Inhalt

OLG München, Urteil v. 20.07.2023 – 29 U 680/22
Titel:

Werbung für ein Nahrungsergänzungsmittel zur Gewichtsabnahme

Normenketten:
UWG § 3, § 3a, § 8 Abs. 3 Nr. 2, § 15a Abs. 1
VO (EG) Nr. 1924/2006 Art. 10 Abs. 1, Abs. 2 lit. a und c, Art. 13 Abs. 3
VO (EU) 1169/2011 Art. 2 Abs. 2 lit. j
VO (EU) 432/2012 Art. 1 Abs. 1
Leitsätze:
1. Unter „Kennzeichnung“ fällt nach der maßgeblichen Begriffsbestimmung des Art. 2 Abs. 2 lit. j LMIV jegliche Angabe, die sich auf dieses Lebensmittel bezieht, ohne dass es auf eine räumliche Nähe zum Produkt ankommt, so dass es sich auch bei einer Werbeanzeige für ein Nahrungsergänzungsmittel zur Gewichtsreduktion um eine „Kennzeichnung“ iSv Art. 10 Abs. 2 lit a HCVO handelt und in der Werbeanzeige  die Pflichtinformation gem. Nach Art. 10 Abs. 2 lit. a HCVO enthalten sein muss. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die in einer Werbeanzeige für ein Nahrungsergänzungsmittel gemachte gesundheitsbezogene Angabe „Glucomannan trägt im Rahmen einer kalorienarmen Ernährung zu Gewichtsverlust bei“ ist nach Art. 10 Abs. 1 der sog. Health-Claims-VO i.V. Art. 1 Abs. 1 der VO (EU) 432/2012 nur unter der Bedingung bzw. mit der Beschränkung zugelassen, dass die in Spalte 4 im Anhang zu Art. 1 Abs. 1 der VO (EU) 432/2012 genannte Warnung "Warnung, dass bei Verbrauchern mit Schluckbeschwerden oder bei unzureichender Flüssigkeitszufuhr Erstickungsgefahr besteht - Empfehlung der Einnahme mit reichlich Wasser, damit Glucomannan in den Magen gelangt" angeführt wird. (Rn. 54) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagwort:
Health-Claim-VO
Vorinstanz:
LG München I, Endurteil vom 19.01.2022 – 3 HK O 4222/21
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe vom -- – I ZR 130/23
Fundstellen:
ZLR 2023, 852
LSK 2023, 35345
GRUR-RS 2023, 35345
GRUR-RR 2024, 221

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Endurteil des Landgerichts München I vom 19.01.2022, Az. 3 HK O 4222/21, wird zurückgewiesen.
II. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
III. Dieses Urteil und das Urteil des Landgerichts sind vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung in Ziffer I. 1. und 2. des landgerichtlichen Urteils durch Sicherheitsleistung iHv jeweils 17.500,00 € abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leistet. Im Übrigen kann die Beklagte die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung iHv 115% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit iHv 115% des zu vollstreckenden Betrags leistet.
IV. Die Revision zum Bundesgerichtshof wird zugelassen.

Entscheidungsgründe

A.
1
Der Kläger macht lauterkeitsrechtliche Unterlassungsansprüche geltend.
2
Der Kläger ist ein seit 1962 bestehender Wirtschaftsverband. Nach seiner Satzung (Anlage K 5) verfolgt er den Zweck, den unlauteren Wettbewerb in allen Erscheinungsformen im Zusammenwirken mit Behörden und Gerichten zu bekämpfen.
3
Die Beklagte vertreibt ua das Nahrungsergänzungsmittel „E. GLS Kapseln“, welches aus den Zutaten Konjak-Glucomannan, Hydroxypropylmethylcellulose (Kapselhülle), dem Farbstoff E 171 sowie aus Reisextrakt besteht. Sie bewarb dieses Produkt mit der ua im Heft 29 des Jahres 2020 der Zeitschrift „M.“ erschienen und nachfolgend eingeblendeten Anzeige (Anlage A):
 
4
Während auf der Verpackung des Produkts der Hinweis auf die Bedeutung einer abwechslungsreichen und ausgewogenen Ernährung und einer gesunden Lebensweise sowie der Hinweis, dass bei Personen mit Schluckbeschwerden und bei ungenügender Flüssigkeitszufuhr während der Einnahme Erstickungsgefahr besteht, aufgebracht sind (vgl. Anlage K 9, Blatt 2), fehlen sie in der Anzeige.
5
Der Kläger hat zu seinen Mitgliedern und deren wirtschaftlicher Tätigkeit vorgetragen. Er war der Ansicht, prozessführungsbefugt gem. § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG zu sein. Die geltend gemachten Unterlassungsansprüche folgten aus Art. 10 Abs. 2 lit. a u. c VO (EG) Nr. 1924/2006 [HealthClaims-VO, im Folgenden: HCVO] iVm dem Anhang zur VO (EU) Nr. 432/2012 [LebensmittelGesundheitsangaben-VO], weil die Beklagte das Produkt beworben habe, ohne die nach diesen Vorschriften vorgeschriebenen Hinweise bzw. Informationen wiederzugeben. Der Inhaltsstoff Glucomannan sei in der Spalte „Bedingungen und/oder Beschränkungen hinsichtlich der Verwendung des Lebensmittels und/oder zusätzliche Erklärungen oder Warnungen“ des Anhangs zur VO (EU) Nr. 432/2012 enthalten. Das Aufbringen auf dem Etikett bzw. der Umverpackung des beworbenen Produkts genüge nicht, weil sich Art. 10 Abs. 2 HCVO hierauf nicht beschränke, sondern der Begriff der Kennzeichnung gem. Art. 2 Abs. 2 lit. j VO (EU) 1169/2011 [Lebensmittelinformations-VO; im Folgenden: LMIV] ua alle Angaben umfasse, die das Lebensmittel begleiten oder sich darauf beziehen. Der Begriff sei insoweit weiter als der in Art. 2 Abs. 2 lit. i LMIV definierte Begriff des Etiketts. Es handele sich bei der Werbeanzeige daher um eine Kennzeichnung iSd Art. 10 Abs. 2 HCVO, die den Hinweis enthalten müsse.
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Der Kläger hat beantragt,
Die Beklagte wird verurteilt, es bei Meidung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 €, ersatzweise Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr zu Wettbewerbszwecken das Nahrungsergänzungsmittel „E. GLS Kapseln“ wie folgt zu bewerben und/oder bewerben zu lassen:
1. mit gesundheitsbezogenen Angaben, ohne einen Hinweis auf die Bedeutung einer abwechslungsreichen und ausgewogenen Ernährung und einer gesunden Lebensweise und/oder
2. mit gesundheitsbezogenen Angaben, ohne einen Hinweis, dass bei Personen mit Schluckbeschwerden und bei ungenügender Flüssigkeitszufuhr während der Einnahme Erstickungsgefahr besteht, wenn dies jeweils geschieht wie nachfolgend in Anlage A wiedergegeben.
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Die Beklagte hat beantragt,
Klageabweisung.
8
Die Beklagte war der Ansicht, der Kläger sei nicht prozessführungsbefugt. Er habe nicht substanziiert vorgetragen, dass ihn seine Mitgliedsverbände ernsthaft beauftragt hätten, deren Interessen wahrzunehmen. Soweit er Arzneimittelfirmen als Mitglieder nenne, stünden Arzneimittel nicht im Wettbewerb zu Nahrungsergänzungsmitteln. Die vorgelegte Mitgliederliste sei nicht aktuell. Der Kläger habe seine finanzielle Ausstattung nicht nachgewiesen und insbesondere weder eine Bilanz noch sonst überprüfbare Unterlagen vorgelegt. Die Beklagte habe auch nicht gegen die genannten Vorschriften verstoßen, weil die Hinweise in der Werbung nicht erforderlich seien. Es reiche aus, dass diese auf der Produktverpackung vorhanden seien. Dies folge auch aus der englischen und der französischen Fassung des Art. 10 Abs. 2 HCVO. Es könne zudem nicht sein, dass die Vorgaben für Nahrungsergänzungsmittel strenger seien als für frei verkäufliche Arzneimittel. Das Verfahren sei auszusetzen und die Auslegungsfrage dem EuGH vorzulegen.
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Mit Endurteil vom 19.01.2022, auf dessen tatsächliche Feststellungen ergänzend Bezug genommen wird, hat das Landgericht München I, Az. 3 HK O 4222/21, der Klage umfassend stattgegeben.
10
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung und verfolgt – unter Wiederholung und Vertiefung ihres Vorbringens aus dem ersten Rechtszug- den Antrag auf Klageabweisung unverändert fort.
11
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landgerichts München I vom 19. Januar 2022, Az.: 3 HK O 4222/21 zugestellt am 21. Januar 2022, wird abgeändert und die Klage vom 22. März 2021 abgewiesen.
12
Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil und beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
13
Im Übrigen wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 20.07.2023 und die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
B.
14
Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg. Das Landgericht hat den Unterlassungsanträgen zu Recht stattgegeben. Die Klage ist zulässig und begründet.
15
I. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist der Kläger gem. § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG zur gerichtlichen Geltendmachung der Unterlassungsansprüche gem. § 8 Abs. 1 UWG iVm § 10 Abs. 2 HCVO befugt.
16
1. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist im Streitfall noch § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG idF bis 01.12.2021 gem. § 15a Abs. 1 UWG anwendbar, weil die Klage am 09.06.2021, und damit vor dem Stichtag 01.09.2021 zugestellt worden ist (Postzustellungsurkunde, nach Bl. 24 dA). Für die Klagebefugnis bedarf es daher keiner Eintragung des Klägers in die Liste gem. § 8b UWG. Eine solche hat der Kläger gleichwohl zwischenzeitlich nachgewiesen (vgl. Anlage zum Schriftsatz vom 05.07.2023).
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2. Das Landgericht hat auch im Übrigen die Prozessführungsbefugnis des Klägers zu Recht bejaht.
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a) Nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG a.F. stehen die Ansprüche aus § 8 Abs. 1 UWG rechtsfähigen Verbänden zur Förderung gewerblicher oder selbständiger beruflicher Interessen zu, soweit ihnen eine erhebliche Zahl von Unternehmern angehört, die Waren oder Dienstleistungen gleicher oder verwandter Art auf demselben Markt vertreiben, wenn sie insbesondere nach ihrer personellen, sachlichen und finanziellen Ausstattung imstande sind, ihre satzungsmäßigen Aufgaben der Verfolgung gewerblicher oder selbständiger beruflicher Interessen tatsächlich wahrzunehmen und soweit die Zuwiderhandlung die Interessen ihrer Mitglieder berührt.
19
Die Vorschrift regelt neben der sachlich-rechtlichen Anspruchsberechtigung zugleich die prozessuale Klagebefugnis. Deren Voraussetzungen müssen daher nicht nur im Zeitpunkt der beanstandeten Wettbewerbshandlung bestanden haben; als Sachurteilsvoraussetzung sind sie darüber hinaus in jeder Lage des Verfahrens – und damit auch im Berufungsrechtszug – von Amts wegen zu prüfen, wobei sich das Gericht des Freibeweises bedienen kann (vgl. BGH GRUR 2020, 896 Rn. 32 – App-Zentrum; BGH GRUR 2018, 1166, Rn. 12 – Prozessfinanzierer jeweils mwN). Die Darlegungs- und Beweislast für die Tatsachen, aus denen sich die Anspruchsberechtigung und die Prozessführungsbefugnis ergeben, liegt dabei nach den allgemeinen Grundsätzen bei dem klagenden Verband.
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b) Ohne Erfolg greift die Berufung die Feststellungen des Landgerichts dahin an, dass der Kläger eine veraltete Liste hinsichtlich § 1 UKlaGV vorgelegt habe (vgl. Anlage K 5), in der aktuellen Liste sei der Kläger nicht enthalten (Anlagen B 1 und B 2). Das Landgericht jedoch hat die Prozessführungsbefugnis des Klägers ohnehin nicht auf § 8 Abs. 3 Nr. 3 UWG, also darauf gestützt, dass er in die Liste der qualifizierten Einrichtungen gem. § 4 UKlaG eingetragen sei, sondern auf § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG.
21
c) Auch im Übrigen ist die Annahme der Prozessführungsbefugnis des Klägers gem. § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG aF nicht zu beanstanden.
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aa) Dass ihm eine ausreichende Anzahl an Unternehmen angehört, die zu dem in Rede stehenden beworbenen Produkt der Beklagten, einem Nahrungsergänzungsmittel, Waren gleicher oder verwandter Art auf dem gleichen Markt anbieten, nämlich die Unternehmen B. SE, H. S. GmbH & Co. KG, S. H. Dr. med. O. G. N. GmbH & Co. KG; t. P. GmbH; Dr. W. S. GmbH & Co. KG und V. -P. Arzneimittel GmbH & Co. KG sowie auch das Handelsunternehmen M. Deutschland GmbH und darüber hinaus zahlreiche Apotheken und Drogerien, hat der Geschäftsführer des Klägers in Anlage K 8 eidesstattlich versichert. In Bezug auf das hier beworbene Nahrungsergänzungsmittel sind Waren gleicher oder verwandter Art neben Nahrungsergänzungsmitteln auch Lebensmittel, Naturheilmittel, diätetische Mittel, Arzneimittel (vgl. BGH GRUR 1997, 541, 542 – Produkt-Interview).
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bb) Das Landgericht hat zu Recht die für die Klagebefugnis erforderliche ausreichende sachliche, personelle und finanzielle Ausstattung des Klägers angenommen. Die Beklagtenseite hat im ersten Rechtszug auf die Behauptung der ausreichenden Ausstattung des Klägers hin die ausreichende finanzielle Ausstattung bestritten. Nachdem der Kläger aber eine die Kosten des Streitfalls vielfach übersteigende liquide Finanzausstattung dargelegt hat (300.000,00 €) und unwidersprochen vorgetragen hat, in der Vergangenheit Zahlungspflichten für Prozesskosten stets nachgekommen zu sein (Klageschrift, Seiten 11/13), kann eine unzureichende finanzielle Ausstattung des Verbands grundsätzlich nur angenommen werden, wenn das bei zurückhaltender Betrachtung realistische Kostenrisiko des Verbands seine dafür verfügbaren Mittel spürbar übersteigt (vgl. BGH BeckRS 2012, 4574 Rn. 20). Dafür bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte und werden auch von der Beklagten nicht vorgebracht. Die Beklagte hat die hierzu getroffenen Feststellungen des Landgerichts auch mit der Berufungsbegründung nicht ausdrücklich angegriffen. Im Übrigen hat der Vorstand des Klägers im beigezogenen, der hiesigen Hauptsache vorangegangenen Verfahren der einstweiligen Verfügung vor dem Landgericht München I mit dem Aktenzeichen 3 HK O 1017/20 eine dahin lautende eidesstattliche Versicherung vom 06.08.2020 (dort Anlage ASt 4) vorgelegt.
24
II. Die Klage ist begründet. Dem Kläger stehen die geltend gemachten Unterlassungsansprüche aus § 8 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2, § 3, § 3a UWG iVm Art. 10 Abs. 2 lit. a HCVO (Klageantrag zu 1.) bzw. iVm Art. 10 Abs. 1 und Abs. 2 lit. c HCVO iVm Anhang zur VO (EU) 432/2012 bezüglich „Glucomannan“ (Klageantrag zu 2.) zu.
25
1. Der Kläger ist aktivlegitimiert gem. § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG (siehe oben).
26
2. Art. 10 HCVO ist eine Marktverhaltensregelung iSv § 3a UWG, deren Missachtung geeignet ist, den Wettbewerb zum Nachteil von Mitbewerbern und Verbrauchern iSd § 3a UWG spürbar zu beeinträchtigen (BGH GRUR 2016, 1200 Rn. 12 – Repair Kapseln mwN).
27
3. Mit der Anzeige gemäß Anlage A hat die Beklagte gegen die Informationspflicht nach Art. 10 Abs. 2 lit. a HCVO verstoßen.
28
a) Nach Art. 10 Abs. 2 lit. a HCVO dürfen gesundheitsbezogene Angaben nur gemacht werden, „wenn die Kennzeichnung oder, falls diese Kennzeichnung fehlt, die Aufmachung der Lebensmittel und die Lebensmittelwerbung folgende Informationen tragen: a) einen Hinweis auf die Bedeutung einer abwechslungsreichen und ausgewogenen Ernährung und einer gesunden Lebensweise, (…)“.
29
Art. 2 Abs. 1 lit. d HCVO verweist für den Begriff „Kennzeichnung“ auf die Begriffsbestimmung in Art. 1 Abs. 3 lit. a der RL 2000/13/EG [Lebensmitteletikettierungs-RL], an deren Stelle nach Aufhebung der Lebensmitteletikettierungs-RL durch § 53 Abs. 1 VO (EU) 1169/2011 [Lebensmittelinformations-VO; im Folgenden: LMIV] nunmehr gem. Art. 53 Abs. 2 LMIV die Bestimmungen der LMIV und zur Begriffsbestimmung „Kennzeichnung“ folglich Art. 2 Abs. 2 lit. j LMIV getreten sind. Danach sind „Kennzeichnung“ „alle Wörter, Angaben, Hersteller- oder Handelsmarken, Abbildungen oder Zeichen, die sich auf ein Lebensmittel beziehen und auf Verpackungen, Schriftstücken, Tafeln, Etiketten, Ringen oder Verschlüssen jeglicher Art angebracht sind und dieses Lebensmittel begleiten oder sich auf dieses Lebensmittel beziehen“.
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b) Die Informationspflicht nach Art. 10 Abs. 2 lit. a HCVO greift für die in Streit stehende Werbeanzeige.
31
aa) Bei dem beworbenen Produkt handelt es sich unstreitig um ein Nahrungsergänzungsmittel. Auch werden in der Anzeige unstreitig gesundheitsbezogene Angaben gemacht, etwa „GESUND GEWICHT VERLIEREN“, rechts unten in der Abbildung.
32
bb) Die Informationspflicht gilt – entgegen der Ansicht der Beklagten – für die Werbeanzeige gem. Anlage A, auch wenn auf der Produktverpackung gem. Anlage K 9, Blatt 2, ein Pflichthinweis nach Art. 10 Abs. 2 lit. a HCVO angebracht ist.
33
(1) Zum einen folgt dies bereits daraus, dass es sich bei der Werbeanzeige um eine „Kennzeichnung“ iSv Art. 10 Abs. 2 lit a HCVO handelt und Kennzeichnungen nach dieser Vorschrift die Pflichtinformation tragen müssen. Denn unter „Kennzeichnung“ fällt nach der maßgeblichen Begriffsbestimmung des Art. 2 Abs. 2 lit. j LMIV jegliche Angabe, die sich auf dieses Lebensmittel bezieht, ohne dass es auf eine räumliche Nähe zum Produkt ankommt (vgl. Sosnitza/Meisterernst LebensmittelR/Rathke/Hahn, 185. EL Dezember 2022, VO (EG) 1924/2006 Art. 2 Rn. 21 u. 21a; aA Sosnitza/Meisterernst LebensmittelR/Meisterernst, 185. EL Dezember 2022, LMIV Art. 2 Rn. 87). Hierdurch unterscheidet sich der Begriff der Kennzeichnung vom Begriff des Etiketts (vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. i LMIV), den Art. 10 Abs. 2 lit. a HCVO gerade nicht verwendet.
34
Gegen diese weite Begriffsbestimmung nach Art. 2 Abs. 2 lit. j LMIV kann sich die Beklagte nicht überzeugend auf Ziff. 2.1 Abs. 3 des Durchführungsbeschlusses Nr. 2013/63/EU der Kommission vom 24.01.2013 zur Annahme von Leitlinien zur Umsetzung der in Artikel 10 der HCVO dargelegten speziellen Bedingungen für gesundheitsbezogene Angaben berufen. Dort heißt es: „Der Unterschied zwischen „Kennzeichnung“ und „Werbung“ besteht darin, dass sich die „Kennzeichnung“ auf die Abgabe des Lebensmittels an den Endverbraucher bezieht, die „Werbung“ dagegen auf die Förderung des Absatzes von Lebensmitteln durch den Lebensmittelunternehmer.“ Denn der Durchführungsbeschluss ist – wie nachfolgend unter (2) noch ausgeführt wird – wegen divergierender Fassungen in der deutschen und der französischen Sprachfassung und Abweichungen von den Fassungen des Art. 10 Abs. 2 HCVO insgesamt widersprüchlich und verwirrend und folglich als Auslegungshilfe nicht dienlich.
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(2) Zum anderen entspricht diese Auslegung der Regelung des Art. 10 Abs. 2 lit. a HCVO im Lichte der Erwägungsgründe der Verordnung ihren übergeordneten Zielen am besten.
36
(a) Der Wortlaut der deutschen Sprachfassung legt ein Verständnis nahe, wonach der Pflichthinweis in der Werbung stets erforderlich ist.
37
Nach der deutschen Sprachfassung des Art. 10 Abs. 2 lit. a HCVO dürfen gesundheitsbezogene Angaben nur gemacht werden, „wenn die Kennzeichnung oder, falls diese Kennzeichnung fehlt, die Aufmachung der Lebensmittel und die Lebensmittelwerbung folgende Informationen tragen: a) einen Hinweis auf die Bedeutung einer abwechslungsreichen und ausgewogenen Ernährung und einer gesunden Lebensweise, (…)“.
38
Die Einschränkung „falls diese Kennzeichnung fehlt“ bezieht sich lediglich auf die Aufmachung der Lebensmittel, wohingegen diese Einschränkung nicht für die Informationspflicht in der Lebensmittelwerbung gilt. Dieses Verständnis ist sprachlich zwar nicht zwingend. Es ist aber sprachlich möglich und entspricht einem naheliegenden systematischen und normzweckgemäßen Verständnis, wonach einerseits eine produktbezogene Informationspflicht statuiert wird (Kennzeichnung oder Aufmachung des Lebensmittels) und andererseits eine markt- bzw. werbebezogene Informationspflicht (Lebensmittelwerbung).
39
(b) Ein solches Verständnis dürfte auch mit der englischen Sprachfassung vereinbar sein, welche lautet wie folgt:
„health claims shall only be permitted if the following information is included in the labelling, or if no such labelling exits, in the presentation and advertising“.
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(c) Diese Auslegung von Art. 10 Abs. 2 lit. a HCVO deckt sich schließlich mit dem Zweck der HCVO gem. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 HCVO, ein hohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten, und mit Erwägungsgrund 4. der HCVO, wonach die HCVO für alle nährwert- und gesundheitsbezogenen Angaben gelten sollte, die in kommerziellen Mitteilungen, u.a. auch in allgemeinen Werbeaussagen über Lebensmittel und in Werbekampagnen wie solchen, die ganz oder teilweise von Behörden gefördert werden, gemacht werden.
41
(d) Auch der weite Kennzeichnungsbegriff nach Art. 2 Abs. 2 lit. j LMIV spricht für diese Auslegung.
42
(e) Allerdings ist nicht zu verkennen, dass die französische Sprachfassung des Art. 10 Abs. 2 HCVO durch die Verwendung der Verknüpfung „ou“ (oder) zwischen der Produktaufmachung und der Produktwerbung von der deutschen und der englischen Sprachfassung abweicht und dem hiesigen Verständnis zuwiderläuft. Sie lautet:
„Les allégations de santé ne sont autorisées que si les informations suivantes figurent sur l’étiquetage ou, à défaut d’étiquetage, sont communiquées dans le cadre de la présentation du produit ou de la publicité faite pour celui-ci“;
43
Es gilt der Grundsatz, dass die in einer der Sprachfassungen einer Vorschrift des Unionsrechts verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden darf oder Vorrang vor den übrigen Sprachfassungen beanspruchen kann (std. Rspr. EuGH GRUR 2020, 764 Rn. 30 mwN – ratiopharm/Novartis). Entscheidend ist die Auslegung nach den Zielen der Vorschrift.
44
(f) Hier entspricht es angesichts der übergeordneten Ziele, ein hohes Verbraucherschutzniveau zu erreichen und eine Geltung für alle nährwert- und gesundheitsbezogenen Angaben in kommerziellen Mitteilungen zu erreichen (Erwägungsgrund 4), am besten dem Sinn und Zweck der Vorschrift, dass eine Werbeanzeige wie Anlage A den Pflichthinweis auch dann enthalten muss, wenn er auf der Produktverpackung aufgebracht ist.
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(g) Abweichendes lässt sich nicht mit dem Durchführungsbeschluss 2013/53/EU der Kommission vom 24.01.2013 zur Umsetzung des Art. 10 der HCVO begründen. Der Durchführungsbeschluss ist wegen divergierender Fassungen des Durchführungsbeschlusses in der deutschen und der französischen Sprachfassung und Abweichungen von den jeweiligen Sprachfassungen des Art. 10 Abs. 2 HCVO insgesamt widersprüchlich, verwirrend und als Auslegungshilfe nicht dienlich.
46
So spricht die Passage im ersten Absatz unter Ziffer 2.1. sowohl in der deutschen Fassung als auch in der französischen Fassung des Durchführungsbeschlusses eher für die hiesige Auslegung der Vorschrift, hebt zumindest den Widerspruch der deutschen Fassung mit der französischen Fassung des Art. 10 Abs. 2 lit. a HCVO auf, wenn es dort heißt:
„Die Informationen gemäß Artikel 10 Absatz 2 Buchstaben a bis d müssen Teil der Kennzeichnung des Lebensmittels bzw., falls eine solche Kennzeichnung fehlt, Teil der Aufmachung des Lebensmittels und der Lebensmittelwerbung sein. Diese Bestimmung ist im Hinblick auf das Ziel des Gesetzgebers zu verstehen, für ein hohes Maß an Verbraucherschutz zu sorgen, indem genaue und wahrheitsgemäße Hinweise gegeben werden, mit deren Hilfe die Verbraucher bewusste Entscheidungen treffen können.“
bzw.
„Les informations énumérées aux points a) à d) dudit paragraphe doivent figurer sur l’étiquetage de la denrée alimentaire; à défaut d’étiquetage, elles doivent être communiquées dans la présentation de la denrée et la publicité qui en est faite.“
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Die Abweichung zwischen den Sprachfassungen von Art. 10 Abs. 2 lit. a HCVO wäre danach zugunsten der deutschen Fassung mit der „und“-Verknüpfung zwischen „Aufmachung des Lebensmittels“ und „Lebensmittelwerbung “ entschieden.
48
Demgegenüber heißt es im dritten Absatz der Ziffer 2.1 unter b) des Durchführungsbeschlusses mit einer – hier durch Markierung hervorgehobenen – Divergenz zwischen der deutschen und französischen Fassung:
„Fehlt eine solche „Kennzeichnung“, so sind die Pflichthinweise in der „Werbung“ oder der „Aufmachung“ des Lebensmittels auszuweisen, über das die gesundheitsbezogene Angabe gemacht wird.“
bzw.
À défaut d’«étiquetage», les informations obligatoires doivent être communiquées dans la «publicité» et la «présentation» de la denrée alimentaire faisant l’objet de l’allégation de santé.
49
Damit wird im Durchführungsbeschluss der Widerspruch zwischen den deutschen und französischen Sprachfassungen des Art. 10 Abs. 2 lit. a HCVO umgekehrt wiedergegeben. Anders als in Art. 10 Abs. 2 lit. a HCVO findet sich dort in der französischen Fassung die Verknüpfung mit „et“ zwischen „publicité“ und „présentation“, in der deutschen hingegen die Verknüpfung „oder“ zwischen „Werbung“ und „Aufmachung“. Der Durchführungsbeschluss erhöht daher die Unklarheiten gegenüber dem bereits widersprüchlichen Bestand des Art. 10 Abs. 2 lit. a HCVO und kann insgesamt nicht als Auslegungsleitlinie dienen. Auch das im nachfolgenden Satz angeführte Beispiel dafür, was für nicht auf ein bestimmtes Produkt gerichtete Angaben gelte, hilft im Streitfall nicht weiter.
50
(h) Die obergerichtliche Rechtsprechung in Deutschland hat der Auslegung des Senats entsprechend, soweit ersichtlich, bislang entschieden, dass die Informationspflicht für eine isolierte Produktwerbung bzw. Angabe auch dann greift, wenn das Produkt bzw. die Primärverpackung einen Pflichthinweis aufweist (vgl. KG BeckRS 2015, 17910 Rn. 28; OLG Hamburg BeckRS 2012, 17923, II.3.f) cc); OLG Koblenz LMuR 2012, 195, 197). Diese Auffassung vertritt ebenfalls ein Teil der Literatur (Rathke/Hahn in Sosnitza/Meisterernst, LebensmittelR, 185. EL Dezember 2022, VO (EG) 1924/2006 Art. 10 Rn. 21a mwN), wohingegen die abweichende Literaturmeinung (vgl. Hüttebräuker in: Holle/Hüttebräuker, HCVO, 2018, Rn. 45 mwN u. 46 aE; Evans, Anm. zu OLG Hamburg LMuR 2022, 443, 444 ff.) vor allem mit der englischen und der französischen Sprachfassung, aber auch mit dem Durchführungsbeschluss der Kommission argumentiert. Dies überzeugt den Senat aus den vorgenannten Gründen nicht.
51
4. Mit der Anzeige hat die Beklagte ferner gegen die Informationspflicht nach Art. 10 Abs. 1, Art. 13 Abs. 3 HCVO iVm Art. 1 und Anhang zur VO (EU) 432/2012 in Bezug auf „Glucomannan“ sowie gegen Art. 10 Abs. 2 lit. c HCVO verstoßen, weil der in der Liste im Anhang zur VO (EU) 432/2012 vorgeschriebene Warnhinweis für Menschen mit Schluckbeschwerden fehlt.
52
a) Nach Art. 10 Abs. 1 HCVO sind gesundheitsbezogene Angaben verboten, sofern sie nicht den allgemeinen Anforderungen in Kapitel II der HCVO und den speziellen Anforderungen im vorliegenden Kapitel entsprechen, gemäß der HCVO zugelassen und in die Liste der zugelassenen Angaben gemäß den Artikeln 13 und 14 aufgenommen sind.
53
Nach Art. 1 Abs. 1 VO (EU) 432/2012 ist die Liste der zulässigen gesundheitsbezogenen Angaben gemäß Artikel 13 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 [HCVO], die über Lebensmittel gemacht werden dürfen, im Anhang der VO (EU) 432/2012 festgelegt. Nach Art. 1 Abs. 2 VO (EU) 432/2012 dürfen die in Abs. 1 genannten gesundheitsbezogenen Angaben gemäß den im Anhang aufgeführten Bedingungen über Lebensmittel gemacht werden.
54
Die Liste der zulässigen gesundheitsbezogenen Angaben im Anhang zur VO (EU) 432/2012 enthält für den Stoff „Glucomannan“ in Spalte 1 die gesundheitsbezogene Angabe „Glucomannan trägt im Rahmen einer kalorienarmen Ernährung zu Gewichtsverlust bei“ in Spalte 2, und in Spalte 4 mit der Überschrift „Bedingungen und/oder Beschränkungen hinsichtlich der Verwendung des Lebensmittels und/oder zusätzliche Erklärungen oder Warnungen“ ist aufgeführt:
Warnung, dass bei Verbrauchern mit Schluckbeschwerden oder bei unzureichender Flüssigkeitszufuhr Erstickungsgefahr besteht
- Empfehlung der Einnahme mit reichlich Wasser, damit Glucomannan in den Magen gelangt.
55
Diese Warnung fehlt in der Werbeanzeige gem. Anlage A. Die in der Werbeanzeige gemachte gesundheitsbezogene Angabe „Glucomannan trägt im Rahmen einer kalorienarmen Ernährung zu Gewichtsverlust bei“ ist nach den genannten Vorschriften aber nur unter der Bedingung bzw. mit der Beschränkung zugelassen, dass die in Spalte 4 genannte Warnung angeführt wird.
56
b) Es liegt ferner ein Verstoß gegen Art. 10 Abs. 2 lit. c HCVO vor.
57
Nach Art. 10 Abs. 2 lit. c HCVO dürfen gesundheitsbezogene Angaben nur gemacht werden, wenn die Kennzeichnung oder, falls diese Kennzeichnung fehlt, die Aufmachung der Lebensmittel und die Lebensmittelwerbung folgende Informationen tragen: c) gegebenenfalls einen Hinweis an Personen, die es vermeiden sollten, dieses Lebensmittel zu verzehren (…). Hierzu zählt auch die für Glucomannan in der Liste im Anhang zur VO (EU) 432/2012 zulassungsbeschränkende Warnung (vgl. Hüttebräuker in Holle/Hüttebräuker, HCVO, 2018, Art. 10 Rn. 50).
58
Die Anforderung des Art. 10 Abs. 2 HCVO greift auch insofern aus den oben 2. genannten Gründen in Bezug auf die Werbeanzeige gem. Anlage A, auch wenn das Produkt selbst den Warnhinweis trägt.
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Aus dem Begriff der „Verwendungsbedingungen“ im Sinne der LMIV und aus den Vorschriften der Art. 25 und 27 LMIV iVm 9 Abs. 1 lit. g LMIV sowie aus dem Begriff der „Gebrauchsanleitung“ lässt sich in diesem Zusammenhang – wohl im Ergebnis auch nach der Auffassung des Beklagten (vgl. Schriftsätze vom 21.03.2022, Seiten 6/7, und vom 27.07.2022, Seite 5) – nichts Abweichendes herleiten. Ein Pflichtwarnhinweis vor Gefahren nach der vierten Spalte im Anhang zur VO (EU) 432/2012 ist keine „Gebrauchsanleitung“.
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5. Die durch die Verstöße indizierte Wiederholungsgefahr ist jeweils nicht durch Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung ausgeräumt.
61
6. Eine Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht nicht, weil der Senat nicht als letztinstanzliches Gericht eines Mitgliedstaates entscheidet (vgl. EuGH EuZW 2009, 75 Rn. 76 – Cartesio).
C.
62
1. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
63
2. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
64
3. Die Revision zum Bundesgerichtshof ist zuzulassen. Die Fragen, ob eine Werbeanzeige in den Medien unter den Begriff der „Kennzeichnung“ iSv Art. 10 Abs. 2 HCVO fällt und ob ein Pflichthinweis nach Art. 10 Abs. 2 lit. a bzw. lit. c HCVO auch in einer Werbeanzeige in den Medien erforderlich ist, wenn der Hinweis auf der Produktverpackung aufgebracht ist, stellen sich in einer Vielzahl von Fällen und haben grundsätzliche Bedeutung iSv § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO.