Inhalt

OLG München, Urteil v. 27.04.2023 – 29 U 7344/21
Titel:

Irische Impotenzfernbehandlung

Vermittlung von Fernbehandlungen und Medikamentenbezug für Gesundheitsbeschwerden von Männern

Normenketten:
UWG a.F. §§ 3a, 8 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2
HWG § 9 Satz 1 und 2
BGB § 630a Abs. 2
AMG § 48
Rom II-VO Art. 6
UWG § 3a, § 8 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2
HWG § 9 S. 1 u. 2
Leitsätze:
1. Zwischen Pharmaunternehmen, die Mitglieder eines Wettbewerbsverbandes im Sinne von § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG a.F. sind, und einem Unternehmen, das online die Vermittlung von Fernbehandlungen und von Medikamentenbezug im Bereich der Männergesundheit bewirbt, kann ein abstraktes Wettbewerbsverhältnis bestehen, sofern die Vermittlungsleistungen im Hinblick auf die ärztliche Fernbehandlung nicht diagnoseoffen und allgemein auf Diagnostik und Behandlung im Bereich der Männergesundheit gerichtet sind, sondern darauf, nach Auswertung eines Fragebogens in eine Online-Diagnose konkreter Beschwerdebilder sowie die anschließende Verschreibung bestimmter auf der Internetseite sichtbarer und konkret vorgegebener Medikamente bzw. Wirkstoffe wie Sildenafil, Cialis, Viagra, Tadalafil, Levitra oder Spedra einzumünden, so dass die Vermittlung der ärztlichen Fernbehandlung nicht Selbstzweck, sondern aufgrund der Verschreibungspflicht dieser Arzneimittel nach § 48 AMG nur notwendiger Zwischenschritt ist, um die bei lebensnaher Betrachtung vom Kunden von vornherein gewünschte Abgabe der Medikamente mit starkem Lifestyle-Bezug ebenfalls vermitteln zu können.
2. Internationalprivatrechtlich ist beim lauterkeitsrechtlichen Rechtsbruchtatbestand ein mehrstufiges Vorgehen notwendig: Zunächst ist nach der lauterkeitsrechtlichen Kollisionsnorm des Art. 6 Rom II-VO das Wettbewerbsstatut zu ermitteln. Kennt das Wettbewerbsstatut wie im deutschen Recht in § 3a UWG den Rechtsbruchtatbestand, ist in einem zweiten Schritt die internationalprivatrechtliche Anwendbarkeit der verletzten Marktverhaltensnorm nach den für sie einschlägigen Kollisionsnormen der lex fori im Rahmen einer selbständigen Anknüpfung zu untersuchen.
3. Da es sich bei der Marktverhaltensnorm nicht zwingend um eine privatrechtliche Vorschrift handeln muss, können im Rahmen des zweiten Schritts neben dem internationalen Privatrecht auch die Grundsätze des internationalen öffentlichen Rechts maßgeblich sein. Handelt es sich bei der Marktverhaltensnorm wie bei § 9 HWG um eine öffentlich-rechtliche Eingriffsnorm, ist es aufgrund des im öffentlichen Recht geltenden Territorialitätsprinzips dem inländischen Recht erlaubt, die Werbung für Fernbehandlungen zu regeln, die aus dem Ausland heraus im Inland erbracht werden, wenn beispielsweise durch die Werbung im Inland ein hinreichender territorialer Bezug zum Inland gegeben ist. Das inländische Recht regelt dann nicht nur die Frage, ob eine Werbung für Fernbehandlungen nach § 9 Satz 1 HWG untersagt ist, sondern auch diejenige, ob aufgrund der Erfüllung der allgemein anerkannten fachlichen (inländischen) Standards bei der Fernbehandlung die Werbung dafür im Inland ausnahmsweise nach § 9 Satz 2 HWG zulässig ist.
4. Im Rahmen einer abstrakt generalisierenden Betrachtung kann nicht angenommen werden, dass es nach § 9 Satz 2 HWG den allgemein anerkannten fachlichen (inländischen) Standards entspricht, beim Beschwerdebild der Erektionsstörung eine aller Wahrscheinlichkeit nach in eine Medikamentenverordnung und -rezeptierung mündende Diagnostik und Behandlung ohne persönlichen ärztlichen Kontakt mit der zu behandelnden Person vorzusehen, sofern nach den zulassungsgemäßen Fachinformationen der Medikamente bzw. Wirkstoffe, deren Verordnung im Rahmen der Fernbehandlung von vornherein ins Auge gefasst wird, neben der Anamnese auch eine körperliche Untersuchung vorgesehen ist. Es kommt nicht darauf an, dass leitliniengemäß vor der Diagnostik ein Therapieversuch durchgeführt werden kann, da dies über einen persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient und eine entsprechende Überwachung des Therapieversuchs nichts aussagt.
Schlagworte:
Werbung, Arzt, Leistungen, Berufung, AGB, Gesundheitszustand, Klagebefugnis, Dienstleistungen, Arzneimittel, Unterlassungsantrag, Internet, Wettbewerb, Heilmittel, Auslegung, Waren oder Dienstleistungen, unlauteren Wettbewerb, Verbot der Werbung
Vorinstanz:
LG München I, Urteil vom 05.10.2021 – 33 O 622/20
Fundstellen:
MD 2023, 1117
A&R 2023, 265
GRUR-RR 2024, 34
MedR 2024, 125
PharmR 2023, 647
GRUR-RS 2023, 24680

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 05.10.2021, Az. 33 O 622/20, wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Dieses Urteil und das Urteil des Landgerichts sind vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung aus Ziffer I. des landgerichtlichen Urteils durch Sicherheitsleistung in Höhe von € 100.000,00 sowie im Übrigen durch Sicherheitsleistung in Höhe von 115% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe bzw. in Höhe von 115% des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

I.
1
Die Parteien streiten um einen lauterkeitsrechtlichen Unterlassungsanspruch in Bezug auf die Bewerbung von ärztlichen Fernbehandlungen für Erektionsstörungen, Haarausfall und vorzeitigen Samenerguss durch eine Vermittlerin, die auch den Bezug entsprechender verschreibungspflichtiger Medikamente durch eine niederländische Versandapotheke vermittelt.
2
Der Kläger ist ein 1962 gegründeter Verein, dem neben dem …, dem … und dem … auch 56 Unternehmen angehören, bei denen es sich überwiegend um Pharmaunternehmen handelt (Anlage K 1). Nach seiner Satzung (dort § 2 Abs. 1, Anlage K 2) hat der Kläger die Aufgabe, den Wettbewerb für Heilmittel und verwandte Produkte zu schützen und zu stärken, dazu beizutragen, den unlauteren Wettbewerb zum Nachteil der Verbraucher, Mitbewerber und im Allgemeininteresse gegebenenfalls im Zusammenwirken mit Behörden und Gerichten zu bekämpfen sowie die Werbung für Heilmittel und verwandte Gebiete auf ihre Lauterkeit und Vereinbarkeit mit den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen sowie den für sie ergangenen Wettbewerbsregeln zu überprüfen und gegen Verstöße vorzugehen.
3
Die Beklagte ist eine 2018 gegründete in München ansässige Vermittlerin sowohl von ärztlichen Fernbehandlungen im Bereich der Männergesundheit als auch des Bezugs von damit zusammenhängenden verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, die von einer kooperierenden Versandapotheke mit Sitz in den Niederlanden abgegeben werden. Sie bewirbt ihre Dienstleistungen gegenüber möglichen Patienten mit einem unter der Adresse … erreichbaren Online-Auftritt.
4
Zur Behandlung von Erektionsstörungen, Haarausfall und vorzeitigem Samenerguss soll der Besucher dieses Online-Auftritts mittels eines im Internet auszufüllenden Fragebogens eine „Online-Diagnose“ erhalten, um eine ärztliche Verschreibung in Form eines Rezepts für ein Arzneimittel gegen die genannten Beschwerden ohne vorherigen persönlichen Kontakt zu einem Arzt im Sinne einer eigenen unmittelbaren physischen Wahrnehmung zu erhalten. Die „Online-Diagnose“ beruht im Wesentlichen auf einem textbasierten Fragebogen zum Gesundheitszustand des Nutzers, zu Krankheitssymptomen, Unverträglichkeiten und zur Einnahme von Medikamenten. Ein persönlicher Kontakt mit einem der – in Großbritannien bzw. seit dem Brexit in Irland ansässigen – Kooperationsärzte der Beklagten, eine Videoschalte oder ein Telefongespräch zwischen Patienten und Arzt erfolgen nicht (Anlage K 5). Soweit in Ziffer 4.6 der AGB der Beklagten die Möglichkeit eröffnet wird, dass der Kooperationsarzt sich gegebenenfalls per E-Mail an den Kunden richten könne, wenn er nach Prüfung des Fragebogens noch ergänzende Fragen habe, ist dies nicht zwingend für den Fall der „Online-Diagnose“ und der Arzneimittelverordnung vorgesehen.
5
Der Internetauftritt der Beklagten ist so konzipiert, dass dem Nutzer am Ende der „Online-Diagnose“ eine Auswahl konkreter verschreibungspflichtiger Arzneimittel unter Angabe des Kaufpreises angeboten wird (Anlagen K 4, K 7 und K 8). Anschließend wird der Nutzer auf die Seite „Bestellung“ weitergeleitet, um seine Kontaktdaten einzutragen, die AGB zu bestätigen und den Vorgang abzuschließen, worauf er mit dem entsprechenden Arzneimittel durch eine in den Niederlanden zum Arzneimittelversand zugelassene Kooperationsapotheke beliefert wird.
6
Der Internetauftritt der Beklagten wurde in Einzelheiten mehrfach verändert, wobei die in den Tenor des landgerichtlichen Urteils eingelichtete Anlage A den Stand vom 17.06.2019, die Anlage B den Stand vom 20.09.2019 und die Anlage C den Stand vom 13.12.2019 wiedergeben.
7
Der Kläger ist der Auffassung, die Werbung der Beklagten verstoße gegen das Verbot der Bewerbung von Fernbehandlungen, was auch nach dessen gesetzlicher Neuregelung der Fall sei.
8
Der Kläger sei auch im Hinblick auf das Bewerben von Fernbehandlungen prozessführungsbefugt, weil er ein rechtsfähiger Verband zur Förderung gewerblicher oder selbständiger beruflicher Interessen sei, dem eine erhebliche Anzahl von Unternehmen angehöre, die Waren oder Dienstleistungen gleicher oder verwandter Art auf demselben Markt vertrieben. Das erforderliche abstrakte Wettbewerbsverhältnis bestehe aufgrund der Mitgliedschaft der aus Anlage K 1 ersichtlichen Pharmaverbände und Pharmaunternehmen auch im Hinblick auf die beworbene ärztliche Fernbehandlung, da die Beklagte in diesem Zusammenhang auch die Verordnung bestimmter verschreibungspflichtiger Arzneimittel bewerbe. Es genüge, dass eine nicht ganz unbedeutende Beeinträchtigung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwartet werde könne, was sich bereits aus der gemeinsamen Zweckbestimmung von Arzneimitteln und der Bewerbung einer ärztlichen Fernbehandlung ergebe, die jeweils darin bestehe, zumindest auch der Gesundheit von Patienten zu dienen. Ferner könne auch in Anspruch genommen werden, wer fremden Wettbewerb eines mit den Verbandsmitgliedern konkurrierenden Unternehmens fördere, was vorliegend im Hinblick auf die kooperierende Versandapotheke der Fall sei.
9
Der Online-Auftritt der Beklagten unter … gemäß der Anlagen A, B und C verstoße gegen das Werbeverbot für ärztliche Fernbehandlungen, zumal auch die Voraussetzungen für dessen Ausnahmetatbestand nicht erfüllt seien.
10
Für die Annahme einer Fernbehandlung sei wesentlich, dass sich der Behandelnde ohne eigene Wahrnehmung der zu behandelnden Person konkret und individuell zu dieser Person diagnostisch oder therapeutisch äußere, wobei eine eigene Wahrnehmung die Anamnese, Betrachtung, Betastung, Abhorchung oder Beklopfung mittels persönlicher Untersuchung oder mit anderen technischen Hilfsmitteln im Sinne einer Wahrnehmung mit allen menschlichen Sinnen meine. Eine solche Wahrnehmung werde durch den bloßen Online-Fragebogen nicht ermöglicht, zumal der Patient mit dem Arzt weder unmittelbar physisch noch per Videoschalte oder Telefon in Kontakt trete. Selbst bei einem ergänzenden Herantreten des Arztes an den Patienten nach Auswertung des Fragebogens fehle es an einer eigenen Wahrnehmung.
11
Der neu geschaffene Ausnahmetatbestand des Werbeverbots für Fernbehandlungen greife nicht ein, weil diese nicht mit den fachlichen medizinischen Standards und der ärztlichen Sorgfalt zu vereinbaren seien. Bei den inmitten stehenden Beschwerden der erektilen Dysfunktion, des Haarausfalls und des vorzeitigen Samenergusses sei nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein ärztlicher Kontakt mit dem Patienten erforderlich, bevor ein Arzneimittel verordnet werde. Jedenfalls genügten die Online-Fragebögen diesen Standards nicht, weil sie inhaltliche Defizite aufwiesen und die Antworten offensichtlich nicht auf Plausibilität überprüft würden. Bei den Fragebögen handle es sich auch nicht um ein bei der Fernbehandlung zulässiges Kommunikationsmedium, da sie keinen reaktiven Austausch in Echtzeit zuließen.
12
Die Werbung der Beklagten verstoße schließlich aufgrund der angeführten Krankheitsgeschichten auch gegen das Werbeverbot außerhalb der Fachkreise und stelle ein lauterkeitsrechtliches Irreführen durch Unterlassen dar, zumal die Information, dass der Patient das direkt an die Versandapotheke weitergereichte Rezept nicht selbst erhalten werde, nicht rechtzeitig bereitgestellt werde.
13
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,
Der Beklagten wird bei Meidung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, einer Ordnungshaft oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten (Ordnungsgeld im Einzelfall höchstens 250.000,- Euro, Ordnungshaft insgesamt höchstens zwei Jahre), verboten, im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs für die Beschwerden Erektionsstörung und/oder Haarausfall und/oder vorzeitiger Samenerguss im Internet die Durchführung einer Online-Diagnose mit anschließender ärztlicher Verschreibung von Arzneimitteln zur Behandlung dieser Beschwerden zu bewerben, indem zur ärztlichen Diagnose vom Nutzer im Internet ein Fragebogen auszufüllen ist und dann die anschließende ärztliche Verschreibung eines Arzneimittels gegen diese Beschwerden ohne vorherigen persönlichen Kontakt des Arztes zum Nutzer erfolgt, wenn dies jeweils geschieht wie im Internetauftritt vom 17.06.2019 gemäß Anlage A und/oder vom 20.09.2019 gemäß Anlage B und/oder vom 13.12.2019 gemäß Anlage C.
14
Die Beklagte hat beantragt
Klageabweisung.
15
Die Beklagte ist der Auffassung, die Klage sei bereits unzulässig, weil es dem Kläger hinsichtlich des nurmehr auf die Werbung für eine ärztliche Fernbehandlung bezogenen Unterlassungsantrags an der Klagebefugnis fehle. Die Mitgliedsunternehmen des Klägers seien allesamt im Bereich des (gewerblichen) Arzneimittelhandels tätig, während die Beklagte, soweit sie ärztliche Behandlungen vermittle, dem (freiberuflichen) ärztlichen Versorgungsgeschehen zuzuordnen sei. Beide Bereiche seien nicht nur nicht miteinander verwandt, sondern vom Gesetzgeber vollständig voneinander abgeschottet, weil Pharmaunternehmen und Apotheker nicht im Bereich der Heilkunde tätig sein und Ärzte keine pharmazeutischen Produkte abgeben dürften. Folglich seien auch die hiesigen Parteien weder auf demselben Markt tätig, noch vertrieben sie bzw. die Mitglieder des Klägers Waren oder Dienstleistungen gleicher oder verwandter Art. Auch ein fremder Wettbewerb eines mit den Verbandsmitgliedern konkurrierenden Unternehmens werde aus diesem Grund nicht gefördert.
16
Die Klage sei überdies unbegründet, weil weder das Verbot der Werbung für ärztliche Fernbehandlungen eingreife noch gegen das Werbeverbot außerhalb der Fachkreise verstoßen werde oder ein lauterkeitsrechtliches Irreführen durch Unterlassen vorliege.
17
Das Verbot der Werbung für Fernbehandlungen gelte weder in der früheren noch in der aktuellen Fassung für ärztliche Fernbehandlungen zur Vorbeugung und Verhütung, sondern vielmehr nur für eine solche zu Zwecken der Erkennung und Behandlung. Soweit – wie in weiten Teilen des Internetauftritts der Beklagten – lediglich Ratschläge zur Vorbeugung, Verhütung und Prophylaxe vorhanden seien, greife das Verbot nicht.
18
Maßgeblich sei ferner, dass nach dem aktuellen Ausnahmetatbestand das Verbot der Werbung für Fernbehandlungen nicht anwendbar sei, wenn – wie hier – die beworbenen Behandlungen ordnungsgemäß durchgeführt werden könnten, ohne dass nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen erforderlich sei. Das Nichtvorliegen dieser Voraussetzung habe nach allgemeinen Grundsätzen der Kläger darzulegen und zu beweisen, was ihm nicht gelungen sei. Jedenfalls sei zu beachten, dass es nur um die Werbung für eine Fernbehandlung gehe, so dass maßgeblich sei, dass diese sich nach dem anerkannten medizinischen Standard ganz allgemein für den Einsatz von Kommunikationsmedien eigne. Dass die Behandlung bei den fraglichen Indikationen ihrerseits nach berufsrechtlichen Regeln einer Einzelfallentscheidung bedürfe, sei nicht maßgeblich.
19
Ein Verstoß gegen das Werbeverbot außerhalb von Fachkreisen liege ebenfalls nicht vor, da die vermeintlichen Krankheitsgeschichten und die vermeintliche Werbung mit Bezug darauf weder in missbräuchlicher, abstoßender oder irreführender Weise erfolgten noch zu einer falschen Selbstdiagnose verleiten können. Auch an einer lauterkeitsrechtlichen Irreführung durch Unterlassen fehle es.
20
Mit Endurteil vom 05.10.2021 (Bl. 213/290 d.A.), auf dessen tatsächliche Feststellungen ergänzend Bezug genommen wird, hat das Landgericht dem Unterlassungsantrag stattgegeben und die Kosten auch im Hinblick auf einen zuvor übereinstimmend für erledigt erklärten weiteren Antrag der Beklagten auferlegt, da diese insoweit eine Kostenübernahmeerklärung abgegeben hatte.
21
Die Beklagte greift das Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens in vollem Umfang mit ihrer Berufung an.
22
Die Beklagte beantragt,
das am 05.10.2021 verkündete Urteil des Landgerichts München I, Az. 33 O 622/20, abzuändern und die Klage abzuweisen.
Hilfsweise:
das am 05.10.2021 verkündete Urteil des Landgerichts München I, Az. 33 O 622/20, aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das erstinstanzliche Gericht zurückzuverweisen.
23
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
24
Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil ebenfalls unter Wiederholung und Vertiefung seines Vorbringens.
25
Zur Ergänzung wird auf die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 27.04.2023 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

II.
26
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.
27
1. Die Klage ist zulässig.
28
a) Der Kläger ist nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG a.F. prozessführungsbefugt.
29
aa) Für die Wirtschafts- und Verbraucherverbände im Sinne des § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG a.F. gilt die sogenannte Lehre von der Doppelnatur. Die in dieser Vorschrift aufgestellten Voraussetzungen der Anspruchsberechtigung werden zugleich als Prozessvoraussetzungen qualifiziert. Die Voraussetzungen des § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG a.F. sind daher auch als Voraussetzungen der Prozessführungsbefugnis des Verbandes anzusehen und dementsprechend in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen im Freibeweisverfahren zu prüfen (BGH GRUR 2006, 517 Rn. 15 – Blutdruckmessungen; GRUR 2007, 610 Rn. 14 – Sammelmitgliedschaft V; GRUR 2007, 809 Rn. 12. – Krankenhauswerbung; GRUR 2012, 411 Rn. 12 – Glücksspielverband; GRUR 2015, 1240 Rn. 13 – Der Zauber des Nordens; GRUR-RR 2012, 232 Rn. 15 – Minderjährigenschutz; GRUR 2018, 1166 Rn. 12 – Prozessfinanzierer I; WRP 2019, 1009 Rn. 10 – Prozessfinanzierer II; GRUR 2019, 966 Rn. 17 – Umwelthilfe; GRUR 2022, 490 Rn. 20 – Influencer III; GRUR 2022, 930 Rn. 12 – Knuspermüsli II; Köhler/Bornkamm/Feddersen/Köhler/Feddersen, UWG, 41. Aufl., § 8, Rn. 3.9).
30
Im Rahmen von § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG a.F. müssen die von Mitgliedsunternehmen eines Verbandes und von einem Konkurrenzunternehmen auf demselben räumlich relevanten Markt vertriebenen Waren oder Dienstleistungen „gleicher oder verwandter Art“ sein. Damit wird der sachlich relevante Markt umschrieben. Die Begriffe sind weit auszulegen (BGH GRUR 1997, 479, 480 – Münzangebot; GRUR 1998, 489, 490 – Unbestimmter Unterlassungsantrag III; GRUR 2000, 438, 440 – Gesetzeswiederholende Unterlassungsanträge; GRUR 2001, 260 – Vielfachabmahner; GRUR 2007, 610 Rn. 17 – Sammelmitgliedschaft V; WRP 2007, 1088 Rn. 14 – Krankenhauswerbung; Senat, WRP 2009, 1014, 1015 – TATENDRANG). Für die lauterkeitsrechtliche Marktabgrenzung ist, weitergehend als im Kartellrecht, nicht ausschließlich der Verwendungszweck des Abnehmers (Bedarfsmarktkonzept) maßgebend. Vielmehr müssen die beiderseitigen Waren oder Leistungen sich ihrer Art nach so gleichen oder nahestehen, dass der Absatz des einen Unternehmers durch irgendein wettbewerbswidriges Handeln des anderen Unternehmers beeinträchtigt werden kann (BGH GRUR 1998, 489, 490 – Unbestimmter Unterlassungsantrag III; GRUR 2000, 438, 440 – Gesetzeswiederholende Unterlassungsanträge; GRUR 2001, 260 – Vielfachabmahner). Dazu kann eine nicht gänzlich unbedeutende potenzielle Beeinträchtigung mit einer gewissen, wenn auch nur geringen Wahrscheinlichkeit ausreichen (BGH GRUR 2007, 610 Rn. 17 – Sammelmitgliedschaft V; WRP 2007, 1088 Rn. 14 – Krankenhauswerbung). Das kann auch dann der Fall sein, wenn die konkrete Werbemaßnahme auf ganz bestimmte Waren oder Leistungen beschränkt ist (Köhler/Bornkamm/Feddersen/Köhler/Feddersen, UWG, 41. Aufl., § 8, Rn. 3.39).
31
bb) Nach diesen Grundsätzen besteht zwischen den Pharmaunternehmen, die Mitglieder des Klägers sind (vgl. Anlage K 1), und der Beklagten ein abstraktes Wettbewerbsverhältnis im Sinne von § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG a.F., weil beide bundesweit Waren oder Dienstleistungen „gleicher oder verwandter Art“ vertreiben. Die seitens der Beklagten für den hier zu entscheidenden Unterlassungsantrag maßgeblichen Vermittlungsleistungen im Hinblick auf die ärztliche Fernbehandlung sind nicht diagnoseoffen und allgemein auf Diagnostik und Behandlung im Bereich der Männergesundheit gerichtet, sondern darauf, nach Auswertung eines Fragebogens in eine „Online-Diagnose“ dreier konkreter Beschwerdebilder – den Erektionsstörungen, dem Haarausfall und dem vorzeitigen Samenerguss – sowie die anschließende Verschreibung bestimmter auf der Internetseite sichtbarer und konkret vorgegebener Medikamente bzw. Wirkstoffe (Sildenafil, Cialis, Viagra, Tadalafil, Levitra, Spedra) einzumünden. Die Vermittlung der ärztlichen Fernbehandlung ist damit nicht Selbstzweck, sondern aufgrund der Verschreibungspflicht dieser Arzneimittel nach § 48 AMG nur notwendiger Zwischenschritt, um die bei lebensnaher Betrachtung vom Kunden von vornherein gewünschte Abgabe der Medikamente mit – wie die Beklagte selbst einräumt – starkem Lifestyle-Bezug ebenfalls vermitteln zu können. Damit besteht für den Vertrieb von Arzneimitteln durch die Mitgliedsunternehmen der Klägerin infolge der Vermittlungsleistungen der Beklagten betreffend die ärztliche Fernbehandlung eine im Rahmen von § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG a.F. bereits ausreichende, nicht gänzlich unbedeutende potenzielle Beeinträchtigung mit einer gewissen – bei realistischer Betrachtung – sogar nicht nur ganz geringen Wahrscheinlichkeit.
32
cc) Hiergegen lässt sich nicht einwenden, dass die ärztliche Behandlung und der Arzneimittelhandel vom Gesetzgeber regulatorisch streng getrennt worden seien, so dass die Beklagte als Vermittlerin von ärztlichen Behandlungsleistungen und die Pharmaunternehmen, die Mitglieder des Klägers sind, nicht auf dem gleichen sachlich relevanten Markt im Sinne von § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG a.F. tätig würden. Bei der Beurteilung, ob Waren oder Dienstleistungen „gleicher oder verwandter Art“ sind, kommt es nicht auf öffentlich-rechtliche Vorgaben an, sondern nach dem oben Gesagten im Rahmen einer weiten Auslegung vielmehr darauf, ob der Absatz des einen Unternehmers durch irgendein wettbewerbswidriges Handeln des anderen Unternehmers beeinträchtigt werden kann. Da grundsätzlich irgendein Handeln des beklagten Unternehmers ausreicht, ist nicht entscheidend, welchen regulatorischen Abgrenzungen und Einordnungen seine Tätigkeit unterfällt, sondern vielmehr die Frage, ob es sich – wie hier der Fall – beeinträchtigend auf das Handeln der Mitgliedsunternehmen des klagenden Verbandes auswirken kann.
33
Hieran ändern auch die von der Beklagten angeführten verfassungsrechtlichen Grundsätze im Rahmen von §§ 9, 10 HWG nichts, da es vorliegend auf ein Analogie-, „Verschleifungs-“ oder Doppelverwertungsverbot schon deshalb nicht ankommt, weil keine strafrechtliche oder ordnungswidrigkeitenrechtliche Betrachtung vorzunehmen, sondern vielmehr die Prozessführungsbefugnis für einen lauterkeitsrechtlichen Unterlassungsanspruch zu klären ist, ohne dass die maßgeblichen Normen zur Verurteilung wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit angewendet werden (vgl. BGH GRUR 2022, 399 Rn. 28 – Werbung für Fernbehandlung; GRUR 2013, 857 Rn. 18 – Voltaren).
34
Auch fehlt es nicht an einer erheblichen Anzahl von Unternehmen im Sinne von § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG a.F., da sich aus der im Wege des Freibeweises verwertbaren Mitgliederliste des Klägers gemäß Anlage K 1 etwa 20 bis 25 Unternehmen entnehmen lassen, die gerichtsbekanntermaßen auf verschiedenen Handelsstufen Arzneimittel vertreiben. Insoweit kommt es auf die Frage der mittelbaren Verbandszugehörigkeit über den genossenschaftlich organisierten Großhändler … und die im Tatbestand angeführten Mitgliedsverbände nicht an.
35
b) Die Klage ist auch nicht unzulässig, weil der Unterlassungsantrag im Sinne von § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO deshalb unzulässig wäre, weil durch das beantragte Verbot auch erlaubte Verhaltensweisen z.B. bei einer zusätzlich zum Fragebogen abgehaltenen Videosprechstunde erfasst würden.
36
aa) Ein bestimmter Klageantrag nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO ist erforderlich, um den Streitgegenstand und den Umfang der Prüfungs- und Entscheidungsbefugnis des Gerichts (§ 308 Abs. 1 ZPO) festzulegen, sowie die Tragweite des begehrten Verbots zu erkennen und die Grenzen der Rechtshängigkeit und der Rechtskraft festzulegen (BGH GRUR 2011, 521 Rn. 9 – TÜV I). Der Verbotsantrag darf daher nicht derart undeutlich gefasst sein, dass sich der Gegner nicht erschöpfend verteidigen kann und die Entscheidung darüber, was dem Antragsgegner verboten ist, im Ergebnis dem Vollstreckungsgericht überlassen wäre (st.Rspr., BGH GRUR 2015, 1237 Rn. 13 – Erfolgsprämie für die Kundengewinnung; WRP 2017, 426 Rn. 18 – ARD-Buffet; WRP 2018, 328 Rn. 12 – Festzins Plus; GRUR 2019, 627 Rn. 15 – Deutschland-Kombi; WRP 2019, 1013 Rn. 23 – Cordoba II). Auch muss der Schuldner, der den Titel freiwillig befolgen möchte, hinreichend genau wissen, was ihm verboten ist (Köhler/Bornkamm/Feddersen/Köhler/Feddersen, UWG, 41. Aufl., § 12, Rn. 1.35).
37
Bei der Umschreibung des künftig zu unterlassenden Verhaltens im Rahmen eines Unterlassungsantrags kommt es auf die Merkmale dieses Verhaltens an, die die Rechtsverletzung begründen, also die „konkrete Verletzungsform“. Dementsprechend muss der Klageantrag grundsätzlich auf die „konkrete Verletzungsform“ abstellen. Der Antrag muss sich möglichst genau an die konkrete Verletzungsform anpassen und deren Inhalt und die Umstände, unter denen ein Verhalten untersagt werden soll, so deutlich umschreiben, dass sie in ihrer konkreten Gestaltung zweifelsfrei erkennbar sind (BGH GRUR 1977, 114, 115 – VUS). Eine unmittelbare Bezugnahme auf die konkrete Verletzungsform liegt auch dann vor, wenn der Klageantrag die Handlung abstrakt beschreibt, sie aber – anders als bei Antragsfassungen, die die konkrete Verletzungsform nur als Beispiel heranziehen – mit einem „wie“-Zusatz (z.B. „wie geschehen …“; „wenn dies geschieht wie …“) konkretisiert (BGH WRP 2011, 873 Rn. 17 – Leistungspakete im Preisvergleich). Die abstrakte Kennzeichnung hat dabei die Funktion, den Kreis der Varianten näher zu bestimmen, die als kerngleiche Handlungen von dem Verbot erfasst sein sollen (BGH GRUR 2006, 164 Rn. 14 – Aktivierungskosten II; BGH GRUR 2010, 749 Rn. 36 – Erinnerungswerbung im Internet; Köhler/Bornkamm/Feddersen/Köhler/Feddersen, a.a.O., Rn. 1.43).
38
bb) Nach diesen Grundsätzen bestehen gegen den Unterlassungsantrag in der vom Landgericht zuerkannten Form keine Bestimmtheitsbedenken, weil er sowohl auf die konkrete Verletzungsform in Gestalt der ins Urteil eingeblendeten Anlagen A, B und C mit einem „wie“-Zusatz Bezug nimmt als auch eine geeignete abstrakte Kennzeichnung enthält („für die Beschwerden Erektionsstörung und/oder Haarausfall und/oder vorzeitiger Samenerguss im Internet die Durchführung einer Online-Diagnose mit anschließender ärztlicher Verschreibung von Arzneimitteln zur Behandlung dieser Beschwerden zu bewerben, indem zur ärztlichen Diagnose vom Nutzer im Internet ein Fragebogen auszufüllen ist und dann die anschließende ärztliche Verschreibung eines Arzneimittels gegen diese Beschwerden ohne vorherigen persönlichen Kontakt des Arztes zum Nutzer erfolgt“), die eine Prüfung kerngleicher Verstöße ermöglicht.
39
Soweit die Beklagte meint, dass damit auch erlaubte Verhaltensweisen z.B. bei einer zusätzlichen Videosprechstunde erfasst würden, handelt es sich hierbei um keine Frage der Bestimmtheit des Antrags und damit der Zulässigkeit der Klage. Soweit die Beklagte wegen von ihr hinzugedachter Umstände wie der zusätzlichen Videosprechstunde einen zu weiten Umfang des Verbotstenors erkennen möchte, ist darauf zu verweisen, dass diese Umstände nicht Gegenstand des vorliegenden Erkenntnisverfahrens sind, so dass es an einer Kerngleichheit entsprechender Verstöße fehlen dürfte.
40
2. Die Klage ist auch begründet. Dem Kläger steht gegen die Beklagte der vom Landgericht zuerkannte Anspruch auf Unterlassung aus §§ 8 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2; 3 Abs. 1; 3a UWG a.F. i.V.m. § 9 Satz 1 und 2 HWG zu.
41
a) Im Hinblick auf die Anspruchsberechtigung des Klägers kann wegen der Lehre von der Doppelnatur auf das oben zur Prozessführungsbefugnis Gesagte verwiesen werden.
42
b) Bei § 9 HWG handelt es sich um eine Marktverhaltensregelung im Sinne von § 3a UWG, wobei ein Verstoß geeignet ist, die Interessen der Verbraucher spürbar zu beeinträchtigen. Das dort geregelte Verbot der Werbung für Fernbehandlungen dient dem Schutz der öffentlichen Gesundheit. Damit steht gemäß Art. 3 Abs. 3 UGP-Richtlinie (RL 2005/29/EG), wonach diese Richtlinie die Rechtsvorschriften der Union oder der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Gesundheits- und Sicherheitsaspekte von Produkten unberührt lässt, die mit dieser Richtlinie grundsätzlich bezweckte vollständige Harmonisierung der unlauteren Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern der Verfolgung eines Verstoßes gegen § 9 HWG unter dem Gesichtspunkt des Rechtsbruchs gemäß § 3a UWG nicht entgegen (vgl. BGH GRUR 2022, 399 Rn. 20 – Werbung für Fernbehandlung; GRUR 2021, 628 Rn. 14 – Apothekenmuster II).
43
c) Die Beklagte verstößt durch die streitgegenständlichen Internetauftritte gemäß den Anlagen A, B und C gegen das Verbot der Werbung für Fernbehandlungen gemäß § 9 Satz 1 und 2 HWG.
44
aa) Soweit die Beklagte darauf verweist, die Norm des § 9 Satz 1 HWG sei nicht auf eine Werbung für die Vorbeugung und Verhütung von Krankheiten anzuwenden, kommt es hierauf – unabhängig vom Bedeutungsumfang des Begriffs der Verhütung – vorliegend nicht an. Die Anlagen A, B und C wenden sich konkret an potentielle Patienten, die bereits unter den Beschwerdebildern der Erektionsstörung, des Haarausfalls und des vorzeitigen Samenergusses leiden, und stellen nach ärztlicher Fernbehandlung die Verschreibung von Medikamenten in Aussicht, die konkret der Behandlung und Therapie dieser Beschwerdebilder dienen.
45
bb) Auch soweit die Beklagte argumentiert, dass ihre Werbung für eine ärztliche Fernbehandlung gemäß den Anlagen A, B und C jedenfalls nach § 9 Satz 2 HWG zulässig sei, weil nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen vorliegend nicht erforderlich sei, kann dem nicht gefolgt werden.
46
(1) Bei der Auslegung des Erlaubnistatbestands gemäß § 9 Satz 2 HWG kommt es im Ausgangspunkt auf eine abstrakte, generalisierende Bewertung an, da sich Werbung unabhängig von einer konkreten Behandlungssituation an eine Vielzahl nicht näher individualisierter Personen richtet. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber mit der Schaffung des Ausnahmetatbestands gemäß § 9 Satz 2 HWG der Weiterentwicklung telemedizinischer Möglichkeiten Rechnung tragen wollte und von der Einhaltung anerkannter fachlicher Standards bereits dann ausgegangen ist, wenn danach eine ordnungsgemäße Behandlung und Beratung unter Einsatz von Kommunikationsmedien grundsätzlich möglich ist. Daraus ergibt sich, dass der Gesetzgeber von einem dynamischen Prozess ausgegangen ist, in dem sich mit dem Fortschritt der technischen Möglichkeiten auch der anerkannte fachliche Standard ändern kann (BGH GRUR 2022, 399 Rn. 51 – Werbung für Fernbehandlung).
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Der in § 9 Satz 2 HWG verwendete Begriff der allgemein anerkannten fachlichen Standards ist unter Rückgriff auf den entsprechenden Begriff gemäß § 630a Abs. 2 BGB und die dazu mit Blick auf die vom Arzt zu erfüllenden Pflichten aus einem medizinischen Behandlungsvertrag entwickelten Grundsätze auszulegen. Nach dieser Bestimmung hat die Behandlung im Rahmen eines medizinischen Behandlungsvertrags nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist (BGH, a.a.O., Rn. 53 – Werbung für Fernbehandlung). Für die Auslegung von § 9 Satz 2 HWG kommt es dagegen nicht auf berufsrechtliche Bestimmungen an, weder auf inländische noch auf ausländische (BGH, a.a.O., Rn. 58 – Werbung für Fernbehandlung).
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Nach § 630a Abs. 2 BGB gibt ein fachlicher Standard Auskunft darüber, welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs im Zeitpunkt der Behandlung erwartet werden kann. Er repräsentiert den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat. Bei der Bestimmung des anerkannten fachlichen Standards sind die Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften und die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß §§ 92, 136 SGB V zu berücksichtigen. Weiterhin können sich fachliche Standards auch unabhängig davon bilden. Die Ermittlung des jeweils maßgeblichen Standards ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts, das gegebenenfalls einen Sachverständigen hinzuzuziehen hat (BGH, a.a.O., Rn. 64 – Werbung für Fernbehandlung).
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Dafür, dass die beworbene Fernbehandlung nach diesen Grundsätzen den allgemeinen fachlichen Standards gemäß § 9 Satz 2 HWG entspricht, ist der Werbende darlegungs- und beweisbelastet (BGH, a.a.O., Rn. 65 – Werbung für Fernbehandlung).
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(2) Nach diesen Maßstäben kann bei einer abstrakt generalisierenden Betrachtung nicht angenommen werden, dass es nach § 9 Satz 2 HWG den allgemein anerkannten fachlichen Standards entspricht, bei den Beschwerdebildern der Erektionsstörung, des Haarausfalls und des vorzeitigen Samenergusses bei Männern eine aller Wahrscheinlichkeit nach in eine Medikamentenverordnung und -rezeptierung mündende Diagnostik und Behandlung ohne persönlichen ärztlichen Kontakt mit der zu behandelnden Person vorzusehen.
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(a) Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt es diesbezüglich nicht deshalb auf die in Irland geltenden allgemein anerkannten fachlichen Standards an, weil die die Fragebogen im Rahmen einer Fernbehandlung auswertenden Ärzte in Irland ansässig seien und sich die Nutzer der Plattform der Beklagten bewusst in die Behandlung irischer Ärzte begäben.
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Internationalprivatrechtlich ist beim Rechtsbruchtatbestand ein mehrstufiges Vorgehen notwendig: Zunächst ist nach der lauterkeitsrechtlichen Kollisionsnorm des Art. 6 Rom II-VO das Wettbewerbsstatut zu ermitteln, welches hier unproblematisch deutsches Recht ist, weil nach dem Klagevorbringen die Wettbewerbsbeziehungen auf dem Gebiet Deutschlands beeinträchtigt sein sollen. Kennt das Wettbewerbsstatut wie vorliegend in § 3a UWG den Rechtsbruchtatbestand, ist in einem zweiten Schritt die internationalprivatrechtliche Anwendbarkeit der verletzten Marktverhaltensnorm nach den für sie einschlägigen Kollisionsnormen der lex fori im Rahmen einer selbständigen Anknüpfung zu untersuchen (vgl. BeckOGK/Poelzig/Windorfer/Bauermeister, 1.9.2022, Rom II-VO, Art. 6, Rn. 144; MüKoUWG/Mankowski, 3. Aufl., IntWettbR, Rn. 279; Sack, WRP 2008, 845, 850). Da es sich bei der Verhaltensnorm nicht zwingend um eine privatrechtliche Vorschrift handeln muss, können insoweit neben dem internationalen Privatrecht auch die Grundsätze des internationalen öffentlichen Rechts maßgeblich sein (BeckOGK/Poelzig/Windorfer/Bauermeister, a.a.O., Rn. 146).
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Vorliegend handelt es sich bei § 9 HWG um eine öffentlich-rechtliche Eingriffsnorm. Aufgrund des im öffentlichen Recht geltenden Territorialitätsprinzips ist es dem deutschen Staat erlaubt, die Werbung für Fernbehandlungen zu regeln, die aus dem Ausland heraus im Inland erbracht werden. Denn durch die Werbung in Deutschland ist ein hinreichender territorialer Bezug zum Inland gegeben (vgl. GmS-OGB GRUR 2013, 417 Rn. 16-20 – Medikamentenkauf im Versandhandel; MüKoBGB/Drexl, 8. Aufl., Rom II-VO, Art. 6, Rn. 203). Deutsches Recht regelt infolgedessen nicht nur die Frage, ob eine Werbung für Fernbehandlungen untersagt ist, sondern auch diejenige, ob aufgrund der Erfüllung der allgemein anerkannten fachlichen (inländischen) Standards bei der Fernbehandlung die Werbung dafür im Inland ausnahmsweise zulässig ist.
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(b) Dass nach den im Rahmen von § 9 Satz 2 HWG entscheidenden allgemein anerkannten fachlichen Standards in Deutschland ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem jeweils zu behandelnden Mann nicht notwendig sei, hat die darlegungs- und beweisbelastete Beklagte nicht hinreichend vorzutragen vermocht.
55
Maßgeblich kann mit dem Landgericht bei den Erektionsproblemen darauf abgestellt werden, dass nach den zulassungsgemäßen Fachinformationen der Medikamente bzw. Wirkstoffe, deren Verordnung nach dem Geschäftsmodell der Beklagten im Rahmen der Fernbehandlung von vornherein ins Auge gefasst wird (Viagra, Sildenafil, Cialis, Levitra; Anlagen K 23a bis K 23d), neben der Anamnese auch eine körperliche Untersuchung vorgesehen ist, so dass nach deutschen Maßstäben der Nachweis der tatsächlichen Voraussetzungen des § 9 Satz 2 HWG ausgeschlossen ist (vgl. Spickhoff/Fritzsche, HWG, 4. Aufl., § 9, Rn. 6). Hieran ändert auch die von der Beklagten erstmals in der Berufungsinstanz vorgetragene Tatsache nichts, dass leitliniengemäß seit der Einführung der PDE-5-Hemmer, zu denen diese Medikamente zählen, oftmals vor der Diagnostik ein Therapieversuch durchgeführt werde (Seite 4 des Schriftsatzes vom 13.04.2023, Bl. 383 d.A.), da dies über einen persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient und gegebenenfalls eine entsprechende Überwachung des Therapieversuchs nichts aussagt.
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Auch im Hinblick auf den Haarausfall und den vorzeitigen Samenerguss lässt der Vortrag der Beklagten nicht erkennen, warum die kontaktlose Behandlung den allgemein anerkannten fachlichen Standards in Deutschland entsprechen soll. Sie hat sich vielmehr auf den Seiten 13 bis 28 der Klageerwiderung vom 27.04.2020 (Bl. 126/135 d.A.) darauf beschränkt, auf die vermeintliche Risikoarmut der von ihr in den Blick genommen Lifestyle-Indikationen, die Elemente ihres Qualitätsmanagements, die vermeintliche Darlegungs- und Beweislast des Klägers sowie auf nicht aufgetretene Schadens- und Haftungsfälle hinzuweisen, ohne für das angebotene Sachverständigengutachten die erforderlichen Anknüpfungstatsachen zu den angeblich allgemein anerkannten fachlichen Standards in Deutschland vorzutragen. Auch in den Schriftsätzen vom 30.06.2020 (Bl. 149/150 d.A.) und 02.08.2021 (Bl. 185/196 d.A.) finden sich hierzu ebenso wenig wie im Vorbringen der Berufungsinstanz Ausführungen, aus denen sich im Hinblick auf die maßgeblichen Indikationen Haarausfall und vorzeitiger Samenerguss bei der gebotenen abstrakt-generalisierenden Betrachtungsweise die hiesigen Standards ersehen lassen. Dass vor der Entscheidung des BGH in GRUR 2022, 399 Rn. 65 – Werbung für Fernbehandlung die Darlegungs- und Beweislast der Beklagten nicht endgültig festgestanden haben mag, kann für den fehlenden Sachvortrag nicht bestimmend gewesen sein, da nach der Veröffentlichung der begründeten Entscheidung vom 09.12.2021 hinreichend Zeit zu ergänzendem Vortrag in der Berufungsinstanz geblieben wäre.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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4. Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO) und auch die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO liegen nicht vor. Eine Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht nicht, weil der Senat nicht als letztinstanzliches Gericht eines Mitgliedstaates entscheidet (vgl. EuGH EuZW 2009, 75 Rn. 76 – Cartesio).