Inhalt

LG München I, Endurteil v. 18.10.2023 – 21 O 7637/20
Titel:

Erfolgreiche Patentverletzungsklage

Normenketten:
PatG § 9, § 139, § 140a, § 140b
EPÜ Art. 64
IntPatÜG Art. II § 1 Abs. 1
ZPO § 148
Leitsätze:
1. Die angegriffene Ausführungsform verwirklicht sämtliche Merkmale der Ansprüche des streitgegenständlichen Patentes, welches eine Vorrichtung zum Verschließen der Gehäuseteile eines Steckverbinders betrifft; die angegriffene Ausführungsform weist insbesondere einen patentgemäß erforderlichen länglichen Griff auf. (Rn. 56 – 71) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ist eine Rechtsbestandsentscheidung evident unrichtig und kann das Verletzungsgericht diese Unrichtigkeit verlässlich erkennen, weil ihm die auftretenden technischen Fragen in Anbetracht des Sachvortrags der Parteien zugänglich sind und von ihm auf der Grundlage ausreichender Erfahrung in der Beurteilung technischer und patentrechtlicher Sachverhalte abschließend beantwortet werden können, so muss das Verletzungsgericht die Rechtsbestandsentscheidung nicht hinnehmen. (Rn. 91 – 92) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zuständigkeit, Feststellungsinteresse, Patentverletzung, Stand der Technik, Merkmalsgruppe, Auskunft und Rechnungslegung, Schadensersatzanspruch
Fundstelle:
GRUR-RS 2023, 47263

Tenor

I. Die Beklagte zu 1) wird verurteilt, es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung vom Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu € 250.000,00 – ersatzweise Ordnungshaft – oder einer Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten, im
1. Vorrichtungen zum Verschließen eines ein erstes Gehäuseteil und ein zweites Gehäuseteil aufweisenden Gehäuses eines Steckverbinders mit
1. einem Verriegelungselement, welches
1.1. einen länglich ausgebildeten Griff und
1.2. zwei Befestigungsabschnitte, welche
1.2.1 jeweils mit dem Griff verbunden sind, aufweist, wobei
2. die Befestigungsabschnitte jeweils ein erstes Stegelement und ein zweites Stegelement aufweisen, welche
2.1. v-förmig zueinander angeordnet sind, und
2.2. jeweils einen freien Endabschnitt zum Befestigen an dem ersten
3. zwischen dem ersten Stegelement und dem zweiten Stegelement mindestens ein drittes Stegelement derart angeordnet ist, dass
3.1. die Befestigungsabschnitte jeweils eine Durchgangsöffnung aufweisen, welche
3.2. durch das erste Stegelement, das zweite Stegelement und das dritte Stegelement begrenzt ist, wobei
4. das erste Stegelement, das zweite Stegelement und das dritte Stegelement einstückig miteinander ausgebildet sind und
5. das dritte Stegelement eine bogenförmige Krümmung aufweist,
in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in Verkehr zu bringen und für diese Zwecke zu besitzen, wenn
6. das dritte Stegelement mit dem freien Endabschnitt des ersten Stegelementes und mit dem freien Endabschnitt des zweiten Stegelementes verbunden ist und wobei sich das dritte Stegelement unterbrechungsfrei zwischen dem freien Endabschnitt des ersten Stegelementes und dem freien Endabschnitt des zweiten Stegelementes erstreckt.
(Anspruch 1, … in der Fassung des Nichtigkeitsurteils vom 08.03.2023)
2. Steckverbinder, umfassend ein erstes Gehäuseteil und ein zweites Gehäuseteil aufweisendes Gehäuse in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in Verkehr zu bringen und für diese Zwecke zu besitzen, die
eine Vorrichtung zum Verschließen des Gehäuses nach vorstehendem Anspruch 1 der EP … aufweisen.
(Anspruch 5, EP)
II. Die Beklagte zu 2) wird verurteilt, es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung vom Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu € 250.000,00 – ersatzweise Ordnungshaft – oder einer Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, zu vollziehen an den Geschäftsführern der Komplementärin, zu unterlassen,
Vorrichtungen zum Verschließen und Steckerverbinder nach vorstehenden Ziffern I.1 und I.2
in der Bundesrepublik Deutschland herzustellen.
III. Die Beklagte zu 3) wird verurteilt, es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung vom Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu € 250.000,00 – ersatzweise Ordnungshaft – oder einer Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, zu vollziehen an den Geschäftsführern der Komplementärin, zu unterlassen,
Vorrichtungen zum Verschließen und Steckerverbinder nach vorstehenden Ziffern I.1 und I.2
in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten.
IV. Die Beklagten werden verurteilt, der Klägerin (in elektronischer Form) darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie die jeweils in Ziffer I., II. und III. bezeichneten Handlungen seit dem 18.05.2018 begangen haben, und zwar unter Angabe
1. der Namen und der Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,
2. der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer und Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
3. der Menge der hergestellten, ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden,
wobei
zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (nämlich Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie (in elektronischer Form) vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen.
V. Die Beklagten werden verurteilt, der Klägerin (in elektronischer Form) darüber Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie jeweils die in Ziffer I., II. und III. bezeichneten Handlungen seit dem 18.05.2018 begangen haben, und zwar unter Angabe
1. der Herstellungsmengen und -zeiten,
2. der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie den Namen und Anschriften der Abnehmer,
3. der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zeiten, preisen und Typenbezeichnungen sowie den Namen und Anschriften der gewerblichen Angebotsempfänger,
4. der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren
5. der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns,
wobei
den Beklagten vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der nichtgewerblichen Abnehmer und der Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von der Klägerin zu bezeichnenden, ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, in de Bundesrepublik Deutschland ansässigen, vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagten dessen Kosten tragen und ihn ermächtigen und verpflichten, der Klägerin auf konkrete Anfrage mitzuteilen, ob ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist.
VI. Die Beklagten zu 1) und 2) werden verurteilt, die in ihrem unmittelbaren oder mittelbaren Besitz oder in ihrem Eigentum befindlichen, unter Ziffer I. und II. bezeichneten Erzeugnisse an einen von der Klägerin zu benennenden Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Vernichtung auf ihre – der Beklagten – Kosten herauszugeben.
VII. Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der der Klägerin durch die in Ziffer I., II. und III. bezeichneten, seit dem 18.05.2018 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin für die in Ziffer I., II. und III. bezeichneten, in der Zeit vom 07.01.2015 bis zum 18.04.2018 begangenen Handlungen eine angemessene Entschädigung zu zahlen.
VIII. Die Beklagten zu 1) und 2) werden verurteilt, die unter Ziffer I. und II. bezeichneten, seit dem 18.05.2018 in Verkehr gebrachten Erzeugnisse gegenüber den gewerblichen Abnehmern unter Hinweis auf den gerichtlich festgestellten patentverletzenden Zustand der Sache und mit der verbindlichen Zusage zurückzurufen, etwaige Entgelte zu erstatten sowie notwendige Verpackungs- und Transportkosten sowie mit der Rückgabe verbundene Zoll- und Lagerkosten zu übernehmen und die Erzeugnisse wieder an sich zu nehmen.
IX. Die Beklagten tragen die Kosten des Rechtstreits.
X. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung wie folgt
- 185.000,00 € einheitlich für Ziffern I., VI. und VIII. für die Beklagte zu 1,
- 185.000,00 € einheitlich für Ziffern II., VI. und VIII. für die Beklagte zu 2,
- 80.000,00 € für Ziffer III.,
- 50.000,00 € einheitlich für Ziffern IV. und V. sowie
- 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags für Ziffer IX. vorläufig vollstreckbar.
Die Sicherheit kann durch die schriftliche, unwiderrufliche, unbedingte und unbefristete Bürgschaft eines im Inland zum Geschäftsbetrieb befugten Kreditinstituts erbracht werden.

Tatbestand

1
Die Klägerin ist Inhaberin des nationalen deutschen Teils des europäischen Patents … (nachfolgend: Klagepatent). Sie nimmt die Beklagte wegen unmittelbarer Patentverletzung des Anspruchs 1 und 5 in der mit Urteil des Bundespatentgerichts vom 08.03.2023 aufrechterhaltenen Fassung in Anspruch.
2
Das Klagepatent wurde – unter Inanspruchnahme der Priorität vom 28.02.2012 – am 01.02.2013 angemeldet. Veröffentlichung und Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung erfolgten am 18.04.2018. Das Klagepatent wurde mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilt.
3
Patentanspruch 1 des Klagepatents lautet in der vom Patentgericht aufrechterhaltenen Fassung wie folgt:
„Vorrichtung zum Verschließen eines ein erstes Gehäuseteil (1) und ein zweites Gehäuseteil (1) aufweisendes Gehäuse eines Steckverbinders, mit einem Verriegelungselement (3), welches einen länglich ausgebildeten Griff (4) und zwei Befestigungsabschnitte (5), welche jeweils mit dem Griff (4) verbunden sind, auf-weist, wobei die Befestigungsabschnitte (5) jeweils ein erstes Stegelement (6) und ein zweites Stegelement (7) aufweisen, welche V-förmig zueinander angeordnet sind und welche jeweils einen freien Endabschnitt (8, 9) zum Befestigen an an dem ersten Gehäuseteil (1) und an dem zweiten Gehäuseteil (2) ausgebildeten Lagerzapfen (10, 11) aufweisen, wobei zwischen dem ersten Stegelement (6) und dem zweiten Stegelement (7) mindestens ein drittes Stegelement (14) derart angeordnet ist, dass die Befestigungsabschnitte (5) jeweils eine Durchgangsöffnung (19) aufweisen, welche durch das erste Stegelement (6), das zweite Stegelement (7) und das dritte Stegelement (14) begrenzt ist, wobei das erste Stegelement (6), das zweite Stegelement (7) und das dritte Stegelement (14) einstückig miteinander ausgebildet sind und dass das dritte Stegelement (14) eine bogenförmige Krümmung aufweist, wobei das dritte Stegelement (14) mit dem freien Endabschnitt (8) des ersten Stegelementes (6) und mit dem freien Endabschnitt (9) des zweiten Stegelementes (7) verbunden ist, und wobei sich das dritte Stegelement (14) unterbrechungsfrei zwischen dem freien Endabschnitt (8) des ersten Stegelementes (6) und dem freien Endabschnitt (9) des zweiten Stegelementes (7) erstreckt.“
4
Der nebengeordnete Patentanspruch 5 lautet:
Steckverbinder, umfassend ein ein erstes Gehäuseteil (1) und ein zweites Gehäuseteil (2) aufweisendes Gehäuse und eine Vorrichtung zum Verschließen des Gehäuses nach einem der Ansprüche 1 bis 4.
5
Die nachfolgend eingeblendeten Abbildungen der Klagepatentschrift (Figuren 1 und 2) zeigen Ausführungsbeispiele der Erfindung.
 
 
6
Wegen der weiteren Details wird auf die Patentschrift verwiesen.
7
Die Beklagte zu 1 ist die Vertriebsgesellschaft der … für Deutschland. Die Beklagte zu 2 ist ebenfalls Teil dieser Gruppe und insbesondere für die Produktion in Deutschland verantwortlich. Die Beklagte zu 3 ist die Zentrale der Gruppe und nimmt Marketingaufgaben wahr. Sie ist auch Alleingesellschafterin der … und somit der persönlich haftenden Gesellschafterin der Beklagten zu 2.
8
Die Beklagten zu 1 und 3 bewerben den „…“ (angegriffene Ausführungsform) und bieten diesen an. Die Beklagte zu 2 stellt ihn her. Die Beklagte zu 1 bringt ihn darüber hinaus in Verkehr und besitzt ihn zu diesen Zwecken. Die Verschlussvorrichtung der angegriffenen Ausführungsform sieht insbesondere wie folgt aus (vgl. Anlagen … 12, … 14 bis … 17):
.
9
Die Klägerin meint, die angegriffene Ausführungsform verletze Anspruch 1 und Anspruch 5 des Klagepatents in der eingeschränkt geltend gemachten Fassung unmittelbar.
10
Mit Beschluss vom 28.01.2022 hat die Kammer den Rechtsstreit bis zum rechtskräftigen Abschluss des Nichtigkeitsverfahrens der Beklagten zu 1 ausgesetzt (Bl. 236/237 d. A.). Nachdem das Patentgericht mit Urteil vom 08.03.2023 (Anlage ... 28) das Klagepatent in eingeschränkter Fassung aufrechterhalten hat, ist das Verfahren durch Beschluss der Kammer vom 20.04.2023 wieder aufgenommen und die Aussetzung aufgehoben worden (Bl. 245/247 d. A.). Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde der Beklagten hat das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 19.06.2023 (Bl. 289/297 d. A.) zurückgewiesen.
11
Die Klägerin stellt zuletzt (Terminprotokoll vom 19.07.2023, Bl. 335/337 d. A.) als Hauptantrag im Wesentlichen die Klageanträge wie tenoriert, wobei für die Anpassungen der Kammer im Tenor auf die Ausführungen in den Entscheidungsgründen Bezug genommen wird. Hilfsweise stellt die Klägerin den Äquivalenzantrag (Schriftsatz vom 10.07.2023, Seite 9 sowie Terminprotokoll vom 19.07.2023, Bl. 337 d. A.).
12
Die Beklagte beantragt,
1.
Klageabweisung,
2.
hilfsweise die Aussetzung des Verfahrens bis zum rechtskräftigen Abschluss des gegen das Klagepatent anhängigen Nichtigkeitsverfahren.
13
Die Klägerin wendet sich gegen eine Aussetzung des Verfahrens.
14
Die Beklagten sind im Wesentlichen der Ansicht, die angegriffene Ausführungsform verletze das Klagepatent (auch) in der vom Patentgericht aufrechterhaltenen Fassung nicht.
15
Außerdem sei dieser Gegenstand – entgegen der Auffassung des Patentgerichts – nicht neu und daher das Verletzungsverfahren auszusetzen.
16
Zur Ergänzung des Tatbestands wird im Übrigen auf die Protokolle der mündlichen Verhandlungen vom 07.07.2021 (Bl. 130/132 d. A.) und vom 19.07.2023, (Bl. 335/337 d. A.) sowie auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien samt Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

17
Die zulässige Klage ist vollumfänglich begründet.
A.
18
Die Klage ist zulässig.
19
I. Das Landgericht München I ist zuständig (§ 143 PatG, § 32 ZPO i.V. mit § 38 Nr. 1 BayGZVJu, Art. 7 Nr. 2 EuGVVO).
20
II. Das erforderliche Feststellungsinteresse ist gegeben, § 256 Abs. 1 ZPO. Der Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen die Beklagten ist vor Erteilung der Auskunft noch nicht bezifferbar.
B.
21
Die Patentverletzungsklage ist begründet.
22
I. Das Klagepatent betrifft eine Vorrichtung zum Verschließen eines zweiteiligen Gehäuses eines Steckverbinders mit einem Verriegelungselement sowie einen entsprechenden Steckverbinder, 0001..
23
1. Zum Stand der Technik erläutert das Klagepatent in 0002., eine derartige Vorrichtung sei beispielsweise aus der EP …(Anlage … 9) bekannt.
24
Weiter wird in 0003. beschrieben, aus der DE … (Anlage … 10) sei eine Vorrichtung bekannt, bei der die Befestigungsabschnitte eines in Form eines Bügels ausgebildeten Verriegelungselements vollflächig ausgebildet seien. Diese könnten jeweils an einem Lagerzapfen des ersten Gehäuseteils und an einem Lagerzapfen des zweiten Gehäuseteils angeordnet werden, um das erste Gehäuseteil mit dem zweiten Gehäuseteil möglichst sicher zu verschließen.
25
2. An diesem Stand der Technik kritisiert die Klagepatentschrift in 0003., dass bei einer derartigen Ausbildung die Befestigungsabschnitte eines Verriegelungselements aufgrund ihrer vollflächigen Ausbildung sehr steif seien. Dadurch würden insbesondere beim Schließen und Öffnen der Verriegelung große Spannungen an der Befestigung der Befestigungsabschnitte auftreten. Diese hohen Belastungen würden schnell zu einer Materialermüdung führen und ein Teil des Befestigungsabschnitts könne abbrechen, so dass das Verriegelungselement nicht mehr funktionieren könnte.
26
3. Die Klagepatentschrift nennt es als ihre Aufgabe, eine Vorrichtung zum Verschließen eines Gehäuses und einen Steckverbinder zur Verfügung zu stellen, welche sich durch eine höhere Stabilität und eine längere Einsatzfähigkeit auszeichnen, 0004..
27
Hieraus ergibt sich die objektive Aufgabe, eine verbesserte Verschlussvorrichtung und einen entsprechend verbesserten Steckverbinder zur Verfügung zu stellen.
28
4. Gelöst werden soll diese Aufgabe mit einer Vorrichtung zum Verschließen eines Gehäuses eines Steckverbinders gemäß Patentanspruch 1 in der eingeschränkt aufrechterhaltenen Fassung sowie mit einem Steckverbinder gemäß Patentanspruch 5.
29
Die Merkmale von Anspruch 1 in dieser Fassung gliedert die Kammer wie folgt:
„Vorrichtung zum Verschließen eines ein erstes Gehäuseteil und ein zweites Gehäuseteil aufweisendes Gehäuse eines Steckverbinders, mit
1. einem Verriegelungselement, welches
1.1. einen länglich ausgebildeten Griff und
1.2. zwei Befestigungsabschnitte, welche
1.2.1 jeweils mit dem Griff verbunden sind, aufweist, wobei
2. die Befestigungsabschnitte jeweils ein erstes Stegelement und ein zweites Stegelement aufweisen, welche
2.1. V-förmig zueinander angeordnet sind und
2.2. welche jeweils einen freien Endabschnitt zum Befestigen an an dem ersten Gehäuseteil und an dem zweiten Gehäuseteil ausgebildeten Lagerzapfen aufweisen, wobei
3. zwischen dem ersten Stegelement und dem zweiten Stegelement mindestens ein drittes Stegelement derart angeordnet ist, dass
3.1. die Befestigungsabschnitte jeweils eine Durchgangsöffnung aufweisen, welche
3.2. durch das erste Stegelement, das zweite Stegelement und das dritte Stegelement begrenzt ist, wobei
4. das erste Stegelement, das zweite Stegelement und das dritte Stegelement einstückig miteinander ausgebildet sind und dass
5. das dritte Stegelement eine bogenförmige Krümmung aufweist,
6. wobei das dritte Stegelement mit dem freien Endabschnitt des ersten Stegelementes und mit dem freien Endabschnitt des zweiten Stegelementes verbunden ist und wobei sich das dritte Stegelement unterbrechungsfrei zwischen dem freien Endabschnitt des ersten Stegelementes und dem freien Endabschnitt des zweiten Stegelementes erstreckt.“
30
5. Die durch diesen Gegenstand der Klagepatentschrift angesprochene Fachperson verfügt über einen Fachhochschulabschluss (Diplom-Ingenieur oder Bachelor) der Fachrichtung Feinwerk- oder Fertigungstechnik sowie über mehrjährige Berufserfahrung in der Entwicklung von elektrischen Steckverbindern. Die Fachperson kennt die hierfür einschlägigen Normen.
31
6. Die Fachperson, die die vom Gegenstand des Klagepatents angesprochene Fachwelt repräsentiert, versteht, dass entgegen der Bezeichnung zwei Steckverbinder Gegenstand des Vorrichtungsanspruchs sind, weil das Gehäuse aus zwei Gehäuseteilen besteht: beispielsweise aus einem Stecker (erstes Gehäuseteil) und einer Buchse (zweites Gehäuseteil), die zu einer Steckverbindung zusammengefügt sind und die in der gesteckten Position miteinander verriegelt werden können.
32
7. Einige Merkmale dieser Vorrichtung gemäß Anspruch 1 in der eingeschränkt geltend gemachten Fassung bedürfen näherer Erläuterung:
33
a) Nach Merkmalsgruppe 1 weist das eine Verriegelungselement einen länglich ausgebildeten Griff und zwei Befestigungsabschnitte auf, welche jeweils mit dem Griff verbunden sind. Verriegelungselement ist das Element, dass der Verriegelung der beiden Gehäuseteile dient. Dieses weist (nicht abschließend aufgezählt) wiederum zwei Bereiche auf: einen länglichen Griff und zwei Befestigungsabschnitte.
34
Merkmale eines Patentanspruchs sind grundsätzlich funktional auszulegen, soweit die Patentschrift kein räumlich-körperliches Verständnis gebietet (vgl. BGH GRUR 2016, 921 Rn. 29 ff. mwN – Pemetrexed; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 15. Auflage, 2023, A71; Werner in: Busse/Keukenschrijver, PatG, 9. Auflage, 2020, § 14 Rn. 16).
35
aa) „Griff“ ist hiernach der Abschnitt des Verriegelungselements, den der Nutzer bestimmungsgemäß greift. Dieser als Griff bezeichnete Bereich ist räumlich-körperlich länglich, also länger als breit, ausgebildet, wobei der Anspruch die Orientierung des Griffs oder die Richtung seines Verlaufs nicht vorgibt.
36
(0016) enthält keine Definition des Begriffs Griff, weil dort zwei Eigenschaften („länglich erstrecken“ und „quer“) angeführt werden, von denen allein „länglich“ Gegenstand des Anspruchs (geworden) ist. Ebenso ist mangels einer entsprechenden Beschreibung das einschränkende Verständnis der Beklagten nicht geboten, wonach länglich bedeute, der Griff müsse quer liegen, weil möglichst viele Finger des Nutzers beim Bedienen des Verriegelungselements angebracht werden sollten. Auf diese Funktion, möglichst viele Finger auf dem Griff anzubringen, zielt der Gegenstand des Klagepatents erkenntlich nicht ab. Sie ergibt sich entgegen der Deutung der Beklagten ebenfalls nicht aus 0016.. Stattdessen zeigt auch der zitierte Stand der Technik Vorrichtungen, bei denen der Verschluss über die Breite des Gehäuses (also quer) angeordnet ist (Anlagen … 9/10) und aus der Klagepatentschrift ergibt sich nicht, dass sich ihr Gegenstand gerade hiervon abgrenzen möchte (vgl. BGH GRUR 2019, 491 – Scheinwerferbelüftungssystem; OLG Düsseldorf GRUR-RS 2021, 38072 – Interkardiale Pumpvorrichtung; BGH GRUR 2021, 945 – Schnellwechseldorn; BGH GRUR 2022, 1129 – Verbundelement und BGH GRUR 2022, 1731 – Brenngutkühlung).
37
bb) „Befestigungsabschnitt“ ist der Bereich des Verriegelungselements, der der patentgemäßen Befestigung, also dem bestimmungsgemäßen Halten, der beiden Gehäuseteile (Steckverbinder) aneinander durch Verriegeln dient.
38
cc) Ob dieselbe Stelle des Verriegelungselements gleichzeitig Griff und Befestigungsabschnitt sein kann, lässt der Anspruch mangels anderer Vorgaben offen. Bei der hier gebotenen funktionalen Auslegung ist dies jedenfalls nicht ausgeschlossen, sondern durchaus erlaubt.
39
Zwar wird gemäß Merkmal 1.2.1 vorgegeben, dass die zwei Befestigungsabschnitte jeweils mit dem Griff verbunden sind. Insofern ist entgegen der Auffassung der Beklagten aber keine abschließende räumlich-körperliche Aufteilung einzelner Abschnitte des Verriegelungselements entweder als Griff oder als Befestigungsabschnitt vorgegeben. Zwar müssen Griff und Befestigungsabschnitte als solche funktional identifizierbar sein. Dass sie sich aber an einzelnen Stellen überlappen können, wird durch den Anspruch nicht untersagt.
40
Das von den Beklagten für ihr Verständnis herangezogene Ausführungsbeispiel aus 0016. beschränkt den Anspruch nicht (vgl. BGH GRUR 2004, 1023, 1024 – bodenseitige Vereinzelungsanordnung). Mangels Vorgabe einer Orientierung des länglichen Griffs können gleichfalls andere als die in Figuren 1 und 2 gezeigten Ausführungsbeispiele anspruchsgemäß sein. Auf die dort gezeigten und beschriebenen Beispiele ist der Anspruch jedenfalls nicht beschränkt.
41
b) Nach Merkmalsgruppe 2 weisen die Befestigungsabschnitte jeweils ein erstes und ein zweites Stegelement auf. Beide Stegelemente sind V-förmig zueinander angeordnet und weisen jeweils einen freien Endabschnitt auf. Das Teilmerkmal V-förmig ist primär technischfunktional zu verstehen und meint nicht räumlich-körperlich ein exakt geschriebenes „V“.
42
aa) Das Merkmal hat den Sinngehalt, dass die beiden Stegelemente vom Bereich der gemeinsamen Befestigung mit dem Griff zum davon abgewandten Bereich einen immer größeren Abstand bilden. Damit wird eine Aufweitung erreicht, die dazu führt, das dritte Stegelement dazwischen anordnen zu können.
43
Die V-förmige Anordnung dient also dazu, zwischen dem ersten und dem zweiten Stegelement Platz für das dritte Stegelement zu schaffen, so dass die drei Stegelemente die patentgemäße Durchgangsöffnung bilden und so (in Abgrenzung zur flächigen Ausbildung) dem Befestigungsabschnitt insgesamt eine gewisse Elastizität verleihen können, vgl. 0008..
44
bb) Wie die Stegelemente zur Erfüllung dieser technischen Funktion konkret verlaufen, wird daher allein insofern vorgegeben, dass, wenn man eine Schablone des Buchstabens „V“ auf den Verlauf der Stege legen würde, sich dieser als V-förmig zeigen muss. Zwar enthält das Merkmal V-förmig eine gewisse Festlegung auf ein bestimmtes Symbol. Diese hat aber den oben genannten technischen Zweck. V-förmig erfasst, wie in den Ausführungsbeispielen der Klagepatentschrift gezeigt, eine dem Buchstaben „V“ nachgebildete Form. Hierauf ist der Sinngehalt des Merkmals aber nicht beschränkt und die Anforderungen, die die Beklagten dem Merkmal V-förmig zuschreiben möchten, engen den maßgeblichen technischen Sinngehalt zu weit ein:
45
So bedarf es nicht zwei überwiegend gerade verlaufender Schenkel, weil lediglich in dem den Anspruch nicht beschränkenden Ausführungsbeispiel das erste und zweite Stegelement vorzugsweise im Wesentlichen gerade ausgebildet ist. Ebenso kommt es nicht auf einen gemeinsamen Schnittpunkt des ersten und des zweiten Stegelements an. Beide brauchen sich tatsächlich nicht zu schneiden. Dieses Verständnis folgt auch aus den Figuren 1 und 2 der Klagepatentschrift, die patentgemäße Ausführungen zeigen. Seiner Funktion entsprechend ist es ebenfalls unerheblich, wenn die V-förmig verlaufenden Stegelemente zwischen ihrer Verbindung am Griff und dem dritten Stegelement an einer Stelle um 90° umgebogen sind. Es gibt keine Festlegung auf ein rein zweidimensionales „V“. Vielmehr sind die Stege als Teil der Gesamtvorrichtung ebenfalls dreidimensional und entgegen der Annahme der Beklagten ist eine Beschränkung auf eine 2D-Betrachtung zur Beurteilung der V-Form nicht geboten.
46
cc) Die Entscheidung (BGH, Urt. v. 13.06.2023 – X ZR 51/21 = GRUR 2023, 1259 – Schlossgehäuse) gibt nichts anderes vor:
47
Zwar hat der Bundesgerichtshof zum Merkmal Omegaförmig entschieden, dass die dort so beanspruchte Klemmausnehmung gegeben sei, wenn sie eine dem griechischen Großbuchstaben Omega (Ω) nachgebildete Form hat (BGH aaO Rn. 27 – Schlossgehäuse). Sie muss also eine geschlossene, runde Oberseite sowie zwei ebenfalls runde Seitenbereiche aufweisen und an der Unterseite muss eine Engstelle vorhanden sein, die sich im weiteren Verlauf wieder öffnet (BGH aaO Rn. 26 – Schlossgehäuse). Bei seiner Auslegung hat der Bundesgerichtshof aber entscheidend beachtet, was die technische Funktion des Merkmals im konkreten Zusammenhang vorgibt (vgl. BGH aaO Rn. 31 – Schlossgehäuse).
48
dd) Wenn die Beklagten in der mündlichen Verhandlung am 19.07.2023 dem Merkmal Vförmig eine weitere Funktion, nämlich eine gleichförmige/gleichmäßige Verteilung der Spannung, zugesprochen haben, sie hierzu auf [0008 Sp. 2 Z. 15 bis 36 und Sp. 2 Z. 28 bis 36] abstellen und auf die Verteilung der Biegespannung bei einem einseitig eingespannten Stab verweisen, ändert sich nichts an der Auslegung, weil patentgemäß nicht die V-förmige Ausgestaltung für die gleichmäßige Kraftverteilung verantwortlich ist, sondern sich die gewünschte Kraftverteilung und Elastizität (erst) aus der weiteren Anordnung des bogenförmig gekrümmten dritten Stegelements zum ersten und zweiten Stegelement ergeben, wodurch die Durchgangsöffnung ausgebildet und hierdurch gleichzeitig Elastizität und hohe dauerhafte Formstabilität erreicht werden, [0008 Sp. 2 Z. 57/58 bis Sp. 3 Z. 3].
49
c) Nach Merkmal 3.2 wird die Durchgangsöffnung der Befestigungsabschnitte (Merkmal 3.1) durch das erste, zweite und dritte Stegelement begrenzt.
50
Das Verständnis der Beklagten, dass die Durchgangsöffnung allein durch die drei Stegelemente begrenzt sein müsse, also der Griff an der Begrenzung der Durchgangsöffnung nicht beteiligt sein dürfe, folgt weder aus dem Anspruch noch aus dem Sinn. Wäre eine abschließende Aufzählung der Begrenzungen gewollt gewesen, wäre z. B. am Anfang des Merkmals 3.2 die Aufnahme der Wörter „nur“, „lediglich“ oder „allein“ in den Wortlaut des Anspruchs zu erwarten gewesen. Aus dem technischen Wortsinn ergibt sich dieses enge Verständnis der Beklagten ebenfalls nicht. Es fehlt vor allem an einem technischen Grund, warum die Durchgangsöffnung allein durch die drei Stegelemente ohne Beteiligung des Griffs begrenzt sein muss. Hierzu wird nichts vorgegeben oder ersichtlich. Stattdessen verstößt das Verständnis der Beklagten gegen bekannte Auslegungsgrundsätze. So zeigen die Figuren 1 und 2, dass an der Begrenzung der Durchgangsöffnung Teile des Griffs mit einbezogen sind.
51
Etwas anderes folgt entgegen der Annahme der Beklagten auch nicht aus [0008 Sp. 2 Z. 26 bis 33]. Zwar wird der Griff dort nicht genannt und es geht im folgenden Satz [0008 Sp. 2 Z. 33 bis 36] um den gemeinsamen Befestigungspunkt an dem Griff. Betroffen ist hier aber lediglich ein Ausführungsbeispiel („vorzugsweise“, [0008 Sp. 2 Z. 29/30]).
52
d) Nach Merkmal 5 weist das dritte Stegelement eine bogenförmige Krümmung auf.
53
Nach dem Wortsinn definiert es das dritte Stegelement hinsichtlich der Krümmung nicht abschließend „limitiert“ auf diese eine Krümmung, sondern nur insofern, dass es eine bogenförmige Krümmung aufweist. Ob es daneben anders verlaufende Abschnitte geben kann, ist durch den Wortsinn des Merkmals jedenfalls dann nicht ausgeschlossen, wenn die durch die bogenförmige Krümmung beabsichtigte Federwirkung durch die anders verlaufenden Abschnitte nicht aufgehoben wird. Daher kann ein insgesamt bogenförmiges Stegelement unterschiedlich gekrümmte Abschnitte aufweisen und die Krümmung des dritten Stegelements braucht ebenfalls nicht zwingend in eine Richtung zu verlaufen, solange die Federwirkung erzielt werden kann.
54
e) Nach Merkmal 6 ist das dritte Stegelement mit dem freien Endabschnitt des ersten und mit dem freien Endabschnitt des zweiten Stegelements verbunden, wobei sich das dritte Stegelement unterbrechungsfrei zwischen dem freien Endabschnitt des ersten und des zweiten Stegelements erstreckt.
55
Mit diesem Merkmal wird eine einteilige, nicht unterbrochene Erstreckung des dritten Stegelements zwischen dem freien Endabschnitt des ersten und des zweiten Stegelements beansprucht. Der freie Endabschnitt ist hierbei nicht als der Endpunkt des jeweiligen Stegs zu verstehen, sondern das Merkmal ist funktional zu betrachten. Der freie Endabschnitt dient anspruchsgemäß dem Befestigen des ersten Gehäuseteils mit dem zweiten Gehäuseteil über jeweils ausgebildete Lagerzapfen (vgl. Merkmal 2.2). Der freie Endabschnitt muss dann einen solchen Lagerzapfen umschließen oder zumindest um- bzw. ergreifen können, um so die gewollte Befestigung der beiden Teile zu erreichen.
56
II. Die Beklagten benutzen den Gegenstand des Klagepatents in der geltend gemachten Fassung von Anspruch 1 und Anspruch 5 unmittelbar wortsinngemäß, § 9 Satz 2 Nr. 1 PatG. Die angegriffene Ausführungsform verwirklicht sämtliche Merkmale der Klagepatentansprüche. Es ist hierbei unerheblich, ob die einzelnen Merkmale anhand des Leserasters der Klägerin oder der Beklagten zugeordnet werden. Ob die hilfsweise geltend gemachte äquivalente Patentverletzung vorliegt, braucht daher nicht entschieden zu werden.
57
1. Die Merkmale von Patentanspruch 1 in der beschränkten Fassung werden durch die angegriffene Ausführungsform (den …) verwirklicht.
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a) Die Ausgestaltung der angegriffenen Ausführungsform ist zwischen den Parteien zu Recht nicht streitig.
59
Die Parteien ordnen allein die Merkmale des Patentanspruchs unterschiedlich zu. Die klägerische Zuordnung kann anhand der farbigen Einblendungen, die von den Beklagten stammen, im Wesentlichen wie folgt dargestellt werden:
 
während die Zuordnung der Beklagten dann wie folgt erscheint:
 
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b) Eine Verletzung der Merkmalsgruppe 1 liegt vor.
61
Insbesondere weist die angegriffene Ausführungsform einen länglichen Griff auf und dies unabhängig davon, ob die Zuordnung der Klägerin oder der Beklagten zugrunde gelegt wird. Da es nach der Auslegung der Kammer nicht auf eine Orientierung des länglichen Griffs ankommt, ist dieses Merkmal verwirklicht.
62
Zu Recht steht zwischen den Parteien eine Patentbenutzung der übrigen Merkmale der Merkmalsgruppe 1 nicht im Streit.
63
b) Sämtliche Merkmale der Merkmalsgruppe 2 sind ebenfalls verwirklicht.
64
Die ersten und zweiten Stegelemente der angegriffenen Ausführungsform sind angesichts der Auslegung der Kammer V-förmig zueinander angeordnet. Hier ist es ebenfalls unerheblich, ob die Zuordnung der Klägerin oder der Beklagten zugrunde gelegt wird. In beiden Fällen sind dementsprechend das erste und das zweite Stegelement V-förmig zueinander angeordnet. Auch wenn beide nicht den Buchstaben „V“ darstellen, verlaufen sie entsprechend dem gebotenen Verständnis des Merkmals V-förmig und bilden insofern einen Zwischenraum, um das dritte Stegelement aufnehmen zu können. Eine Schablone des Buchstabens „V“ auf die Stegelemente gelegt, zeigt die V-Form. Auf den Vortrag der Beklagten zu FEM-Analysen kommt es daher nicht mehr entscheidungserheblich an.
65
c) Die Merkmalsgruppe 3 wird durch die angegriffene Ausführungsform ebenfalls verwirklicht. Besonders Merkmal 3.2 ist erfüllt. Auf eine Begrenzung der Durchgangsöffnung allein durch die drei Stegelemente (also ohne Beteiligung des Griffs) kommt es nach Auslegung der Kammer nicht an.
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d) Die Verwirklichung sämtlicher Merkmale der Merkmalsgruppe 4 ist zwischen den Parteien zu Recht nicht umstritten.
67
e) Merkmalsgruppe 5 ist ebenfalls verwirklicht.
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Das dritte Stegelement der angegriffenen Ausführungsform ist insgesamt bogenförmig gekrümmt und weist zwei unterschiedliche Krümmungsrichtungen auf. Nach der Auslegung der Kammer erfüllt diese Ausgestaltung die Voraussetzungen des Merkmals. Dass die Krümmung in zwei Richtungen verläuft, ist nicht schädlich. Die beabsichtigte Federwirkung wird durch diese Ausgestaltung nicht aufgehoben. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass sich bei der angegriffenen Ausführungsform das dritte Stegelement verformt. Auch wenn die Parteien um das Ausmaß der Verformung sowie um den Zeitpunkt der Verformung (im verriegelten Zustand oder beim Verriegeln) streiten, kommt es hierauf nicht an, weil das Klagepatent insofern keine Vorgaben macht.
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f) Schließlich zeigt die angegriffene Ausführungsform die Merkmale der Merkmalsgruppe 6.
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Das dritte Stegelement der angegriffenen Ausführungsform ist mit dem freien Endabschnitt des ersten Stegelements und mit dem freien Endabschnitt des zweiten Stegelements verbunden, wobei der freie Endabschnitt nach Auslegung der Kammer nicht mit dem Endpunkt des Stegs gleichgesetzt werden darf. Das dritte Stegelement erstreckt sich dann ebenfalls unterbrechungsfrei zwischen dem freien Endabschnitt des ersten Stegelements und dem freien Endabschnitt des zweiten Stegelements.
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2. Die Merkmale von Patentanspruch 5 werden durch die angegriffene Ausführungsform (den … der Beklagten) dann ebenfalls verwirklicht.
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III. Die Klägerin ist aktivlegitimiert, was zwischen den Parteien zu Recht nicht im Streit steht.
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IV. Die Beklagten sind unstreitig für die jeweils tenorierten Handlungen passivlegitimiert.
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V. Damit stehen der Klägerin die geltend gemachten Ansprüche wie tenoriert zu.
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1. Der Anspruch auf Unterlassung folgt aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ, § 139 Abs. 1 PatG. Die Wiederholungsgefahr wird durch die rechtswidrigen Benutzungshandlungen indiziert.
76
2. Der Anspruch auf Auskunft und Rechnungslegung folgt aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ, § 140b Abs. 1, Abs. 3 PatG, §§ 242, 259 BGB. Diese sind Hilfsansprüche zu den, dem Grunde nach gegebenen, Ansprüchen der Klägerin auf Entschädigung und Schadensersatz.
77
Der Anspruch auf Auskunft über die Herkunft und den Vertriebsweg der angegriffenen Ausführungsform ergibt sich aufgrund der unberechtigten Benutzung des Erfindungsgegenstandes unmittelbar aus § 140b Abs. 1 PatG i.V. mit Art. 64 Abs. 1 EPÜ, der Umfang der Auskunftspflicht aus § 140b Abs. 3 PatG i.V. mit Art. 64 Abs. 1 EPÜ.
78
Die weitergehende Auskunftspflicht und die Verpflichtung zur Rechnungslegung folgen aus §§ 242, 259 BGB i.V. mit Art. 64 Abs. 1 EPÜ, damit die Klägerin in die Lage versetzt wird, den ihr zustehenden Schadensersatzanspruch zu beziffern.
79
Die Klägerin ist im Übrigen auf die Angaben der Beklagten angewiesen, über die sie ohne eigenes Verschulden nicht verfügt. Die Beklagten werden durch die verlangten Auskünfte nicht unzumutbar belastet. Wegen der Akzessorietät zum Schadensersatzanspruch, der ein Verschulden voraussetzt, ist die (beantragte) Karenzzeit von einem Monat ab Patenterteilung zu berücksichtigen.
80
Auskunft und Rechnung sind in elektronischer Form zu erteilen bzw. zu legen (vgl. LG München I, Urt. v. 12.11.2021 – 21 O 10885/16, GRUR-RS 2021, 40241).
81
Der Wirtschaftsprüfervorbehalt ist wie beantragt zu gewähren.
82
3. Da die Beklagten die Verletzungshandlungen zumindest fahrlässig begangen haben, sind sie dem Grunde nach zum Schadensersatz verpflichtet, § 139 Abs. 2 PatG i.V. mit Art. 64 Abs. 1 EPÜ.
83
Bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätten die Beklagten spätestens einen Monat nach Veröffentlichung der Erteilung des Klagepatents erkennen müssen, dass sie das Klagepatent verletzen.
84
Eine für die Feststellung der Schadensersatzpflicht ausreichende gewisse Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines Schadens ist wegen des bereits eingetretenen Schadens aufgrund der geschehenen Patentbenutzungen begründet.
85
4. Die Ansprüche gegen die Beklagten auf Vernichtung der Verletzungsformen und deren Rückruf ergeben sich im Umfang des Tenors aus § 140a Abs. 1 und 3 PatG i.V. mit Art. 64 Abs. 1 EPÜ.
86
Sofern die Klägerin hinsichtlich des Vernichtungsanspruchs in der Klage unter Ziffer VI. lediglich eine Feststellung beantragt hat, legt die Kammer dies als Antrag auf Verurteilung aus. Denn ein Feststellungsantrag ist einerseits unüblich und andererseits auch nicht von der Klägerin gewollt. Jedenfalls ergibt sich hierzu nichts aus der Klageschrift. Vielmehr werden Rückruf- und Vernichtungsanspruch gemeinsam in der Klagebegründung behandelt und der Rückruf ist auf Verurteilung gerichtet. Außerdem fehlen Ausführungen zu dem für den Feststellungsantrag erforderlichen Feststellungsinteresse, so dass die Kammer von einem redaktionellen Versehen ausgeht, das durch Auslegung/Umdeutung zu beheben ist.
87
5. Der Entschädigungsanspruch folgt aus Art. II § 1 Abs. 1 IntPatÜG.
88
Jedenfalls eine Benutzungshandlung hat vor dem Entstehen des Schadensersatzanspruchs (vgl. OLG Düsseldorf, Teilurt. v. 03.11.2022 – 2 U 58/22, GRUR-RR 2023, 101 – Elektrohydraulisches Pressgerät) stattgefunden. Dies ergibt sich aus der im Tatbestand des Urteils wiedergegebenen Werbung der Beklagten zu 3, in der als Datum der 12.03.2018 genannt ist.
89
6. In Ziffer VIII. hat die Kammer ein Schreibversehen der Klägerin im Tenor korrigiert und den „gebrauchsmusterverletzenden“ in einen „patentverletzenden“ Zustand umformuliert.
C.
90
Eine Aussetzung nach § 148 ZPO ist mit Blick auf die Nichtigkeitsklage der Beklagten zu 1 angesichts der Rechtsbestandsentscheidung des Patentgerichts nicht geboten.
91
I. Ist das Klagepatent mit einem Einspruch oder mit einer Patentnichtigkeitsklage angegriffen und erkennt das Verletzungsgericht auf Patentverletzung, spricht es grundsätzlich eine Verurteilung aus, wenn es eine Nichtigerklärung nicht für (überwiegend) wahrscheinlich hält. Anderenfalls hat es die Verhandlung des Rechtsstreits nach § 148 ZPO auszusetzen, bis jedenfalls erstinstanzlich über den Einspruch oder die Nichtigkeitsklage entschieden ist (vgl. BGH GRUR 2014, 1237, 1238 – Kurznachrichten; OLG Düsseldorf, GRUR-RS 2021, 37601 Rn. 76 – Schiebedach II).
92
Wird das Klagepatent in einem Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren bestätigt oder eine Fassung aufrechterhalten, die Gegenstand des Verletzungsverfahrens ist, so hat das Verletzungsgericht grundsätzlich die von der zuständigen Fachinstanz nach technisch sachkundiger Prüfung getroffene Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Klagepatents hinzunehmen. In Anbetracht des geltenden Trennungsprinzips und des vorgesehenen Instanzenzugs ist es dem Verletzungsgericht in dieser Situation grundsätzlich verwehrt, sich faktisch als eine Art „Rechtsmittelinstanz“ über die sachkundige Beurteilung im Nichtigkeitsverfahren hinweg- und seine eigene Einschätzung an deren Stelle zu setzen (vgl. OLG München, InstGE 3, 62 – Aussetzung bei Nichtigkeitsurteil II; OLG Düsseldorf, GRUR-RS 2021, 37601 Rn. 77 – Schiebedach II).
93
Eine Ausnahme hiervon ist lediglich dann geboten, wenn die Rechtsbestandsentscheidung evident unrichtig ist und diese Unrichtigkeit das selbst nicht fachkundig besetzte Verletzungsgericht verlässlich erkennen kann, weil ihm die auftretenden technischen Fragen in Anbetracht des Sachvortrags der Parteien zugänglich sind und von ihm auf der Grundlage ausreichender Erfahrung in der Beurteilung technischer und patentrechtlicher Sachverhalte abschließend beantwortet werden können (OLG Düsseldorf, GRUR-RS 2021, 37601 Rn. 78 – Schiebedach II; zum Verfügungsverfahren: OLG Düsseldorf GRUR-RR 2008, 329 – Olanzapin). Die durch die Entscheidung benachteiligte Partei muss darlegen, inwieweit die Entscheidung falsch ist (Diagnose) und warum der zur Entscheidung über den Rechtsbestand berufene Spruchkörper in zweiter Instanz anders entscheiden wird (Prognose), vgl. LG München I, GRUR-RS 2015, 07460 – Google Maps.
94
II. Nach diesen Maßstäben ist das Verfahren nicht auszusetzen. Die Entscheidung des Patentgerichts ist weder nachweisbar unrichtig noch evident unvertretbar. Jedenfalls übt die Kammer unter Beachtung der konkreten Umstände des Einzelfalls ihr Ermessen so aus, das Verfahren nicht auszusetzen.
95
1. Entgegen der Annahme der Beklagten nimmt der Inhalt der Veröffentlichung „ … "(Anlage … 6) den eingeschränkt geltend gemachten Gegenstand des Klagepatents nicht neuheitsschädlich vorweg.
96
Anders als die Beklagten meinen, hat das Patentgericht zu Recht die unmittelbare und eindeutige Offenbarung des Merkmals V-förmige Anordnung des ersten und zweiten Stegelements verneint. Diese ergibt sich insbesondere nicht aus den Abbildungen auf Seiten 31-09 und 31-10 dieser Entgegenhaltung. Jedenfalls ist es nicht unvertretbar, aus den von den Beklagten geltend gemachten und im Folgenden eingeblendeten Abbildungen eine T-Form und keine V-Form zu entnehmen:
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2. Ohne Fehler hat das Patentgericht zudem erkannt, dass der Gegenstand der europäischen Patentanmeldung …(Anlage … 8) nicht neuheitsschädlich ist.
98
Denn das dritte Stegelement ist bei der Begrenzung der Durchgangsöffnung nicht bogenförmig gekrümmt, sondern es sitzt dort zwischen dem ersten und zweiten Stegelement gerade. Die erfindungsgemäße Federwirkung ist jedenfalls dort nicht angelegt oder gezeigt.
99
Das ergibt sich besonders aus der folgenden Abbildung:
.
100
Außerdem handelt es sich um zitierten Stand der Technik, der bereits bei der Patenterteilung bekannt gewesen und gewürdigt worden ist. Jedenfalls ist die Beurteilung des Patentgerichts nicht evident unrichtig.
101
3. Der Gegenstand der deutschen Patentanmeldung … (Anlage D1) trifft die geltend gemachten Gegenstände des Klagepatents ebenfalls nicht neuheitsschädlich. Das Patentgericht hat zu Recht und jedenfalls nicht unvertretbar die bogenförmige Krümmung des dritten Stegelements verneint.
102
Entgegen der Auffassung der Beklagten ergibt sich diese nicht aus dem mit gelber Farbe kenntlich gemachten Teil der im Folgenden eingeblendeten Vorrichtung:
.
103
Nicht das dritte Stegelement weist dort die Krümmung auf, sondern das gezeigte Langloch. Die erfindungsgemäße Federwirkung ergibt sich hieraus jedenfalls nicht.
104
4. Auch die übrigen Entgegenhaltungen und Argumente der Beklagten führen nicht zur Aussetzung des Rechtsstreits.
D.
105
I. Die Beklagten haben als unterlegene Partei die Kosten zu tragen, § 91 ZPO.
106
II. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO.
107
Die tenorierte Festsetzung von Teilsicherheiten entspricht gängiger Übung der Verletzungskammern am Landgericht München I und orientiert sich hier maßgeblich an den Teilstreitwerten wie von der Klägerin angegeben. Danach entfallen von den 500.000 € für den Streitwert insgesamt 400.000 € auf die Unterlassung, wobei je 2/5 für die Beklagten zu 1 und zu 2 anzusetzen sind. Das restliche 1/5 entfällt auf die Beklagte zu 3.
108
Die verbleibenden 100.000 € verteilt die Kammer hälftig auf den Ausspruch zur Auskunft und Rechnungslegung sowie auf den Ausspruch zu Vernichtung und Rückruf, so dass auf Auskunft und Rechnungslegung gemeinsam 50.000 € entfallen. Die übrigen 50.000 € verteilt die Kammer nach Köpfen zu je 25.000 € auf Vernichtung und Rückruf gegen die Beklagte zu 1 und zu 2, wobei eine einheitliche Sicherheit für Unterlassung, Rückruf und Vernichtung zu bilden ist.