend eine Plasmakonzentrationshalbwertszeit von vier bis sechs Stunden bezieht sich hingegen auf junge gesunde Männer und damit nicht auf Patienten. Die Fachperson wird die dortige Plasmakonzentrationshalbwertzeit daher nicht mit derjenigen gemäß Anspruch 1 des Verfügungspatents gleichsetzen.
43
Dies auch deswegen nicht, weil das Verfügungspatent in [0012] lehrt, dass sich der Faktor Xa-Inhibitor, also Rivaroxaban, trotz einmal täglicher Verabreichung bei Patienten mit einer Plasmakonzentrationshalbwertszeit von unter zehn Stunden überraschenderweise als therapeutisch wirksam und sicher herausgestellt hat.
44
Vor diesem Hintergrund erkennt der Fachmann, dass der beanspruchte Wirkstoff Rivaroxaban das Teilmerkmal „Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger“ in Merkmal 5 bei Patienten per definitionem erfüllt. Der Fachmann wird diesem Teilmerkmal daher keinen gesonderten Bedeutungsgehalt zumessen. Es handelt sich um eine Überbestimmung oder, wie es die Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts und das Patentgericht aus ihrem, auf den Rechtsbestand gerichteten, Blickwinkel sehen, um ein redundantes Merkmal. Dieses Teilmerkmal weist dem an sich bekannten Wirkstoff Rivaroxaban keine weitere Eigenschaft zu, sondern nennt nur eine solche, die dieser Stoff nach der Beschreibung und damit nach der Definition des Verfügungspatents als seinem eigenen Lexikon bereits besitzt.
45
Beansprucht wird mit dem Merkmal 5 daher explizit keine bestimmte Patientengruppe, bei deren Mitgliedern die Plasmakonzentrationshalbwertzeit unter zehn Stunden liegt.
46
Der Fachmann wird sich dabei durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs in der Sache „Bodenseitige Vereinzelungseinrichtung“ (GRUR 2004, 1023, 1025) bestärkt sehen. Danach hat es der Erfinder in der Hand, wie er seine Erfindung mittels eines Patentanspruchs umschreibt. Er kann daher zur zutreffenden Kennzeichnung der Neuerung im Patentanspruch auch Selbstverständliches anführen. Deshalb kann bei der Auslegung eines Patentanspruchs nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass darin enthaltene Kennzeichnungen eine über Selbstverständlichkeiten hinausgehende Bedeutung beizumessen sei. Das ist vorliegend der Fall. Das Teilmerkmal der Plasmahalbwertszeit von unter zehn Stunden in Patienten ist für Rivaroxaban eine Selbstverständlichkeit, da sie ihm als Stoffeigenschaft immanent ist (so auch EPA, T 1732/18, Entscheidungsgründe Ziffer 3.2.7; BPatG, Hinweis, Seite 3 Buchst. b).
47
Die weiteren von der Verfügungsbeklagten diskutierten Dokumente und Verlautbarungen sind kein zulässiges Auslegungsmittel. Vor allem Angaben in der Fachinformation des Produkts der Verfügungsklägerin sind für die Frage der Auslegung des Patentanspruchs irrelevant; vgl. Art. 69 Abs. 1 EPÜ, § 14 PatG.
48
Sofern man den Argumenten der Verfügungsbeklagten folgen und annehmen sollte, dass es sich bei Merkmal 5 nicht um eine Eigenschaft des Stoffs Rivaroxaban handelte, müsste ausnahmsweise, um Patentanspruch und Beschreibung (wieder) sinnvoll zueinander in Beziehung zu setzen (siehe oben), die Anspruchsgeschichte in den Blick genommen werden (vgl. BGH, GRUR 2015, 875 Rn. 17 – Rotorelemente). Dann würde sich ebenfalls ergeben, dass die Argumente der Verfügungsbeklagten nicht durchgreifen können. Denn aus der Anspruchsgeschichte ergäbe sich, dass ursprünglich allgemein ein Faktor Xa Inhibitor beansprucht werden sollte und dieser mit Patenterteilung auf die Verbindung Rivaroxaban konkretisiert worden ist. In beiden Fassungen des (vorgeschlagenen bzw. erteilten) Anspruchs ist allerdings der Inhalt von Merkmal 5 unverändert geblieben. Hieraus folgt, dass Merkmal 5 den zunächst allgemein beanspruchten Faktor Xa Inhibitor definieren sollte. Aufgrund der nun gegebenen Beschränkung auf einen bestimmten Faktor Xa Inhibitor, nämlich Rivaroxaban, enthält Merkmal 5 damit eine unschädliche Überbestimmung.
49
III. Vor dem Hintergrund der dargestellten Auslegung des Verfügungspatents ist für die Tabletten in der für sie hergerichteten Verpackung und Fachinformation eine wortsinngemäße Anspruchsverwirklichung festzustellen.
50
1. Anspruchsgegenstand ist die medizinische Verwendung von Rivaroxaban. Verwendungspatente werden für Erfindungen gewährt, die ein Erzeugnis oder einen Stoff zum Gegenstand haben, das/der an einen bestimmten Verwendungszweck gebunden ist. Anders als bei reinen Stoffpatenten ist die Zweckangabe im Verwendungsanspruch schutzumfangsbeschränkend (Stief/Bühler, in: Haedicke/ Timmann, Handbuch des Patentrechts, 2. Auflage 2020, § 9 Rn. 133). Das entspricht in der Sache einem zweckgebundenen Stoffschutz, wie ihn § 3 Absatz 4 PatG und Art. 54 Absatz 5 EPÜ in der seit 13.12.2007 geltenden Fassung ausdrücklich vorsehen und unabhängig davon, ob der Patentanspruch seinem Wortlaut nach auf zweckgebundenen Stoffschutz, auf die Verwendung des Medikaments oder auf dessen Herrichtung zu einem bestimmten Verwendungszweck gerichtet ist (GRUR 2016, 921 Rn. 83 – Pemetrexed mVw auf BGH GRUR 2014, 461 – Kollagenase I).
51
Da die eigentliche therapeutische Verwendung von Arzneimitteln, also die Einnahme – und wohl auch deren Verschreibung – aus ordnungspolitischen Gründen patentfrei sein soll, erfolgt der patentrechtliche Schutz pharmazeutischer Verwendungsansprüche über das richterrechtlich entwickelte Institut des sinnfälligen Herrichtens (vgl. BGH GRUR 2014, 461 Rn. 29 – Kollagenase I; 1983, 729, 730 – Hydropyridin; umfassend: Bühler, Verantwortlichkeit und Haftung für die Verletzung von Second Medical Use Patenten, 2022, Rn. 188 ff.; Haedicke, Patentrecht, 5. Auflage 2021, 12. Kapitel Rn. 21).
52
Daher ist nicht die therapeutische Verwendung des Wirkstoffes an sich patentverletzend, sondern die ihr vorhergehende sinnfällige Herrichtung des Stoffes, das heißt seine Herrichtung zur therapeutischen Verwendung. Ein sinnfälliges Herrichten liegt vor, wenn die in den Verkehr gebrachte Arznei zusammen mit den gesetzlich geforderten Fach- oder Gebrauchsinformation alle Merkmale des Patentanspruchs erfüllt. Den Fach- oder Gebrauchsinformationen kommt dabei eine besondere Rolle zu, da sie die Anweisungen enthalten, wie der in Verkehr gebrachte Wirkstoff zu verwenden ist. Die angegriffene Ausführungsform ist das verschreibungspflichtige Arzneimittel. Maßgeblich ist deshalb der Erkenntnishorizont des verschreibenden Arztes beim Lesen der Fachinformation (OLG Düsseldorf GRUR 2019, 279 Rn. 45 – Fulvestrant; Bühler, a.a.O., Rn. 190).
53
2. Da die angegriffenen Produkte den Wirkstoff Rivaroxaban enthalten und sie entsprechend den Angaben des Klagepatents verabreicht werden sollen, sie sind sinnfällig hergerichtet.
54
a) Die angegriffene Ausführungsform in Tablettenform erfüllt Merkmal 1, weil sie ausweislich der Fachinformation, Abschnitt 2. „Qualitative und Quantitative Zusammensetzung“ (Anlage AO 4) den Wirkstoff Rivaroxaban enthält.
55
Das Merkmal 2 „Tablette mit schneller Freisetzung“ ist gleichfalls erfüllt. Gemäß der Fachinformation wird die angegriffene Ausführungsform in Tablettenform abgegeben, wobei es sich auch um eine Tablette mit schneller Freisetzung handelt, wie sich aus dem öffentlichen Beurteilungsbericht („Public Assessment Report“) für die angegriffene Ausführungsform in Tablettenform ergibt (Anlage AO 30).
56
Gemäß Abschnitt 4.1 der Fachinformation (Anlage AO 4) ist die angegriffene Ausführungsform in Tablettenform in den Stärken 10 mg, 15 mg und 20 mg unter anderem zur Behandlung von tiefen Venenthrombosen (TVT) und Lungenembolien (LE) sowie Prophylaxe von rezidivierenden TVT und LE bei Erwachsenen vorgesehen und arzneimittelrechtlich zugelassen. Damit ist sie sinnfällig für diese Verwendung hergerichtet. Darüber hinaus ist die Stärke 10mg sinnfällig hergerichtet zur Prophylaxe venöser Thromboembolien (VTE) bei erwachsenen Patienten nach elektiven Hüft- oder Kniegelenksersatzoperationen, die Stärken 15mg und 20mg außerdem zur Prophylaxe von Schlaganfällen und systemischen Embolien bei erwachsenen Patienten und zur Behandlung von venösen Thromboembolien (VTE) sowie zur Prophylaxe von deren Rezidiven bei Kindern und Jugendlichen. Bei all diesen Erkrankungen handelt es sich um thromboembolische Erkrankungen. Merkmal 3 ist damit erfüllt.
57
Das Merkmal 4 ist erfüllt, weil die angegriffene Ausführungsform in Tablettenform laut Abschnitt 4.2 der Fachinformation „Dosierung und Art der Anwendung“ eine einmal tägliche Verabreichung vorsieht. Ferner sieht die Fachinformation die einmal tägliche Verabreichung für mehr als fünf aufeinanderfolgende Tage vor.
58
Dies gilt auch für die 15 mg-Tablette. Diese ist für die Verabreichung von 15 mg einmal täglich zur Prophylaxe von Schlaganfällen und systemischen Embolien bei erwachsenen Patienten mit nicht valvulärem Vorhofflimmern hergerichtet.
59
Die Herrichtung der 15 mg-Tablette für eine Behandlung von bestimmten Indikationen (tiefe Venenthrombose (TVT) und Lungenembolie (LE)), bei denen die Fachinformation die zweimal tägliche Verabreichung einer schnell freisetzenden 15 mg Tablette über drei Wochen und darauffolgend die einmal tägliche Verabreichung einer schnell freisetzenden 20 mg Tablette in der Fachinformation vorsieht, ist ebenfalls patentverletzend. Denn das Merkmal 4 verlangt – wie gezeigt – nicht, dass das Dosierungsregime von einmal täglich zu Beginn der Behandlung eingehalten wird. Ausreichend ist vielmehr die Einhaltung des merkmalsgemäßen Dosierungsregimes zu irgendeinem Zeitpunkt der Behandlung. Das ist bei den dargestellten Indikationen zwar nicht zu Beginn der Behandlung, aber nach drei Wochen der Fall. Dass nach der Initialtherapie 20 mg verabreicht werden sollen, steht dem nicht entgegen, weil Nierengeschädigte vorgabegemäß statt 20 mg lediglich einmal 15 mg nehmen sollen.
60
Im Übrigen ist die beschriebene Initialtherapie ein untergeordneter Sonderfall zum Hauptanwendungsfall der 15 mg-Tablette zur einmal täglichen Prophylaxebehandlung. Aufgrund der Bindung des Generikaprodukts an die Zulassung des Originatorprodukts ist eine Herausnahme der einmal täglichen Verabreichung bei mittelschwerer und schwerer Nierenfunktionsstörung wegen der dann fehlenden arzneimittelrechtlichen Zulassung nicht möglich.
61
b) Merkmal 5 wird ebenfalls benutzt, weil nach dem Verfügungspatent Rivaroxaban ein Stoff mit einer Plasmakonzentrationshalbwertszeit von 10 Stunden oder weniger ist.
62
aa) Die Nichtverletzungsargumentation der Verfügungsbeklagten beruht auf einem abweichenden Verständnis von Merkmal 5, wonach es nicht auf die Eigenschaft des Wirkstoffs, sondern auf die konkrete Halbwertszeit bei einzelnen Patienten oder Patientengruppen ankommen soll.
63
Damit ist die Argumentation der Verfügungsbeklagten irrelevant, wonach die Fachinformation in Bezug auf die Anwendung des Arzneimittels keine Hinweise zur Plasmakonzentrationshalbwertzeit enthalte.
64
Ebenso ist unerheblich, dass die Fachinformation die Plasmakonzentrationshalbwertzeit ausschließlich im Abschnitt 5.2 „Pharmakokinetische Eigenschaften“ erwähne und es sich bei diesen Angaben um Ergebnisse aus einer klinischen Phase-I-Studie handele, die an gesunden Menschen durchgeführt worden seien, weil es nach der obigen Auslegung von Merkmal 5 hierauf nicht ankommt.
65
Entsprechendes gilt für die weiteren Einwände der Verfügungsbeklagten. Diese sind aufgrund des hiesigen Verständnisses von Merkmal 5 nicht relevant.
66
bb) Unabhängig davon sieht die Fachinformation vor, dass bei Jüngeren eine Halbwertszeit von 5 bis 9 Stunden bestehe.
67
Dass es auch Patienten geben mag, bei denen die Plasmakonzentrationshalbwertszeit von Rivaroxaban bei oraler Verabreichung länger als zehn Stunden beträgt, führt aus der Verletzung nicht heraus. Denn maßgeblich für das Vorliegen einer Verletzung sind die Gemeinsamkeiten, nicht die Unterschiede.
68
Etwas anders ergibt sich auch nicht daraus, dass es sich vorliegend um ein medizinisches Verwendungspatent handelt. Daher führt es aus der Patentverwirklichung nicht heraus, wenn bei manchen Patienten die Plasmakonzentrationshalbwertzeit bei über zehn Stunden liegt. Denn geschützt wird durch den Verfügungspatentanspruch die medizinische Verwendung von Rivaroxaban zur Behandlung einer thromboembolischen Erkrankung (in Form einer bestimmten Dosierung und mittels einer bestimmten Art der Verabreichung). Ist also der Stoff Rivaroxaban derart sinnfällig hergerichtet, dass er zur Behandlung einer thromboembolischen Erkrankung eines Patienten mittels einer einmal täglich verabreichten und schnell freisetzenden Tablette geeignet ist, ist der Verfügungspatentanspruch erfüllt. Unerheblich ist insoweit, ob Rivaroxaban bei einem konkreten Patienten eine Plasmakonzentrationshalbwertzeit von unter zehn Stunden hat oder nicht.
69
Die Einwendungen der Verfügungsbeklagten gegen ein sinnfälliges Herrichten verfangen daher insgesamt nicht.
70
IV. Die ebenfalls angegriffenen Hartkapseln verwirklichen das Verfügungspatent in äquivalenter Weise.
71
Die angegriffene Ausführungsform der Hartkapsel verwirklicht alle Merkmale außer das Teilmerkmal „Tablette“. Dieses wird durch eine Hartkapsel ersetzt, weswegen zu Recht zwischen den Parteien allein dieses Merkmal streitig ist.
72
1. Die Verfügungsbeklagte verneint eine äquivalente Verletzung, weil die Anmelderin Hartkapseln aus dem Schutzbereich ausgeschlossen habe. Anders als in der Entscheidung Pemetrexed offenbare die Patentbeschreibung die angegriffene Ausführungsform explizit. Gleichwohl habe die Anmelderin eine andere Ausführungsform in den Anspruch aufgenommen, die sie in [0030] sogar als besonders bevorzugt und damit der Hartkapsel überlegen beschreibe. Der Leser des Verfügungspatents könne dies nur als Auswahlentscheidung zugunsten einer überlegenen Dosierungsform verstehen. Ob dies objektiv zutreffe, sei demgegenüber unerheblich, da die Patentschrift ihr eigenes Lexikon sei. Der vorliegende Sachverhalt entspreche daher den Entscheidungen Okklusionsvorrichtung und Diglycidverbindung und nicht der Entscheidung Pemetrexed. Die Beschreibung offenbare eine Vielzahl von oralen Dosierungsformen, von denen der Anspruch nur eine aufgreife.
73
2. Eine Auswahlentscheidung ist dem Verfügungspatent nicht zu entnehmen.
74
Der gebotene Ausgleich zwischen dem Belohnungsinteresse des Erfinders und den Interessen der Allgemeinheit erfordert es, auch solche Verletzungsformen in den Schutzbereich eines Patents einzubeziehen, die seine technische Lehre zwar nicht wortsinngemäß, aber in äquivalenter Weise verwirklichen (Werner, in: Busse PatG, 9. Auflage 2020, § 14 Rn. 58). Damit eine vom Wortsinn des Patentanspruchs abweichende Ausführung in dessen Schutzbereich fällt, müssen regelmäßig drei Voraussetzungen erfüllt sein:
(1.) Die Ausführung muss das der Erfindung zugrunde liegende Problem mit zwar abgewandelten, aber objektiv gleichwirkenden Mitteln lösen;
(2.) Seine Fachkenntnisse müssen die Fachperson befähigen, die abgewandelte Ausführung mit ihren abweichenden Mitteln als gleichwirkend aufzufinden, ohne dabei erfinderisch tätig zu werden;
(3.) Die Überlegungen, die die Fachperson hierzu anstellen muss, müssen schließlich am Sinngehalt der im Patentanspruch unter Schutz gestellten Lehre orientiert sein (BGH GRUR 2021, 574 Rn. 39 ff. – Kranarm mwN; umfassend: Werner a.a.O., Rn. 61 ff.).
75
3. Die vorgenannten Voraussetzungen werden durch die von der Verfügungsbeklagten vertriebenen Hartkapseln erfüllt, denn die Hartkapsel ist ein äquivalentes Mittel zur Tablette mit schneller Freisetzung.
76
a) Die Hartkasel stellt ein objektiv gleichwirkendes Mittel zur schnell freisetzenden Tablette dar. Beide sind dafür geeignet, den Wirkstoff über die orale Verabreichung zügig im Magen-Darm-Trakt freizusetzen, so dass er schnell wirken kann.
77
b) Offenkundig ist, dass die Fachperson die Hartkapsel als Alternative zur anspruchsgemäßen Tablette mit schneller Freisetzung aufgrund seines Fachwissens und somit ohne erfinderisches Zutun aufgefunden hätte bzw. hat.
78
c) Die Bejahung der Orientierung am Patentanspruch/Schutzanspruch setzt voraus, dass er in allen seinen Merkmalen nicht nur den Ausgangspunkt, sondern die maßgebliche Grundlage für die Überlegungen des Fachmanns bildet (BGH GRUR 2011, 701 (705) – Okklusionsvorrichtung; 2002, 5145 – Schneidmesser I).
79
Trifft der Anspruch eine Auswahlentscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten eine technische Wirkung zu erzielen, müssen die fachmännischen Überlegungen zu möglichen Abwandlungen gerade auch mit dieser Auswahlentscheidung im Einklang stehen (BGH GRUR 2011, 701 (705) – Okklusionsvorrichtung; Meier-Beck, in: Kühnen, FS 80 Jahre Patentgerichtsbarkeit in Düsseldorf, 361 (371).
80
Ob sich die abgewandelte Lösung an der patentgemäßen Lehre orientiert, ist allein anhand des technischen Sinns des Patentanspruchs zu beurteilen. Das abgewandelte Mittel ist am Patentanspruch orientiert, wenn ein im Vergleich zum Patent im Wesentlichen gleicher (aber notwendigerweise unterschiedlicher) Weg beschritten worden ist, den sich die Fachperson aufgrund der Überlegungen ausgehend vom Patentanspruch erschließen kann (Meier-Beck, GRUR 2018, 241, 245). Die geforderte Orientierung am Patentanspruch schließt zwangsläufig die Möglichkeit ein, dass der (maßgebliche) Anspruch hinter der Offenbarung des Patents zurückbleibt. Beschränkt sich das Patent bei objektiver Betrachtung auf eine engere Anspruchsfassung, als dies vom technischen Gehalt der Erfindung und gegenüber dem Stand der Technik geboten wäre, darf die Fachwelt darauf vertrauen, dass der Schutz entsprechend beschränkt ist (BGH GRUR 2016, 921 Rn. 50 – Pemetrexed). Dem Patentinhaber ist es dann verwehrt, nachträglich Schutz für etwas zu beanspruchen, was er nicht unter Schutz hat stellen lassen (BGH ebd.), selbst wenn die Fachwelt erkennt, dass die erfindungsgemäße Wirkung als solche über den im Patentanspruch unter Schutz gestellten Bereich hinaus erreicht werden könnte (BGH ebd.). Daher ist eine Ausführungsform aus dem Schutzbereich ausgeschlossen, die zwar offenbart oder für die Fachperson jedenfalls auffindbar sein mag, von der der Leser der Patentschrift aber annehmen muss, dass sie nicht unter Schutz gestellt werden sollte (BGH ebd.).
81
aa) Eine Auswahlentscheidung kann nach der Rechtsprechung im Einzelfall anzunehmen sein, wenn ein Vergleich der unterschiedlichen Anspruchsfassungen unter Berücksichtigung des übrigen Inhalts der zugehörigen Anmeldung bzw. Patentschrift hinreichend deutlich ergibt, dass die Konkretisierung vorgenommen wurde, um den Gegenstand des Schutzrechts vom Stand der Technik abzugrenzen und so Zweifel hinsichtlich der Patent- bzw. Gebrauchsmusterfähigkeit zu vermeiden. Sofern eine Konkretisierung im Hinblick auf formelle Anforderungen vorgenommen wird, oder wenn nicht hinreichend deutlich wird, aus welchem Grund sie erfolgt ist, kann hingegen in der Regel nicht von einer Auswahlentscheidung ausgegangen werden (BGH, a.a.O., Rn. 67 f.; Timmann, in: Haedicke/ders,, Handbuch des Patentrechts, 2. Auflage 2020, § Rn. 186).
82
Eine (bewusste) Auswahl kann – nicht „muss“ (richtig: Meier-Beck, a.a.O., 373; Rinken, in: Kühnen, FS 80 Jahre Patentgerichtsbarkeit in Düsseldorf, 429 (440) – weiter vorliegen, wenn die Beschreibung mehrere Möglichkeiten, wie eine bestimmte technische Wirkung erzielt werden kann, offenbart, aber nur eine dieser Möglichkeiten in den Anspruch aufgenommen worden ist. Dass eine Ausführungsform lediglich für den Fachmann im Stand der Technik auffindbar ist, rechtfertigt einen Ausschluss der Äquivalenz hingegen nicht (BGH, a.a.O., Rn. 61 – Pemetrexed; Meier-Beck, a.a.O., (371).
83
Die Offenbarung einer Ausführungsform muss indes nicht unmittelbar in der Anmeldung erfolgen. Sie kann auch durch Bezugnahme auf ein Dokument des Standes der Technik erfolgen (vgl. OLG Düsseldorf BeckRS 2013, 1..1783 Abschnitt D. 2. b) cc) (1.) – Regenschirm). Allerdings gilt dies nur dann, wenn die Offenbarung infolge einer Bezugnahme erfolgt, die unmittelbar im Zusammenhang mit dem betreffenden Merkmal steht (OLG Düsseldorf GRUR-RR 2014, 185 (195 f.) – WC-Sitzgelenk; Meier-Beck, a.a.O.,371; Rinken, a.a.O., 439 f. Andernfalls könnte die Gefahr bestehen, dass die Grundsätze der zur Erfindung gehörigen Offenbarung unterlaufen bzw. negiert werden.
84
Schließlich kann die Offenbarung einer Ausführungsform bzw. Abwandlung auch dadurch erfolgen, dass sie sich zwar nicht auf der Beschreibung unmittelbar ergibt, sie für den Fachmann aufgrund seines Fachwissens aber offensichtlich ist (Keukenschrijver, in: Busse PatG, 9. Auflage 2020, § 34 Rn. 195). Auch dann kann eine Auswahlentscheidung möglich sein. Das darf gleichwohl nicht dazu führen, einen faktisch unüberschaubaren Offenbarungsgehalt zu generieren und kann daher auch nur im Einzelfall die Annahme einer Auswahlentscheidung rechtfertigen (Meier-Beck, a.a.O., 374).
85
Insgesamt ist zu berücksichtigen, dass an die Annahme einer Auswahl einer bestimmten Lösungsmöglichkeit und damit des Ausschlusses einer oder mehrerer anderer Lösungsmöglichkeiten durch den Patentinhaber hohe Anforderungen zu stellen sind. Zum einen ist bereits jede Aufnahme eines Merkmals, das nicht vollkommen generisch ist, eine Konkretisierung und damit eine Form von Auswahl(-entscheidung) (BGH GRUR 2016, 1254 Rn. 23 – V-förmige Führungsanordnung; Meier-Beck, a.a.O., 373). Zum anderen ist richtigerweise anerkannt, dass es stets das Bestreben des Anmelders ist, im Rahmen seiner Anmeldung möglichst umfassend zu offenbaren, um daraus zur Anspruchsgestaltung schöpfen zu können (LG München I GRUR-RS 2020, 31319 Rn. 141 m. Verweis auf Schäfers, in: Benkard PatG, 11. Auflage 2015, § 34 Rn. 14). Entsprechend hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass ein in der Beschreibung genanntes Austauschmittel, das vom Wortsinn des Patentanspruchs nicht umfasst ist, als Hinweis für einen Schutzbereich verstanden werden kann, der das genannte Austauschmittel miteinbezieht (BGH GRUR 2014, 852 Rn. 16 – Begrenzungsanschlag). Im Zweifel dient die Beschreibung bestimmungsgemäß der Erläuterung der geschützten Erfindung und nicht der Darlegung, dass man alles auch ganz anders machen kann.
86
Richtig ist es daher, nicht jedes offenbarte Austauschmittel, das vom Wortsinn des Patentanspruchs abweicht, allein deswegen als aus dem Schutzbereich des Schutzrechts ausgeschlossen anzusehen (so auch Timmann, in: Haedicke/ders., Handbuch des Patentrechts, 2. Auflage 2020, § Rn. 187). Dies rechtfertigt auch das Gebot der Rechtssicherheit nicht. Derjenige, der bei Lektüre der Patentschrift und der von ihr in Bezug genommenen Dokumente sein Austauschmittel als grundsätzlich erfindungsgemäß offenbart erkennt, sollte im eigenen Interesse nicht leichtfertig eine Auswahlentscheidung annehmen, wenn das Austauschmittel nicht vom Wortsinn des Anspruchs umfasst ist. Nur wenn für ihn klare und objektive Gründe ersichtlich sind, dass das Austauschmittel nicht vom Anspruch erfasst ist, sollte er eine äquivalente Verwirklichung ausschließen. Etwaige vom Patentschutz nicht mehr gerechtfertigte innovationshemmende – neudeutsch: „dysfunktionale“ – Wirkungen sind dadurch nicht zu befürchten, weil das Austauschmittel, um äquivalent zu sein, auffindbar sein muss.
87
Liegt hingegen dem Patentanspruch eine Auswahlentscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten zugrunde, müssen die Überlegungen der Fachwelt zu möglichen Abwandlungen mit dieser Auswahlentscheidung in Einklang stehen (BGH GRUR 2011, 701 Rn. 35 – Okklusionsvorrichtung). Dies ergibt sich aus dem Primat des Anspruchs. Deshalb ist eine Patentverletzung mit äquivalenten Mitteln in der Regel zu verneinen, wenn die Beschreibung mehrere Möglichkeiten offenbart, wie eine bestimmte technische Wirkung erzielt werden kann, jedoch nur eine dieser Möglichkeiten in den Patentanspruch aufgenommen worden ist (BGH ebd.; GRUR 2016, 921 Rn. 52 und 61 – Pemetrexed).
88
bb) Nach diesen Maßstäben ist die Verwendung der angegriffenen Verabreichungsform Hartkapsel am Patentanspruch orientiert. Die Überlegungen, die die Fachperson anstellen muss, um anstatt einer Tablette eine Hartkapsel als objektiv gleichwirkend aufzufinden, sind am Sinngehalt der im Patentanspruch unter Schutz gestellten technischen Lehre orientiert.
89
(1.) Das Merkmal „Tablette mit schneller Freisetzung“ in der Merkmalsgruppe 2 versteht der Fachmann dahin, dass eine herkömmliche Tablette beansprucht ist, die jedoch die Eigenschaft einer schnellen Freisetzung zukommen muss. Er erkennt, dass es dem Verfügungspatent wichtig ist, dass bei der oralen Verabreichung eine schnelle Freisetzung des Wirtstoffs erfolgt. Dem Teilmerkmal „Tablette“ ohne die Funktions- bzw. Eigenschaftsbeschreibung „schnell freisetzend“ misst er daher keinen gesonderten, darüber hinaus gehenden Bedeutungsgehalt bei. Die Tablette ist für ihn eines von vielen Mitteln zum Transport des Wirkstoffs in den Körper. Dass der technische Kern der Erfindung nicht in der Verwendung einer Tablette liegt, hat auch die Technische Beschwerdekammer erkannt (vgl. Entscheidungsründe, Ziffer 9.7).
90
In dieser Einschätzung sieht sich der Fachmann durch die Beschreibung des Verfügungspatents bestätigt. Diese definiert in [0029] den Begriff „orale Verabreichungsformen“ („oral dosage forms“) in zunächst allgemeiner Weise als solche, die Arzneimittel über den Mund (oral) verabreichen. Hierzu zählt das Verfügungspatent ebenfalls gemäß Absatz [0029] „liquid formulations, granules, gelcaps, hard gelatine capsules or sachets filled with granules, and tablets releasing the active compound rapidly or in a modified manner”. Als bevorzugt hebt das Verfügungspatent in [0030] sodann Tabletten, und als besonders bevorzugt Tabletten mit schneller Freisetzung hervor. Was das Verfügungspatent unter schneller Freisetzung versteht, beschreibt es anschließend in [0030]. Als eine bevorzugte Ausführungsform erachtet die Verfügungspatentbeschreibung in [0031] eine Tablette mit schneller Freisetzung enthaltend den Wirkstoff Rivaroxaban. Hierbei erkennt der Fachmann, dass diese Ausführungsform diejenige ist, die vom Verfügungspatent in Anspruch 1 beansprucht wird. Da gleichwohl nur als besonders bevorzugte Ausführungsform in der Beschreibung dargestellt, erkennt der Fachmann, dass auch andere orale Verabreichungsmittel vom Schutzbereich umfasst sind, sofern sie den Wirkstoff Rivaroxaban schnell freisetzen.
91
Der Fachmann wird daher bei Lesen des Teilmerkmals „Tablette“ bzw. „Tablette mit schneller Freisetzung“ vor dem Hintergrund der Ausführungen in der Beschreibung nicht annehmen, dass dieses Teilmerkmal einen auf alle anderen oralen Verabreichungsformen ausschließenden Inhalt hat.
92
Daher ist die Verwendung einer Hartkapsel statt einer Tablette am Patentanspruch orientiert.
93
(2.) Entgegen der Auffassung der Verfügungsbeklagten liegt dem Verfügungspatentanspruch keine Auswahlentscheidung zugrunde.
94
Die Fachwelt durfte daher nicht darauf vertrauen, dass der Schutzbereich des Verfügungspatents lediglich auf patentgemäße Tabletten beschränkt ist, auch wenn der Schutzgegenstand durch solche Tabletten definiert wird.
95
Die Nennung der Kapsel in der Beschreibung ist jedenfalls keine hinreichende Offenbarung einer Verwendung der Hartkapsel mit Blick auf sämtliche Merkmale des Patentanspruchs. Die Verfügungspatentschrift offenbart lediglich eine Ausführungsform mit den patentgemäßen Wirkungen in Tablettenform. Anders als die Verfügungsbeklagte meint, wird keine Hartkapsel mit schneller Freisetzung unmittelbar und eindeutig offenbart. Zwar wird in [0029] generell auf eine orale Verabreichung Bezug genommen, wobei in der Folge Kapseln ausdrücklich aufgezählt werden. Allerdings wird hier nicht unmittelbar und eindeutig offenbar, dass sich der Zusatz betreffend die schnelle Freisetzung auch auf Kapseln bezieht. Die Passage mit „releasing rapidly“ bezieht sich unmittelbar und eindeutig auf die Tablettenform. Ob sie sich gleichfalls auf die zuvor genannten anderen Verabreichungsformen erstreckt, ist nach dem maßgeblichen englischen Wortlaut der Beschreibungsstelle zumindest unklar und damit jedenfalls im Zusammenhang mit diesen Verabreichungsformen nicht unmittelbar und eindeutig offenbart.
96
Nach objektiver Betrachtung durfte die Verfügungsbeklagte daher nicht darauf vertrauen, dass der Schutzbereich auf die patentgemäße Verwendung der Tabletten beschränkt ist, aber eine Verwendung von anderen oralen Verabreichungsformen – wie Hartkapseln – außerhalb des Schutzbereichs liegt und daher patentrechtlich erlaubt ist. Ebenso unterscheidet [0030] zwischen Tabletten und Tabletten mit einer schnellen Freisetzung, wobei eine schnelle Freisetzung lediglich vorzugswürdig ist, so dass davon auszugehen ist, dass das Verfügungspatent bei Nennung der Kapselform nicht zwingend von einer schnellen Freisetzung ausgeht.
97
Da sich aus dem Offenbarungsgehalt der Verfügungspatentschrift gleichfalls nicht ergibt, dass vor dem Anmelde-/Prioritätstag patentgemäße Verwendungen mit Hartkapseln stattgefunden hätten, ist es nicht gerechtfertigt, Ausführungsformen vom Schutz auszuschließen, die aufgrund von Angaben in der Patentschrift (zwar) auffindbar (aber noch nicht aufgefunden) waren, weil Auffindbarkeit Grundvoraussetzung für Äquivalenz ist und der Einsatz abgewandelter Mittel sonst nie zur Patentverletzung führen könnte (vgl. BGH GRUR 2016, 921 Rn. 61 – Pemetrexed; Meier-Beck GRUR 2018, 241, 243, Werner in: Busse/Keukenschrijver, PatG, 9. Auflage, 2020, § 14 Rn. 66).
98
Ebenso ist keine Auswahlentscheidung aufgrund des Vergleichs der unterschiedlichen Anspruchsfassungen unter Berücksichtigung des übrigen Inhalts der Schrift gegeben, aus dem sich hinreichend deutlich ergibt, dass im Anspruch eine Konkretisierung vorgenommen worden ist, um den Gegenstand des Patents vom Stand der Technik abzugrenzen und Zweifel an der Patentfähigkeit zu vermeiden (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 67). Dies wird durch die Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer bestätigt. Diese führt insoweit aus:
„Tablets are a conventional dosage form. The appellant did not base its reasoning in favour of inventive step on the choice of tablets over other dosage forms (e.g. capsules).“
(Anlage AO 29, Entscheidungsgründe, Rn. 9.7).
99
Zwar ist unerheblich, ob die Konkretisierung objektiv notwendig gewesen ist, weil es in der Regel nicht darauf ankommt, warum eine bestimmte Ausführungsform nicht einbezogen ist (BGH ebd.). Wird aber aufgrund (objektiv oder nur vermeintlich bestehender) formeller Anforderungen (der Anspruchsklarheit oder zur Vermeidung einer unzulässigen Erweiterung) der Patentanspruch konkretisiert, ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs damit in der Regel keine Auswahlentscheidung verbunden, weil diese Formalien für die Äquivalenz nicht von unmittelbarer Bedeutung sind (BGH, a.a.O., Rn. 68) und andernfalls das unmittelbar und eindeutig Offenbarte auch die Grenzen des Äquivalenzbereichs bestimmen würde, obwohl es Sinn der Äquivalenz ist, auch das zu erfassen, was die Fachperson aufgrund der am Patentanspruch orientierten Überlegung kraft ihres Fachwissens als gleichwirkend auffinden kann (Meier-Beck GRUR 2018, 241, 244).
100
Die Annahme der Verfügungsbeklagten, die im Verlauf der Erteilungsgeschichte vorgenommenen Beschränkung von einer – zunächst vorgeschlagenen – oralen Verabreichung auf die beanspruchte Tablettenform entspreche einer bewussten Auswahlentscheidung der Patentinhaberin, um den Gegenstand des Patents insbesondere vom Stand der Technik abzugrenzen, ist nicht belegt. Vielmehr ist es plausibel und nachvollziehbar, dass die Verfügungsklägerin, wie von ihr vorgetragen, wegen des uneindeutigen Wortlauts von [0029] der Anmeldeunterlage dem Einwand einer unzulässigen Erweiterung vorbeugen wollte. Ferner ist nicht belegt, dass die Beschränkung mit dem Ziel erfolgte, sich vom Stand der Technik abzugrenzen. Wenn die Verfügungsbeklagte darauf verweist, der ursprünglich zur Anmeldung eingereichte Anspruch 1 habe keine konkrete Dosierungsform beschrieben und lediglich Unteranspruch 5 sei auf eine Tablette mit schneller Freisetzung beschränkt, dringt das nicht durch. Denn es ergibt sich daraus nicht, dass eine Beschränkung erfolgt ist, um sich vom Stand der Technik abzugrenzen.
101
Demnach verletzt die angegriffene Ausführungsform der Verfügungsbeklagten in Form von Hartkapseln das Verfügungspatent in äquivalenter Weise.
102
V. Es ist ferner jeweils eine Erstbegehungsgefahr hinsichtlich des Anbietens der Filmtabletten sowie der Hartkapseln glaubhaft gemacht.
103
1. Eine Erstbegehungsgefahr ist die ernstlich drohende und unmittelbar bevorstehende Gefahr einer erstmaligen Rechtsverletzung (BGH GRUR 2015, 603 Rn. 17 – Keksstangen; 2010, 1103 Rn. 23 – Pralinenform II; 2008, 912 Rn. 17 – Metrosex; 1970, 358 – Heißläuferdetektor). Sie muss objektiv gegeben sein und ist vom Anspruchsteller zu beweisen (Kühnen, Handbuch des Patentrechts, 15. Auflage 2023, Abschnitt D Rn. 598). Eine Patentverletzung muss noch nicht vorliegen; es genügt, dass Tatsachen gegeben sind, die die ernsthafte Besorgnis künftiger Verletzungshandlungen objektiv rechtfertigen (Grabinski/Zülch/Tochtermann, in: Benkard, PatG, 12. Auflage 2023, § 139 Rn. 28). Ausreichend ist insoweit das Vorliegen von Umständen, die darauf schließen lassen, dass der Entschluss zur Verletzung bereits gefasst ist und es nur noch vom potenziellen Verletzer abhängt, ob es zu einer Verletzung kommt oder nicht (BGH GRUR 1992, 612 – Nicola; OLG Düsseldorf GRUR-RR 2013, 241, 242 – HIV-Medikament).
104
2. Die Aufnahme der Tablettenform in die IFA-Datenbank und damit in die Lauer-Taxe stellt nach etablierter Rechtsprechung ein Anbieten der angegriffenen Ausführungsform durch die Verfügungsbeklagte dar (BGH GRUR 2007, 221, 222 – Simvastatin).
105
Die Verfügungsbeklagte hat für sämtliche angegriffenen Ausführungsformen eine Lauer-Taxe-Listung beantragt. Damit sind objektive und konkrete Anhaltspunkte für das unmittelbare Bevorstehen eines das Verfügungspatent verletzenden Angebots im Sinne von § 9 S. 2 Nr. 1 PatG gegeben. Damit besteht auch Erstbegehungsgefahr für die weiteren Handlungen in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen (vgl. Werner, in: Busse/Keukenschrijver, PatG, 9. Auflage 2020, § 139 Rn. 49). Für die Handlung des Herstellens besteht hier im konkreten Einzelfall gleichfalls Erstbegehungsgefahr, weil das Herstellen insbesondere im sinnfälligen Herrichten des Medikaments samt Verpackung und Beipackzettel sowie einhergehender Fachinformation liegt und diese Handlungen ernstlich drohen und unmittelbar bevorstehen, wenn die Listung erfolgt.
106
VI. Die Rechtsfolgen ergeben sich aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ i.V.m. §§ 139 Abs. 1, 9 S. 2 Nr. 1 PatG.
107
VII. Die Einrede des unzulässigen Rechtsmissbrauch steht dem Verfügungsanspruch ebenfalls nicht entgegen.
108
1. Die Verfügungsbeklagte ist der Ansicht, die Verfügungsklägerin sei an der Durchsetzung des Verfügungspatents gehindert, weil der Einwand des Rechtsmissbrauchs entgegenstünde.
109
Die Patenterteilung sei aufgrund der unrichtigen, wahrheitswidrigen Behauptung der Anmelderin im Erteilungsverfahren erfolgt, Rivaroxaban weise eine geringe Plasmakonzentrations-Halbwertszeit von nur 4-6 Stunden auf, so dass es überraschend gewesen sei, dass sich Rivaroxaban für eine einmal tägliche Verabreichung eigne. Das sei in die Beschreibung des Verfügungspatents in den [0012], [0017] auch explizit so aufgenommen worden. Tatsächlich sei der Anmelderin jedoch bereits zum Anmeldezeitpunkt bekannt und durch sie vorveröffentlicht gewesen, dass die terminale Halbwertszeit deutlich höher sei. Daneben habe sie bereits pharmakodynamische Daten in Phase-I-Studien erhoben, die nach ihren eigenen Angaben auf eine einmal tägliche Verabreichung hingewiesen hätten.
110
Die Verfügungsbeklagte macht nun sinngemäß geltend, wäre das Patentamt im Rahmen des Prüfungs- und Erteilungsverfahrens zutreffend über diese Umstände informiert worden, hätte es das Verfügungspatent nicht erteilt.
111
2. Der Einwand ist unbegründet.
112
Wie bereits im Rahmen der Auslegung zur Bestimmung des Schutzgegenstands dargestellt, basiert die patentierte Erfindung auf der therapeutisch wirksamen Plasmakonzentration. Bereits aus diesem Grund geht die Behauptung der Verfügungsbeklagten, wahrheitswidrige Angaben der Anmelderin hätten zur Patenterteilung geführt, ins Leere.
113
Unabhängig davon ist die Behauptung der Verfügungsbeklagten, die Erteilung basiere ausschließlich darauf, dass die Erfinder/Anmelderin gegenüber dem Europäischen Patentamt wissentlich falsche technische Informationen als Stand der Technik zur Verfügung gestellt habe, was zu Fehlvorstellungen hinsichtlich der Eigenschaften von Rivaroxaban geführt habe, nicht tragfähig.
114
Die Verfügungsbeklagte gibt keinerlei Anhaltspukt für ihre Behauptung an und legt daher schon nicht hinreichend dar, die Erteilung beruhe allein auf den angeblich unrichtigen Angaben bzw. auf der Vorenthaltung der angeblich richtigen Angaben seitens der Anmelderin. Denn selbst wenn eine Täuschung der Erteilungsstelle vorgelegen hätte, hat die Verfügungsbeklagte nicht dargetan, dass auch die Technische Beschwerdekammer beim Europäischen Patentamt aufgrund dieser Täuschung das Verfügungspatent für rechtsbeständig gehalten habe. Auf diese im Erteilungserfahren letztinstanzliche Entscheidung ist indes abzustellen, wenn es um die Frage geht, ob das Schutzrecht zu Unrecht geltend gemacht wird. Stattdessen sind im Rahmen dieses Beschwerdeverfahrens auch die zutreffende Auslegung von Merkmal 5 sowie die Bedeutung der Plasmakonzentrationshalbwertszeit und der damalige Wissenstand Gegenstand gewesen.
115
VIII. Aus den vorstehend unter VII. dargelegten Gründen kann zudem weder eine Mitbewerberbehinderung gemäß § 4 Nr. 4 UWG, noch eine sittenwidrige Schädigung gemäß § 826 BGB und/oder eine deliktsrechtlich relevantes Verhalten gemäß § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB erkannt werden.
B.
116
Ein Verfügungsgrund liegt ebenfalls vor. Die Verfügungsklägerin hat das Vorliegen einer Dringlichkeit für die ersuchte gerichtliche Entscheidung glaubhaft gemacht.
117
Der Erlass einer einstweiligen Verfügung setzt gemäß §§ 935, 940 ZPO eine objektiv begründete Gefahr voraus, dass die Rechtsverwirklichung des Antragstellers/Verfügungsklägers mittels eines erst in einem Hauptsacheprozess erlangten Urteils unzumutbar vereitelt oder erschwert werden könnte. Dies bedingt zum einen eine für die Eilmaßnahme sprechende rein zeitliche Dringlichkeit (I.). Zum anderen ist eine Interessenabwägung zwischen den dem Patentinhaber ohne den Erlass der beantragten Verfügung drohenden Nachteilen und den Interessen des als Verletzer im Wege einer vorläufigen Eilmaßnahme in Anspruch genommenen Antragsgegners vorzunehmen (II.). In Patentverletzungsverfahren kommt dabei dem Rechtsbestand des Verfügungspatents (II. 1) neben der Interessenabwägung (II. 2) eine besondere Bedeutung zu.
118
I. Die zeitliche Dringlichkeit ist gegeben, da die Verfügungsklägerin glaubhaft gemacht hat, dass sie die im OLG-Bezirk München geltende absolute Monatsfrist ab Kenntnis von Tat und Täter eingehalten hat. Einer im Hinblick auf die Vereinbarkeit der strikten Monatsfrist mit europarechtlichen Vorgaben sowie die Rechtsprechung der Lokalkammer des Einheitlichen Patentgerichts wohl grundsätzlich notwendigen Vorlage an den Unionsgerichtshof bedarf es daher vorliegend nicht.
119
Die Verfügungsbeklagte hatte Kenntnis von der beantragten IFA-Listung ab dem 22. März 2024 und hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung am 10.04.2024 gestellt. Damit hat sie die Monatsfrist eingehalten.
120
II. Auch die Interessenabwägung fällt zugunsten der Verfügungsklägerin aus. Der Rechtsbestand des Verfügungspatents ist dabei besonders in den Blick zu nehmen. Im Rahmen der Interessenabwägung sind die Folgen des Erlasses einer einstweiligen Verfügung für die Verfügungsbeklagte bzw. des Nichterlassess für die Verfügungsklägerin festzustellen und gegeneinander abzuwägen (nachfolgend 2.).
121
1. a) Jedenfalls für Europäische Patente streitet nach der ständigen Rechtsprechung der Patentstreitkammern des Landgerichts München I ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Erteilung eine Vermutung der Gültigkeit. Für die im Rahmen des Verfügungsgrundes vorzunehmende Prüfung des hinreichend gesicherten Rechtsbestands des Verfügungspatents bedeutet das, dass aufgrund der Vermutung der Gültigkeit zunächst von einem gesicherten Rechtsbestand auszugehen ist und es im zweiseitigen einstweiligen Verfügungsverfahren dem Antragsgegner/ Verfügungsbeklagten obliegt, diese Vermutung zu erschüttern (LG München I GRUR 2022, 1808 Ls. 1 – Fingolimod). Dies entspricht sowohl der deutschen Gesetzeslage gemäß § 58 Abs. 1 Satz 3 PatG wie auch der Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs. Dieser hat hierzu festgehalten:
„As regards, in the first place, the argument that the validity of the patent concerned should be presumed, it is common ground that such a presumption is the automatic consequence of the registration of a patent and its subsequent issue to its holder.“
(EuGH GRUR Int 2020, 1071 Rn. 48 – Paroxetin)
122
Ebenso hat jüngst der Generalanwalt beim Unionsgerichtshof in der Sache C-339/22 diesen Grundsatz nochmals betont:
„In that regard, those courts should only consider granting a stay where that challenge has a genuine prospect of success. Indeed, because patents are granted after a prior control of the patentability requirement hasbeen conducted by patent offices, they benefit from a presumption of validity.“
(Stellungnahme vom 22.02.2024, Rn. 92; Hervorherbung durch das Gericht).
123
Dasselbe folgt aus der Entscheidung des Unionsgerichtshofs in der Sache Phönix v. Harting (EuGH GRUR 2022, 811 Rn. 41 – Phoenix Contact/Harting).
124
Der Erlass einer einstweiligen Verfügung ist daher nicht per se davon abhängig, ob für das Verfügungspatent bereits eine positive Bestandsentscheidung in einem zweiseitigen Bestandsverfahren ergangen ist oder nicht (vgl. LG München I GRUR 2022, 1808 Ls. 1 – Fingolimod; EuGH GRUR 2022, 811 Rn. 41 – Phoenix Contact/Harting; GRUR Int 2020, 1071 Rn. 48 – Paroxetin).
125
Für die im Rahmen des Verfügungsgrundes vorzunehmende Prüfung des hinreichenden gesicherten Rechtsbestands des Verfügungspatents bedeutet das, dass aufgrund der Vermutung der Gültigkeit zunächst von einem gesicherten Rechtsbestand auszugehen ist und es im zweiseitigen einstweiligen Verfügungsverfahren dem Antragsgegner/ Verfügungsbeklagten obliegt, diese Vermutung zu erschüttern.
126
Durch die Vorlage einer für den Bestand des geltend gemachten Patentanspruchs (vorläufigen) negativen Einschätzung aus dem Bestandsverfahren wird die Vermutung der Gültigkeit regelmäßig erschüttert. Dies gilt grundsätzlich auch für vorläufige negative Einschätzungen aus inländischen oder auch ausländischen Bestandverfahren betreffend Parallelschutzrechte, die dieselbe Priorität in Anspruch nehmen. Hat der Antragsgegner/Verfügungsbeklagte erhebliche Gründe, die zur Überzeugung der Kammer eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Vernichtung des Verfügungspatents begründen, vorgetragen und gegebenenfalls glaubhaft gemacht und mithin die Vermutung der Gültigkeit erschüttert, obliegt es wiederum dem Antragsteller/Verfügungskläger darzulegen und gegebenenfalls glaubhaft zu machen, dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents trotz der gegen den Rechtsbestand erhobenen Angriffe hinreichend gesichert ist (LG München I GRUR 2022, 1808 Ls. 2, Rn. 68 m.w.N. – Fingolimod).
127
An die Erheblichkeit der von der Verfügungsbeklagten darzulegenden Gründe sind infolge der Vermutungswirkung hohe Anforderungen zu stellen. Aus dem Umstand, dass „es angesichts des im Patentrecht maßgeblichen weltweiten Standes der Technik und der vor diesem Hintergrund im Vergleich zu anderen behördlichen Entscheidungen kaum abschließend übersehbaren Komplexität der Materie nicht selten der Fall ist, dass die über die patentbehördliche hinausgehende, zusätzliche Recherche eines Wettbewerbers nicht selten Stand der Technik hervorbringt, der im Prüfungsverfahren nicht berücksichtigt wurde und de facto nicht berücksichtigt werden konnte“ (vgl. OLG München 6 U 2570/23, Seite 8 mit Verweis auf OLG Düsseldorf GRUR-RS 2021, 4420 Rn. 16 – Cinacalcet sowie Deichfuß GRUR 2022, 33 (34)), kann daher nicht folgen, dass jedes Aufzeigen eines bisher unberücksichtigten Standes der Technik und/oder jeder nicht vollkommen neben der Sache liegende Bestandseinwand per se die Vermutungswirkung zunichtemacht.
128
Denn das Aufzeigen von im Prüfungsverfahren nicht berücksichtigten Standes der Technik ist angesichts des weltweiten Maßstabs in der Tat keine Besonderheit. Wesentlich ist vor dem Hintergrund der Vermutungswirkung, wie nahe der (neu) aufgezeigte Stand der Technik an der Erfindung und dem bereits berücksichtigten Stand der Technik liegt und ob insbesondere damit Widerrufsgründe dargetan sind. Dies steht im Einklang mit dem Generalanwalt beim Unionsgerichtshof, wenn er an bereits zitierter Stelle weiter ausführt:
„Therefore, the grounds put forward by the alleged infringer must seem, prima facie, sufficiently solid to call that presumption into question. Where that is not the case, those courts can assume that the patent is valid and rule on the infringement accordingly.“
(Stellungnahme vom 22.02.2024, Rn. 92).
129
Zwar ist es nicht ausgeschlossen, „verbleibende Restzweifel“ im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen (vgl. OLG München 6 U 2570/23, Seite 11). Denn grundsätzlich sind sämtliche konkreten Umstände des Einzelfalls zu beachten. Sollten sie bestehen, dürfen sie aber aus dem folgenden Gründen nicht zwingend eine Zurückweisung einer einstweiligen Verfügung aus einem Patent zur Folge haben:
130
Auch wenn nur eine summarische Prüfung des hinreichend gesicherten Rechtsbestands stattfindet, werden die von dem Antragsgegner/Verfügungsbeklagten geltend gemachten Widerrufsgründe – aufgrund der in der Regel stattfindenden mündlichen Verhandlung – intensiv geprüft und von der Kammer beurteilt. Damit sich Zweifel am Rechtsbestand des Verfügungspatents in einer Zurückweisung des Verfügungsantrags niederschlagen können, muss das Verfügungsschutzrecht mit einem Einspruch oder einer Nichtigkeitsklage angegriffen werden, weil nur diese das Patent tatsächlich zu Fall bringen können (OLG Düsseldorf InstGE 7, 147 – Kleinleistungsschalter; LG München I GRUR-RS 2021, 37988 Rn. 41 – Sorafenibtosylat; GRUR 2022, 1808 Rn. 69 – Fingolimod).
131
Insofern besteht – unabhängig vom Wahrscheinlichkeitsmaßstab – ein grundsätzlicher Gleichklang zur Aussetzungsfrage im Hauptsacheverfahren. Wird im Hauptsacheverfahren das Klagepatent mit einem Einspruch oder mit einer Nichtigkeitsklage angegriffen, verurteilt das Verletzungsgericht, wenn es eine Verletzung des in Kraft stehenden Patents bejaht, grundsätzlich nur dann wegen Patentverletzung, wenn es eine Nichtigerklärung nicht für (überwiegend) wahrscheinlich hält; andernfalls hat es die Verhandlung des Rechtsstreits nach § 148 ZPO auszusetzen, jedenfalls bis erstinstanzlich über die Nichtigkeitsklage entschieden ist (vgl. BGH GRUR 2014, 1237 Rn. 4 – Kurznachrichten; OLG Düsseldorf GRUR-RS 2021, 37601 Rn. 76 – Schiebedach II). Das bedeutet nach einhelliger Auffassung, dass auch das Verletzungsgericht keine hundertprozentige Überzeugung des Rechtsbestands zu haben braucht, um auf den Anspruch des Klägers zu erkennen und den Beklagten wegen Patentverletzung zu verurteilen (vgl. OLG Düsseldorf GRUR-RS 2023, 24939 Rn. 14, 22 – RRMS-Therapie). Restzweifel dürfen mithin bestehen, weil kein absoluter Grad der Gewissheit zu erreichen ist, sondern es für die praktische Handhabe auf einen brauchbaren Grad von Gewissheit, also auf eine gewisse Wahrscheinlichkeit des voraussichtlichen Widerrufs oder Nichtwiderrufs ankommt.
132
Warum das im Verfügungsverfahren grundsätzlich anders sein soll, ist nicht ersichtlich. Dementsprechend formuliert es auch das OLG Düsseldorf (GRUR-RS 2023, 24939 Rn. 14 – RRMS-Therapie) zutreffend wie folgt:
„Allerletzte Sicherheit in diesem Sinne kann es freilich – und muss es deshalb auch – nicht geben, weil der Rechtsbestand eines Patents – anders als vielfach die Verletzungsfrage – typischerweise von Wertungsfragen abhängt, deren Beantwortung keine mathematische Aufgabe mit sicher voraussagbarem Ausgang ist, weswegen sich das Schicksal eines Patents über den für den Rechtsbestand vorgesehenen gesetzlichen Instanzenzug hinweg ergebnisrelevant ändern kann. Möglich ist häufig nur eine momentane, die zur fraglichen Zeit der Entscheidung über das Verfügungsbegehren aktuelle Rechtsbestandssituation widerspiegelnde Gewissheit, die – mangels einer besseren Alternative – nichtsdestotrotz die prinzipiell maßgebliche Orientierung für das Verletzungsgericht sein muss.“
133
Dass es für das Verletzungsgericht im Rahmen eines Eilverfahrens regelmäßig mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein wird, sich zweifelsfrei vom zukünftigen Rechtsbestand des Patents zu überzeugen, wenn es sich hierbei nicht auf eine Einspruchs- oder Nichtigkeitsentscheidung (oder zumindest einen qualifizierten Hinweis des Bundespatentgerichts) stützen kann, ist zwar zutreffend. Die absolute Zweifelsfreiheit ist jedoch ein Ideal, das in der Praxis nicht erreicht werden kann. Denn selbst ein vor dem Bundesgerichtshof erfolgreich durchlaufendes, rechtskräftig abgeschlossenes Nichtigkeitsverfahren ist keine absolute Garantie, dass das Patent nicht in einem erneut initiierten Nichtigkeitsverfahren mit neuem Stand der Technik doch widerrufen wird.
134
Auch das Berufungsgericht des Einheitlichen Patentgerichts verlangt unter Verweis auf Art. 9 Abs. 3 RL 2004/48, dass es
„das Gericht zumindest für überwiegend wahrscheinlich hält, dass der Antragsteller zur Einleitung eines Verfahrens berechtigt ist und das Patent verletzt wird“,
woran es dann fehlen soll,
„wenn es das Gericht für überwiegend wahrscheinlich ansieht, dass das Patent nicht gültig ist“
(UPC GRUR-RS 2024, 2829 Rn. 92).
Somit sind auch dort „Restzweifel“ zulässig und hindern – auch im Rahmen der Interessenabwägung – den Erlass einer einstweiligen Unterlassungsanordnung nicht.
135
Andernfalls würde auch der Unterschied zum Gebrauchsmuster als gerade ungeprüften Schutzrecht nivelliert. Das zeit- und kostenintensive Prüfungs- und Erteilungsverfahren zur Erlangung eines Patents lohnte sich nicht, wenn gleichwohl im einstweiligen Verfügungsverfahren aufgrund mehr oder weniger beliebig vorgetragener Bestandsangriffe wie auch immer geartete „Restzweifel“ eine Durchsetzung hindern könnten.
136
Die wesentliche Frage ist daher nicht, ob „verbleibende Restzweifel“ bestehen, sondern wie damit umzugehen ist, insbesondere zu wessen Lasten sie gehen. Angesichts des Vorgesagten dürfen sie nicht per se zu Lasten des Patentinhabers zu wertensein , solange ihnen nicht ein besonderes, die Vermutungswirkung widerlegendes Gewicht zukommt.
137
Denn obgleich bzw. gerade weil es sich im Verfügungsverfahren „nur“ um eine summarische Prüfung handelt, darf das bloße Aufzeigen von möglichen Bestandsbedenken nicht zu Einebnung der Vermutungswirkung führen.
138
Liegen hingegen (nach eingehender Prüfung) begründete Zweifel am Rechtsbestand vor, können diese weder im Hauptsachenoch im Verfügungsverfahren zu einer Verurteilung zur Unterlassung führen.
139
b) Der Rechtsbestand des Verfügungspatents ist aufgrund der rechtskräftigen Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts vom 27.10.2021, Az. T 1732/18 (Anlage AO 29) sowie des positiven qualifizierten Hinweises des Bundespatentgerichts vom 03.01.2024 (Anlage AO 32) hinreichend gesichert und als solches glaubhaft gemacht. Dass insbesondere die derzeitige Auffassung des Bundespatentgerichts unrichtig ist (Diagnose) und richtigerweise das Verfügungspatent für nichtig zu erklären wäre (Prognose), hat die Verfügungsbeklagte zur Überzeugung der Kammer nicht glaubhaft gemacht.
140
aa) Das Bundespatentgericht hat das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit der verfügungspatengemäßen Erfindung damit begründet, die Fachperson hätte im Prioritätszeitpunkt des Verfügungspatents vom 31.01.2005 im Stand der Technik keinen Anlass vermittelt bekommen, den Lösungsweg des Verfügungspatents zu beschreiten (Anlage AO 32, Seite 4 ff.).
141
Als Aufgabe formuliert das Bundespatentgericht die Bereitstellung einer wirksamen und sicheren Verabreichung für den Wirkstoff Rivaroxaban zur Behandlung thromboembolischer Erkrankungen.
142
Das Bundespatentgericht führt aus, der Fachmann wäre zur Lösung der patentgemäßen Aufgabe von unterschiedlichen klinischen Phase-I-Studien gemäß den Anlagen NIK3a/NIK22, NIK3b/B22 und B3a/B21 ausgegangen. Alle drei Studien stellten einen geeigneten Ausgangspunkt dar, da sie jeweils die erfolgreiche Wirksamkeit von Rivaroxaban als Antikoagulans in gesunden Probanden offenbarten. Zur Weiterentwicklung hätte der Fachmann oral verabreichbare, schnell freisetzende Tabletten gemäß der Offenbarung in der Entgegenhaltung B3a verwendet.
143
Hinsichtlich der geeigneten Dosierung und der Dosierungshäufigkeit hätte er sich an sämtlichen ihm vorliegenden klinischen Phase-I-Studien orientiert und dabei berücksichtigt, dass es sich bei thromboembolischen Erkrankungen um besonders schwerwiegende und lebensbedrohliche Erkrankungen handelt und dass diese Erkrankungen bei Patienten im Gegensatz zu den bis dato getesteten gesunden Versuchspersonen sowohl bei einer Unterals auch bei einer Überdosierung auftreten können. Aufgrund der Schwere der Folgen einer falschen Dosierung hätte der Fachmann daher besondere Sorgfalt hinsichtlich der Auswahl des Dosierungsregimes angewandt. Zwar wäre er bei der Suche nach diesbezüglichen Anhaltspunkten auch auf die klinische Studie in der Anlage NiK 3a / NiK 22 und die dort offenbarte Möglichkeit einer einmal täglichen Dosierung gestoßen. Dabei hätte er jedoch festgestellt, dass die dortigen Ergebnisse auf Tests gestützt seien, die keine Aussage über die Dauer einer möglichen Wirksamkeit bei Patienten liefern. Denn am Prioritätstag habe es noch keine Korrelationen oder Zielwerte zur Sicherstellung effektiver und sicherer Antikoagulation für diese Tests gegeben. Stattdessen hätten sich in der Literatur Angaben gefunden, die diese fehlende Korrelation und die damit einhergehende fehlende Aussagekraft auf eine therapeutische Wirksamkeit bestätigt hätten. Deshalb hätte der Fachmann den in der NiK 3a / NiK 22 als möglich aufgezeigten Weg der einmal täglichen Dosierung nicht weiterverfolgt.
144
Stattdessen hätte er bei den sich aus den Entgegenhaltungen NiK 3b / NiK B22 und NiK B3 / NiK B21 ergebenden Plasmakonzentrationshalbwertszeiten von vier bis sechs bzw. drei bis vier Stunden ein zwei- und dreimal tägliches Dosierungsregime weiterverfolgt. Es stelle die fachübliche Vorgehensweise dar, aus den in klinischen Phase-1-Studien ermittelten Halbwertszeiten Vorschläge für ein Dosisregime für die klinischen Phase-II-Studien auszuarbeiten. Das Merkmal 4, die einmal tägliche Verabreichung, habe daher nicht nahegelegen.
145
Die in der NiK 22 angegebene Plasmakonzentrationshalbwertszeit von neun bis zwölf Stunden begründe ebenfalls kein Naheliegen, da diese Halbwertszeit im deutlichen Widerspruch zu den Angaben in den beiden anderen Studien stehe. Aufgrund der dem Fachmann bewussten Gefährlichkeit der falschen Dosierung von Rivaroxaban hätte der Fachmann eruiert, wie die jeweiligen Autoren zu ihren – sich widersprechenden – Studienergebnissen gekommen seien. Dabei hätte er herausgefunden, dass weder im Poster NiK 22 noch im dazugehörigen Abstract der NiK 3a Angaben dazu aufgeführt waren. Er hätte jedoch aus der Figur 5b des Abstract NiK 3b ersehen, dass die im Poster NIK22 angegebenen Halbwertszeiten nicht die relevante Halbwertszeit im steady state bei Mehrfachdosierung von Rivaroxaban seien. Die für ihn relevanten Halbwertszeiten seien jedoch die im Steady State bei Mehrfachdosierung von Rivaroxaban.
146
Ein Naheliegen im Hinblick auf die Ausführungen des Bundesgerichtshofs in der Entscheidung Tadalafil (GRUR 2020, 603) verneint das Bundespatentgericht. So sei jeweils im Einzelfall eine angemessene Erfolgserwartung zu prüfen, wobei das jeweilige Fachgebiet, der Anreiz für die Fachperson, der erforderliche Aufwand für das Beschreiten und Verfolgen eines bestimmten Ansatzes und ggf. in Betracht kommende Alternativen sowie ihre jeweiligen Vor- und Nachteile zu bestimmen seien. Zwar habe nach den Ergebnissen der klinischen Phase-I-Studien der prinzipielle Anlass zu vollständigen Studien zur Dosis-Wirkungsbeziehung von Rivaroxaban bestanden. Aufgrund der Wiederholungsgabe-Eskalationsstudie in der Entgegenhaltung NiK 3b / B22 habe indes eine angemessene Erfolgserwartung bezüglich eines BID und TID-Regimes bestanden, nicht jedoch hinsichtlich des Merkmals 4.
147
bb) Die Verfügungsbeklagte macht demgegenüber geltend, die tragende Aussage des Bundespatentgerichts, der Fachmann habe sich nicht auf die Ergebnisse der Anlage NiK3 / NiK22 gestützt, da ihm die dortigen Tests keine Aussage über die mögliche Wirksamkeit von Rivaroxaban in Patienten geliefert hätten, sei unhaltbar.
148
Für die Auffassung, der Fachmann werde die im Poster NiK 22 formulierte Schlussfolgerung der Möglichkeit eines OD-Regimes nicht weiter berücksichtigen, fehle jede Tatsachengrundlage. Die Behauptung, der Fachmann werde sich an den Plasmakonzentrationshalbwertszeiten von Rivaroxaban gemäß NiK3b / B22 und B 3/ B21 orientieren, sei ebenfalls unvertretbar und mitnichten von der zitierten Anlage B8-9 gestützt. Entgegen der Behauptung des Bundespatentgerichts finde sich in der Fundstelle keine Angabe, dass die Plasmahalbwertszeit die Grundlage für das Dosisregime einer Phase-II-Studie, insbesondere für das Auffinden einer guten Dosis-Wirkungsbeziehung, bilde. Im Abschnitt 9.2 der Entgegenhaltung werde ein Dosistitrationsschema dargestellt, auf das im Kapitel 9.2.2 zum Thema der Pharmakokinetik zurückgekommen werde. Dort werde dargestellt, dass im Rahmen der Dosistitrationsstudie erste Anhaltspunkte für die Linearität der Pharmakokinetik erhalten sein könnten. Anschließend werde – im Rahmen der Phase-I-Studie – kurz die Ermittlung eines geeigneten Dosierungsintervalls geschildert, um entweder jede Art der Kumulierung des Arzneistoffs zu verhindern oder ein definiertes Gleichgewicht zu erreichen. Daraus sei völlig klar, dass es nicht um die Festlegung eines Dosierungsschemas für weitere klinische Phasen gehe, sondern um die Feststellung, welches Dosierungsschema zu nutzen sei, um beispielsweise die Kumulierung des Arzneistoffs zu verhindern oder zu bewirken. Ob eine solche Kumulierung sinnvoll oder erforderlich ist, um eine Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels zu erzielen, sei eine völlig andere Frage. Dies mache die Anlage B8-9 auch mit der Aussage klar, dass die Entscheidung für oder gegen eine Kumulierung vom Therapiefeld und der Wirkweise des Arzneistoffs abhänge. Diesen Punkt habe das Patengericht bei seiner Interpretation der B8-9 übergangen.
149
Auch die Aussage, das Dosierungsintervall für eine wirksame und sichere Dosis orientiere sich vorrangig an der Plasmakonzentrationshalbwertszeit, sei damit nicht verbunden. Das Bundespatentgericht unterliege insoweit einem schwerwiegenden Missverständnis der Anlage B8-9. Tatsächlich sei die Ermittlung der Dosis-Wirkungs-Beziehung Gegenstand späterer klinischer Phase-II-Studien. Für die Einbeziehung bestimmter Dosierungen in die Untersuchung der Phase II greife der Fachmann auf alle weiteren vorliegenden Informationen zurück, insbesondere auf die pharmakodynamischen Daten. Aus der Anlage B8-9 ergebe sich insgesamt das Gegenteil dessen, was das Bundespatentgericht ihr entnehme.
150
Dass das Ergebnis des Bundespatentgerichts nicht haltbar sei, zeigten ferner die beiden Entscheidungen aus Frankreich und England zu den jeweiligen nationalen Parallelschutzrechten des hiesigen Verfügungspatents. Beide Gerichte hätten das Verfügungspatent nicht für rechtsbeständig erachtet. Dieser Umstand müsse auch von der hiesigen Kammer bei der Prognoseentscheidung sowie dem anzusetzenden Maßstab Berücksichtigung finden.
151
cc) Dem ist nicht beizutreten. Die Verfügungsbeklagte zeigt keinen Grund auf, der eine hinreichende sachliche Unrichtigkeit des Hinweises des Bundespatentgerichts begründet, so dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents gefährdet wäre. Darüber hinaus ist die Kammer von der Richtigkeit des Ergebnisses des patentgerichtlichen Hinweises überzeugt. Dies basiert auf folgenden Überlegungen:
152
(1.) Die Begründung des Bundespatentgerichts lässt sich dahin zusammenfassen, dass die Fachperson aufgrund der ihr bewussten besonderen Sensibilität einer richtigen Dosierung von Rivaroxaban an Patienten nur solchen Stand der Technik als aussichtsreichen Ausgangspunkt für eine aufgabengemäße Lösung herangezogen hätte, der ihr eine ausreichende Sicherheit der Dosierung offenbart hätte. Das war bei den Entgegenhaltungen NiK3a, 3b / NiK22 nicht der Fall, weil sie keine Angaben zu der relevanten Halbwertszeit im steady state im Patienten enthielten. Die BID-und TID-Regimes hätten einen aussichtsreichen und sicheren Weg der Verabreichung versprochen.
153
(2.) Diese Begründung ist nachvollziehbar und schlüssig. Zwar mag es den Leser zunächst stutzig machen, wenn das Patentgericht ausführt, der Fachmann nehme die Entgegenhaltungen NiK3a / NiK22 zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen, Rivaroxaban als Medikament weiterzuentwickeln und dort die einmal tägliche Verabreichung (OD) explizit als Möglichkeit offenbart wird.
154
Die weitere Beurteilung des Patentgerichts, der Fachmann habe sich gleichwohl nicht weiter von der NiK3a / NiK22 zum Einsatz einer OD-Dosis anleiten lassen, ist dennoch überzeugend. Die NiK3a / NiK22 sind Phase-I-Studien. Das Fachbuch von Jaehde/Radziwill/Mühlenbach/ Schunack „Lehrbuch der Klinischen Pharmazie“ (Anlage B8-9) bemerkt hierzu auf Seite 133, linke Spalte:
„Der gesicherte Nachweis der Wirksamkeit einer neuen Substanz wird in keinem Fall im Rahmen von Phase-I-Studien am Probanden erbracht.“
155
Das, was für den gesunden Menschen gemäß Phase-I-Studien gilt, gilt sonach nicht für den kranken Menschen, das heißt den Patienten. Aufgrund der potenziellen Gefährlichkeit der Verabreichung von Rivaroxaban und der somit geringen „Fehlerbreite“ hätte der Fachmann ohne im Hinblick auf die Sicherheit und Wirksamkeit der OD-Dosis belastbare Daten diese nicht gewählt. Die Entgegenhaltungen NiK3a / NiK22 haben ihm diese nicht offenbart. Aussagen für die weitere klinische Entwicklung hätte der Fachmann ihnen daher nicht entnommen. Dass dem anders wäre, hat die Verfügungsbeklagte nicht dargetan. Sie hat insoweit lediglich mit Verweis auf das Urteil des EW Court of Appeal behauptet, dass die in Rede stehenden Assays „die nützlichsten waren“ („were the most useful“), die zur Verfügung standen.
156
Auch die weitere Schlussfolgerung des Patentgerichts, der Fachmann werde sich ausweislich der Anlage B8-9 an den Plasmakonzentrationshalbwertszeiten von Rivaroxaban gemäß der NiK3b / B22 und B3 / B21 orientieren, überzeugt.
157
Gemäß dem bereits zitierten „Lehrbuch der Klinischen Pharmazie“ soll mit Phase-I-Studien abschließend die hinreichende Sicherheit und Verträglichkeit des neuen Arzneistoffes bewertet werden. Damit sollen sie die Grundlage für die Testung der Wirksamkeit am Patienten bilden. Als unverzichtbar hierfür nennt das Lehrbuch die Kenntnis des Dosisbereiches, bei dem unerwünschte Wirkungen auftreten (Seite 131, linke Spalte, unten). Entsprechend kommt der Beschreibung eines Dosisbereichs, in dem nicht mit dem Auftreten schwerer unerwünschter Wirkungen zu rechnen ist, besondere Bedeutung zu (Seite 131, rechte Spalte, Mitte „Pharmakodynamik“).
158
Weiter führt das Lehrbuch aus, im Rahmen der Pharmakokinetik werde das Schicksal des Arzneistoffs im menschlichen Organismus untersucht. Diese hänge auch von der Art der Verabreichung ab. Werde eine orale Verabreichung intendiert, seien maximale Plasmakonzentrationen, der Zeitpunkt ihres Auftretens, Halbwertszeiten und AUC-Werte wichtige Parameter (Seite 133, rechte Spalte, unten, Seite 134 linke Spalte, oben). Zurecht hat daher das Bundespatentgericht ausgeführt, es stelle fachübliches Vorgehen dar, aus den in klinischen Phase-I-Studien ermittelten Halbwertszeiten Vorschläge für ein Dosisregime für die klinischen Phase-Il-Studien auszuarbeiten.
159
Die Technische Beschwerdekammer hat ebenfalls ausgeführt, die Frage der Sicherheit und gleichzeitigen Wirksamkeit einer Arzneimittelverabreichung am Patienten sei gerade Gegenstand von Phase-II-Studien (vgl. EPA, T 1732/18, Rn. 9.22.6).
160
Dass das Patentgericht dazu ebenfalls und wohl nicht ganz exakt zusätzlich auf die Seiten 134/135 der Anlage B8-9 verweist, die sich mit der Dosistitrationsstudie im Rahmen der Phase-I-Studie befasst, ändert an der richtigen und vom Lehrbuch gestützten Aussage nichts.
161
Der Fachmann hätte die Entwicklung von Rivaroxaban zu einem zulassungsfähigen Arzneimittel daher ausgehend von den in den entsprechenden Phase-I-Studien ermittelten Halbwertzeiten von 4 bis 6 bzw. 3 bis 4 Stunden (NIK3b/B22) mit einem BID-oder TID-Verabreichungsregime weitergeführt.
162
Ein wirksames und sicheres OD-Verabreichungsregime war demgegenüber überraschend.
163
(3.) Das Verneinen des Naheliegens im Hinblick auf die NiK22 durch das Patentgericht ist jedenfalls nicht offensichtlich unrichtig. Die Verfügungsbeklagte stellt dabei letztlich ihre Ansicht eines Naheliegens der Erfindung ausgehend von der NiK22 der des Patentgerichts gegenüber. Sie trägt aber keine durchgreifenden Argumente vor, warum ihre Ansicht notwendigerweise die richtige ist und diejenige des Patentgerichts falsch.
164
(4.) Dass auch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs in der Sache Tadalafil (GRUR 2020, 603) der Annahme einer erfinderischen Tätigkeit nicht entgegensteht, hat das Bundespatentgericht ebenso zutreffend erkannt. Denn entscheidend ist auch die Erfolgserwartung für die Inangriffnahme einer bestimmten Dosierung, die vorliegend – wie bereits geschildert – aufgrund der klinischen Phase-I-Studien in Richtung einer BIS-bzw. TID-Verabreichung wiesen. Aufgrund der bei Antikoagulanzien bestehenden schwerwiegenden bis lebensbedrohlichen Folgen einer Unter- oder Überdosierung hätte die Fachperson ein OD-Regime nicht schlechterdings als gleichwertige Alternative angesehen.
165
dd) Die Verfügungsbeklagte verweist ferner auf Entscheidungen ausländischer Gerichte, die den Bestand des Verfügungspatents negativ beurteilt hätten. Sie meint, hierdurch sei eine etwaige Bestandsvermutung erschüttert und es obliege der Verfügungsklägerin als Patentinhaberin, den Rechtsbestand glaubhaft zu machen.
166
(1.) Im vorliegenden Fall gibt es zwar Entscheidungen ausländischer Gerichte, die den Rechtsbestand des Verfügungspatents als nicht gegeben ansehen. Es gibt aber auch den qualifizierten und – wie dargelegt – überzeugenden und jedenfalls nicht offensichtlich fehlerhaften Hinweis des Patentgerichts gemäß § 83 Abs. 1 PatG, der sich zugunsten des Rechtsbestands ausspricht. Ferner haben die Technische Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts sowie zahlreiche andere ausländische Gerichte den Rechtsbestand des Verfügungspatents bestätigt.
167
Deswegen liegt keine Situation vor, bei der die Bestandsvermutung des Verfügungspatents durch ausschließlich negative Entscheidungen ausländischer Gerichte erschüttert wäre.
168
(2.) Zwar ist durchaus beachtenswert, dass die erfinderische Tätigkeit von den Gerichten im Vereinigten Königreich und in Frankreich abweichend beurteilt wurde. Ihr indizieller Wert ist dabei tendenziell umso höher einzuschätzen, je umfangreicher die Erfahrung der ausländischen Instanz in der Behandlung von Rechtsbestandsfragen ist und umso größer die technische Expertise ist, die dem ausländischen Entscheider bei seiner Beurteilung zur Verfügung gestanden hat (OLG Düsseldorf GRUR-RS 2023, 24939 Rn. 40 – RRMS-Therapie m. w. Nw.). Insofern ist indes besondere Vorsicht bei der Übertragung (auch nur der Ergebnisse) ausländischer Entscheidungen geboten. Denn die Methodik der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist außerhalb des Erteilungsverfahrens des EPÜ nicht harmonisiert.
169
(a) Der Bundesgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung von einem anderen Ansatz als das Europäische Patentamt aus, das den sog. „Aufgabe-Lösung-Ansatz“ („Problem-Solution-Approach“) verfolgt (vgl. Deichfuß, GRUR-Patent 2024, 94 Rn. 20 ff. zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden dieser Ansätze). Der Bundesgerichtshof bestimmt zunächst die technische Aufgabe, um den Ausgangspunkt der fachmännischen Bemühungen um eine Bereicherung des Stands der Technik ohne Kenntnis der Erfindung zu lokalisieren. Bei der anschließenden und davon zu trennenden Prüfung auf Patentfähigkeit wird sodann bewertet, ob die dafür vorgeschlagene Lösung durch den Stand der Technik nahegelegt war oder nicht (BGH GRUR 2016, 921 Rn. 13 – Pemetrexed).
170
Der Definition der Aufgabe kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs haben Vorteile, die sich erst durch die Erfindung als erreichbar herausgestellt haben, bei der Bestimmung des der Erfindung zugrunde liegenden Problems ebenso außer Betracht zu bleiben wie Elemente, die zur technischen Lösung gehören (BGH GRUR 2015, 356 Rn. 9 – Repaglinid). Das der Erfindung zugrunde liegende technische Problem ist vielmehr so allgemein und neutral zu formulieren, dass sich die Frage, welche Anregungen der Fachmann durch den Stand der Technik erhielt, allein bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit stellt (BGH GRUR 2015, 352 Rn. 17 – Quetiapin).
171
(b) Die Verfügungsbeklagte hat nicht dargelegt, dass die Gerichte im Vereinigten Königreich und Frankreich denselben oder jedenfalls einen vergleichbaren Ansatz wie der Bundesgerichtshof verfolgen. Die Berücksichtigung von Bestandsentscheidungen ausländischer Gerichte, die weder dieselbe Methodik noch den(selben) Ansatz wie der Bundesgerichtshof verfolgen, ist daher nur sehr eingeschränkt möglich. Aufgrund der positiven Bestandsentscheidung des Europäischen Patentamts sowie des positiven Hinweises des Patentgerichts sind die englische und die französische Entscheidung jedenfalls vorliegend nicht geeignet, die Vermutung des Bestands des Verfügungspatents entscheidend zu erschüttern.
172
Unabhängig davon ist es stets möglich, dass der Rechtsbestand eines Patents in verschiedenen Jurisdiktionen unterschiedlich beurteilt wird. Das gilt insbesondere dann, wenn die Erfindungshöhe relevant ist, die eine wertende Betrachtung erfordert. Deswegen kann es nicht sein, dass dem Patentinhaber eine vorläufige Durchsetzung seines Schutzrechts trotz einer von ihm erstrittenen Erteilungs- oder Aufrechterhaltungsentscheidung unter Hinweis darauf versagt bleibt, dass anderswo ein Patentamt oder Gericht zu einem ebenso vertretbaren gegenteiligen Ergebnis gelangt (vgl. OLG Düsseldorf GRUR-RS 2023, 24939 Rn. 41 – RRMS-Therapie).
173
c) Der Rechtstand ist auch durch die vom Bundespatentgericht sowie dem Europäischen Patentamt ungeprüften Entgegenhaltungen NiK24, NiK25 und NiK26 nicht gefährdet.
174
aa) Eine Neuheitsschädlichkeit der neuen Entgegenhaltungen ist zu verneinen. Diese setzte voraus, dass sie im Prioritätszeitpunkt Stand der Technik waren. Das ist vorliegend nicht glaubhaft gemacht.
175
(1.) Stand der Technik ist gemäß § 3 Abs. 1 PatG jede technische Lehre, die irgendwann vor dem für den Zeitrang der Patentanmeldung maßgeblichen Tag irgendwo in der Welt auf irgendeine Art und Weise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist. Die Herkunft des technischen Wissens ist unerheblich. Stand der Technik ist damit jede der Öffentlichkeit zugängliche Information unabhängig von Art und Beschaffenheit des Mediums, das den Zugang zu ihr eröffnet hat. Neben Beschreibungen in Druckschriften und Ausführungen einer technischen Lehre gehört hierher jede sonstige Mitteilung, der ein Fachmann eine Anweisung zum technischen Handeln entnehmen kann. Auch das Zusammenwirken mehrerer unterschiedlicher, aber zusammengehörender Informationsträger (mündliches Referat in Kombination mit bildlichen Darstellungen) kann eine technische Lehre der Öffentlichkeit zugänglich machen (vgl. Melullis, in: Benkard, PatG, 12. Auflage 2023, § 3 Rn. 55 f.).
176
Die erforderliche Öffentlichkeit ist gegeben, wenn ein nicht begrenzter Personenkreis nach den gegebenen Umständen in der Lage war, Kenntnis von der konkreten technischen Information zu erlangen, auch wenn es dazu noch nicht gekommen ist (BGH GRUR 1996, 747 – Lichtbogen-Plasma-Beschichtungssystem). Indes muss die erfindungsgemäße Lehre derart der Öffentlichkeit zugänglich geworden sein, dass beliebige Dritte die beanspruchte Erfindung aufgrund der vorliegenden Informationen ausführen können. Ausreichend, aber auch erforderlich ist, dass die Informationen betreffend die Erfindung an jemand gelangen, der sie ausführen kann (vgl. BGH GRUR 1986, 372 – Thrombozyten-Zählung). Dem steht es gleich, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der primäre Empfänger der erfindungsgemäßen Information unter gewöhnlichen Umständen sein Wissen an andere Personen zur Umsetzung befähigte Personen weitergibt. Das ist wiederum der Fall, wenn von der Lehre im Stand der Technik eine nicht beschränkte Anzahl von verständigen Personen und damit beliebige Dritte, also ein unbestimmter, wegen der Beliebigkeit seiner Zusammensetzung für den Informanten nicht mehr kontrollierbarer hinreichend fachkundiger Personenkreis, Kenntnis erlangt hat oder bei Anlegung objektiver Maßstäbe Kenntnis erlangen konnte (vgl. Haedicke, Lehrbuch Patentrecht, 5. Auflage, 2021, Seite 83 ff.).
177
Eine neuheitsschädliche Offenbarung muss die Erfindung ferner so offenbaren, dass ein Fachmann sie ausführen kann (umfassend Melullis, a.a.O., Rn. 181 mVw auf BGH GRUR 2022, Rn. 69 ff. – Datensendeleistung). Das heißt, sie muss ihm so eindeutig und unmittelbar offenbart sein, dass der Fachmann sie als erfindungsgemäße Lösung der zu lösenden Aufgabe ohne weiteres anwenden/ausführen kann (BGH GRUR GRUR 2015, 472 Rn. 34 – Stabilisierung der Wasserqualität).
178
(2.) Die Verfügungsbeklagte hat nach diesen Maßstäben nicht glaubhaft gemacht, dass die Informationen betreffend die Verabreichung von Rivaroxaban gemäß der Anlage NiK24 an einen verständigen Personenkreis gelangt sind. Denn das Dokument gemäß Anlage NiK24 betrifft Informationen zur Einwilligungserklärung des Studienteilnehmers. Dieses Dokument wird nach einer typisierenden Betrachtung in aller Regel zu Hause „bei den Unterlagen“ gelassen und insbesondere nicht zu Arztbesuchen mitgenommen.
179
Selbst wenn man annähme, die Angaben aus der NiK24 seien von Studienteilnehmern mit Familienmitgliedern und/oder Hausärzten geteilt worden, erfüllte dies die an die öffentliche Zugänglichmachung zu stellenden Voraussetzungen nach den oben dargestellten Maßstäben nicht.
180
Denn es ist zunächst das vertrauliche familieninterne und/oder das ebenfalls durch besondere Vertraulichkeit geprägte Arzt-Patienten-Verhältnis betroffen. Bei einer typisierenden Betrachtungsweise ist in diesen Situationen jedenfalls nicht davon auszugehen, dass Informationen aus der NiK24, die in diesem Personenkreis offenbart werden würden, einem unbegrenzten Personenkreis zugänglich wären. Selbst wenn so mehrere Person Zugang zum Inhalt der NiK24 erlangt hätten, dürften diese Informationen von ihnen nach der Lebenserfahrung der Kammermitglieder weiterhin vertraulich behandelt werden, so dass es jedenfalls an der Öffentlichkeit fehlte. Anderes hat dies die Verfügungsbeklagte nicht dargetan. Überdies besteht die von der Verfügungsklägerin geltend gemachte implizite Vertraulichkeitsverpflichtung, der an solchen klinischen Studien teilnehmenden Personen. Unabhängig davon handelt sich um einen Personenkreis, der nicht in der Lage wäre, anhand der Informationen in der NiK24 zur erfindungsgemäßen Lehre zu gelangen. So geht es in der Unterlage explizit um den Wirkungseintritt, der von der Art der beanspruchten Freisetzung zu unterschieden und mit dieser grundsätzlich nicht gleichzusetzen ist.
181
Die als Patienteninformation gedachte Unterlage gemäß NiK24 enthält lediglich die für die Behandlung des Studienteilnehmers medizinisch relevanten Informationen. Aus ihr ergibt sich jedoch nicht, dass die Ergebnisse erfolgversprechend vorbeschrieben sind. Die Neuheit einer (zweiten) medizinischen Indikation setzt voraus, dass die Verwendung des Arzneimittels in der Art seiner Anwendung oder für sein medizinisches Einsatzgebiet noch nicht als wirksam oder zumindest erfolgversprechend vorbeschrieben oder vorbenutzt ist (vgl. BGH GRUR 2011, 999 Rn. 21 – Memantin). Das ist hier der Fall. Die konkrete Verwendung eines Arzneimittels mit dem Wirkstoff Rivaroxban zur Behandlung von thromboembolischen Erkrankungen war in der Art ihrer Anwendung zum Anmeldezeitpunkt im Stand der Technik nicht vorbeschrieben.
182
Eine Offenbarung der Sicherheit und Wirksamkeit der Verabreichung von Rivaroxaban enthalten die Entgegenhaltungen NiK 24 und NiK 25 (Patienteninformationsheft) nicht, da sie bereits keinerlei Studienergebnisse aufweisen. Sie geben lediglich wieder, dass eine einmal tägliche Verabreichung von Rivaroxaban möglicherweise in Patienten wirksam sein könnte. Sie schweigen sich aber zum Ergebnis dieser Studien – naturgemäß – völlig aus. Entsprechend hat auch die Technische Beschwerdekammer eine Neuheitsschädlichkeit der Entgegenhaltungen D2/D11 verneint:
„At the effective date of the patent in suit, it had not been shown that rivaroxaban was safe and effective in patients, i.e. subjects requiring therapeutic or prophylactic anticoagulant treatment (…).“
(vgl. EPA, T 1732/18, Rn. 9.22.1, Absatz 2).
„(…) Before the publication of phase II data, nothing was known about the therapeutic window of rivaroxaban.“
(vgl. EPA, T 1732/18, Rn. 9.22.2, Absatz 4, Hervorhebungen durch das Gericht).
183
Das Bundespatentgericht hat die Neuheitsschädlichkeit einer Information über ein Phase-II-Studie ebenfalls mit der Begründung verneint, sie enthalte keinerlei Aussagen über deren Ergebnisse (GRUR-RS 2023, 47524, Rn. 23).
184
Es mangelt schließlich auch an der Offenbarung der Ausführbarkeit. Denn der Fachmann kann den Informationen aus den Entgegenhaltungen NiK24/NiK 25 auch unter Einbeziehung seines Fachwissens nicht unmittelbar und eindeutig entnehmen, dass die dort verwendete Lehre zur Umsetzung der verfügungspatentgemäß beanspruchten Lehre eingesetzt werden kann. Dies ist zu erforschen, ist vielmehr allein Aufgabe dieser Studien. Eine Neuheitsschädlichkeit kann nach alldem nicht angenommen werden.
185
bb) Ein Naheliegen ist in Bezug auf die Entgegenhaltungen NiK24 und NiK25 ebenfalls zu verneinen. Diese Unterlagen gehören bereits nicht zum Stand der Technik, s.o.
186
Auch unter Berücksichtigung des Inhalts der NiK24/25 lag es – unabhängig davon – für die Fachperson zum Anmeldezeitpunkt nicht auf der Hand, Rivaroxaban wie patentiert zu verabreichen.
187
Womöglich hätte die Fachperson ausgehend von oder in Anbetracht der NiK24 in Richtung der verfügungspatentgemäßen Lehre weiterforschen können. Die Fachperson mag ebenfalls aufgrund des Inhalts der NiK24 erkennen, dass es hiernach um die optimale Dosierung („optimal dosage“) geht. Die Verfügungsbeklagte hat aber nicht hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht, dass die Fachperson dann eine einmal tägliche Verabreichung von Rivaroxaban als erfolgversprechend, das heißt wirksam und sicher, in Angriff genommen hätte. Denn die Fachperson geht davon aus, dass klinische Studien, von denen noch keine Ergebnisse vorliegen, generell als unsicher zu bewerten sind. Das betrifft zum einen allgemein klinische Studien der Phase II, von denen – wie die Verfügungsklägerin in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat – der absolute Großteil nicht erfolgreich ist. Zum anderen betrifft es den konkreten Bereich der zu behandelnden Erkrankungen. Bei thromboembolischen Erkrankungen würde die Fachperson aufgrund der potentiell schädlichen oder gar letalen Wirkungen einer Über- oder Unterdosierung der Antikoagulanzien (äußerst) konservativ und mit der erforderlichen Vorsicht vorgehen. Aufgrund dieser Verpflichtung und des Stands der Technik bestand für sie kein Anlass, lediglich eine einmal tägliche Verabreichung vorzusehen. Dass die klinischen Studien von der Ethikkommission genehmigt worden sind, begründet entgegen der Annahme der Verfügungsbeklagten kein Präjudiz für die patentrechtlich relevante Erfolgserwartung. Hierbei geht es zwar um die Beurteilung desselben Sachverhalts, aber mit unterschiedlicher Fragestellung: Ist die klinische Studie aus ethischen Gründen zu versagen, oder, lag die Erfindung für die Fachperson nahe? Diese unterschiedlichen Fragen können aufgrund der unterschiedlichen Maßstäbe unterschiedlich zu beantworten sein.
188
Anders als in einer Entscheidung des Bundespatentgerichts (GRUR-RS 2023, 47524, Rn. 25) bestand mit der Initiierung einer Phase-II-Studie mit unterschiedlichen Dosen für die Fachperson keine Veranlassung, hier von deren Wirksamkeit und Sicherheit auszugehen. Denn im Unterschied zu dem dortigen Multiple-Sklerose-Medikament ist Rivaroxaban für den Patienten an beiden Enden der Dosierung unter Umständen letal (s.o.). Wird zu viel verabreicht, verblutet der Patient, wird zu wenig verabreicht, bildet sich ein Thrombus. Ein „try-and-see“-Ansatz hat sich daher für die Verabreichung von Rivaroxaban verboten (vgl. EPA, T 1732/18, Rn. 9.26, 2. Spiegelstrich; Rn. 9.26.2).
189
Wie die Technische Beschwerdekammer ebenfalls ausführt, ist gerade die Frage der Sicherheit und gleichzeitigen Wirksamkeit einer Arzneimittelverabreichung am Patienten Gegenstand von Phase-II-Studien (vgl. EPA, T 1732/18, Rn. 9.22.6). Die Annahme einer Veranlassung für die Fachperson, ausgehend von dem Offenbarungsgehalt der NiK24, zur verfügungspatentgemäßen Erfindung zu gelangen, ist daher eine rückschauende Betrachtung. Angesichts der niedrigen Plasmakonzentrationshalbwertzeit läge eine Retard-Formulierung näher, als eine schnell freisetzende Tablette zu verwenden.
190
Auch die übrigen Einwände gegen das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit greifen nicht durch.
191
2. Die neben der Beurteilung des Rechtsbestands durchzuführende Interessenabwägung fällt zugunsten der Verfügungsklägerin aus.
192
Insbesondere in einstweiligen Verfügungsverfahren zwischen forschenden Arzneimittelherstellern (sog. Originatoren) und den Herstellern von Nachahmermedikamenten (sog. Generika-Hersteller) kommt einer Interessenabwägung der sich aus dem Erlass oder Nichterlass einer einstweiligen Verfügung ergebenden Folgen eine besondere Bedeutung zu. Der – sich nachträglich als unberechtigt herausstellende – Markteintritt der Nachahmermedikamente hat dabei eine große Relevanz. Die forschenden Arzneimittelhersteller wenden in aller Regel hohe Summen auf, um einen Wirkstoffkandidaten zum zugelassenen Arzneimittel mit Patentschutz zu entwickeln. Viele Ansätze erweisen sich im Verlaufe der durchzuführenden Studien als ungeeignet mit der Folge hoher frustrierter Aufwendungen. Daneben besteht ein komplexes Geflecht sozialrechtlicher Regelungen, um die Preise für Arzneimittel zu regulieren und die Kosten für die Krankenkassen zu dämpfen (vgl. Bühler, a.a.O., Rn. 78 ff.), was zusätzlichen Druck auf die Margen der forschenden Arzneimittelhersteller erzeugt.
193
Da die Anmeldung zum Patent weit vor der Zulassung zum Arzneimittel erfolgt, ist im Zeitpunkt der Patenterteilung bereits ein nicht unerheblicher Zeitraum der Patentlaufzeit verstrichen. Den Patentinhabern ist es daher ein notwendigerweise besonderes Anliegen, in dem relativ kurzen zur Verfügung stehenden Zeitraum ihr Patent zu verwerten. Die mit der Verwertung generierten Einnahmen sollen auch dazu verwendet werden, neue Forschungen mit dem Ziel neuer Medikamente zum Wohle der Patienten anzustrengen.
194
Die von den Originatoren getragenen Forschungs- und Entwicklungskosten fallen bei den Generika-Herstellern nicht an. Denn die wesentlichen Kosten sind eben die Forschungs- und Entwicklungskosten. Die Herstellungskosten sind demgegenüber marginal. Da die Nachahmer aufgrund der offen gelegten Patentschrift die Zusammensetzung des patentierten Arzneimittels kennen, ist es für sie ohne großen Kostenaufwand möglich, gleichwertige Medikamente herzustellen und zuzulassen, da sie auch insoweit auf die Unterlagen des Originals zurückgreifen können. Sie sind daher in der Lage, die von den Originatoren aufgerufenen Preise für ihre Medikamente deutlich zu unterbieten. Da die Wirksamkeit der Medikamente in der Regel gleich ist, können die Patentinhaber auch nicht – wie bei anderen Produkten etwa in der (Unterhaltungs-)Elektronik – auf die besondere Qualität oder Verlässlichkeit ihrer Produkte im Gegensatz zu denen der Nachahmer verweisen. Eine Preisdurchsetzung aufgrund des Rufs der Marke oder des besonderen Designs des Produkts ist in der Pharmabranche ebenfalls unüblich.
195
Wird demnach den Nachahmerunternehmen der Marktzutritt für ein patentgeschütztes Medikament erlaubt, kann dies einen unwiederbringlichen finanziellen Schaden für den Patentinhaber bedeuten (OLG Düsseldorf GRUR-RS 2023, 24939 Rn. 21 – RRMS-Therapie; GRUR-RR 2013, 236, 239 f. – Flurpitin-Maleat; 2008, 328, 331 f. – Olanzapin). Dies ist bei der gerichtlichen Interessenabwägung stets zu berücksichtigen.
196
Eine leichtere Beweisbarkeit eines Schadens seitens der bereits mit ihrem Produkt auf dem Markt befindlichen Verfügungsklägerin gegenüber der den Markt erst betretenden Verfügungsbeklagten (vgl. dazu Stief/Meyer, PharmR 2022, 529, 536 f.) ist nicht zu erkennen. Zwar mag die Verfügungsklägerin ihren entgangenen Gewinn leichter berechnen können, indem sie die Differenz zwischen ihren Gewinnen vor und nach Generika-Zutritt errechnet. Im konkreten Schadensersatzprozess muss sie jedoch dem jeweils verklagten Generika-Unternehmen nachweisen, dass der abstrakt berechnete Gewinnentgang gerade auf ihrem Marktzutritt beruht und nicht auf dem der anderen Generika-Unternehmen. Dies gilt auch für die Verfügungsklägerin, die im vorliegenden Fall nur mittelbar über einen Lizenzvertrag an der ungestörten Nutzung des Verfügungspatents partizipiert. Ferner kann als gesichert unterstellt werden, dass die Verfügungsklägerin in einem Schadensersatzprozess auch den Schaden der für das patentgeschützte Produkt Xarelto® vertriebsberechtigten Bayer-Tochtergesellschaft Bayer Vital GmbH geltend machen wird. Denn es handelt sich bei ihr und der Bayer Vital GmbH um Tochterunternehmen des Bayer-Konzerns. Aus dem rechtlichen (Teil-)Auseinanderfallen von Anspruchsinhaber und Schadensträger kann im Rahmen der Interessenabwägung bei Identität der Muttergesellschaft kein Vorteil zugunsten des Patentverletzers entspringen. Denn wirtschaftlich tritt der Schaden in der Sphäre der Verfügungsklägerin ein, wenn auch auf unterschiedlichen gesellschaftsrechtlichen Ebenen.
197
Nicht außer Acht zu lassen ist zudem, dass das Verfügungspatent erstmalig die wirksame und sichere, einmal tägliche orale Verabreichung von Rivaroxaban lehrt. Selbst wenn man die Stellung des Verfügungspatents im life-cycle-management der Inhaberin im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigen wollte (Stief/Meyer, a.a.O., 537), spricht dieser für die Patienten mit Thrombosegefährdung ganz wesentliche Schritt klar zugunsten der Verfügungsklägerin. Die Verfügungsbeklagte muss sich stattdessen fragen lassen, warum sie nicht selbst die Kosten und Mühen auf sich genommen hat, die nach ihrer Ansicht eindeutige und auf der Hand liegende Lösung der einmal täglichen oralen Verabreichung von Rivaroxaban zu einem marktreifen Arzneimittel zu betreiben.
198
Die Verfügungsbeklagte hat daher keine Gründe aufgezeigt, die im Lichte der vorstehenden Ausführungen sowie der dargestellten positiven Rechtsbestandsprognose dem Erlass einer einstweiligen Verfügung entgegenstehen.
199
Eine Sicherheitsleistung für die Vollziehung der einstweiligen Verfügung ist ebenfalls nicht anzuordnen.
200
Anlass zur Anordnung einer Sicherheitsleistung besteht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes i.d.R. nur, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein etwaiger Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte nicht realisiert werden kann (OLG München, Urt. vom 28.06.2012 – 6 U 1560/12, BeckRS 2013 – Hydrogentartrat, 14928; LG München I, Urt. vom 24.6.2016 – 21 O 5583/16, GRUR-RS 2016, 11707). Solche Anhaltspunkte sind weder vorgetragen noch für die Kammer erkennbar.
C.
201
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 709 ZPO.