Inhalt

OLG München, Urteil v. 11.04.2024 – 6 U 385/23 e
Titel:

Verletzung der Unionswortmarken "S6" und "S8" durch die Bewerbung von Kraftfahrzeugen mit den Zeichen "ES6" und "ES8"

Normenkette:
UMV Art. 9 Abs. 2 lit. b, Art. 18, Art. 58 Abs. 1 lit. a, Art. 127 Abs. 3, Art. 130 Abs. 1
Leitsätze:
1. Die Hinzufügung von Bildelementen beeinflusst nicht die Unterscheidungskraft der Marke, soweit solche graphischen Zusätze den Gesamteindruck der eingetragenen Marke nicht verändern bzw. wenn solche zusätzlichen Elemente nicht unterscheidungskräftig, sondern schwach und damit nicht dominant sind. Dafür kommt es insbesondere auf die Größe, die figurative Gestaltung sowie auf die Unterscheidungskraft der hinzugefügten Bildelemente an. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es gibt keinen Grund, Buchstaben-/Zahl-Kombinationen – anders als anderen Zeichen – im Ausgangspunkt keine normale Kennzeichnungskraft beizumessen. Vielmehr besitzen derartige Kombinationen gerade wegen ihres einfachen Charakters eine gewisse Prägnanz und sind daher für den Verkehr leicht merkbar. (Rn. 62) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagwort:
Unionsmarke
Fundstellen:
MittdtPatA 2025, 133
GRUR-RS 2024, 25702
LSK 2024, 25702
GRUR-RR 2025, 20

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Endurteil des Landgerichts München I vom 19.01.2023, Az.: 1 HK O 13543/21, berichtigt durch Beschluss vom 17.03.2023, wird zurückgewiesen mit der Maßgabe, dass in Ziffer 2. des Tenors des landgerichtlichen Urteils nach dem letzten „eS8“ die Wörter „, wie in Ziffer 1. beschrieben,“ eingefügt werden, und mit der weiteren Maßgabe, dass es in Ziffer 3. des Tenors anstelle von
„Rechtshängigkeit“ heißt: „30.10.2021“.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III. Das Endurteil des Landgerichts München I sowie das vorliegende Urteil sind vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung bezüglich Ziffer 1 des Urteils des Landgerichts (Unterlassung) durch Sicherheitsleistung in Höhe von 100.000 Euro und bezüglich Ziffer 2 des landgerichtlichen Urteils (Auskunft) durch eine solche in Höhe von 15.000 Euro abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Im Übrigen kann die Beklagte die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 115% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 115% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
sowie folgenden
Beschluss
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 137.000 Euro festgesetzt.

Tatbestand

A.
1
Die Klägerin macht gegen die Beklagte Unterlassungs- und Folgeansprüche wegen behaupteter Unionsmarkenverletzung, hilfsweise wegen Verstoßes gegen Lauterkeitsrecht, geltend.
2
Die Klägerin ist ein großer deutscher Automobilhersteller. Sie ist Inhaberin der am 21.06.1999 unter anderem in der Klasse 12 für Kraftfahrzeuge eingetragenen Unionsmarken „S6“ und „S8“ (vgl. Anlagen K 1.1 und K 1.2; im Folgenden: Klagemarken oder Klagezeichen).
3
Die Beklagte ist Teil des aus China kommenden Automobilherstellers NIO, der sich auf Elektrofahrzeuge spezialisiert hat.
4
NIO hat 2016 die Marken „ES6“ und „ES8“ u.a. für Kraftfahrzeuge der Klasse 12 beim DPMA angemeldet, die auf den Widerspruch der Klägerin mit Beschluss des DPMA vom 09.11.2020 weitgehend – insbesondere für die Waren der Klasse 12 (unter anderem Kraftfahrzeuge) und Klasse 37 – gelöscht wurden (vgl. Anlagen K 6.1 und K 6.2).
5
Die zudem von einer Schwestergesellschaft der Beklagten angemeldeten und im Jahr 2017 eingetragenen Unionsmarken „ES6“ und „ES8“ wurden in einem von der Klägerin eingeleiteten Nichtigkeitsverfahren vom EUIPO mit Entscheidungen vom 12.07.2023 für nichtig erklärt (vgl. Anlagen K 42 und K 43, veröffentlicht in GRUR-RS 2023, 19005 und GRUR-RS 2023, 19006).
6
Die Beklagte bewarb auf ihrer Internetseite www.nio.com/de Fahrzeuge wie folgt:
7
NIO-Fahrzeuge wurden bzw. werden unter den Zeichen „ES6“ und „ES8“ bislang nur außerhalb der Europäischen Union veräußert. In Europa sind die betreffenden Fahrzeuge zwischenzeitlich unter der Bezeichnung „EL6“ und „EL8“ auf dem Markt.
8
Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 12.08.2021 mahnte die Klägerin die Beklagte wegen der Zeichenverwendungen auf der Internetseite erfolglos ab (vgl. Anlage K 5).
9
Die Klägerin ist der Auffassung, die Beklagte habe durch die dargestellte Werbung ihre Unionsmarken „S6“ und „S8“ verletzt und macht auf dieser Grundlage Unterlassungs- und Folgeansprüche geltend. Hilfsweise stützt sie ihre Klage auf § 4 Nr. 3 lit. a und b, Nr. 4 UWG.
10
Die Klägerin hat in erster Instanz zuletzt beantragt,
1. Die Beklagte wird verurteilt, es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung fälligen Ordnungsgeldes bis zu EUR 250.000,-, ersatzweise Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, zu vollziehen an dem Geschäftsführer der Beklagten, im Wiederholungsfalle Ordnungshaft bis zu zwei Jahren, zu vollziehen an dem Geschäftsführer der Beklagten, zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr Kraftfahrzeuge
1.1. mit dem Zeichen
mittig auf der Internetseite https://www.nio.com/de_DE/es6 zu bewerben wie folgt:
1.2. mit dem Zeichen
in der Kopfzeile der Internetseite https://www.nio.com/de_DE/es6 zu bewerben wie folgt:
1.3. mit dem Zeichen
auf dem Nummernschild des abgebildeten Fahrzeugs auf der Internetseite https://www.nio.com/de_DE/es6 zu bewerben wie folgt:
1.4 mit dem Zeichen
mittig auf der Internetseite https://www.nio.com/de_DE/es8 zu bewerben wie folgt:
1.5 mit dem Zeichen
in der Kopfzeile der Internetseite https://www.nio.com/de_DE/es8 zu bewerben wie folgt:
1.6 mit dem Zeichen
auf dem Nummernschild des abgebildeten Fahrzeugs auf der Internetseite https://www.nio.com/de_DE/es8 zu bewerben wie folgt:
2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Auskunft zu erteilen über das Bewerben auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland von Kraftfahrzeugen in den Produktbeschreibungen oder in Produktbildern mit dem Zeichen
oder oder
oder unter Angabe der Vertriebswege sowie der Vertriebsart und Dauer der Bewerbungen.
3. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die durch die Inanspruchnahme der Anwälte im Zusammenhang mit der Abmahnung des markenrechtsverletzenden Verhaltens entstandenen Kosten in Höhe von EUR 2.538,10 zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
4. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die weiteren Schäden zu ersetzen, die dieser aus den Handlungen gemäß Ziffer 1 auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland entstanden sind bzw. noch entstehen werden.
(Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden im Folgenden die in den Klageanträgen enthaltenen Zeichen
, sowie , und
, mit „eS6“ bzw. „eS8“ umschrieben und die Zeichen
und mit „NIOeS6“ bzw. „NIOeS8“).
11
Die Beklagte hat in erster Instanz Klageabweisung beantragt.
12
Sie hat sich gegen die Klage damit verteidigt, dass die Anträge bereits unbestimmt seien und die Klage damit unzulässig sei. Zudem hat die Beklagte die Einrede der Nichtbenutzung erhoben. Vor allem aber bestehe keine Verwechslungsgefahr. Die Klagemarken seien kennzeichnungsschwach, da „S“ rein beschreibend für „sportlich“ stehe und „6“ auf der Durchnummerierung der Fahrzeugreihe basiere. Ungeachtet dessen, dass den Klagemarken im Rahmen der Anträge zu 1.1. und 1.4. richtigerweise das Gesamtzeichen „NIOeS6“ bzw. „NIOeS8“ gegenübergestellt werden müssten, hielten auch die Zeichen „eS6“ und „eS8“ isoliert betrachtet in Anbetracht der geringen Kennzeichnungskraft der Klagemarken und der gesteigerten Aufmerksamkeit der Verbraucher beim Autokauf durch die schriftlichen und klanglichen Unterschiede durch den Buchstaben „e“ einen ausreichenden Abstand zu den Klagemarken.
13
Das Landgericht hat die Beklagte mit Endurteil vom 19.01.2023, berichtigt durch Beschluss vom 17.03.2023, auf dessen tatsächliche Feststellungen ergänzend Bezug genommen wird, antragsgemäß zur Unterlassung, Auskunftserteilung und Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verurteilt sowie die Schadensersatzpflicht festgestellt.
14
Gegen dieses Urteil wendet sich die Berufung der Beklagten, mit welcher sie unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens ihr Ziel einer vollumfänglichen Klageabweisung weiterverfolgt.
15
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landgerichts München vom 17.01.2023, Az. 1 HK O 13543/21 abzuändern und die Klage abzuweisen.
16
Die Klägerin verteidigt das erstinstanzliche Urteil und beantragt,
Die Berufung der Beklagten und Berufungsklägerin wird zurückgewiesen, mit der Maßgabe, dass in Ziffer 2. des Tenors des landgerichtlichen Urteils nach dem letzten „es8“ einzufügen ist „, wie in Ziffer 1. beschrieben,“.
17
Im Übrigen wird auf die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 18.01.2024 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

B.
18
Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
19
I. Das Landgericht ist mit Recht von der Zulässigkeit der Klage ausgegangen.
20
1. Die Klageanträge zu 1.1. und 1.4. sind bestimmt im Sinne von § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.
21
Aufgrund des Zusatzes „mittig auf der Internetseite … wie folgt“ und die anschließende Wiedergabe der Internetseite ist klar ersichtlich, dass die Beklagte die konkrete Verletzungsform mit den Anträgen zu 1.1. und 1.4. verboten wissen möchte. Ein Widerspruch zwischen dem abstrakten einleitenden Teil des Antrags und der wiedergegebenen konkreten Verletzungsform ist dabei nicht zu erkennen. Indem die Klägerin im einleitenden Teil der Anträge nur die Zeichen „eS6“ und „eS8“ nennt, bringt sie lediglich zum Ausdruck, woran sie sich bei den angegriffenen Gesamtzeichen „NIOeS6“ und „NIOeS8“ stört, nämlich gerade nicht an dem vorangestellten „NIO“, sondern nur an „eS6“ und „eS8“. Anders als im Fall „ConText“ des BGH (GRUR 2016, 705) greift die Klägerin die im einleitenden Teil des Antrags genannten Zeichen „eS6“ und „eS8“ mithin ersichtlich nicht „in Alleinstellung“ an und dies kann – wie dargelegt – den Anträgen auch im Übrigen nicht entnommen werden.
22
Die Anträge 1.1. und 1.4. sind damit entgegen der Auffassung der Beklagten in sich widerspruchsfrei und nicht unbestimmt. Die Frage, ob bei der Prüfung der Verwechslungsgefahr die Zeichen „NIOeS6“ und „NIOeS8“ den Klagezeichen „S6“ und „S8“ gegenüberzustellen sind oder die Zeichen „eS6“ und „eS8“, ist im Rahmen der Begründetheit der Klage zu prüfen (vgl. II.1.b)).
23
2. Das Landgericht hat ferner zutreffend angenommen, dass der Klageantrag zu 1. auch hinsichtlich der territorialen Reichweite des beantragten Unterlassungsgebots hinreichend bestimmt im Sinne von § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO ist.
24
Enthält ein vom Kläger formulierter – auf eine Unionsmarke gestützter – Unterlassungsantrag keine Angabe zur territorialen Reichweite des Verbots, bezieht sich das Unterlassungsbegehren grundsätzlich auf den Bereich der Europäischen Union (Müller, in: BeckOK UMV, Stand: 15.02.2022, UMV Art. 130 Rn. 8). Auf der anderen Seite ist ein auf das UWG gestützter Unterlassungsantrag selbstredend als auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland beschränkt anzusehen, ohne dass es hierzu einer Klarstellung durch den Kläger im Antrag bedarf.
25
Die Besonderheit im vorliegenden Fall, dass der auf eine Unionsmarke gestützte Hauptantrag und der auf das UWG gestützte Hilfsantrag in einem Haupt- und Hilfsverhältnis zueinander stehen und zudem wortgleich in ein und demselben Antrag zusammenfallen, ändert daran nichts, denn es handelt sich gleichwohl um zwei getrennt voneinander zu betrachtende und jeden für sich auszulegende Anträge. Jedenfalls geht aus dem Vorbringen der Klägerin, das für die Auslegung der Anträge heranzuziehen ist, hinreichend deutlich hervor, dass Haupt- und Hilfsantrag jeweils eine unterschiedliche territoriale Reichweite haben sollen, ohne dass dafür eine Klarstellung im Antrag zwingend erforderlich ist.
26
II. Die Klage ist zudem begründet.
27
1. Das Landgericht hat – jedenfalls im Ergebnis – zu Recht angenommen, dass der Klägerin die mit den Anträgen zu 1. geltend gemachten Unterlassungsansprüche aus Art. 130 Abs. 1 Satz 1 i. V.m. 9 Abs. 2 Buchst. b UMV zustehen.
28
a) Der von der Beklagten vorgebrachte Einwand der mangelnden ernsthaften Benutzung der Klagemarken nach Art. 127 Abs. 3 i.V.m. Art. 58 Abs. 1 Buchst. a UMV greift vorliegend nicht durch.
29
aa) Die Beklagte hat die von ihr in erster Instanz erhobene Einrede der Nichtbenutzung in der Berufungsinstanz nicht wiederholt, diese jedoch auch nicht ausdrücklich aufgegeben. Die Einrede wirkt daher in der zweiten Instanz ohne Weiteres fort (vgl. Thiering, in: Ströbele/Hacker/Thiering, MarkenG, 14. Aufl., § 25 Rn. 35 a.E.; OLG Hamburg, GRUR-RS 2021, 14197 Rn. 68 – Catalox).
30
bb) Das Landgericht hat hinreichende tatsächliche Feststellungen zu einer rechtserhaltenden Benutzung der Klagemarken getroffen, an die der Senat im Streitfall gebunden ist.
31
(1) Das Landgericht hat im streitigen Teil des Tatbestands festgehalten, dass die – für die rechtserhaltende Benutzung darlegungs- und beweisbelastete – Klägerin hierzu in erster Instanz Folgendes vorgetragen hat:
32
Sie, die Klägerin, benutze die Marken „S6“ und „S8“ seit Jahren sehr intensiv, und zwar wie folgt:
33
Es gebe entsprechende Fahrzeugmodelle. Das jeweilige Modell sei dabei außen auf dem Kühlergrill, auf der Rückseite und innen auf dem Lenkrad markenmäßig gekennzeichnet (vgl. Lichtbilder Anlage K 11 und K 15 sowie Bl.127/137 LG-Akte). Der Umsatz in Deutschland habe sich zwischen 2013 und 2017 mit dem „S6“ auf über 100 Mio. Euro und mit dem „S8“ auf über 300 Mio. belaufen. Die Klägerin habe in den Jahren 2016 bis September 2021 die aus der aus der Tabelle auf S. 11 oben LGU ersichtlichen Stückzahlen verkauft und es seien die aus der weiteren Tabelle ersichtlichen Zahlen an Fahrzeugen als Neuwagen zugelassen worden, was bedeute, dass das jeweilige Fahrzeug von der Klägerin in den Verkehr gebracht worden sei. Die Klägerin bewerbe die Fahrzeuge auch entsprechend unter Verwendung der Zeichen. Sie gehe davon aus, dass das gerichtsbekannt sei. Ergänzend verweise sie auf die Darstellungen in ihren Katalogen wie Anlagen K 29 bis K 41 (vgl. Seitenzahlen Bl.153 LG-Akte).
34
(2) In den Entscheidungsgründen (LGU, S. 16/17) hat das Landgericht ausgeführt, es sei im konkreten Fall aufgrund der von der Klägerin vorgelegten Wikipedia-Einträge sowie der von der Klägerin in Bezug genommenen Angaben des Kraftfahrzeugbundesamts auf seiner Internetseite als allgemeinkundig und damit als offenkundig im Sinne von § 291 ZPO anzusehen, dass die Klägerin die Klagemarken im Bundesgebiet, aber auch in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union über einen den vorliegend maßgeblichen Zeitraum (10.10.2016 bis 10.10.2021) sogar überschreitenden Zeitraum für die Kennzeichnung ihrer entsprechenden Kraftfahrzeugmodelle in einer Art und Weise benutzt habe, die rechtlich als ernsthafte Benutzung zu qualifizieren sei. Diesen Ausfühungen lässt sich entnehmen, dass das Landgericht die von der Klägerin vorgetragenen Tatsachen (vgl. oben (1)) als wahr erachtet hat und diese damit festgestellt hat im Sinne von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO (vgl. Rimmelspacher, in: MüKoZPO, 6. Aufl., § 529 Rn. 3).
35
(3) Die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen hat das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO seiner Verhandlung und Entscheidung zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Derartige Anhaltspunkte hat die Beklagte vorliegend weder dargetan, noch sind solche sonst ersichtlich.
36
cc) Das Landgericht ist ferner zutreffend davon ausgegangen, dass aufgrund des festgestellten Sachverhalts rechtlich die Voraussetzungen für eine errnsthafte Benutzung nach Art. 18 UMV erfüllt sind, so dass der Einwand der mangelnden Benutzung nach Art. 127 Abs. 3 i.V.m. Art. 58 Abs. 1 Buchst. a UMV nicht durchgreift.
37
(1) Das Landgericht hat den Benutzungszeitraum grundsätzlich zutreffend bestimmt. Im Rahmen des Art. 27 Abs. 3 UMV ist für die Berechnung des ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren nach Art. 58 Abs. 1 Buchst. a UMV auf den Zeitpunkt der Erhebung der Verletzungsklage abzustellen (Grüger, in: BeckOK MarkenR, Stand: 01.01.2024, UMV 2017 Art. 127 Rn. 19; Müller, in: BeckOK UMV, Stand: 15.02.2022, Art. 127 Rn. 19; Hildebrandt, in: Hildebrandt/Sosnitza, UMV, 1. Aufl., Art. 127 Rn. 10), wobei sich der Zeitpunkt der „Erhebung“ der Verletzungsklage in diesem Fall nicht nach nationalem Verständnis gemäß § 253 Abs. 1 ZPO (Zustellung der Klage), sondern nach Art. 32 Abs. 1 Brüssel Ia-VO richtet (Grüger, in: BeckOK MarkenR, UMV 2017 Art. 127 Rn. 19 i.V.m. Art. 132 Rn. 12; vgl. auch OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2017, 397 Rn. 9 – Evolution). Entscheidend ist mithin die Einreichung der Verletzungsklage bei Gericht, die hier am 11.10.2021 erfolgt ist. Der maßgebliche Fünfjahreszeitraum ist demnach der 11.10.2016 bis 11.10.2021 (vgl. BGH, GRUR 2021, 736 Rn. 17 – STELLA). Dass das Landgericht demgegenüber den Tag der Klageeinreichung nicht in die Frist mit einbezogen und auf den Zeitraum 10.10.2016 bis 10.10.2021 abgestellt hat, wirkt sich im Ergebnis nicht aus.
38
(2) Die obigen Feststellungen tragen ohne Weiteres die Annahme, dass in quantitativer Hinsicht im genannten Zeitraum eine ernsthafte Benutzung des Zeichens (bzw. eines entsprechenden Wort-Bild-Zeichens „S8“) als Marke erfolgt ist.
39
Die Benutzung erfolgte auch „in der Union“ im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 1 UMV. Das Landgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass eine Benutzung nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Mitgliedstaaten erfolgt ist. Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass aus dem Sachvortrag der Klägerin letzteres nicht ausreichend hervorgeht, reicht der vorgetragene Umfang der Nutzung in Deutschland in territorialer Hinsicht aus, um eine ernsthafte Benutzung in der Union anzunehmen. Denn bei dem zu berücksichtigenden Aspekt der Größe des Gebiets, in dem die Marke benutzt worden ist, kommt es nicht entscheidend auf die Grenzen der Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten an, sondern kann von einer ernsthaften Benutzung einer Unionsmarke auch dann auszugehen sein, wenn ihre Benutzung auf das Hoheitsgebiet eines einzelnen Mitgliedstaates beschränkt ist (vgl. BGH, GRUR 2013, 925 Rn. 38 – VOODOO).
40
(3) Der rechtserhaltenden Benutzung steht auch nicht entgegen, dass die eingetragenen Klagezeichen „S6“ und „S8“ in einer graphischen Ausgestaltung mit einer hinterlegten roten Raute und nicht als reine Wortzeichen verwendet wurden.
41
Gemäß Art. 18 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a UMV gilt als eine Benutzung einer eingetragenen Marke auch die Benutzung der Unionsmarke in einer Form, die von der Eintragung nur in Bestandteilen abweicht, ohne dass dadurch die Unterscheidungskraft der Marke beeinflusst wird.
42
Die Hinzufügung von Bildelementen beeinflusst nicht die Unterscheidungskraft der Marke, soweit solche graphischen Zusätze den Gesamteindruck der eingetragenen Marke nicht verändern bzw. wenn solche zusätzlichen Elemente nicht unterscheidungskräftig, sondern schwach und damit nicht dominant sind. Dafür kommt es insbesondere auf die Größe, die figurative Gestaltung sowie auf die Unterscheidungskraft der hinzugefügten Bildelemente an (Sosnitza, in: Hildebrandt/Sosnitza, UMV, 1. Aufl., Art. 18 Rn. 42).
43
Vorliegend weist die rote Raute zwar in etwa die Breite des Buchstabens „S“ auf und sogar eine größere Höhe als die Zeichen „S“ und „6“. Gleichwohl tritt das Zeichen bereits graphisch in den Hintergrund, da sich die Schrift – der Buchstabe „S“ – „vor“ der roten Raute befindet. Zudem handelt es sich lediglich um eine einfach gestaltete rote Raute, sodass der Verkehr das Bildelement nur als dekorativen Zusatz wahrnimmt (vgl. Fuhrmann, in: BeckOK MarkenR, Stand: 01.07.2023, UMV 2017 Art. 18), ohne dass hierdurch die Unterscheidungskraft der Wortmarken beeinflusst wird.
44
b) Das Landgericht ist weiter zutreffend davon ausgegangen, dass in den Zeichenvergleich auch im Rahmen der mit den Anträgen 1.1. und 1.4. geltend gemachten Ansprüche nur die Zeichen „eS6“ bzw. „eS8“ und nicht die Zeichen „NIOeS6“ bzw. „NIOeS8“ einzubeziehen sind. Denn der Verkehr erkennt vorliegend in den Zeichenbestandteilen „NIO“ einerseits und „eS6“ bzw. „eS8“ andererseits jeweils zwei eigenständige Zeichen.
45
Zwar wird der Verkehr mehrere Zeichenbestandteile regelmäßig nur dann als jeweils eigenständige Zeichen wahrnehmen, wenn sie voneinander abgesetzt sind (vgl. BGH, GRUR 2008, 258 Rn. 30 – INTERCONNECT/T-InterConnect). Vorliegend sind die Zeichenbestandteile indes nicht durch einen Einschub voneinander getrennt (anders als etwa in: BGH, GRUR 2019, 1289 Rn. 18 – Damen Hose MO; BGH, GRUR-RS 2019, 35712 Rn. 19 – „Slim Fit Hose SAM“). Zwischen den Zeichen „NIO“ und „eS6“ bzw. „eS8“ besteht auch nur ein geringfügiger räumlicher Abstand, der weniger als ein Leerzeichen beträgt. Zudem weist die Beklagte zutreffend darauf hin, dass die Darstellung beider Zeichen in weißer Schrift auf einem einheitlichen schwarzen Grund erfolgte.
46
Allerdings sind die Zeichen „NIO“ in Fettschrift und Majuskeln dargestellt, während zumindest das „E“ in „eS6“ und „eS8“ jedenfalls als Kleinbuchstabe dargestellt ist und die Schrift „normal“ bzw. deutlich dünner ist. Der Verkehr nimmt die Zeichenbestandteile „NIO“ und „eS6“ bzw. „eS8“ deshalb trotz des geringen Abstands beider Zeichenbestandteile bereits aufgrund der konkreten äußeren Darstellung nicht als ein einziges (zusammengesetztes) Wort und ein einheitliches Zeichen wahr.
47
Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass dem Verkehr das mit den Anträgen 1.1. und 1.4. beanstandete Zeichen „eS6“ bzw. „eS8“ auf der konkret angegriffenen Internetseite nicht nur in der Form „NIOeS6“ und „NIOeS8“, sondern daneben in der Kopfzeile der Internetseite und auf dem Nummernschild der abgebildeten Fahrzeuge jeweils in isolierter Form „eS6“ bzw. „eS8“ (was von der Klägerin mit den Anträgen 1.2, 1.3, 1.5 und 1.6 angegriffen wird) gegenübertritt. Auch daraus erkennt der Verkehr, dass es sich bei „eS6“ bzw. „eS8“ auch innerhalb der Darstellung „NIOeS6“ und „NIOeS8“ jeweils um eigenständige Zeichen gegenüber dem Zeichenbestandteil „NIO“ handelt. Soweit die Beklagtenseite in der mündlichen Verhandlung die Auffassung vertreten hat, die weiteren (isolierten) Zeichen „eS6“ bzw. „eS8“ auf der Internetseite dürften für die Beurteilung des Zeichens „NIOeS6“ bzw. „NIOeS8“ nicht herangezogen werden, folgt der Senat dem nicht. Denn wie bei der Frage der markenmäßigen Benutzung (vgl. dazu BGH, GRUR 2019, 522 Rn. 52 – SAM), ist auch für die Frage, ob der Verkehr in einem Gesamtzeichen ein oder zwei Zeichen erkennt, der Kontext der angegriffenen Zeichenverwendung und damit im Streitfall die angegriffene Werbung im Internet in ihrer Gesamtheit in den Blick zu nehmen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn – wie hier – die Internetseite in ihrer Gesamtheit zum Gegenstand der Anträge gemacht wurde.
48
Ungeachtet dessen kann der Verkehr die Zeichenbestandteile eines zusammengesetzten Zeichens auf Grund bestimmter Kennzeichnungsgewohnheiten allgemein oder insbesondere auf dem betreffenden Warengebiet als zwei eigenständige Zeichen wahrnehmen (vgl. BGH, GRUR 2002, 171 (174) – Marlboro-Dach; BGH, GRUR 2004, 865 (866) – Mustang; im Rahmen der rechtserhaltenden Benutzung: BGH, GRUR 2017, 1043 Rn. 30 – Dorzo; BGH, GRUR 2007, 592 Rn. 13 f. – bodo Blue Night). Im vorliegend betroffenen Automobilbereich ist der Verkehr daran gewöhnt, dass Fahrzeuge zum einen mit dem Herstellernamen gekennzeichnet werden und zum anderen – zusätzlich – mit einer Modell- bzw. Typenbezeichnung, die häufig auch aus einer Buchstaben-/Zahlenkombination besteht. Daher fasst der Verkehr auch im Streitfall das Zeichen „NIO“ als Herstellername und die Zeichen „eS6“ bzw. „eS8“ als – gegenüber der Herstellerbezeichnung eigenständige – Modellbezeichnungen auf (vgl. BGH, GRUR 2021, 724 Rn. 28, 32 – PEARL/PURE PEARL; sowie Vorinstanz: OLG Hamburg, GRUR-RS 2019, 53793 Rn. 71, 77 – PEARL/PURE PEARL).
49
c) Die Verwendung der Zeichen „eS6“ bzw. „eS8“ erfolgte jeweils auch markenmäßig.
50
aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liegt eine beeinträchtigende Benutzung des Zeichens vor, wenn es durch den Dritten markenmäßig oder – was dem entspricht – als Marke verwendet wird und diese Verwendung die Funktionen der Marke und insbesondere ihre wesentliche Funktion, den Verbrauchern die Herkunft der Waren oder Dienstleistungen zu garantieren, beeinträchtigt oder beeinträchtigen kann (BGH, GRUR 2013, 1239 Rn. 20 – VOLKSWAGEN/Volks.Inspektion; BGH, GRUR 2015, 1201 Rn. 68 – SparkassenRot/Santander-Rot; BGH, GRUR 2018, 924 Rn. 25 – ORTLIEB; BGH, GRUR 2019, 522 Rn. 25 - SAM).
51
Bei der Beurteilung, ob der Verkehr eine Bezeichnung als Herkunftshinweis versteht und in der konkret in Rede stehenden Verwendung eines Zeichens einen Herkunftshinweis sieht, ist auf die Kennzeichnungsgewohnheiten in dem maßgeblichen Warensektor abzustellen (vgl. BGH, GRUR 2004, 865 [866] – Mustang; BGH, GRUR 2019, 522 Rn. 26 – SAM). Von einer kennzeichenmäßigen Verwendung ist auszugehen, wenn ein nicht unerheblicher Teil des angesprochenen Verkehrs in einem Zeichen den Hinweis auf die Herkunft einer Ware oder Dienstleistung aus einem bestimmten Unternehmen sieht (BGH, GRUR 2009, 484 Rn. 61- METROBUS; BGH, GRUR 2019, 522 Rn. 26 – SAM).
52
bb) Da sich das Internetangebot der Beklagten an sämtliche am Kauf eines Autos interessierte Personen richtet, ist vorliegend für die Verkehrsanschauung auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen. Der Senat kann die Feststellungen zum Verkehrsverständnis aufgrund seiner ständigen Befassung mit Markenrechtsstreitigkeiten sowie aufgrund des Umstands, dass seine Mitglieder zu den angesprochenen Verkehrskreisen gehören, aus eigener Sachkunde treffen.
53
cc) Der Verkehr erblickt vorliegend in den mit den Anträgen 1.1. bis 1.6. angegriffenen Zeichen „eS6“ und „eS8“, wie auf den in den Anträgen eingelichteten Internetseiten verwendet, (auch) einen Herkunftshinweis.
54
(1) Wie bereits oben dargelegt, handelt es sich aus Sicht des Verkehrs bei den Bezeichnungen „eS6“ und „eS8“ jeweils um Modellbezeichnungen für ein konkretes Fahrzeug des Herstellers „NIO“. Allein, dass der Verkehr ein Zeichen als Modellbezeichnung wahrnimmt, sagt indes noch nichts darüber aus, ob das Zeichen markenmäßig verwendet wird oder nicht. Vielmehr ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, ob der angesprochene Verkehr die Modellbezeichnung auch als Hinweis auf die Herkunft der Ware aus einem bestimmten Betrieb versteht, wobei bei einer Bewerbung im Internet, wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, die Werbung in ihrer Gesamtheit in den Blick zu nehmen ist (vgl. BGH, GRUR 2019, 522 Rn. 42, 49 – SAM).
55
(2) Im Streitfall fasst der Verkehr die Zeichen „eS6“ und „eS8“ jedenfalls aufgrund der konkreten Gestaltung der Internetseite der Beklagten auch als Herkunftshinweis auf. Dafür spricht insbesondere, dass die Modellbezeichnungen nicht an einer unauffälligen Stelle etwa in einer Beschreibung der Fahrzeuge verwendet wurden, sondern mehrfach prominent, nämlich in der Menüleiste, auf dem Nummernschild der abgebildeten Fahrzeuge und vor allem blickfangmäßig in der Bildmitte in unmittelbarem Zusammenhang mit der Herstellermarke „NIO“ (vgl. BGH, GRUR 2019, 522 Rn. 54 – SAM).
56
Darüber hinaus entspricht es den dem Verkehr bekannten Kennzeichnungsgewohnheiten in der Automobilbranche, Fahrzeuge neben der Herstellerbezeichnung zusätzlich mit einer Modellbezeichnung – die häufig auch aus einer Buchstaben-/Zahlenkombination besteht – zu versehen. Diese Modellbezeichnungen sollen für den Verkehr erkennbar nicht nur dazu dienen, einen Fahrzeugtyp mit bestimmten Merkmalen zu bezeichnen, sondern der Verkehr sieht darin einen zusätzlichen Hinweis auf die Herkunft des jeweiligen Fahrzeugmodells von einem bestimmten Hersteller (vgl. BGH, GRUR 2021, 724 Rn. 28, 29, 32 – PEARL/PURE PEARL; sowie Vorinstanz: OLG Hamburg, GRUR-RS 2019, 53793 Rn. 71 – PEARL/PURE PEARL; LG München I, GRUR- RS 2021, 5752 Rn. 62 – M-Logo; Mielke, in: BeckOK MarkenR, Stand: 01.10.2023, MarkenG § 14 Rn. 165.2).
57
(3) Einer markenmäßigen Verwendung der Zeichen „eS6“ und „eS8“ steht vorliegend auch nicht entgegen, dass die Zeichen rein beschreibend wären. Selbst wenn man davon ausginge, dass der Verkehr den Buchstaben „e“ als beschreibend für „elektrisch“ oder „elektronisch“ wahrnimmt, misst er jedenfalls dem weiteren Buchstaben „S“ keine eindeutige Bedeutung bei. Auch wenn man unterstellt, dass dem Verkehr bekannt ist, dass einige Automobilhersteller das Zeichen „S“ in Modellbezeichnungen für Autos als Beschreibung für „sportlich“ verwenden, ist dem Verkehr auch bekannt, dass eine solche Verwendung nicht einheitlich durch sämtliche Automobilhersteller erfolgt, sondern „S“ etwa auch für „Sonderklasse“ stehen kann. So verwendet beispielsweise der Hersteller Mercedes-Benz den Buchstaben „S“ für seine Spitzenmodelle bzw. Fahrzeuge der Oberklasse. Einen eindeutigen Sinngehalt misst der Verkehr deshalb dem Buchstaben „S“ innerhalb der Zeichen „eS6“ und „eS8“ nicht bei. Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, welche eindeutige beschreibende Zuordnung der Verkehr hinsichtlich der Zahl „6“ bzw. „8“ vornimmt. Insgesamt ist deshalb nicht erkennbar, welche konkreten Eigenschaften eines Fahrzeugs aus Sicht des Verkehrs durch die Kombination „eS6“ bzw. „eS8“ eindeutig beschrieben werden, so dass die Zeichen jedenfalls nicht glatt beschreibend sind. Dass diese womöglich einen beschreibenden Anklang haben mögen, steht der Annahme nicht entgegen, dass der Verkehr die Zeichen als Marke wahrnimmt.
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d) Es besteht kennzeichenrechtliche Verwechslungsgefahr gemäß Art. 9 Abs. 2 Buchst. b UMV zwischen den Klagezeichen „S6“ und „S8“ einerseits und den angegriffenen Zeichen „eS6“ und „eS8“ in der aus den Anträgen ersichtlichen Darstellungsform andererseits.
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aa) Die Frage, ob markenrechtliche Verwechslungsgefahr vorliegt, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Dabei besteht eine Wechselwirkung zwischen den in Betracht zu ziehenden Faktoren, insbesondere der Identität oder der Ähnlichkeit der Zeichen und der Identität oder der Ähnlichkeit der mit ihnen gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen sowie der Kennzeichnungskraft der älteren Marke, so dass ein geringerer Grad der Ähnlichkeit der Waren oder Dienstleistungen durch einen höheren Grad der Ähnlichkeit der Zeichen oder durch eine erhöhte Kennzeichnungskraft der älteren Marke ausgeglichen werden kann und umgekehrt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, GRUR 2021, 724 Rn. 31 – PEARL/PURE PEARL; BGH GRUR 2019, 953 Rn. 19 – Kühlergrill).
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bb) Das Landgericht ist im Ergebnis zu Recht von einer durchschnittlichen Kennzeichnungskraft der Klagezeichen „S6“ und „S8“ ausgegangen.
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(1) Allerdings kann den Klagemarken entgegen der Ansicht des Landgerichts eine originäre durchschnittliche Kennzeichnungskraft nicht abgesprochen werden.
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Es gibt keinen Grund, Buchstaben-/Zahl-Kombinationen – anders als anderen Zeichen – im Ausgangspunkt keine normale Kennzeichnungskraft beizumessen (vgl. auch Wirtz, in: Ingerl/Rohnke/Nordemann, 4. Aufl. 2023, MarkenG § 14 Rn. 585). Vielmehr besitzen derartige Kombinationen gerade wegen ihres einfachen Charakters eine gewisse Prägnanz und sind daher für den Verkehr leicht merkbar (vgl. BGH, GRUR 1995, 808 [810] – P3-plastoclin).
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Vorliegend kann eine originäre durchschnittliche Kennzeichnungskraft auch nicht deshalb verneint werden, weil die Zeichen „S6“ und „S8“ beschreibende Anklänge haben mögen. Denn der beschreibende Gehalt ist allenfalls als gering anzusehen, da – wie oben bereits ausgeführt – jedenfalls dem Buchstaben „S“ im Rahmen von Modellbezeichnungen für Kraftfahrzeuge kein eindeutiger Bedeutungsgehalt zukommt und die hinzugefügte Zahl „6“ bzw. „8“ nicht, jedenfalls ebenfalls nicht eindeutig beschreibend ist.
64
Im Ergebnis ist deshalb mit dem DPMA (vgl. Anlage K 6.1, S. 7; K 6.2, S. 7) und dem EUIPO (GRUR-RS 2023, 19005 Rn. 81 ff.; GRUR-RS 2023, 19006 Rn. 81 ff.) von einer originär durchschnittlichen Kennzeichnungskraft der Klagemarken auszugehen.
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(2) Eine Steigerung der Kennzeichnungskraft durch Verkehrsgeltung kann vorliegend hingegen nicht festgestellt werden. Eine solche ist im Streitfall weder offenkundig im Sinne von § 291 ZPO, noch vermögen die Darlegungen der Klägerin zur Benutzung der Klagemarken bzw. die tatsächlichen Feststellungen des Landgericht hierzu die Annahme einer solchen zu tragen.
66
cc) Hinsichtlich der Waren Kraftfahrzeuge der Klasse 12, für welche die Klagemarken (unter anderem) eingetragen sind, und den vorliegend durch die Beklagte beworbenen Fahrzeugen besteht Warenidentität.
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dd) Es besteht ferner eine Zeichenähnlichkeit in einem solchen Grad, der bei Warenidentität und durchschnittlicher Kennzeichnungskraft der Klagemarken die Annahme einer Verwechslungsgefahr im kennzeichenrechtlichen Sinne begründet.
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(1) Es kann im Rahmen des Zeichenvergleichs dahinstehen, ob innerhalb der Zeichen „eS6“ und „eS8“ jeweils allein der Zeichenbestandteil „S6“ und „S8“ als prägend anzusehen ist. Dies läge nahe, wenn man der Klägerin darin folgte, dass der Verkehr den vorangestellten Buchstaben „e“ innerhalb der Zeichen als rein beschreibend für „elektrisch“ bzw. „elektronisch“ wahrnimmt. In diesem Fall läge aufgrund einer Identität der Klagezeichen „S6“ und „S8“ und der angegriffenen Zeichen im – gegebenenfalls – prägenden Bestandteil „S6“ und „S8“ eine hochgradige Zeichenähnlichkeit vor. Eine Verwechslungsgefahr besteht im Ergebnis indes auch dann, wenn man den Klagezeichen „S6“ und „S8“ die Zeichen „eS6“ und „eS8“ in ihrer Gesamtheit gegenüberstellt.
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(2) Eine Zeichenähnlichkeit kann in klanglicher, schriftbildlicher oder begrifflicher Hinsicht bestehen. Für die Annahme einer Verwechslungsgefahr ist es ausreichend, dass lediglich in einer dieser Wahrnehmungsrichtungen eine hinreichende Ähnlichkeit besteht (s. nur Hacker, in: Ströbele/Hacker/Thiering, MarkenG, 14. Aufl., § 9 Rn. 280, m.w.N.)
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(3) Vorliegend ist eine Zeichenähnlichkeit, die zu einer Verwechslungsgefahr führt, jedenfalls in klanglicher Hinsicht zu bejahen.
71
Hierbei kann offenbleiben, ob ein nicht unerheblicher Teil des Verkehrs (vgl. Fezer, in: Fezer, MarkenR, 5. Aufl., MarkenG § 14 Rn. 436) die angegriffenen Zeichen jeweils als „ES-6“ bzw. „ES-8“, also die in „eS6“ und „eS8“ enthaltenen Buchstaben „e“ und „S“ jeweils zusammen als „ES“ ausspricht, und damit die angegriffenen Zeichen jeweils identisch wie die Klagemarken „S6“ und „S8“ (so etwa DPMA, Anlage K 6.1, S. 8; ebenso EUIPO, GRUR-RS 2023, 19005 Rn. 77).
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Denn auch wenn man von einer Aussprache „E-ES-6“ bzw. „E-ES-8“ der angegriffenen Zeichen durch den Durchschnittsverbraucher ausgeht, sind die Zeichen noch in einem solchen Grad klanglich ähnlich, dass bei durchschnittlicher Kennzeichnungskraft und Warenidentität eine Verwechslungsgefahr im kennzeichenrechtlichen Sinne zu bejahen ist (i. Erg. ebenso DPMA, Anlage K 6.1, S. 8). Denn der Buchstabe „S“ wird vom Verkehr sowohl in den Klagemarken als auch in den angegriffenen Zeichen mit dem vorangestellten Mitlaut „E“ (also „ES“) ausgesprochen. Wird dem „S“ wie bei den angegriffenen Zeichen derselbe Vokal, nämlich ein weiteres „E“ vorangestellt, nimmt der Verkehr diesen klanglich deshalb nur untergeordnet wahr, zumal der durchschnittliche Verbraucher das „E“ und „ES“ in „E-ES-6“ bzw. „E-ES-8“ nicht „abgehackt“ voneinander, sondern fließend ineinander übergehend ausspricht. Aus diesem Grund fällt auch die unterschiedliche Länge der Wörter „E-ES-6“ bzw. „E-ES-8“ gegenüber „ES-6“ bzw. „ES-8“ in klanglicher Hinsicht deutlich weniger stark ins Gewicht, als dies bei drei gegenüber nur zwei Buchstaben bzw. Ziffern in schriftbildlicher Hinsicht der Fall sein mag.
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Nach alledem halten die angegriffenen Zeichen auch bei Zugrundelegung eines erhöhten Aufmerksamkeitsgrades des Verbrauchers, der sich für den Erwerb von Kraftfahrzeugen interessiert, in klanglicher Hinsicht keinen hinreichenden Abstand zu den Klagezeichen, um bei durchschnittlicher Kennzeichnungskraft und Warenidentität nach der Wechselwirkungslehre eine Verwechslungsgefahr im kennzeichenrechtlichen Sinne verneinen zu können.
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(4) Der Berücksichtigung der klanglichen Ähnlichkeit steht vorliegend auch nicht entgegen, dass es sich bei den angegriffenen Verletzungsformen ausschließlich um optisch wahrnehmbare Internetwerbungen handelt. Denn zum einen können aufgrund der Werbung Gespräche unter Verbrauchern stattfinden, bei denen es zu klanglichen Verwechslungen kommen kann. Abgesehen davon wird erfahrungsgemäß selbst bei einer nur optischen Wahrnehmung einer Marke gleichzeitig der klangliche Charakter das den Gesamteindruck prägenden Markenworts unausgesprochen mit aufgenommen und damit die Erinnerung an klanglich ähnliche Marken geweckt, die von früheren Begegnungen bekannt sind (so zutreffend Hacker, in: Ströbele/Hacker/Thiering, MarkenG, 14. Aufl., § 9 Rn. 286).
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ee) Da somit eine unmittelbare Verwechslungsgefahr zu bejahen ist, kommt es auf die Frage einer mittelbaren Verwechslungsgefahr oder einer Verwechslungsgefahr im weiteren Sinne aufgrund einer selbständig kennzeichnenden Stellung im Sinne der „THOMSON LIFE“-Rechtsprechung des EuGH (GRUR 2005, 1042) nicht mehr an.
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e) Besondere Gründe nach Art. 130 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz UMV, die vorliegend einer Unterlassungsanordnung entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere fehlt es nicht an einer Wiederholungsgefahr nach nationalen Maßstäben, was einen besonderen Grund im vorgenannten Sinne darstellen würde (vgl. BGH, GRUR 2023, 255 Rn. 23 – Wiederholungsgefahr III). Die aufgrund der begangenen Markenverletzung zu vermutende Wiederholungsgefahr hat die Beklagte nicht durch die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung ausgeräumt.
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2. Der Klägerin stehen wegen der Verletzung ihrer Klagemarken auch die geltend gemachten Folgeansprüche zu.
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a) Der mit dem Feststellungantrag zu 4. verfolgte Anspruch auf Schadensersatz folgt aus § 119 Nr. 2 i.V.m. § 14 Abs. 6 MarkenG.
79
Von einem Verschulden zumindest in Form eines fahrlässigen Handelns der Beklagten ist auszugehen, da dieser jedenfalls bei der gebotenen Recherche die Klagemarken bekannt sein mussten und sie auch nicht davon ausgehen konnte, dass die Gerichte vorliegend eine Verwechslungsgefahr sicher verneinen würden.
80
Ein Schaden ergibt sich bereits aus dem Eingriff in das Markenrecht als vermögenswertes Recht und der damit verbundenen, allein dem Markeninhaber zugewiesenen Nutzungsmöglichkeit (vgl. BGH, GRUR 2022, 229 Rn. 71 – ÖKO-TEST III). Jedenfalls erscheint ein Schaden bei einer Schadensberechnung nach der Lizenzanalogie nicht ausgeschlossen, was für eine Feststellung der Schadensersatzpflicht ausreichend ist.
81
b) Der geltend gemachte Auskunftsanspruch ergibt sich aus § 242 BGB, Art. 129 Abs. 2, Art. 130 Abs. 2 UMV i.V.m. § 19d MarkenG (vgl. Thiering, in: Ströbele/Hacker/Thiering, MarkenG, 14. Aufl., § 119 Rn. 34).
82
Durch die in der mündlichen Verhandlung erfolgte Klarstellung in dem Antrag zu 2., dass sich die begehrten Auskünfte nur auf die Bewerbungen im Sinne des Klageantrags zu 1. beziehen, ist der Auskunftsantrag auch seinem Umfang nach nicht zu weit gefasst. Insoweit handelte es sich indessen nur um eine bloße Klarstellung und keine teilweise Klagerücknahme, da sich aus dem Vorbringen der Klägerin von Anfang an ergab, dass sie Auskünfte lediglich bezogen auf die konkreten dargelegten Werbehandlungen begehrt.
83
c) Der Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten für die Abmahnung vom 12.08.2021 folgt aus Art. 129 Abs. 2 UMV i.V.m. § 683 Satz 1, § 677, § 670 BGB. Da das Landgericht die im Grundsatz zu Recht zuerkannten Zinsen jedoch im Tenor „ab Rechtshängigkeit“ zugesprochen hat, war dies durch Nennung des konkreten Datums zu konkretisieren.
84
3. Nachdem die Klage somit im Hauptantrag insgesamt begründet ist, kommt der auf Lauterkeitsrecht gestützte Hilfsantrag nicht mehr zum Tragen, so dass etwaige Verstöße gegen das UWG nicht zu prüfen sind.
85
III. Da das Landgericht der Klägerin die geltend gemachten Ansprüche somit im Ergebnis zu Recht gestützt auf Unionsmarkenrecht zugesprochen hat, war die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
C.
86
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
87
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10, §§ 711, 709 Satz 2 ZPO.
88
Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO) und auch die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO liegen nicht vor. Die Rechtssache erfordert, wie die Ausführungen unter B. zeigen, lediglich die Anwendung gesicherter Rechtsprechungsgrundsätze auf den Einzelfall.
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Die Festsetzung des Streitwerts für das Berufungsverfahren beruht auf § 39 Abs. 1, § 43 Abs. 1, § 45 Abs. 1 Satz 2, § 47 Abs. 1 Satz 1, § 51 Abs. 1 GKG.