Inhalt

OLG München, Urteil v. 21.12.2023 – 29 U 4088/22
Titel:

- Für ein gesundes Immunsystem -

Gesundheitsbezogene Angaben über die Wirkungen eines Nahrungsergänzungsmittels auf das Immunsystem 

Normenketten:
HCVO Art. 2 Abs. 2 Nr. 5, Art. 10 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 lit. a), Abs. 3, Art. 14
VO (EU) Nr. 432/2012 Art. 1 Abs. 1
EG RL 2002/46/
UWG § 8 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2, § 3 Abs. 1, § 3a
Leitsätze:
1. Die Funktion des körpereigenen Immunsystems gehört zum Gesundheitsbegriff der HCVO. Hiervon geht der Unionsgesetzgeber selbst in der VO (EU) Nr. 432/2012 aus, indem er Angaben über die „normale Funktion des Immunsystems“ zu den gesundheitsbezogenen Angaben nach der HCVO rechnet.
2. Ob eine verwendete nicht wortlautidentische Angabe mit einem nach der VO (EU) 432/2012 zugelassenen Claim gleichbedeutend und inhaltlich übereinstimmend ist, richtet sich wegen des Erwägungsgrunds 9 der VO (EU) 432/2012 nach ihrem Zweck, dem Verbraucher beim Verständnis des zugelassenen Claims zu helfen.
3. Bei einem Nahrungsergänzungsmittel mit den Vitaminen C, D und B6 sowie Zink sind die verwendeten Begriffe „gesundes Immunsystem“ oder „gesunde Immunfunktion“ nicht gleichbedeutend und inhaltlich übereinstimmend mit dem Begriff „normales Immunsystem“ im Anhang der VO (EU) 432/2012. Nach dem Verständnis des Durchschnittsverbrauchers deutet das geänderte Adjektiv „gesund“ gegenüber „normal“ nämlich darauf hin, dass das Nahrungsergänzungsmittel auch dann eine Funktion hat, wenn der Verzehrende nicht gesund ist.
4. Da es auf das Verbraucherverständnis ankommt, ist unerheblich, dass sich Nahrungsergänzungsmittel nach der RL 2002/46/EG definitionsgemäß nur an Gesunde richten. Abgrenzungs- und Definitionsfragen im europäischen Sekundärrecht, dessen Rechtsinstrumente und gewählte Kategorien sind dem Durchschnittsverbraucher nämlich ebenso wenig bekannt wie deren Interpretation durch die EU-Behörde EFSA.
Schlagwort:
gesundheitsbezogene Angaben
Vorinstanz:
LG München I, Endurteil vom 23.02.2022 – 37 O 9874/21
Fundstellen:
WRP 2024, 620
LSK 2023, 45471
GRUR-RS 2023, 45471

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 23.02.2022, Az. 37 O 9874/21, wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Dieses Urteil und das Urteil des Landgerichts sind vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung aus Ziffer 1. a), b) und c) des landgerichtlichen Urteils durch Sicherheitsleistung in Höhe von jeweils € 10.000,00 sowie im Übrigen durch Sicherheitsleistung in Höhe von 115% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe bzw. in Höhe von 115% des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Parteien streiten um Unterlassungsansprüche in Bezug auf die Health-Claims-Verordnung (HCVO).
2
Der in die Liste der qualifizierten Wirtschaftsverbände eingetragene Kläger ist die Z. e.V. Die Beklagte ist eine deutsche Tochtergesellschaft eines britischen Pharmaunternehmens und vertreibt unter anderem Nahrungsergänzungsmittel.
3
Im Frühjahr 2021 bewarb die Beklagte ihr freiverkäufliches Produkt „…“, das unter anderem die Vitamine C, D und B6 sowie Zink enthält, mit den aus dem Tenor des landgerichtlichen Urteils ersichtlichen Aussagen.
4
Der Kläger ist der Auffassung, die Aussagen der Beklagten verstießen als gesundheitsbezogene Angaben gegen die HCVO, da das Produkt nur mit der Aussage beworben werden dürfe, dass seine Inhaltsstoffe „zu einer normalen Funktion des Immunsystems beitragen.“ Demgegenüber erweckten die tatsächlich verwendeten Aussagen bei den Verbrauchern den Eindruck, das Produkt setze ein inaktives Immunsystem erst in Gang, so dass damit eine Immunschwäche überwunden und gleichsam im Wege einer Heilung eine gesunde Immunabwehr herbeigeführt werde.
5
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,
I. Der Beklagten wird verboten, im geschäftlichen Verkehr für das Produkt „…“ mit den folgenden Angaben zu werben:
a) „… – Aktivieren Sie jetzt Ihre Abwehrkräfte!“
und/oder
„… aktivieren Sie Ihre Abwehrkräfte mit …“
und/oder
b) „… einer Extraportion Zink, dem starken Partner für eine gesunde Immunfunktion.“
und/oder
„… Vitamin C, D und B6, wichtigen Vitaminen, die ein gesundes Immunsystem unterstützen.“
und/oder
„… – wenn … Sie eine Extraportion an Vitamin C, D, B6 und Zink möchten – für ein gesundes Immunsystem“
und/oder
„[*] Vitamin C, D, B6 und Zink unterstützen ein gesundes Immunsystem.“, wenn dies geschieht wie nachstehend eingeblendet:
(…) und/oder
c) „Mit Vitamin C und D zur Stärkung Ihrer Abwehrkräfte“, wenn dies geschieht wie in dem YT-Video „… Oktober 2020“
II. Der Beklagten wird für jeden Verstoß gegen die Unterlassungsverpflichtungen gem. oben I. ein Ordnungsgeld von bis zu 250.000,- €, ersatzweise Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Wiederholungsfall bis zu zwei Jahren (Haft zu vollziehen am jeweiligen Geschäftsführer) angedroht.
III. Die Beklagte wird verurteilt an die Klägerin 374,50 € zzgl. 5% Zinsen über dem Basiszinssatz seit Klagezustellung zu bezahlen.
6
Die Beklagte hat beantragt,
Klageabweisung.
7
Die Beklagte ist der Auffassung, die für ihr Produkt verwendeten Werbeaussagen seien insgesamt zulässig.
8
Soweit die Beklagte auf eine „Aktivierung der Abwehrkräfte“ hinweise, beziehe sich das auf die Darreichungsform des Produkts in einer Flasche, bei der durch die Drehung der Verschlusskappe die Inhaltsstoffe vermischt würden, so dass es sich praktisch um eine Aktivierung eines verzehrfertigen Produktes handle. Für den angesprochenen Verkehr sei ohne weiteres erkennbar, dass sich die „Aktivierung“ im Gesamtzusammenhang der Werbeaussage auf diesen Vorgang beziehe.
9
Dass die Beklagte auf ein „gesundes Immunsystem“ Bezug nehme, sei deshalb zulässig, weil die Begriffe „gesund“ und „normal“ bei Nahrungsergänzungsmitteln, die ausschließlich für gesunde Menschen bestimmt seien, gleichzusetzen seien. Da eine Aussage im Hinblick auf ein „normales Immunsystem“ europarechtlich zulässig sei, gelte das auch für die Aussagen der Beklagten zu einem „gesunden Immunsystem“.
10
Soweit in den angegriffenen Aussagen von einer „Stärkung Ihrer Abwehrkräfte“ die Rede sei, sei dies im Hinblick auf ein Nahrungsergänzungsmittel ebenfalls nicht zu beanstanden. Die Aufnahme von Nahrungsmitteln und damit auch von Nahrungsergänzungsmitteln führe nämlich stets zu einer „Stärkung“.
11
Mit Endurteil vom 23.02.2022 (Bl. 45/57 d.A.), auf dessen tatsächliche Feststellungen ergänzend Bezug genommen wird, hat das Landgericht der Klage wie folgt stattgegeben:
1. Die Beklagte wird verurteilt, es bei Meidung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 EUR – ersatzweise Ordnungshaft – oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Wiederholungsfalle Ordnungshaft bis zu insgesamt 2 Jahren, wobei die Ordnungshaft an ihrem jeweiligen Geschäftsführer zu vollziehen ist, zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr für das Produkt „…“ mit folgenden Angaben zu werben:
a) „… – Aktivieren Sie jetzt Ihre Abwehrkräfte!“
und/oder
„… aktivieren Sie Ihre Abwehrkräfte mit …“
und/oder
b) „… einer Extraportion Zink, dem starken Partner für eine gesunde Immunfunktion.“
und/oder
„… Vitamin C, D und B6, wichtigen Vitaminen, die ein gesundes Immunsystem unterstützen.“
und/oder
„… – wenn … Sie eine Extraportion an Vitamin C, D, B6 und Zink möchten – für ein gesundes Immunsystem“
und/oder
„[*] Vitamin C, D, B6 und Zink unterstützen ein gesundes Immunsystem.“, wenn dies geschieht wie nachstehend eingeblendet:
<Einblendung wie in den Anträgen>
und/oder
c) „Mit Vitamin C und D zur Stärkung Ihrer Abwehrkräfte“, wenn dies geschieht wie in dem YT-Video „… Oktober 2020“
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 374,50 € zzgl. 5% Zinsen über dem Basiszinssatz seit 12.08.2021 zu bezahlen.
12
Die Beklagte greift das Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens in vollem Umfang mit ihrer Berufung an.
13
Die Beklagte beantragt,
das am 23.02.2022 verkündete und am 03.07.2022 zugestellte Urteil des Landgerichts München I zum Az. 37 O 9874/21 abzuändern und die Klage abzuweisen.
14
Der Kläger beantragt,
Die Berufung gegen das landgerichtliche Urteil, Az.: 37 O 9874/21 wird zurückgewiesen.
15
Der Kläger verteidigt das Urteil ebenfalls unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vortrags.
16
Zur Ergänzung wird auf die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 21.12.2023 (Bl. 121/124 d.A.) Bezug genommen.
II.
17
1. Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.
18
Dem Kläger steht gegen die Beklagte im Hinblick auf die angegriffenen Werbeaussagen der vom Landgericht zuerkannte Unterlassungsanspruch aus §§ 8 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2; 3 Abs. 1; 3a UWG i.V.m. Art. 10 Abs. 1 HCVO zu.
19
a) Art. 10 Abs. 1 HCVO stellt eine Marktverhaltensregelung im Sinne von § 3a UWG dar, deren Missachtung geeignet ist, den Wettbewerb zum Nachteil von Mitbewerbern und Verbrauchern spürbar zu beeinträchtigen (BGH GRUR 2016, 1200 Rn. 12 – Repair-Kapseln).
20
b) Bei den angegriffenen Werbeaussagen zum Produkt „…“ gemäß den Ziffern 1. a), b) und c) des landgerichtlichen Urteils handelt es sich um unzulässige gesundheitsbezogene Angaben im Sinne von Art. 10 Abs. 1 HCVO, da sie nicht in die Liste der zugelassenen Angaben gemäß den Art. 13 und 14 HCVO aufgenommen sind.
21
aa) Unter einer gesundheitsbezogenen Angabe ist nach Art. 2 Abs. 2 Nr. 5 HCVO jede Angabe zu verstehen, mit der erklärt, suggeriert oder auch nur mittelbar zum Ausdruck gebracht wird, dass ein Zusammenhang zwischen einer Lebensmittelkategorie, einem Lebensmittel oder einem seiner Bestandteile einerseits und der Gesundheit andererseits besteht. Die Frage, ob eine Aussage auf die Gesundheit im Sinne der HCVO abzielt, ist anhand der in Art. 13 Abs. 1 HCVO und Art. 14 HCVO aufgeführten Fallgruppen zu beurteilen (BGH GRUR 2016, 1200 Rn. 19 – RepairKapseln; GRUR 2014, 1013 Rn. 23 – Original Bach-Blüten; GRUR 2013, 958 Rn. 13 – Vitalpilze; GRUR 2011, 246 Rn. 9 – Gurktaler Kräuterlikör).
22
Das Bestehen eines solchen Zusammenhangs suggerieren die auf das konkrete Produkt „…“ bezogenen angegriffenen Werbeaussagen der Beklagten, da sie den Eindruck erwecken, der Verzehr des Produkts wirke sich auf das Immunsystem bzw. die Abwehrkräfte des Verbrauchers und damit auf seine Gesundheit aus. Unter den Gesundheitsbezug in Art. 13 Abs. 1 lit. a) HCVO fallen insbesondere das Wachstum, die Entwicklung und sämtliche sonstigen Körperfunktionen. Nach dieser allgemeinen und weitgefassten Umschreibung gehört auch die Funktion des körpereigenen Immunsystems zum Gesundheitsbegriff der HCVO. Hiervon geht der Unionsgesetzgeber selbst in der VO (EU) Nr. 432/2012 aus, indem er Angaben über die „normale Funktion des Immunsystems“ zu den gesundheitsbezogenen Angaben im Sinne der HCVO rechnet (vgl. OLG Hamm GRUR-RR 2023, 97 Rn. 38 – Volle Power für Ihr Immunsystem).
23
bb) Bei dem Produkt „…“ handelt es sich um ein Lebensmittel. Nach Art. 2 Abs. 1 lit. a) HCVO gelten für die Zwecke der HCVO die Begriffsbestimmungen der Artikel 2 und 3 Nr. 3, 8 und 18 der VO (EG) Nr. 178/2002 (Lebensmittel-Basis-VO). Nach Art. 2 Abs. 1 Lebensmittel-BasisVO sind Lebensmittel alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden. Das Produkt „…“ ist erwartungsgemäß dazu bestimmt, von Menschen aufgenommen zu werden, da es der Versorgung unter anderem mit den Vitaminen C, D und B6 sowie Zink dienen und hierzu verzehrt werden soll.
24
Dass es sich bei „…“ gleichzeitig um ein Nahrungsergänzungsmittel im Sinne von Art. 2 Abs. 1 lit. b) HCVO i.V.m. der RL 2002/46/EG (Nahrungsergänzungsmittel-RL) handelt, führt nicht aus dem Anwendungsbereich der Art. 2 Abs. 2 Nr. 5, 10 Abs. 1 HCVO heraus, da sich aus Art. 2 lit. a) der RL 2002/46/EG gerade ergibt, dass auch Nahrungsergänzungsmittel als Lebensmittel anzusehen sind (vgl. OLG Hamm GRUR-RS 2015, 19462 Rn. 35 – Repair-Kapseln). Hieran ändert sich nichts dadurch, dass das streitgegenständliche Produkt Vitamine enthält, da diese nach Art. 2 lit. b) i) der RL 2002/46/EG als Nährstoffe im Sinne der Definition der Nahrungsergänzungsmittel in Art. 2 lit. a) der RL 2002/46/EG gelten.
25
cc) Dass die Angaben der Beklagten nicht in die Liste der zugelassenen Angaben im Sinne von Art. 13 und 14 HCVO aufgenommen sind, ist unstreitig.
26
c) Soweit die Beklagte im Hinblick auf die Werbeaussagen gemäß Ziffer 1. b) des landgerichtlichen Urteils („gesunde Immunfunktion“, „gesundes Immunsystem“) argumentiert, diese seien aufgrund der VO (EU) 432/2012 zulässig, kann dem nicht gefolgt werden.
27
aa) Nach Art. 1 Abs. 1 VO (EU) 432/2012 i.V.m. deren Anhang und Art. 13 Abs. 3 HCVO ist unter den dort angeführten Bedingungen für die Verwendung bei den Nährstoffen Vitamin C, D und B6 sowie Zink jeweils die Angabe „… trägt zu einer normalen Funktion des Immunsystems bei“ zulässig. Grundsätzlich ist dabei eine Wortlautidentität der verwendeten Aussage mit dem zugelassenen Claim nicht zwingend erforderlich. Vielmehr dürfen auch damit gleichbedeutende, mithin inhaltlich übereinstimmende Angaben verwendet werden (BGH GRUR 2016, 412 Rn. 51 – Lernstark; OLG Bamberg BeckRS 2014, 6092 Rn. 119).
28
Maßstab dafür ist Erwägungsgrund 9 der VO (EU) 432/2012. Danach „soll mit der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 u.a. sichergestellt werden, dass gesundheitsbezogene Angaben wahrheitsgemäß, klar, verlässlich und für den Verbraucher hilfreich sind. Formulierung und Aufmachung der Angaben sind vor diesem Hintergrund zu bewerten. In den Fällen, in denen der Wortlaut einer Angabe aus Verbrauchersicht gleichbedeutend ist mit demjenigen einer zugelassenen gesundheitsbezogenen Angabe, weil damit auf den gleichen Zusammenhang zwischen einer Lebensmittelkategorie, einem Lebensmittel oder einem Lebensmittelbestandteil und einer bestimmten Wirkung auf die Gesundheit hingewiesen wird, sollte diese Angabe auch den Verwendungsbedingungen für die zugelassene gesundheitsbezogene Angabe unterliegen.“ Entscheidend ist somit, dass die Angaben für den Verbraucher inhaltlich die gleiche Bedeutung haben wie die entsprechende zugelassene Formulierung, was gemäß dem Zweck dieser Angabe zu beurteilen ist, dem Verbraucher dabei zu helfen, die Angabe zu verstehen (OLG Düsseldorf GRUR-RS 2016, 21228 Rn. 56 – Irreführende Bewerbung eines Nahrungsergänzungsmittels aus Ginkgo-Extrakt; Sosnitza/Meisterernst/Rathke/Hahn, Lebensmittelrecht, Werkstand: 186. EL März 2023, Art. 10 HCVO, Rn. 44 ff.).
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Bei der Frage, ob eine verwendete gesundheitsbezogene Angabe mit einer zugelassenen Angabe gleichbedeutend ist, ist ebenso wie bei der Prüfung, ob eine verwendete Angabe inhaltlich mit einer angemeldeten Angabe übereinstimmt, grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (BGH GRUR 2016, 412 Rn. 52 – Lernstark; GRUR 2014, 500 Rn. 29 – Praebiotik). Dafür sprechen neben dem Wortlaut und der Systematik von Art. 10 Abs. 1 HCVO, die Zulässigkeit der Angabe nur als Ausnahme vom Verbotstatbestand vorzusehen, auch der Zweck der Richtlinie, ein hohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten. Aus der systematischen Konzeption der Verordnung, wonach die Zulassung von gesundheitsbezogenen Angaben grundsätzlich die Aufnahme in eine Positivliste nach einer wissenschaftlichen Nachprüfung voraussetzt, ergibt sich ferner, dass dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit besondere Bedeutung zukommt. Damit stünde es nicht im Einklang, im Wege einer extensiven Anwendung von Art. 10 Abs. 1 HCVO die Verwendung von Angaben zu gestatten, die sich nicht eng mit der zugelassenen Angabe decken. Andererseits ist bei dieser Prüfung das berechtigte Interesse der Lebensmittelunternehmen zu berücksichtigen, den Wortlaut einer zugelassenen Angabe der Produktaufmachung und dem Verbraucherverständnis anpassen zu können, ohne für jede sprachlich abweichende Angabe einen eigenen Zulassungsantrag stellen zu müssen (BGH GRUR 2016, 412 Rn. 52 – Lernstark; OLG Düsseldorf GRURRS 2016, 21228 Rn. 57 – Irreführende Bewerbung eines Nahrungsergänzungsmittels aus Ginkgo-Extrakt).
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bb) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann die Wortlautabweichung, bei der der Begriff „normales Immunsystem“ durch die Begriffe „gesundes Immunsystem“ bzw. „gesunde Immunfunktion“ ersetzt wurde, nicht mehr als unter die jeweils zugelassenen Claims nach Art. 1 Abs. 1 VO (EU) 432/2012 i.V.m. deren Anhang und Art. 13 Abs. 3 HCVO fallend angesehen werden.
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Nach dem Verständnis des Durchschnittsverbrauchers deutet das geänderte Adjektiv „gesund“ gegenüber „normal“ darauf hin, dass dem Nahrungsergänzungsmittel auch dann eine Funktion zukommt, wenn der Ausgangszustand des Verzehrenden nicht als „gesund“ bezeichnet werden kann. Demgegenüber stellt der zugelassene Begriff mit der Verwendung von „normal“ klar, dass es ausschließlich um eine Funktionsunterstützung bei gesunden Verbrauchern mit normalem Immunsystem geht. Unter Berücksichtigung des strengen anzulegenden Maßstabs kann es nicht als vom Sinn und Zweck der VO (EU) 432/2012, wie er insbesondere in Erwägungsgrund 9 zum Ausdruck kommt, gedeckt angesehen werden, ein Nahrungsergänzungsmittel hierdurch aus Verbrauchersicht in die Nähe von Produkten zu rücken, die bei einem im Ausgangspunkt nicht oder nicht vollständig gesunden Anwender zum Einsatz kommen. Ein Zweck der veränderten Angabe, dem Durchschnittsverbraucher dabei zu helfen, die zugelassene Angabe zu verstehen, kann nicht im Ansatz erkannt werden, da sie vielmehr geeignet ist, ihn in seinem Verständnis bei der Abgrenzung eines Nahrungsergänzungsmittels von einem bei Nichtgesunden einzusetzenden Produkt zu verunsichern. Insoweit ist auch kein berechtigtes Interesse der Beklagten zu erkennen, den Wortlaut dem Verbraucherverständnis anpassen zu können, ohne einen neuen Claim anmelden zu müssen.
32
Nicht gefolgt werden kann der Beklagten auch in dem Argument, dass die Begriffe „normal“ und „gesund“ bei Nahrungsergänzungsmitteln als gleichbedeutend anzusehen seien, weil sich Nahrungsergänzungsmittel nach der RL 2002/46/EG per definitionem nur an gesunde Menschen richteten. Nach dem oben Gesagten ist für die Frage, ob Wortlautabweichungen von zugelassenen Claims möglich sind, das Verständnis des Durchschnittsverbrauchers maßgeblich, das im Hinblick auf den zugelassenen Claim unterstützt werden soll. Nicht entscheidend sind dagegen begriffliche Abgrenzungs- und Definitionsfragen im europäischen Sekundärrecht zu Lebensmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln, zumal dem Durchschnittsverbraucher die entsprechenden Rechtsinstrumente und deren gewählte Kategorien im Einzelnen ebenso wenig bekannt sind wie deren von der EU-Behörde EFSA vorgenommenen Interpretationen (vgl. Anlage BK 2).
33
d) Auch soweit die Beklagte im Hinblick auf die Werbeaussage gemäß Ziffer 1. c) des landgerichtlichen Urteils („zur Stärkung Ihrer Abwehrkräfte“) argumentiert, ein Lebensmittel und damit auch ein Nahrungsergänzungsmittel diene der Ernährung und führe deshalb immer zu einer „Stärkung“, vermag der Senat nicht zu erkennen, dass dies am Charakter der Aussage als gesundheitsbezogener Angabe etwas ändern würde.
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Nach dem Verständnis des Durchschnittsverbrauchers ist der Begriff der „Stärkung“ schon grammatikalisch auf den Begriff „Abwehrkräfte“ bezogen, zumal sich die Beklagte dazwischen des Possessivpronomens „Ihrer“ bedient. Infolgedessen nimmt er nicht an, sich durch das Produkt in ernährungs- oder gar kalorienbezogener Weise „stärken“ zu können, sondern versteht die Formulierung vielmehr dahin, dass bislang nicht hinreichend gestärkte Abwehrkräfte durch das Produkt eine Stärkung erfahren würden. Im Hinblick auf die von der Beklagten herangezogenen Normen des europäischen Sekundärrechts kann auf die obigen Ausführungen unter c) verwiesen werden.
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e) Schließlich greift auch die Rüge der Beklagten nicht durch, die Werbeaussage gemäß Ziffer 1. a) des landgerichtlichen Urteils („Aktivieren Sie jetzt Ihre Abwehrkräfte“ bzw. „aktivieren Sie Ihre Abwehrkräfte“) beziehe sich nach dem Verständnis des Durchschnittsverbrauchers auf das feilgebotene Trinkfläschchen und dessen Plastikkappe, durch deren Drehen die Inhaltsstoffe des Gesamtprodukts „…“ verzehrfertig vermischt, mithin „aktiviert“ würden.
36
Nach dem Verständnis des Durchschnittsverbrauchers ist das im Imperativ verwendete Verb „aktivieren“ auf seine Abwehrkräfte bezogen, nicht auf die Verpackung, das Gesamtprodukt, die Flasche, die Verschlusskappe oder deren Drehfunktion. Die Werbeaussage suggeriert infolgedessen, dass das Produkt einer Verwendung zugänglich ist, bei der die Abwehrkräfte in einem weniger aktiven oder gar inaktiven Ausgangszustand sind und durch das Produkt und dessen Verzehr eine Aktivierung erfahren. Allein die Tatsache, dass auf der Webseite der Beklagten das Verb „aktivieren“ an anderer Stelle im Zusammenhang mit der Verschlusskappe verwendet wird, nimmt den angegriffenen Aussagen nicht den eindeutigen grammatikalischen Bezug des Aktivierens zu den Abwehrkräften. Warum die Vorbereitung des verzehrfertigen Produkts mit dem Begriff „Aktivieren“ aus Sicht des Durchschnittsverbrauchers sprachlich visualisiert werden soll, wenn sich das Verb in der Werbeaussage auf die „Abwehrkräfte“ und nicht auf den Flaschendeckel bezieht, ist nicht nachvollziehbar.
37
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
38
3. Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO) und auch die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO liegen nicht vor. Eine Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht nicht, weil der Senat nicht als letztinstanzliches Gericht eines Mitgliedstaates entscheidet (vgl. EuGH EuZW 2009, 75 Rn. 76 – Cartesio; EuZW 2002, 476 Rn. 16 – Lyckeskog).