Inhalt

LG München I, Endurteil v. 19.04.2023 – 21 O 1890/22
Titel:

Abgrenzung zwischen Zugangsverweigerung und Preismissbrauch

Normenketten:
PatG § 10 Abs. 1, § 139 Abs. 1 S. 1, S. 3, Abs. 2, § 140a Abs. 1, Abs. 3, § 140b Abs. 1, Abs. 3
EPÜ Art. 64 Abs. 1, Abs. 3, Art. 69 Abs. 1
AEUV Art. 102
ZPO § 142, § 148
Leitsätze:
1. Ein lizenzwilliger Patentnutzer muss als Lizenzsucher zwar grundsätzlich über die wesentlichen Faktoren für die Bemessung der zu zahlenden Lizenzgebühr unterrichtet sein. Hierfür muss er in der Regel die ihm angebotene Lizenzgebühr anhand der wesentlichen Faktoren für den Preis erläutert bekommen. Wird eine Pauschallizenzgebühr für Nutzungen in der Vergangenheit und in der Zukunft vereinbart, kann entsprechend dem Sinn und Zweck der Pauschalzahlung ein niedrigerer Maßstab gelten. Je mehr Lizenzverträge abgeschlossen sind, desto eher kann sich die Erläuterung der Faktoren auf eine Gegenüberstellung der konkret angebotenen Gebühr mit den vereinbarten Lizenzgebühren in bereits abgeschlossenen Lizenzverträgen beschränken. Aus offengelegten Lizenzverträgen mit Dritten samt weiteren erläuternden Informationen des Patentinhabers, die er beispielsweise in einen elektronischen Datenraum eingestellt hat, ergibt sich aber grundsätzlich für einen lizenzwilligen Patentnutzer ein hinreichender Einblick in die Lizenzierungspraxis des Patentinhabers.
2. Macht der Lizenzsucher als Diskriminierungsvorwurf geltend, der Patentinhaber lizenziere zu unterschiedlichen Preisen, muss der Lizenzsucher in der Regel anhand von Beispielen aus der Lizenzierungspraxis des Patentinhabers konkrete Anhaltspunkte darlegen, dass er konkret gegenüber wem und inwiefern diskriminiert wird. Hierbei gilt keine kleinteilige Betrachtungsweise. Entscheidend ist vielmehr, ob die bislang mit Dritten vereinbarten Lizenzgebühren und die dem Lizenzsucher angebotenen Lizenzbedingungen in einem den Schutzzwecken des Kartellrechts entsprechenden wettbewerbskonformen, die Errichtung, Gewährleistung und Absicherung des Binnenmarkts dienenden Gesamtgefüge stehen und die angebotene Pauschallizenz den Lizenzsucher beim Marktzugang nicht diskriminiert.
3. Auch bei einer etwaigen Varianz in der bisherigen Preisbildung des Patentinhabers, die jedoch keine so erhebliche Ungleichbehandlung begründet, dass sie nicht im Verhandlungsweg zwischen zwei lizenzwilligen Partnern gelöst werden kann, würde eine vernünftige Partei, die an dem erfolgreichen und interessengerechten Abschluss der Verhandlungen interessiert ist, diesen Umstand als Chance begreifen und versuchen, (trotzdem) zu einem vernünftigen, angemessenen und interessengerechten Vertragsschluss zu gelangen. Das gilt insbesondere hinsichtlich einzelner Finessen im Zahlenwerk, die sich erst beim Herunterrechnen der Pauschalgebühr ergeben.
4. Eine hohe Lizenzforderung macht das klägerische Angebot in der Regel nicht willkürlich. Es müssen grundsätzlich weitere pönale Aspekte hinzutreten, um das Verhalten des Patentinhabers als schlechterdings untragbar zu bewerten bzw. es als mit der Folge nicht ernst gemeint einzuordnen, dass es hierauf objektiv keiner Reaktion des Patentnutzers bedarf. Abgesehen davon ist es Aufgabe der Verhandlungen zwischen den Parteien, eine Lösung für die Preisfrage zu finden und eine ggf. unangemessen hohe Preisvorstellung des Patentinhabers auf ein objektiv vernünftiges, interessengerechtes und angemessenes Maß zu nivellieren. Das heißt, dass in aller Regel eine Reaktion des lizenzsuchenden Patentnutzers auf das Angebot des Patentinhabers erforderlich ist, um im Einzelfall die Faktoren für die zutreffende Preisbestimmung durch Verhandlungen zu klären.
5. In Fällen, in denen der kartellrechtliche Zwangslizenzeinwand gegen Ansprüche wegen Patentverletzung geltend gemacht wird, hat die Patentstreitkammer zu prüfen, ob insbesondere dem patentrechtlichen Unterlassungsanspruch ein kartellrechtlicher Anspruch des Patentbenutzers auf Unterlassung des Missbrauchs der marktbeherrschenden Stellung entgegensteht. Hierbei kommt es maßgeblich auf die Abgrenzung zwischen Zugangsverweigerung und Preismissbrauch an. Der Patentverletzungsprozess, in dem der „FRAND-Einwand“ geltend gemacht wird, ist grundsätzlich nicht auf die Ermittlung des kartellrechtlich richtigen Preises gerichtet. Wegen der Dauer der Ermittlung des kartellrechtlich richtigen Preises, während derer der Patentnutzer die Erfindung faktisch frei nutzen kann, kann der Einwand des Preismissbrauchs im Verletzungsverfahren nur in krassen Ausnahmefällen zugelassen werden. Die Rechtsposition des Patentnutzers wird dadurch nicht unzumutbar beschränkt. Er hat insbesondere grundsätzlich die Möglichkeit, den kartellrechtlich richtigen Preis in einem gesonderten kartellrechtlichen Verfahren bestimmen zu lassen oder ein Gegenangebot nach § 315 BGB zu unterbreiten.
Schlagwort:
Schadensersatz
Rechtsmittelinstanz:
OLG München vom -- – 6 U 2204/23 Kart
Fundstellen:
MittdtPatA 2023, 471
WuW 2024, 169
GRUR-RR 2023, 467
GRUR-RS 2023, 24247
NZKart 2024, 53
LSK 2023, 24247

Tenor

I. Die Beklagten werden verurteilt,
1. es bei Meldung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung fälligen Ordnungsgeldes bis zu 250.000 €, ersatzweise Ordnungshaft bis zu 6 Monaten oder Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, im Wiederholungsfalle Ordnungshaft bis zu 2 Jahren, wobei die Ordnungshaft am jeweiligen Vorstandsvorsitzenden (Chief Executive Officer) der Beklagten zu 1) bzw. am jeweiligen Geschäftsführer der Beklagten zu 2) zu vollstrecken ist, zu unterlassen,
a) mobile Endgeräte mit einer Vorrichtung zum Schätzen einer Tonalität eines Schallsignals in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in den Verkehr zu bringen und/oder zu gebrauchen und/oder zu den genannten Zwecken einzuführen oder zu besitzen,
wobei die Vorrichtungen jeweils umfassen:
- einen Berechner zum Berechnen eines aktuellen Residualspektrums des Schallsignals durch Subtrahieren einer Spektrumsuntergrenze von einem Spektrum des Schallsignals in einem aktuellen Rahmen;
- einen Detektor zum Erkennen von Spitzen im aktuellen Residualspektrum;
- einen Berechner zum Berechnen einer Korrelationskarte zwischen dem aktuellen Residualspektrum und einem vorherigen Residualspektrum für jede erkannte Spitze; und
- einen Berechner zum Berechnen einer Langzeit-Korrelationskarte basierend auf der berechneten Korrelationskarte, wobei die Langzeit-Korrelationskarte eine Tonalität im Schallsignal anzeigt;
(Anspruch 19 i.d.F. des Nichtigkeitsurteils vom 6.12.2021, unmittelbare Patentverletzung)
b) mobile Endgeräte,
welche dazu geeignet sind, ein Verfahren zum Schätzen der Tonalität eines Schallsignals durchzuführen,
Dritten, die zur Nutzung der Lehre des EP 2 162 880 nicht berechtigt sind, in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten und/oder an solche zu liefern,
wobei das Verfahren umfasst:
- Berechnen eines aktuellen Residualspektrums des Schallsignals durch Subtrahieren einer Spektrumsuntergrenze von einem Spektrum des Schallsignals in einem aktuellen Rahmen;
- Erkennen von Spitzen im aktuellen Residualspektrum;
- Berechnen einer Korrelationskarte zwischen dem aktuellen Residualspektrum und einem vorherigen Residualspektrum für jede erkannte Spitze; und
- Berechnen einer Langzeit-Korrelationskarte basierend auf der berechneten Korrelationskarte, wobei die Langzeit-Korrelationskarte eine Tonalität im Schallsignal anzeigt;
(Anspruch 1 i.d.F. des Nichtigkeitsurteils vom 6.12.202l, mittelbare Patentverletzung).
2. der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie (die Beklagten) die zu Ziffer 1 bezeichneten Handlungen seit dem 27. September 2019 begangen haben, und zwar unter Angabe
a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,
b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
c) der Menge der ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden,
wobei zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;
3. der Klägerin darüber Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie (die Beklagten) die zu Ziffer I.1 bezeichneten Handlungen seit dem 27. September 2019 begangen haben, und zwar unter Angabe:
a) der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der Abnehmer,
b) der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der Angebotsempfänger,
c) der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet sowie bei Internetwerbung der Internetadressen, der Schaltungszeiträume und der Zugriffszahlen,
d) der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns,
wobei den Beklagten nach ihrer Wahl vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der nichtgewerblichen Abnehmer und der Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von der Klägerin zu bezeichnenden, ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen, vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagten dessen Kosten tragen und ihn ermächtigen und verpflichten, der Klägerin auf konkrete Anfrage mitzuteilen, ob eine bestimmte Lieferung oder ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist;
4. die vorstehend zu Ziffer 1. a) bezeichneten, seit dem 27. September 2019 im Besitz gewerblicher Abnehmer befindlichen Erzeugnisse zurückzurufen.
II. Die Beklagte zu 2) wird verurteilt, die in ihrem unmittelbaren oder mittelbaren Besitz oder in ihrem Eigentum befindlichen, unter Ziffer I.1. a) bezeichneten Erzeugnisse an einen von der Klägerin zu benennenden Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Vernichtung auf ihre – der Beklagten zu 2) – Kosten herauszugeben.
III. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die zu Ziffer I.1. bezeichneten, seit dem 27. September 2019 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird.
IV. Die Beklagten haben als Gesamtschuldner die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
V. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar wie folgt: Ziffern I.1., I.4. und II. einheitlich in Höhe von 750.000,00 €, Ziffern I.2. und I.3. einheitlich in Höhe von 50.000,00 €, Ziffer IV. in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags.

Tatbestand

1
Die Klägerin ist Inhaberin des europäischen Patents 2 162 880 B1 (Anlage WKS1, nachfolgend: Klagepatent) und nimmt die Beklagte wegen unmittelbarer Patentverletzung des Anspruchs 19 und mittelbarer Patentverletzung des Anspruchs 1 des Klagepatents in Anspruch.
2
Das Klagepatent wurde am 20.06.2008 angemeldet. Die Veröffentlichung der Anmeldung fand am 17.03.2010 statt. Die Veröffentlichung und Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung erfolgten am 24.12.2014. Das Klagepatent wurde mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilt.
3
Das Bundespatentgericht hat das Klagepatent in dem Verfahren 4 Ni 10/21 zwischen der hiesigen Klägerin als Nichtigkeitsbeklagten und einer dritten Partei als Nichtigkeitsklägerin mit Urteil vom 06.12.2021 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland eingeschränkt aufrechterhalten (Anlage WKS 4). Die Nichtigkeitsklägerin hat gegen das Urteil WKS4 Berufung eingelegt. Die Klägerin macht die vorgenannten Ansprüche in der durch das Patentgericht eingeschränkten Fassung geltend.
4
In der durch das Bundespatentgericht eingeschränkt aufrecht erhaltenen Fassung lautet Anspruch 1 des Klagepatents in der maßgeblichen englischen Fassung wie folgt (Einschränkungen unterstrichen):
A method for estimating a tonality of a sound signal, the method comprising:
calculating a current residual spectrum of the sound signal by subtracting a spectral floor from a spectrum of the sound signal in a current frame;
detecting peaks in the current residual spectrum;
calculating a correlation map between the current residual spectrum and a previous residual spectrum for each detected peak; and calculating a long-term correlation map based on the calculated correlation map, the long-term correlation map being indicative of a tonality on the sound signal.
5
Patentanspruch 19 des Klagepatents lautet in der maßgeblichen englischen Verfahrenssprache in der durch das Bundespatentgericht einschränkt aufrecht erhaltenen Fassung wie folgt (Einschränkungen unterstrichen):
A device for estimating a tonality of a sound signal, the device comprising:
a calculator for calculating a current residual spectrum of the sound signal by subtracting a spectral floor from a spectrum of the sound signal in a current frame;
a detector for detecting peaks in the current residual spectrum;
a calculator for calculating a correlation map between the current residual spectrum and a previous residual spectrum for each detected peak; and a calculator for calculating a long-term correlation map based on the calculated correlation map, the long-term correlation map being indicative of a tonality in the sound signal.
6
Die Beklagte zu 1) vertreibt in der Bundesrepublik Deutschland die von ihr hergestellten Mobiltelefone, u.a. über die deutschsprachige Website Die Beklagte zu 2) unterstützt die Beklagte zu 1) bei der Vertriebstätigkeit im Inland.
7
Diese Mobiltelefone implementieren einen Codierer für den Codec for Enhanced Voice Services („EVS-Coder“). Mobile Endgeräte, die einen EVS-Coder implementieren, müssen das Verfahren der ETSI-Spezifikation Universal Mobile Telecommunications System (UMTS); LTE; Codec for Enhanced Voice Services (EVS); Detailed algorithmic description (GPP TS 26.445) umsetzen (kurz „EVS-Standard“). Der LTE-Standard bezieht sich seit dem Release 12 auf den EVS Standard. Die Vorgaben des EVS-Standards sind seitdem hinsichtlich der streitgegenständlichen Funktionalität in den Folge-Releases (13, 14 und 15) unverändert geblieben. Die Netzbetreiber Vodafone, O2und Telekom ermöglichen die Sprachcodierung mittels EVS in Deutschland bei Wi-Fi Calling (Mobiltelefonie über ein WLAN-Netzwerk) und bei Voice over LTE /VoLTE.
8
Vorgaben für den EVS-Codec im 4G LTE Advanced Pro-Standard sind in der 3GPP TS 26. 445 Version 14. 2. 0 Release 14 festgelegt. Die hier relevanten Passagen des Abschnitts 5.1.11.2.5 („Tonal stability“) des EVS-Standards umfassen normativ verbindliche Vorgaben und sind auszugsweise in der Anlage WKS7 enthalten. Sie werden in den Entscheidungsgründen auszugsweise wiedergegeben.
9
Die Klägerin meint, dass die angegriffenen Ausführungsformen das Klagepatent in Anspruch 1 unmittelbar und in Anspruch 19 mittelbar verletzten. Der FRAND-Einwand der Beklagten habe keinen Erfolg, so dass der begehrte Unterlassungsanspruch auszusprechen sei.
10
Die Klägerin stellt zuletzt im Wesentlichen die Klageanträge wie tenoriert (Terminsprotokoll vom 20.01.2023, Bl. 540 d. A.), zusätzlich dazu als Hilfsanträge zu verstehende „insbesondere“-Anträge bezogen auf die Unteransprüche 2, 5, 20 und 21 in der Fassung des Nichtigkeitsurteils vom 06.12.2021. Die Hilfsanträge sind hier nicht wiedergegeben.
11
Die Beklagte beantragt,
1. Klageabweisung,
2. hilfsweise die Aussetzung des Verfahrens bis zu einer Entscheidung des Bundespatentgerichts über die am 19.08.2022 von der Beklagten zu 2) gegen das Klagepatent eingereichte Nichtigkeitsklage, und bis zu einer Entscheidung des Bundesgerichts in dem Berufungsverfahren gegen das Urteil des Patentgerichts in der Sache 4 Ni 10/21 (WKS4);
3. äußerst hilfsweise, den Beklagten zu gestatten, gemäß § 712 Abs. 1 ZPO die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung (Bank- oder Sparkassenbürgschaft) oder Hinterlegung ohne Rücksicht auf eine Sicherheitsleistung der Klägerin abzuwenden.
12
Die Klägerin wendet sich gegen eine Aussetzung des Verfahrens.
13
Die Beklagten sind im Wesentlichen der Ansicht, die angegriffenen Ausführungsformen verletzten das Klagepatent nicht. Jedenfalls sei das Verfahren im Hinblick auf die Nichtigkeitsklage der Beklagten zu 2) vom 19.08.2022 (Anlagekonvolut VP 2) auszusetzen. Den Beklagten stünde gegen die Klägerin der FRAND-Einwand zu.
14
Zur Ergänzung des Tatbestands wird im Übrigen auf die Protokolle der mündlichen Verhandlungen vom 19.01.2023 (Bl. 536/538 d. A.) und vom 20.01.2023 (Bl. 539/541 d. A.) ebenso wie auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien samt Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

15
Die zulässige Klage ist begründet.
A.
16
Die Klage ist zulässig.
17
I. Das Landgericht München I ist zuständig (§ 143 PatG, Art. 7 Nr. 2 EuGVVO, § 32 ZPO i.V.m. § 38 Nr. 1 BayGZVJu).
18
II. Das erforderliche Feststellungsinteresse ist gegeben, § 256 Abs. 1 ZPO. Der Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen die Beklagten ist vor Erteilung der Auskunft noch nicht bezifferbar.
B.
19
Die Patentverletzungsklage ist hinsichtlich der angegriffenen Ausführungsformen begründet (II. und III.).
20
I. Das Klagepatent betrifft die Schallaktivitätserkennung, Schätzung von Hintergrundrauschen und die Schallsignalklassifizierung, wobei Schall („sound“) in diesem Zusammenhang als ein nützliches Signal verstanden wird. Die Erfindung bezieht sich auch auf eine entsprechende Vorrichtung zu Schallaktivitätserkennung, Schätzung von Hintergrundrauschen und Schallsignalklassifizierung, [0001].
21
Es befasst sich insbesondere mit der effizienten Codierung von Schallsignalen. Zu der Umwandlung eines analogen Schallsignals in ein digitales Signal erläutert [0004], dass ein Encoder („sound encoder“) ein Schallsignal (Sprache oder Audio) in einen digitalen Bitstrom umwandle. Der Bitstrom könne über einen Kommunikationskanal übertragen oder auf mithin abgetastet [d.h. in ein zeitdiskretes Signal überführt, „sampled“] und quantisiert [d.h. in ein wertdiskretes Signal umgeformt, „quantised“], üblicherweise mit 16 Bits pro Sample. Aufgabe des Codierers sei es dabei, Abtastwerte mit einer geringeren Anzahl von Bits zu repräsentieren, dabei aber gleichzeitig eine subjektiv gute Schallqualität aufrechtzuerhalten. Der Decoder verarbeite den übertragenen oder abgespeicherten Bitstrom und wandle ihn in ein [analoges] Schallsignal zurück, [0004].
22
Die Klagepatentschrift erläutert in [0002] u.a., dass die patentgemäße Vorrichtung zur Schallsignalklassifizierung benutzt werde, um zwischen verschiedenen Sprachsignalklassen und Musik zu differenzieren, um eine effizientere Encodierung von Schallsignalen zu ermöglichen. Die Tonalitätsschätzung werde benutzt, um die Leistung der Schallaktivitätserkennung bei Musiksignalen zu verbessern, und um besser zwischen stimmlosen Tönen („unvoiced sounds“) und Musik unterscheiden zu können. Zum Beispiel könne die Tonalitätsschätzung in einem super-Weitband-Codec genutzt werden, um das Codiermodell zu bestimmen, um das Signal oberhalb von 7 kHz zu codieren, [0002].
23
Die Codierungstechnik CELP (Code-Excited Linear Prediction) sei eine der besten bekannten Techniken, um einen guten Kompromiss zwischen subjektiver Qualität und Bitrate zu erzielen, [0005]. Die Klagepatentschrift beschreibt die CELP-Technik in [0005] näher.
24
Die quellengesteuerte bitratenvariable Sprachcodierung (VBR, source-controlled variable bit rate) erhöhe die Systemkapazität signifikant. In Abhängigkeit von der Art des Eingangssignals (stimmhaft, stimmlos, Übergang, Hintergrundrauschen), nutze der Codec ein Signalklassifizierungsmodul und für jeden Sprachrahmen das zugehörige optimierte Codierermodell. Für jede Klasse könnten des Weiteren unterschiedliche Bitraten genutzt werden. Die bei VBR verwendeten Techniken Spracherkennungsdetektion (VAD, Voice Activity Detection), diskontinuierliche Übertragung (DTX, Discontinuous Transmission) und Komfortrauscherzeugung (CNG, Comfort Noise Generation) reduzierten die durchschnittliche Bitrate deutlich, [0006].
25
2. Die Klagepatentschrift kritisiert an dem im Stand der Technik bekannten, mit Sprachsignalen gut funktionierenden VAD-Algorithmus, dass er Probleme bereiten könne, wenn Musikabschnitte des Schallsignals versehentlich als stimmlose Signale oder als stabiles Hintergrundrauschen klassifiziert würden, [0006].
26
3. Die Klagepatentschrift beschreibt es vor diesem Hintergrund in [0006] als vorteilhaft, den VAD-Algorithmus so zu erweitern, dass er Musiksignale besser von anderen Signalen unterscheiden könne. Das Klagepatent bezeichnet diese Erweiterung als Schallsignalerkennungsalgorithmus (SAD, sound activity detection), wobei Schall („sound“) sowohl Sprache als auch Musik oder jedes andere nützliche Signal umfasse. Des Weiteren solle eine Methode für eine Tonalitätserkennung beschrieben werden, die genutzt werden könne, um die Leistung des SAD Algorithmus hinsichtlich Musiksignalen zu verbessern.
27
Aus dieser subjektiven Aufgabenstellung lässt sich die objektive Aufgabe ableiten, den VAD-Algorithmus zu verbessern.
28
4. Gelöst werden soll diese Aufgabe zum Beispiel durch den Gegenstand des unabhängigen Anspruchs 1 und des nebengeordneten Anspruchs 19.
29
Anspruch 1 gliedert die Kammer in Übereinstimmung mit dem Patentgericht wie folgt:
„1.1 Verfahren zum Schätzen der Tonalität eines Schallsignals, wobei das Verfahren umfasst:
1.2 Berechnen eines aktuellen Residualspektrums des Schallsignals;
2.2.3 durch Subtrahieren eines spektralen Untergrunds von einem Spektrum des Schallsignals in einem aktuellen Rahmen;
1.3 Erkennen von Spitzen im aktuellen Residualspektrum;
1.4 Berechnen einer Korrelationskarte zwischen dem aktuellen Residualspektrum und einem vorherigen Residualspektrum für jede erkannte Spitze; und
1.5 Berechnen einer Langzeit-Korrelationskarte basierend auf der berechneten Korrelationskarte, wobei die Langzeit-Korrelationskarte eine Tonalität im Schallsignal anzeigt.“
30
Anspruch 19 gliedert die Kammer in Übereinstimmung mit dem Patentgericht wie folgt:
„19.1 Vorrichtung zum Schätzen der Tonalität eines Schallsignals, wobei die Vorrichtung umfasst:
19.2 Vorrichtung zum Schätzen der Tonalität eines Schallsignals, wobei die Vorrichtung umfasst:
19.3 einen Berechner zum Berechnen eines aktuellen Residualspektrums des Schallsignals;
20.2.3 durch Subtrahieren eines spektralen Untergrunds von einem Spektrum des Schallsignals in einem aktuellen Rahmen;
19.4 einen Detektor zum Erkennen von Spitzen im aktuellen Residualspektrum;
19.5 einen Berechner zum Berechnen einer Korrelationskarte zwischen dem aktuellen Residualspektrum und einem vorherigen Residualspektrum für jede erkannte Spitze; und
19.6 einen Berechner zum Berechnen einer Langzeit-Korrelationskarte basierend auf der berechneten Korrelationskarte, wobei die Langzeit-Korrelationskarte eine Tonalität im Schallsignal anzeigt.
31
5. Figur 3 des Klagepatents zeigt das Prinzip der Berechnung der Spektrumsuntergrenze und das Residualspektrum anhand eines Ausführungsbeispiels (mit Kolorierungen und Anmerkungen durch das Patentgericht wiedergegeben, WKS4 S. 18):
32
Gezeigt sind das originäre Energiespektrum, dessen Spektrumsuntergrenze, und das Residualspektrum. Anspruchsgemäß wird das Residualspektrum aus dem Energiespektrum berechnet (Merkmal 1.2), indem vom Spektrum des Schallsignals eine Spektrumsuntergrenze subtrahiert wird (Merkmal 2.2.3). Im aktuellen Residualspektrum werden nach Merkmal 1.3 Spitzen erkannt, für die nach Merkmal 1.4 jeweils Korrelationskarten berechnet werden. Basierend auf der berechneten Korrelationskarte wird nach Merkmal 1.5 eine LangzeitKorrelationskarte berechnet, die eine Tonalität im Schallsignal anzeigt.
33
Die Berechnung einer Korrelationskarte für einen aktuellen Frame ist in Figur 4 gezeigt (mit Anmerkungen und Kolorierungen durch das Patentgericht wiedergegeben, WKS4 S. 20):
34
Die nachfolgend eingeblendete Abbildung der Klagepatentschrift (Figur 5) ist ein Beispiel eines funktionellen Blockdiagramms eines Signalklassifizierungsalgorithmusses, [0014]. Die Figur zeigt die Einbettung des Verfahrens zum Schätzen der Tonalität in den Prozess der Signalklassifizierung bei der Unterscheidung zwischen stimmloser Sprache und Musik (mit Kommentierungen durch das Patentgericht, WKS4, S. 14):
35
6. Folgende Merkmale bedürfen näherer Erläuterung.
36
a) „Tonalität“ im Sinne der Merkmale 1.1, 1.5 und 19.1, 19.5 versteht die Fachperson (nach der Definition des Patentgerichts, der die Kammer sich mit den Parteien anschließt), eine Person mit einem universitären Abschluss (Master oder Diplom) eines Ingenieurstudiums der Elektro-, Nachrichten- oder Informationstechnik sowie mit mehreren Jahren Berufserfahrung auf dem Gebiet der Audiocodierung unter Berücksichtigung von Sprache und Musik in Schallsignalen als Ausdruck der Dauer einzelner Töne (ebenso Patentgericht, WKS4, S. 20). Die Fachperson erkennt den Begriff „Tonalität“ als Synonym des Begriffs „tonale Stabilität“, auch bei Betrachtung mehrerer aufeinanderfolgender Frames.
37
Zu diesem Verständnis wird die Fachperson durch die Gesamtheit der Offenbarung der Patentschrift geführt (unter aa)). Die Formulierung des Unteranspruchs 13 steht diesem Verständnis nicht entgegen (unter bb)), ebenso wenig das allgemeine Fachverständnis des Begriffs (unter cc)). Die in der Beschreibung erläuterten Ausführungsbeispiele sprechen für dieses Verständnis und sind beide anspruchsgemäß (unter dd)).
38
aa) Nach Lektüre der Klagepatentschrift wird die Fachperson dem Begriff „Tonalität“ im Sinne der Merkmale 1.1, 1.5, 19.1, 19.5 das oben genannte Verständnis beimessen.
39
(1) Ausgangspunkt für das richtige Verständnis des Schutzbereichs eines Patents sind die Ansprüche des Patents, Art. 69 Abs. 1 EPÜ. Zur Bestimmung des Schutzbereichs bedürfen Patentansprüche der Auslegung. Patentschriften bilden dabei grundsätzlich ihr eigenes Lexikon (vgl. zu letzterem BGH GRUR 1999, 909, 912 – Spannschraube; z.B. BGH GRUR 2015, 972, 974, Rn. 22 m.w.N. – Kreuzgestänge). Maßgeblich ist, wie die Fachperson einen Begriff im Kontext der geltend gemachten Ansprüche nach Lektüre der Klagepatentschrift versteht.
40
(2) Die Fachperson erkennt, dass nach der Lehre des Klagepatents die „Tonalität“ genutzt werden soll, um besser zwischen Sprache und Musik unterscheiden zu können, und aufbauend hierauf eine bessere Codierung zu erzielen. Daher versteht sie, dass Gegenstand der Tonalität die Dauer oder Stabilität einzelner Töne ist. Die Fachperson erkennt „Tonalität“ entgegen der Auffassung der Beklagtenseite somit als Synonym des Begriffs „tonale Stabilität“.
41
(a) Zu diesem Verständnis wird sie durch die Gesamtoffenbarung der Klagepatentschrift geführt.
42
[0002] erläutert, dass die Tonalitätsschätzung verwendet werde, um die Leistung der Schallaktivitätserkennung hinsichtlich Musiksignalen zu verbessern, und um besser zwischen stimmlosen Geräuschen und Musik unterscheiden zu können. Beschreibungsstelle [0006] aE nimmt hierauf ebenfalls Bezug. Die Tonalitätsschätzung könne beispielsweise in einem superWeitband Codec eingesetzt werden. [0085] erläutert, dass für die Berechnung des Parameters der „tonalen Stabilität“ (einem der Parameter, die bei der Entdeckung von Musik verwendet werden) ein „Tonalitätsschätzer“ eingesetzt werden könne. Das zeigt, dass die Klagepatentschrift die Begriffe Tonalität und tonale Stabilität austauschbar verwendet. In der Überschrift vor [0149] ff. wird ebenfalls der Begriff der „Tonalität“ verwendet. In [0149] wird hierzu erläutert, dass es um Schallsignale mit tonaler Struktur gehe, und dass es das Ziel sei, Rahmen mit starkem tonalen Inhalt innerhalb eines bestimmten Frequenzbereichs zu erkennen. Dafür werde die [zuvor in Absätzen [0097] ff. beschriebene] Analyse der tonalen Stabilität mit Abweichungen genutzt. Dieser Rückbezug in [0149] auf die Schätzung der tonalen Stabilität, wie sie in [0097 ff] gezeigt ist, zeigt ebenfalls den Zusammenhang zwischen „Tonalität“ und „tonaler Stabilität“ auf. Der maßgebliche Unterschied zwischen den [0097] ff. einerseits und [0149] ff. andererseits ist nicht die Gegenüberstellung der Begriffe „tonale Stabilität“ und „Tonalität“ als Gegensatzpaar. Vielmehr ist die maßgebliche Abweichung, dass die Beschreibung in [0149] ff. die Tonalitätsschätzung im super Breitbandinhalt erläutert, wie [0149] deutlich macht, ebenso beispielsweise [0159]. Auch wenn in [0150] ff. Unterschiede zwischen den Verfahren der beiden Ausführungsbeispiele beschrieben werden, wird deutlich, dass die Verfahrensschritte des zweiten Ausführungsbeispiels im Grundsatz denen des ersten Beispiels entsprechen (ebenso LG Mannheim, WKS8, S. 21). Gleichfalls macht der Rückbezug in [0157] hinsichtlich der Entscheidung über die Tonalität auf die zuvor beschriebene Entscheidung, die auf einem Grenzwert basiere, die Gleichstellung der Begriffe deutlich. Ersichtlich nimmt [0157] auf [0110] ff. Bezug.
43
(b) Soweit die Beklagten (etwa unter Bezugnahme auf die Formulierung „tonal structure“ in [0149]) argumentieren, der Begriff „Tonalität“ beziehe sich (nur) auf ein System hierarchischer Tonhöhenbeziehungen, die auf einen Grundton bezogen sind, wie etwa die „Dur-Moll-Tonalität“, und die Schätzung einer entsprechenden Tonalität sich nur auf einen Rahmen beziehe, lehrt das Klagepatent ein solches Verständnis nicht.
44
Während es bei dem von den Beklagten herangezogenen Begriff um einen musikwissenschaftlichen Begriff von Tonalität geht, erkennt die Fachperson, dass die Tonalität im Sinne des Klagepatents auf die Erkennung von Mustern im Schallsignal gerichtet und bei der Encodierung und Decodierung von Schallsignalen maßgeblich ist. Damit befasst sich die musikwissenschaftlich verstandene Tonalität nicht. Die Tonalität, definiert wie unter https://de.wikipedia.org/wiki/Tonalität_(Musik), verhält sich ebenso wenig zu Frames oder Rahmen. Dabei ist irrelevant, ob die Fachperson Kenntnisse im Bereich der Musik aufweist (zu Duplik S. 2/3). Bei Lektüre der Klagepatentschrift wird sie erkennen, dass diese sich mit der schalltechnischen Erkennung und Verarbeitung von Musiksignalen befasst, so dass der musikwissenschaftliche Aspekt für das Verständnis der erfindungsgemäßen Lehre nicht maßgeblich ist.
45
Die Beklagten zeigen ebenso wenig auf, dass das Klagepatent lehrt, die in einer Frequenz vorhandenen Töne in ihrer Beziehung zueinander zu analysieren, so dass es insoweit nicht auf die Tonalität als Tonhöhenbeziehung innerhalb eines Rahmens ankommt (zu Duplik S. 10; ebenso Patentgericht, WKS4, S. 25).
46
(c) Die Fachperson erkennt, dass aus dem Umstand, dass das Klagepatent die beiden Begriffe „tonale Stabilität“ (einerseits) und „Tonalität“ (andererseits) verwendet, nicht zwingend folgt, dass beiden Begriffen unterschiedliche Sinngehalte beizumessen sind.
47
Zwar ist höchstrichterlich anerkannt, dass die Verwendung gleicher Begriffe in einer Patentschrift im Zweifel bedeutet, dass diesen Begriffen derselbe Wortsinn zukommen soll (BGH GRUR 2017, 152, 154, Rn. 17 – Zungenbett). Das bedeutet indes nicht, dass eine Fachperson bei Erläuterung ein und desselben Sachverhalts zwingend immer dieselben Begriffe verwenden wird. Ebenso wenig wird eine Fachperson bei Lektüre einer Patentschrift davon ausgehen, dass verschiedene Begriffe zwingend einen unterschiedlichen Sinngehalt haben (in diese Richtung BGH GRUR 2016, 169, 170, Rn. 16 ff. – Luftkappensystem). Die Fachperson wird vielmehr jedem Begriff nach Lektüre der gesamten Patentschrift den Sinn beimessen, der ihm aus der Gesamtheit der Patentschrift zukommt, wie oben erläutert.
48
Hiernach wird die Fachperson bei Lektüre der Klagepatentschrift aus den oben genannten Gründen erkennen, dass den Begriffen „Tonalität“ und „tonale Stabilität“ keine unterschiedliche Bedeutung zukommt (zu Duplik S. 4).
49
aa) Aus der Formulierung des Unteranspruchs 13, der die „tonale Stabilität“ adressiert, während das Klagepatent in Ansprüchen 1, 6, 11, 14, 15, 16, 19, 22, 23, 25, 26 und 27 auf die „Tonalität“ eines Schallsignals Bezug nimmt, ergibt sich kein anderes Verständnis.
50
Die Ermittlung des Sinngehalts eines Unteranspruchs kann zur richtigen Auslegung des Hauptanspruchs beitragen. Unteransprüche gestalten die im Hauptanspruch unter Schutz gestellte Lösung weiter aus und können insoweit mittelbar Erkenntnisse über deren technische Lehre zulassen. Unteransprüche engen grundsätzlich den Gegenstand des Hauptanspruchs nicht ein, sondern zeigen nur Möglichkeiten der Ausgestaltung auf (BGH (GRUR 2016, 1031, 1033, Rn. 15 m.w.N. – Wärmetauscher).
51
Aus dem Umstand, dass (nur) in Unteranspruch 13 die tonale Stabilität adressiert ist, folgt nicht, dass tonale Stabilität etwas anderes sein muss als die Tonalität. Unteranspruch 13 ist auf Unteranspruch 11 rückbezogen. Letzterer adressiert ein Verfahren zum Einstufen eines Schallsignals mit dem Ziel, die Codierung des Schallsignals mithilfe der Einstufung des Schallsignals zu optimieren. Das Verfahren umfasst unter anderem ein Einstufen des Schallsignals als inaktives Schallsignal oder als ein aktives Schallsignal gemäß der erkannten Schallaktivität im Schallsignal. Dieses Einstufen wiederum umfasst eine Schätzung der Tonalität des Schallsignals, um eine Einstufung von Musiksignalen als stimmlose Sprachsignale zu verhindern. Die Tonalitätsschätzung wird anspruchsgemäß gemäß einem der Ansprüche 1 bis 5 durchgeführt. Unteranspruch 13 adressiert das Einstufen des aktiven Schallsignals als stimmloses Sprachsignal näher. Nach diesem Unteranspruch umfasst das Einstufen eine Berechnung einer Entscheidungsregel, die auf wenigstens einem von mehreren Parametern basiert, darunter eine tonale Stabilität.
52
Hiernach sind „Tonalität“ und „tonale Stabilität“ nicht zwingend als gegensätzliche Begriffe zu verstehen. Vielmehr beschreiben die Unteransprüche verschiedene Sachverhalte: einerseits die Einstufung des aktiven Sprachsignals (u.a.) anhand der Schätzung der Tonalität des Schallsignals, andererseits die Einstufung des aktiven Sprachsignals (u.a.) anhand der Berechnung einer Entscheidungsregel, die u.a. auf einer tonalen Stabilität basieren kann. Unteranspruch 13 ist in Abgrenzung zu Unteranspruch 11 somit insbesondere die Berechnung einer Entscheidungsregel zu eigen, die auf verschiedenen Parametern beruht. Anspruch 11 adressiert mithin einen Teilaspekt, Anspruch 13 adressiert weitere Kriterien der Klassifizierung eines Signals als stimmloses Sprachsignal (ebenso Patentgericht, WKS4, S. 23/24). Daher kommt Unteranspruch 13 ein eigener Sinngehalt zu, auch wenn die Begriffe tonale Stabilität und Tonalität als Synonyme verstanden werden (zu Duplik S. 6).
53
aa) Das allgemeine Fachwissen steht diesem Verständnis des Begriffs „Tonalität“ ebenso wenig entgegen.
54
Die Klägerin hat unter Bezugnahme auf WKS10 erläutert, dass im Prioritätszeitpunkt die Fachperson die „Tonalität“ (jedenfalls auch) auf den Charakter eines Audiosignals bezog. Das steht im Einklang mit der Aufgabenstellung der Klagepatentschrift in [0006] („tonality detection“) und der einleitenden Erläuterung in [0002]. Es kann dahinstehen, ob die Fachperson, an die sich die Klagepatentschrift richtet, den Begriff „Tonalität“ ebenfalls im musikwissenschaftlichen Kontext kennt. Sie wird jedenfalls nach Lektüre der Klagepatentschrift erkennen, dass der musikwissenschaftliche Aspekt des Begriffs durch das Klagepatent nicht adressiert wird.
55
aa) Das erläuterte Verständnis steht im Einklang mit den in [0097] ff. einerseits und [0149]
56
ff. andererseits erläuterten Ausführungsbeispielen. Die Fachperson versteht vor dem oben genannten Hintergrund, dass beide Ausführungsbeispiele des Klagepatents die anspruchsgemäße „Tonalität“ adressieren.
57
Werden in der Beschreibung mehrere Ausführungsbeispiele als erfindungsgemäß vorgestellt, sind die im Patentanspruch verwendeten Begriffe im Zweifel so zu verstehen, dass sämtliche Ausführungsbeispiele zu ihrer Ausfüllung herangezogen werden können (BGH GRUR 2015, 972, 974, Rn. 23 – Kreuzgestänge). Eine Situation, in der aufgrund der konkreten Anspruchsformulierung ein Verständnis ausscheidet, das alle Ausführungsbeispiele erfassen würde, ist seltenen Ausnahmefällen vorbehalten (vgl. BGH GRUR 2015, 159 Zugriffsrechte; BGH GRUR 2015, 868 Polymerschaum I; BGH GRUR 2015, 875 Rotorelemente; BGH GRUR 2015, 972 Kreuzgestänge).
58
Mit Blick auf die tonale Stabilität erläutert insbesondere [0097], dass sich die tonale Stabilität die tonale Natur von Musiksignalen zu eigen mache. Ein typisches Musiksignal umfasse Töne, die über mehrere aufeinanderfolgende Rahmen stabil seien. Die tonale Natur wird mithin mit einer Stabilität über mehrere (aufeinanderfolgende) Rahmen gleichgesetzt. [0097] erläutert weiter, dass tonale Stabilität anhand einer Korrelation zwischen den spektralen Spitzen in dem aktuellen Rahmen und denen in einem vorhergehenden Rahmen erkannt werde, wie es Merkmal 1.5 des Anspruchs 1 adressiert. [0097] greift mithin einen Kerngedanken der patentgemäßen Erfindung auf und erklärt sie in den folgenden Absätzen weiter.
59
Die Anspruchsformulierung bietet (durch die Bezugnahme auf die „Tonalität“) keinen Anhaltspunkt dafür, dass Anspruch 1 auf das in [0149] ff. adressierte zweite Ausführungsbeispiel beschränkt sein sollte. Vielmehr versteht die Fachperson nach vorgesagtem, dass Tonalität und „tonale Stabilität“ denselben Sachverhalt bezeichnen. Da die [0149] ff. auf [0097] ff. Bezug nehmen, ist es nicht geboten, einen logischen Gegensatz zwischen „Tonalität“ und „tonaler Stabilität“ anzunehmen (ebenso im Ergebnis Patentgericht, WKS4, S. 24/25). (Zu der Anspruchsgemäßheit von Ausführungsbeispiel 1 hinsichtlich des Merkmals 1.3, 19.3 siehe noch sogleich.)
60
Ebenso wenig gibt die Erteilungshistorie Anlass zu einem anderen Verständnis. Aus dem Umstand, dass die Prioritätsschrift zunächst explizit nur die tonale Stabilität erläuterte, die [0149] bis [0159] mithin nicht in der Prioritätsschrift enthalten waren, folgt aus den oben genannten Gründen entgegen der Auffassung der Beklagten, dass die Klagepatentschrift den Begriffen „tonale Stabilität“ und „Tonalität“ denselben Gehalt beimisst. Hieraus ergibt sich jedenfalls nicht, dass der Aspekt der Tonalität, wie in [0149] ff. erläutert, ein zusätzlicher Aspekt ist (zu Duplik S. 8).
61
b) Nach Merkmal 1.2 wird ein aktuelles Residualspektrum des Schallsignals berechnet, und zwar gemäß Merkmal 2.2.3 durch Subtrahieren einer Spektrumsuntergrenze vom Spektrum des Schallsignals in einem aktuellen Rahmen. Merkmal 19.2 adressiert entsprechend einen Berechner zum Berechnen eines aktuellen Residualspektrums des Schallsignals durch (Merkmal 20.2.3) Subtrahieren einer Spektrumsuntergrenze vom Spektrum des Schallsignals in einem aktuellen Rahmen.
62
Das Spektrum des Schallsignals ist gemäß [0097] das durchschnittliche log-energy Spektrum, wie in Gleichung (4) definiert, mithin EdB(k). Die Spektrumsuntergrenze beschreibt [0101] als eine stückweise lineare Funktion, die durch lokale Minima verläuft. Die Subtraktion der Spektrumsuntergrenze erfolgt mittels der Gleichung (32), [0103]. Dieser Vorgang ist in der oben wiedergegebenen Figur 3 (mit Kolorierung und Kommentierung durch das Patentgericht) gezeigt.
63
Das Residualspektrum ist ein Spektrum, das aus dem Spektrum des Schallsignals gewonnen ist. Durch die Abbildung des Residualspektrums soll sich die lokale Spitzenstruktur des Spektrums des Schallsignals besser erkennen lassen. Dies dient der verbesserten Beurteilung der zeitlichen Stabilität. Größe und Form der lokal dominierenden Signalanteile des ursprünglichen Schallsignalspektrums müssen sich nicht exakt im Residualspektrum widerspiegeln (ebenso Patentgericht, WKS4, S. 16).
64
c) Merkmal 1.3 adressiert ein Erkennen von Spitzen im aktuellen Residualspektrum, Merkmal 19.3 entsprechend einen Detektor zum Erkennen von Spitzen im aktuellen Residualspektrum. Für die (gemäß Merkmal 1.3) erkannten Spitzen im Residualspektrum wird nach Merkmal 1.4 eine Korrelationskarte berechnet.
65
aa) [0104] aE erläutert, dass „Spitzen“ verstanden werden als ein Teil („piece“) zwischen zwei Minima in dem Residualspektrum. Die Minima selbst gehören nicht zu den Spitzen (ebenso Patentgericht, WKS4, S. 18).
66
aa) Maßgeblich ist nach Anspruch 1/Anspruch 19 das Erkennen von Spitzen „im aktuellen Residualspektrum“. Die erkannten Spitzen müssen demnach im aktuellen Residualspektrum „vorliegen“, ohne dass der Anspruch adressiert, wie die Spitzen erkannt werden, d.h. anhand der Analyse welchen Spektrums der Schritt des Erkennens erfolgt. Weder nach Wortlaut noch nach Wortsinn ist dieses Erkennen auf eine Analyse des Residualspektrums beschränkt:
67
(1) [0099] ff. erläutert, dass Minima im Schallsignalspektrum gefunden werden (Schritt 2 der Schätzung der tonalen Stabilität), um die Spektrumsuntergrenze zu bilden, [0101] (Schritt 2 der Schätzung der tonalen Stabilität). Das Erkennen von Spitzen im Residualspektrum erläutert die Beschreibung hier nicht explizit. Für die Fachperson ist damit offen, ob Spitzen im Residualspektrum anhand des Residualspektrums erkannt werden müssen, oder ob sie anhand des Signalspektrums erkannt werden dürfen. Die Ermittlung von Spitzen anhand des Residualspektrums (EdB, res) in [0156] beschränkt den Anspruch nicht (zu Klageerwiderung S. 12).
68
(2) Soweit die Beklagten argumentieren, wegen der Ermittlung der Spitzen anhand des Energiespektrums fiele die Berechnung nach dem ersten Ausführungsbeispiel nicht unter den Anspruch, verfängt diese Argumentation nicht. Wie oben dargelegt, sind patentrechtliche Ansprüche grundsätzlich so auszulegen, dass alle Ausführungsbeispiele von den Ansprüchen erfasst werden. Das gilt hier ebenso. Der Anspruch adressiert nicht, durch welche Analyse welchen Spektrums die Spitzen ermittelt werden müssen. Daher sind Ansprüche 1 und 19 dahingehend auszulegen, dass Ausführungsbeispiel 1 erfasst ist (zu Duplik S. 12).
69
Ein Verständnis, wonach nur das zweite Ausführungsbeispiel insoweit anspruchsgemäß sein soll, ergibt sich ebenso wenig aus dem Urteil des Bundespatentgerichts (zu Duplik S. 18). Zwar nimmt das Patentgericht auf S. 34 in Zeile 7 Bezug auf das zweite Ausführungsbeispiel. Eingangs seiner Erläuterungen zur Frage der unzulässigen Erweiterung stellt es indes ebenso auf die den [0099] und [0103] des Klagepatents entsprechenden Beschreibungsstellen in der Ursprungsoffenbarung ab, mithin Ausführungsbeispiel 1.
70
(3) Ebenso wenig verhilft den Beklagten die Argumentation zum Erfolg, dass die Spitzen im Energie- und Residualspektrum sich unterscheiden würden, so dass die Berechnungen aus dem ersten Ausführungsbeispiel nicht herangezogen werden dürften (zu Duplik S. 13).
71
Die Fachperson erkennt, dass die Formel (33) in [0105] im linken Teil mit imin Minima im Schallsignalspektrum (EdB), mithin lokale Minima erfasst, wie ebenso in Formel (30) adressiert. In [0104] sind hingegen Minima im Residualspektrum (EdB,res) adressiert, mithin absolute Minima (ebenso LG Mannheim WKS8, S. 22).
72
Aus der vorstehend abgebildeten Figur 3 ist erkenntlich, dass lokal dominierende Signalanteile im Spektrum des Schallsignals großen Werten im Residualspektrum entsprechen. Diese werden als Spitzen im Residualspektrum erkannt und in Merkmal 1.3 adressiert. Die Darstellung der Beklagtenseite von Figur 3 (Duplik S. 14) ist insoweit nicht zutreffend:
73
Entgegen der Auffassung der Beklagten enthält das Residualspektrum ab Frequenzbin 20 nicht zwei Spitzen, sondern lediglich eine Spitze mit zwei Erhebungen. Denn die von der Beklagtenseite als 2. Minimum im Residualspektrum bezeichnete Stelle ist kein absolutes Minimum, sondern nur ein lokales Minimum.
74
Die Fachperson erkennt, dass die Spitzen als „Teile“ im Energiespektrum und im Residualspektrum in dem Ausführungsbeispiel der Figur 3 einander entsprechen. Denn das Residualspektrum wird derart gebildet, dass die Spektrumsuntergrenze von dem Spektrum des Schallsignals abgezogen wird. Vereinfacht ausgedrückt, wird das Spektrum des Schallsignals auf eine Linie geebnet, in Figur 3 auf dB 0. Dadurch sind die Spitzen im Energiespektrum und die Spitzen im Residualspektrum, definiert als Teile zwischen den Minima, wie vorstehend erläutert, im Beispiel der Figur 3 deckungsgleich (ebenso LG Mannheim, WKS8, S. 22 ff.).
75
(4) Auf die Frage, ob das Erkennen der Spitze sich nur darauf bezieht, zu erkennen, ob eine Spitze vorliegt, oder ob die Form der Spitze Gegenstand des Erkennens ist, kommt es hier nicht an.
76
c) Merkmal 1.4 sieht das Berechnen einer Korrelationskarte zwischen dem aktuellen Residualspektrum und einem vorherigen Residualspektrum für jede erkannte Spitze vor, Merkmal 19.4 einen entsprechenden Berechner. Merkmal 1.5 adressiert sodann das Berechnen einer Langzeit-Korrelationskarte basierend auf der [nach Merkmal 1.4] berechneten Korrelationskarte, wobei die Langzeit-Korrelationskarte eine Tonalität im Schallsignal anzeigt. Merkmal 19.5 sieht wiederum einen entsprechenden Berechner vor.
77
Die Korrelationskarte nach Merkmal 1.4 betrachtet, ob an der Position, an der sich im aktuellen Rahmen eine Spitze befindet, sich in einem Residualspektrum eines vorherigen Rahmens ebenfalls eine Spitze befindet. Beispielhaft wird dieser Vorgang in der ersten Abbildung der Figur 4 gezeigt. Die eigentliche Berechnung erfolgt anhand der Gleichung (33), [0105].
78
c) In Abgrenzung zu der in Merkmal 1.4/19.4 angesprochenen Korrelationskarte adressiert Merkmal 1.5/19.5 eine Korrelationskarte, die mehr als zwei [aufeinanderfolgende] Residualspektren berücksichtigt. Ziel ist es, die Dauer der Töne besser ermitteln zu können (ebenso Patentgericht, WKS4, S. 20).
79
[0107] beschreibt die (rekursive) Berechnung der Langzeit-Korrelationskarte mit der Formel (34). Die Fachperson liest nach den Erwägungen des Bundespatentgerichts bei der Betrachtung der Gleichung mit, dass die Langzeit-Korrelationskarte mit jedem neu berechneten Residualspektrum oder jeder neu berechneten Korrelationskarte aktualisiert wird. Daher liest der Fachmann nach der Erläuterung des Patentgerichts mit, dass die Gleichung jeweils um einen Laufindex für die Rahmennummer zu ergänzen ist (Patentgericht WKS4, S. 20, 21). Mit dieser Erläuterung nimmt das Bundespatentgericht das fortlaufende Verfahren der Tonalitätsschätzung in den Blick, das nicht mit einem einmaligen Schätzvorgang beendet ist, wie [0113] unterstreicht. Anspruchsgemäß genügt indes die einmalige Berechnung einer Langzeit-Korrelationskarte. [0107] erläutert diesen Vorgang für einen aktuellen Rahmen („current frame“); entsprechend bezieht sich die dort abgebildete Formel auf die einmalige Berechnung (ohne Laufindex).
80
In Merkmal 19.5 stellt das Teilmerkmal „zum Berechnen einer LangzeitKorrelationskarte basierend auf der berechneten Korrelationskarte (…)“ im Übrigen lediglich eine Zweckangabe dar.
81
II. Die Beklagte verletzt das Klagepatent in der geltend gemachten Fassung von Anspruch 19 mit der angegriffenen Ausführungsform unmittelbar wortsinngemäß, § 9 Satz 2 Nr. 1 PatG. Die Ausführungsform weist sämtliche Merkmale des Klagepatents auf.
82
1.Die Verwirklichung der Merkmale 19.2 und 19.4 ist zwischen den Parteien zu Recht nicht streitig. Die Merkmale 19.1, 19.3 und 19.5 sind ebenfalls verwirklicht.
83
a) Die Ausgestaltung der angegriffenen Vorrichtungen ist zwischen den Parteien insoweit unstreitig, als sie mit dem EVS-Standard kompatibel sind und den EVS-Standard Codierung nutzen.
84
b) Eine Verletzung des Merkmals 19.1 liegt vor, weil der EVS-Standard eine Tonalitätsschätzung im Sinne des Merkmals 19.1 vornimmt. Mobiltelefone, die mit dem EVSStandard kompatibel sind, sind mithin eine Vorrichtung zum Schätzen einer Tonalität eines Schallsignals im Sinne des Merkmals 19.1.
85
Dass der EVS-Standard eine entsprechende Tonalitätsschätzung vornimmt, folgt aus Abschnitt 5.1.11.2.5 des Standards:
86
Hier wird für einzelne Segmente (Rahmen) des Schallsignals ermittelt, ob sie einen starken oder einen schwachen tonalen Charakter haben, 5.1.11.2.5, S. 59, vorletzter Absatz.
87
Dass der EVS-Standard die Schätzung einer Tonalität nicht basierend auf einem einzelnen Frame, sondern basierend auf der Grundlage mehrerer aufeinanderfolgender Frames durchführt, ist für die Verletzungsfrage mit oben erläuterter Auslegung irrelevant (zu Klageerwiderung S. 15/16).
88
c) Merkmal 19.3 ist ebenfalls verwirklicht. Aus Abschnitt 5.1.11.2.5, S. 58, erster Absatz unter Fig. 9 folgt, dass Spitzen im aktuellen Residualspektrum erkannt werden:
89
Figur 9 des Standards entspricht Figur 3 des Klagepatents:
90
Hiernach werden für die Erstellung der Korrelationsmappe (Merkmal 19.4) Spitzen verwendet. Eine standardgemäß funktionierende Vorrichtung muss mithin einen Detektor zum Erkennen von Spitzen im aktuellen Residualspektrum aufweisen.
91
Dass der Standard bei dem Erkennen von Spitzen das originale Energiespektrum EdB, und nicht das Residualspektrum verwendet, S. 57 des Standards, ist nach hiesiger Auslegung für die Verletzungsfrage unbeachtlich (zu Klageerwiderung S. 15/16).
92
d) Ebenso ist Merkmal 19.5 verwirklicht. Dies folgt aus Abschnitt 5.1.11.2.5, S. 59 des EVS-Standards:
93
Die für den aktuellen Rahmen berechnete Korrelationskarte Mcor wird danach genutzt, um den Langzeitwert ??̅cor zu aktualisieren. Die oben abgebildete Gleichung (134) entspricht der Gleichung (34) des Klagepatents. Somit setzt der EVS-Standard in den Geräten, die mit dem EVS-Standard kompatibel sind, einen Berechner zur Berechnung des Langzeitwerts ??̅cor voraus. Vorrichtungen, die mit dem EVS-Standard kompatibel sind, müssen einen entsprechenden Berechner aufweisen, folglich auch die angegriffenen Ausführungsformen.
94
Soweit die Beklagten anführen, im EVS-Standard würde – entgegen dem Klagepatent – keine Aktualisierung erfolgen, führt dies nach oben erläuterter Auslegung nicht aus der Verletzung heraus. Denn Merkmal 19.5 verlangt zwingend nur die Berechnung einer LangzeitKorrelationskarte in einem aktuellen Frame.
95
III. Von Anspruch 1 machen die angegriffenen Verletzungsformen mittelbar wortsinngemäß Gebrauch. Die angegriffenen Verletzungsgegenstände verletzen Anspruch 1 des Klagepatents, weil eine mittelbare Patentverletzung nach § 10 Abs. 1 PatG vorliegt.
96
1. Die Voraussetzungen der mittelbaren Patentverletzung sind gemäß § 10 Abs. 1 PatG erfüllt. Der Gefährdungstatbestand nach § 10 PatG wird objektiv und subjektiv verwirklicht.
97
a) Mittel sind die angegriffenen Verletzungsformen (EVSfähige Mobiltelefone), weil sie Gegenstände sind, die selbst noch nicht die Lehre des Patentanspruchs 1 (wortsinngemäß oder äquivalent) verwirklichen, aber geeignet sind, zur unmittelbaren Benutzung der Erfindung (in wortsinngemäßer oder äquivalenter Form) verwendet zu werden.
98
b) Diese Mittel beziehen sich auf ein wesentliches Element der Erfindung. Die Geräte können das in Anspruch 1 beanspruchte Verfahren ausführen. Da die in Anspruch 1 enthaltenen Merkmale maßgeblich durch die angegriffenen Verletzungsformen verwirklicht werden, tragen sie damit zum erfindungsgemäßen Leistungsergebnis maßgeblich bei.
99
c) Die angegriffenen Verletzungsformen (EVSfähige Mobiltelefone) sind objektiv zur unmittelbaren Patentbenutzung geeignet. Wenn eine angegriffene Verletzungsform bestimmungsgemäß von dritter Seite genutzt wird, sind die Voraussetzungen zur Anwendung des Verfahrens nach Anspruch 1 hergestellt. Die angegriffenen Mittel sind geeignet, für die Benutzung der Erfindung verwendet zu werden. Nach der objektiven Beschaffenheit der angegriffenen Verletzungsformen und ihrer Einbindung in den EVS-Standard ist dies der Fall, weil eine unmittelbare wortsinngemäße Benutzung der geschützten Lehre mit allen ihren Merkmalen durch die Nutzer möglich ist. Diese Benutzung durch Nutzer ist bereits erfolgt. Insoweit wird auf die Darlegung der Verletzung unter II. verwiesen. Die dortigen Ausführungen gelten entsprechend für die Verwirklichung des Verfahrensanspruchs 1.
100
2. Das Angebot oder die Lieferung im Inland zur Benutzung der Erfindung im Inland ist erfolgt.
101
3. Der subjektive Tatbestand ist gegeben.
102
Die subjektive Bestimmung des Nutzers zur unmittelbaren patentverletzenden Verwendung ist offensichtlich. Die angegriffenen Verletzungsformen sehen die patentverletzende Funktionalität (EVS-Kompabilität) vor. Es ist evident, aber zumindest davon auszugehen, dass sie vom Nutzer der Vorrichtungen entsprechend ausgeführt wird. Die objektive Eignung und die Verwendungsbestimmung der Abnehmer sind für die Beklagten offensichtlich.
103
IV. Die Beklagten sind unstreitig passivlegitimiert.
104
V. Damit stehen der Klägerin die geltend gemachten Ansprüche wie tenoriert zu.
105
1. Der Anspruch auf Unterlassung folgt aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ, § 139 Abs. 1 PatG. Die Wiederholungsgefahr wird durch die rechtswidrigen Benutzungshandlungen indiziert.
106
a) Ein Schlechthinverbot ist hinsichtlich Ziffer I.1.b) des Tenors gerechtfertigt. Die angegriffenen Verletzungsformen werden technisch und wirtschaftlich sinnvoll in patentverletzender Weise verwendet. Das hat die Beklagtenseite nicht in Zweifel gezogen.
107
b) Der Unterlassungsanspruch ist nicht unverhältnismäßig.
108
(1) Gemäß § 139 Abs. 1 S. 3 PatG ist der Unterlassungsanspruch ausgeschlossen, wenn die Inanspruchnahme aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls und der Gebote von Treu und Glauben für den Verletzer oder Dritte zu einer unverhältnismäßigen, durch das Ausschließlichkeitsrecht nicht gerechtfertigten Härte führen würde.
109
Der Unverhältnismäßigkeitseinwand des § 139 Abs. 1 S. 3 PatG ist auf besondere Ausnahmefälle begrenzt. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass der Unterlassungsanspruch die logische Folge des Ausschließlichkeitsrechts ist. Mit der Erteilung des Patents entstehen an der patentierten Erfindung absolute Rechte, die neben ihrem Zuweisungsgehalt einen Ausschlussgehalt besitzen, so dass der Inhaber des Rechts grundsätzlich jedermann von der Nutzung der patentierten Lehre ausschließen kann. So erlauben sie insbesondere – im Rahmen der übrigen gesetzlichen, insbesondere der patent- und kartellrechtlichen Vorgaben – den Ausschluss Dritter von der Nutzung der patentierten Lehre. Um sein Ausschließlichkeitsrecht durchzusetzen ist der Patentinhaber in aller Regel auf den Unterlassungsanspruch angewiesen.
110
Der Gesetzgeber hat in der Begründung des 2. PatModG klargestellt, dass eine Einschränkung des Unterlassungsanspruchs nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht kommt. Der Unterlassungsanspruch ist die regelmäßige Sanktion der Patentrechtsordnung bei einer Patentverletzung. Darlegungs- und beweisbelastet für eine Unverhältnismäßigkeit ist die Beklagtenseite. Eine Einschränkung des Unterlassungsanspruchs kommt nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen in Betracht (BT-Drs. 19/25821, S. 53).
111
Wenn der Patentverletzer besondere Umstände darlegt, die im Einzelfall eine nicht gerechtfertigte Härte begründen können, kann es im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls und bei einer sorgfältigen Abwägung aller Umstände unter Berücksichtigung des Gebotes von Treu und Glauben und der grundsätzlich vorrangigen Interessen des Verletzten an der Durchsetzung seines Unterlassungsanspruchs ausnahmsweise darauf ankommen, ob der Verletzte selbst Produkte oder Komponenten herstellt, die mit dem patentverletzenden Produkt in Wettbewerb stehen, oder ob primär eine Monetarisierung seiner Rechte das Ziel des Patentinhabers ist (BT-Drs. 19/25821, S. 53). Im Übrigen können wirtschaftliche Auswirkungen der Unterlassungsverfügung, die Komplexität von Produkten, subjektive Gesichtspunkte auf beiden Seiten und Drittinteressen zu berücksichtigen sein. So kann etwa zu Lasten des Verpflichteten eine fehlende Lizenzwilligkeit gesehen werden (BT-Drs. 19/25821, S. 54).
112
(2) Bei Anwendung dieser Maßstäbe greift der von der Beklagtenseite erhobene Einwand der Unverhältnismäßigkeit nicht durch. Unter Berücksichtigung aller Umstände des zwischen den Parteien geführten Rechtsstreits und ihrer maßgeblichen Interessen hat die Beklagtenseite eine Unverhältnismäßigkeit des Unterlassungsanspruchs nicht dargetan.
113
Der Umstand, dass die Klägerin ihr EVS-Portfolio zum Zwecke der Monetarisierung erworben hat (Klageerwiderung S. 20), begründet für sich gesehen keine Unverhältnismäßigkeit des Unterlassungsanspruchs. Nach der bisherigen Rechtslage (vgl. Werner in: Busse/Keukenschrijver, PatG, 9. Aufl. 2020, § 139 Rn. 92 m.w.N.), der die Gesetzesbegründung zustimmt (s.o.), ist der Umstand allein, dass ein Patentverwerter einen Unterlassungsanspruch geltend macht, für sich gesehen nicht geeignet, diesen als unverhältnismäßig einzustufen (st. Rspr. der Kammer, vgl. LG München I GRUR-RS 2022, 34498 – „keepawake-message“).
114
Dass die dem Klagepatent zugrunde liegende technische Funktion nur einen Teilaspekt des EVS-Standards adressiert, und die angegriffenen Ausführungsformen höchst komplexe Produkte sind, begründet für sich gesehen ebenfalls keine Unverhältnismäßigkeit.
115
Jedenfalls bei der Geltendmachung von standardessenziellen Patenten kommt eine Unverhältnismäßigkeit grundsätzlich nicht in Betracht. Denn der Nutzer eines SEPs hat grundsätzlich einen Anspruch auf Abschluss eines Lizenzvertrages zu FRAND-Bedingungen. Dass der Lizenzvertrag noch nicht abgeschlossen ist, ist – wie sogleich unter C. gezeigt wird – der Beklagtenseite anzulasten.
116
Wie oben erläutert, kann die Lizenzunwilligkeit bei einer Interessenabwägung zu berücksichtigen sein. Ein anderes Ergebnis folgt nicht aus der Argumentation der Beklagten, dem Unverhältnismäßigkeitseinwand verbliebe neben dem FRAND-Einwand kein Anwendungsbereich. Der Umstand, dass die Unternehmensgruppe der Beklagten jedenfalls ein – nicht schlechterdings untragbares, s.u. – Angebot von der Klägerin erhalten und dieses nicht angenommen hat, weil sie lizenzunwillig gewesen ist (hierzu unter C.), vermag die Rechte der Klägerin wegen der Komplexität des Verletzerprodukts nicht zu beschränken. Denn die Unternehmensgruppe der Beklagten hatte und hat die Möglichkeit, ihr patentverletzendes Handeln zu legitimieren. Sie hat (bislang) von dieser Möglichkeit jedoch keinen Gebrauch gemacht. Dass die Klägerin ihre Patentrechte gegen einen lizenzunwilligen Patentverletzer durchsetzen muss und hierzu auf ein gerichtliches Verfahren angewiesen ist, ist dann logische Folge. Dies begründet im Rahmen der gebotenen Gesamtbetrachtung keine Unverhältnismäßigkeit des Unterlassungsanspruchs.
117
Dieses Ergebnis steht im Einklang mit der herrschenden Meinung in der rechtswissenschaftlichen Literatur: Kommt der Patentinhaber seinen FRAND-Verpflichtungen nach, so eröffnet § 139 Abs. 1 S. 3 PatG dem Patentverletzer bei Fehlen weiterer, die Unverhältnismäßigkeit begründender Umstände keine zusätzliche Verteidigungsmöglichkeit (vgl. Ohly, GRUR 2021, 1229, 1236).
118
Bei einer Gesamtbetrachtung der von der Beklagtenseite aufgeworfenen Aspekte kommt eine Unverhältnismäßigkeit ebenso wenig in Betracht.
119
2. Der Anspruch auf Auskunft und Rechnungslegung folgt aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ, § 140b Abs. 1, Abs. 3 PatG, §§ 242, 259 BGB. Diese sind Hilfsansprüche zu den, dem Grunde nach gegebenen, Ansprüchen der Klägerin auf Entschädigung und Schadensersatz.
120
Der Anspruch auf Auskunft über die Herkunft und den Vertriebsweg der angegriffenen Ausführungsform ergibt sich aufgrund der unberechtigten Benutzung des Erfindungsgegenstandes unmittelbar aus § 140b Abs. 1 PatG i. V. mit Art. 64 Abs. 1 EPÜ, der Umfang der Auskunftspflicht aus § 140b Abs. 3 PatG i. V. mit Art. 64 Abs. 1 EPÜ.
121
Die weitergehende Auskunftspflicht und die Verpflichtung zur Rechnungslegung folgen aus §§ 242, 259 BGB i. V. mit Art. 64 Abs. 1 EPÜ, damit die Klägerin in die Lage versetzt wird, den ihr zustehenden Schadensersatzanspruch zu beziffern.
122
Die Klägerin ist im Übrigen auf die Angaben der Beklagten angewiesen, über die sie ohne eigenes Verschulden nicht verfügt. Die Beklagten werden durch die von ihr verlangten Auskünfte nicht unzumutbar belastet. Der Wirtschaftsprüfervorbehalt ist wie beantragt zu gewähren. Wegen der Akzessorietät zum Schadensersatzanspruch, der ein Verschulden voraussetzt, ist die (beantragte) Karenzzeit von einem Monat ab Patenterteilung zu berücksichtigen.
123
3. Da die Beklagten die Verletzungshandlungen zumindest fahrlässig begangen haben, sind sie dem Grunde nach zum Schadensersatz verpflichtet, § 139 Abs. 2 PatG i. V. mit Art. 64 Abs. 1 EPÜ.
124
Bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte im Geschäftsbetrieb der Beklagten spätestens einen Monat nach Veröffentlichung der Erteilung des Klagepatents erkannt werden können und müssen, dass dieses durch den Vertrieb der angegriffenen Ausführungsformen verletzt wird.
125
Eine für die Feststellung der Schadensersatzpflicht ausreichende gewisse Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines Schadens ist wegen des bereits eingetretenen Schadens aufgrund der geschehenen Patentbenutzungen begründet.
126
Die Beklagten haften nach § 840 Abs. 1 BGB als Gesamtschuldner.
127
4. Die Ansprüche gegen die Beklagten auf Vernichtung der Verletzungsformen und deren Rückruf ergeben sich im Umfang des Tenors aus § 140a Abs. 1 und 3 PatG i. V. mit Art. 64 Abs. 1 EPÜ. Der Anspruch auf Rückruf besteht auch gegen eine im Ausland ansässige Verpflichtete (BGH GRUR 2017, 785, 787, Rn. 33 – Abdichtsystem). Daher besteht der Anspruch auch hier gegen die Beklagtenseite. Ebenso besteht der Anspruch auf Vernichtung: Zwar liegt der Sitz der Beklagten zu 1) im Ausland, sie liefert aber unstreitig Verletzungsgegenstände ins Inland und hat daher im Inland jedenfalls (mittelbaren) Besitz.
128
Der Anspruch ist auch nicht unverhältnismäßig, § 140a Abs. 4 PatG. Auch der Unverhältnismäßigkeitseinwand nach § 140a Abs. 4 PatG ist auf enge Ausnahmen beschränkt (zum Vernichtungsanspruch siehe Rinken, in: BeckOK PatR, PatG § 140a Rn. 28, zum Rückrufanspruch Rinken, in: BeckOK PatR, PatG § 140a Rn. 46). Hier gilt das unter V.1.b) Gesagte entsprechend.
C.
129
Der von den Beklagten erhobene kartellrechtliche Zwangslizenzeinwand (sog. FRANDEinwand) steht der Durchsetzbarkeit der klägerischen Ansprüche auf Unterlassung, Vernichtung, Rückruf und Entfernung nicht entgegen. Er greift mangels Lizenzwilligkeit der Unternehmensgruppe der Beklagten nicht durch.
130
Es kann zu Gunsten der Beklagten unterstellt werden, dass die Klägerin eine marktbeherrschende Stellung auf dem relevanten Markt besitzt, so dass sie Normadressatin des Art. 102 AEUV ist. Den sich aus dieser besonderen Stellung ergebenden Pflichten und Obliegenheiten ist die Klägerin hinreichend nachgekommen. Die Unternehmensgruppe der Beklagten ist insbesondere auf die Verletzung hingewiesen worden. Entgegen der Annahme der Beklagten liegt jedoch kein Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung vor. Denn nach den Umständen des konkreten Einzelfalls ist die Unternehmensgruppe der Beklagten nicht (hinreichend) lizenzwillig gewesen.
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I. Ein Patentinhaber, welcher sich gegenüber einer Standardisierungsorganisation verpflichtet hat, Lizenzen an einem standardessenziellen Patent (SEP) zu FRANDBedingungen (also fairen, angemessenen und nicht diskriminierenden Bedingungen) zu erteilen, kann seine durch das standardessenzielle Patent vermittelte marktbeherrschende Stellung durch die Erhebung einer Verletzungsklage missbrauchen, wenn und soweit diese geeignet ist zu verhindern, dass dem Standard entsprechende Produkte auf den Markt gelangen oder auf dem Markt erhältlich bleiben (vgl. EuGH GRUR 2015, 764 – Huawei Technologies/ZTE; BGH GRUR 2020, 961 Rn. 68 – FRAND-Einwand I). Als missbräuchlich können insoweit grundsätzlich Klageanträge in Betracht kommen, die auf Unterlassung, Rückruf und Entfernung von Produkten oder auf Vernichtung gerichtet sind (vgl. BGH GRUR 2020, 961 Rn. 68 – FRAND-Einwand I m. w. N.).
132
Der Unionsgerichtshof hat zur FRAND-Lizenz entschieden, dass der Inhaber eines von einer Standardisierungsorganisation normierten standardessenziellen Patents, der sich gegenüber dieser Organisation unwiderruflich verpflichtet hat, jedem Dritten eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen, seine marktbeherrschende Stellung nicht dadurch missbraucht, dass er eine Patentverletzungsklage auf Unterlassung der Beeinträchtigung seines Patents oder auf Rückruf der Produkte, für deren Herstellung dieses Patent benutzt wurde, erhebt, wenn er zum einen den angeblichen Verletzer vor Erhebung der Klage auf die Patentverletzung, die ihm vorgeworfen wird, hingewiesen hat und dabei das betreffende Patent bezeichnet und angegeben hat, auf welche Weise es verletzt worden sein soll, und zum anderen, nachdem der angebliche Patentverletzer seinen Willen zum Ausdruck gebracht hat, einen Lizenzvertrag zu FRAND-Bedingungen zu schließen, er dem Patentverletzer ein konkretes schriftliches Lizenzangebot zu diesen Bedingungen unterbreitet und insbesondere die Lizenzgebühr sowie die Art und Weise ihrer Berechnung angegeben hat und dieser Patentverletzer, während er das betreffende Patent weiter benutzt, auf dieses Angebot nicht mit Sorgfalt, gemäß den in dem betreffenden Bereich anerkannten geschäftlichen Gepflogenheiten und nach Treu und Glauben, reagiert, was auf der Grundlage objektiver Gesichtspunkte zu bestimmen ist und unter anderem impliziert, dass keine Verzögerungstaktik verfolgt wird (vgl. EuGH aaO). Weiter hat der Gerichtshof der Europäischen Union entschieden, dass es dem Inhaber eines standardessenziellen Patents mit FRAND-Erklärung grundsätzlich nicht verboten ist, gegen den Verletzer seines Patents eine Verletzungsklage auf Rechnungslegung bezüglich der vergangenen Benutzungshandlungen in Bezug auf das Patent oder auf Schadensersatz wegen dieser Handlungen zu erheben (EuGH aaO).
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Die klageweise Geltendmachung der Ansprüche auf Unterlassung, Rückruf und Entfernung sowie Vernichtung durch den Patentinhaber kann sich als missbräuchlich darstellen, wenn sich der Verletzer zwar (noch) nicht rechtsverbindlich zum Abschluss eines Lizenzvertrags zu bestimmten angemessenen Bedingungen bereiterklärt hat, dem Patentinhaber aber anzulasten ist, dass er sich seinerseits nicht hinreichend bemüht hat, der mit der marktbeherrschenden Stellung verbundenen besonderen Verantwortung gerecht zu werden und einem grundsätzlich lizenzwilligen Verletzer den Abschluss eines Lizenzvertrags zu ermöglichen (BGH aaO – FRAND-Einwand I). Der Missbrauch der Marktmacht folgt aus der Ablehnung eines nachgefragten Zugangs zu der Erfindung schlechthin oder aus unangemessenen Bedingungen für einen nachgefragten Zugang, von denen der Patentinhaber auch am Ende von Verhandlungen nicht abzurücken bereit ist, mithin der Weigerung, dem den Abschluss eines Vertrags zu FRAND-Bedingungen anstrebenden Lizenznehmer als Ergebnis eines Verhandlungsprozesses diejenigen fairen, angemessenen und nicht diskriminierenden Bedingungen anzubieten, die dieser beanspruchen kann und zu denen er seinerseits bereit ist, mit dem Patentinhaber abzuschließen (vgl. BGH GRUR 2021, 585 Rn. 59 – FRAND-Einwand II). Aus einem nicht FRAND-Bedingungen entsprechenden Angebot als solchem ergibt sich noch kein Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung des Patentinhabers: Ein Missbrauch liegt erst darin, dem Patentverletzer die Verhandlung und den Abschluss eines in Ansehung der im Verhandlungsprozess artikulierten Interessen interessengerechten FRAND-Lizenzvertrags zu verweigern oder unmöglich zu machen und stattdessen das Patent oder eines der zu lizenzierenden Patente klageweise durchzusetzen (BGH aaO Rn. 78 – FRAND-Einwand II).
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Derjenige, der das Patent benutzen will oder bereits benutzt und patentgemäße Produkte auf den Markt gebracht hat, obwohl er über keine Lizenz verfügt, muss bereit sein, eine Lizenz an diesem Patent zu angemessenen und nicht diskriminierenden Bedingungen zu nehmen (BGH aaO Rn. 70 – FRAND-Einwand I). Denn auch der marktmächtige Patentinhaber kann die Lizenznahme niemandem aufdrängen; zwar kann der potenzielle Lizenznehmer von ihm den Abschluss eines Lizenzvertrags verlangen, der Patentinhaber ist aber darauf angewiesen, Ansprüche wegen Patentverletzung gegen denjenigen durchzusetzen, der die patentgemäße Lehre benutzen, einen Lizenzvertrag hierüber aber nicht abschließen will (vgl. BGH aaO Rn. 82 – FRAND-Einwand I). Der Verletzer muss sich daher klar und eindeutig bereiterklären, mit dem Patentinhaber einen Lizenzvertrag zu angemessenen und nicht diskriminierenden Bedingungen abzuschließen, und muss auch in der Folge zielgerichtet an den Lizenzvertragsverhandlungen mitwirken, weil „a willing licensee must be one willing to take a FRAND licence on whatever terms are in fact FRAND“ (BGH aaO Rn. 83 – FRANDEinwand I). Unter welchen Umständen eine fehlende Lizenzbereitschaft des Patentverletzers vorliegt, ist eine Frage des Einzelfalls (BGH aaO Rn. 78 – FRAND-Einwand II).
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Eine missbräuchliche Verweigerung durch den marktbeherrschenden Patentinhaber setzt zwingend ein fortdauerndes Verlangen des Verletzers nach Abschluss eines Vertrags zu FRAND-Bedingungen und dessen Bereitschaft zur Mitwirkung am Zustandekommen eines solchen Vertrags voraus, ohne die eine „Verweigerung“ des Patentinhabers ins Leere ginge (BGH aaO Rn. 66 – FRAND-Einwand II). Die Lizenzbereitschaft ist unentbehrlich, weil sich ein die gegenläufigen beiderseitigen Interessen ausbalancierendes, angemessenes Ergebnis in der Regel erst als Ergebnis eines Verhandlungsprozesses erfassen lässt, in dem diese Interessen artikuliert und diskutiert werden, um auf diese Weise zu einem beiderseits gewünschten fairen und angemessenen Interessenausgleich zu gelangen. Die Anforderungen an das Verhalten des Patentinhabers und an das Verhalten des Nutzers der Erfindung bedingen sich dabei wechselseitig. Maßstab der Prüfung ist dasjenige, was eine vernünftige Partei, die an dem erfolgreichen und dem beiderseits interessengerechten Abschluss der Verhandlungen interessiert ist, zur Förderung dieses Ziels in einem bestimmten Verhandlungsstadium jeweils tun würde (BGH aaO Rn. 59 – FRAND-Einwand II). Eine objektive Bereitschaft zum Abschluss eines FRAND-Lizenzvertrags zeigt sich regelmäßig in der an dem gemeinsamen Ziel eines erfolgreichen Abschlusses orientierten aktiven Förderung der Verhandlungen. Dabei bauen die Verhandlungsschritte von an einem Vertragsschluss interessierten Parteien aufeinander auf. Eine Förderpflicht besteht deshalb stets, wenn und insoweit nach den geschäftlichen Gepflogenheiten und den Grundsätzen von Treu und Glauben mit dem nächsten Verhandlungsschritt zu rechnen ist (BGH aaO Rn. 68 – FRANDEinwand II).
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Hat es eine Seite zunächst an der gebotenen Mitwirkung am Zustandekommen eines Lizenzvertrags zu FRAND-Bedingungen fehlen lassen, geht dies grundsätzlich zu ihren Lasten. Je nach Sachlage kann sie gehalten sein, begangene Versäumnisse so weit wie möglich zu kompensieren. Dies entspricht den üblichen Gepflogenheiten von an einem Vertragsschluss interessierten Personen, welche bei einer verzögerten Reaktion auf ein entsprechendes Verhandlungsangebot normalerweise damit rechnen müssen, dass die Gegenseite kein Interesse an einem Vertragsschluss mehr hat (BGH aaO Rn. 60 – FRANDEinwand II).
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Der Patentverletzer darf die Verhandlungen insbesondere nicht verzögern (EuGH aaO Rn. 66, 71). Denn anders als bei Vertragsverhandlungen, die ein lizenzwilliges Unternehmen vor Benutzungsaufnahme anstrebt, kann das Interesse des Verletzers auch – allein oder jedenfalls in erster Linie – darauf gerichtet sein, den Patentinhaber möglichst bis zum Ablauf der Schutzdauer des Klagepatents hinzuhalten, weil ihm dann keine Verurteilung zur Unterlassung mehr droht (BGH aaO Rn. 82 – FRAND-Einwand I). Eine Verzögerungstaktik besteht typischerweise darin, einen Lizenzvertrag zu FRAND-Bedingungen nicht schlichtweg abzulehnen, sondern ihn vorgeblich anzustreben, aber die Findung einer angemessenen Lösung im Einzelnen zu hintertreiben oder zumindest so lange wie möglich hinauszuschieben (BGH aaO Rn. 67 – FRAND-Einwand II). Die auf Grundlage objektiver Gesichtspunkte vorzunehmende Beurteilung, ob eine Verzögerungstaktik verfolgt wird, soll auch das weitere Verhalten des Verletzers auf eine Verletzungsanzeige oder ein Angebot des Patentinhabers in den Blick nehmen (BGH aaO Rn. 77 – FRAND-Einwand II).
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Fehlt es an der Lizenzwilligkeit des Patentverletzers, kann nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs offengelassen werden, ob das Angebot des Patentinhabers (inhaltlich) FRAND-Bedingungen entspricht (BGH aaO Rn. 82, 101). Gänzlich entbunden von Reaktionspflichten und daher ebenfalls von der Pflicht, alle Einwände zugleich zu benennen, ist der Lizenzsucher allein in dem Fall, dass ein Angebot in einem Ausmaß FRANDwidrig ist, dass es bei objektiver Wertung als schlechterdings untragbar erscheint, daher als nicht ernst gemeint zu bewerten ist und in der Sache nach dem objektiven Empfängerhorizont eine Weigerung darstellt, einen Lizenzvertrag zu FRAND-Bedingungen abzuschließen (vgl. BGH aaO Rn. 71 – FRAND-Einwand II).
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Nach der Rechtsprechung des Landgerichts München I trägt der beklagte Patentnutzer nach den üblichen zivilprozessualen Maßstäben grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast für die Begründetheit seines kartellrechtlichen Zwangslizenzeinwands. Der FRAND-Einwand ist eine Einwendung des Beklagten und er muss grundsätzlich die für ihn günstigen Umstände darlegen und ggf. beweisen. Das gilt sowohl für den Umstand, das Verhalten (Angebot) des Patentinhabers sei schlechterdings untragbar als auch für die Rüge des Patentnutzers, durch die ihm angebotenen Vertragsbedingungen werde er gegenüber anderen Lizenznehmern des Patentinhabers diskriminiert. Zur Darlegung dieser Rüge gehört zumindest, dass er hierfür plausible Anhaltspunkte vorträgt. Je nach Einzelfall kann dies dazu führen, dass dann der Lizenzgeber im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast wiederum hierzu näher vorzutragen hat (LG München I, Urteil vom 17.02.2023, 21 O 4140/21 – „untergeordnete Mehrbaum-Unterteilungsinformation“, zur Veröffentlichung vorgesehen). Macht ein Patentbenutzer geltend, die ihm angebotene Lizenz sei nicht FRAND, weil sie schlechter als die Vertragsbedingungen der Konkurrenz sei, muss er, um als lizenzwillig angesehen zu werden, bereit sein, jedenfalls zu diesen (angeblich vorteilhafteren) Bedingungen den Lizenzvertrag zu schließen, und diese Bereitschaft objektiv durch sein Verhalten zum Ausdruck bringen (LG München I aaO). Bei Verhandlungen über einen FRAND-Lizenzvertrag sind beide Parteien gehalten, in jeweils situationsangemessener Weise und nach den Geboten von Treu und Glauben beizutragen, einen vernünftigen, interessengerechten und angemessenen Ausgleich zu finden. Hierzu gehört insbesondere zügig, förderlich und konstruktiv zu verhandeln und hierbei seine Interessen zu artikulieren, um konkrete Fortschritte beim Verhandeln der Lizenzvertragsbedingungen zu erzielen. Zur Lizenzwilligkeit des wegen Verletzung klagenden Patentinhabers gehört in der Regel, dass er dem Patentbenutzer im Lauf der Verhandlungen und nach inhaltlicher Reaktion des Patentbenutzers einen Lizenzvertrag zu solch fairen, angemessenen und nicht diskriminierenden Bedingungen anbietet, die der Patentnutzer beanspruchen kann. Diese Lizenzwilligkeit besteht in der Regel nicht, wenn der Patentinhaber auf diskriminierenden oder willkürlichen Bedingungen besteht und selbst am Ende der Verhandlungen nicht bereit ist, von diesen abzurücken (LG München I aaO).
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Verhandelt der Patentbenutzer die Lizenzbedingungen lediglich zögerlich, bringt er damit in aller Regel seine Lizenzunwilligkeit zum Ausdruck (Verzögerungstaktik). Verlangt ein Patentbenutzer vom Patentinhaber stetig weitere Informationen, ohne dass die ihm hierauf erteilten Auskünfte in Fortschritten bei der Verhandlung münden, kann dieses Verhalten die Lizenzunwilligkeit des Patentbenutzers belegen. Zwar kann ein Patentbenutzer grundsätzlich so viele Informationen verlangen und darf – in den Grenzen des Prozessrechts – prozessual so viel mit Nichtwissen bestreiten, wie er möchte. Nach mehrjährigem Verhandeln und nach mehrmaligem Wiederholen dieses Verhaltens ist das aber jedenfalls nicht mehr förderlich und konstruktiv (LG München I aaO).
141
II. Nach diesen Maßstäben ist die Unternehmensgruppe der Beklagten unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Beachtung des einschlägigen Gesamtverhaltens der Parteien nicht hinreichend lizenzwillig. Entgegen der Annahme der Beklagten ist das Verhalten der Klägerin, insbesondere ihr letztes Angebot vom nicht schlechterdings untragbar (unter 1.). Die Beklagten sind hingegen lizenzunwillig (unter 2.).
142
1. Das Verhalten der Klägerin und insbesondere ihr letztes Angebot vom sind nicht schlechterdings untragbar. Die Klägerin hat sich hinreichend bemüht, der mit der marktbeherrschenden Stellung verbundenen besonderen Verantwortung gerecht zu werden, um einem lizenzwilligen Verletzer den Abschluss eines Lizenzvertrags zu ermöglichen.
143
Die Kammer bewertet dieses letzte Angebot der Klägerin als hinreichend ernst gemeint und auf den interessengerechten Abschluss der Verhandlungen mit der Unternehmensgruppe der Beklagten gerichtet. In der Sache bedeutet es entgegen der Annahme der Beklagten keine Weigerung, mit der Unternehmensgruppe der Beklagten einen Lizenzvertrag zu FRANDBedingungen abzuschließen. Die Klägerin hat bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nicht auf diskriminierenden (hierzu unter a) oder willkürlichen (unter b) Bedingungen bestanden. Ebenso ist sie während der Verhandlungen bereit gewesen, auf die berechtigten Forderungen der Beklagten einzugehen und ihr Verhalten hieran anzupassen. Die Ausführungen der Kammer folgen im Wesentlichen der Argumentationslinie der Beklagten.
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a) Besonders der Haupteinwand der Beklagten gegen das Verhalten der Klägerin verfängt nicht. Dieser Einwand zielt im Wesentlichen auf den Vorwurf der Diskriminierung. Eine solche haben die Beklagten jedoch nicht hinreichend dargetan. Da die Beklagten von der Klägerin hinreichende Einsicht in die klägerische Lizenzierungspraxis erhalten haben, sind sie hierzu grundsätzlich in der Lage gewesen. Gleichwohl haben sie eine Diskriminierung nicht dargetan.
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Die Beklagten rügen, die Klägerin habe nicht (hinlänglich) belegt, mit den angebotenen Lizenzbedingungen die Beklagten nicht zu diskriminieren. Sie habe ab den Beklagten lediglich einzelne Verträge im elektronischen Datenraum zur Verfügung gestellt. Es fehlten aber Verträge. Hierzu zähle insbesondere der Vertrag mit . Diesen habe die Klägerin lediglich mit geschwärzten Passagen eingestellt und trotz Aufforderung der Beklagten nicht belegt, dass die darin vereinbarte Lizenzzahlung von tatsächlich erfüllt worden sei. Den Vertrag habe die Klägerin erst ca. sechs Monate nach Abschluss offengelegt. Damit habe sie den Verhandlungsprozess verzögert und die Rechtsverteidigung der Beklagten erschwert.
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Entgegen der Annahme der Beklagten ist es im vorliegenden Fall nicht Sache der Klägerin, die Nichtdiskrimimierung der Beklagten zu belegen, sondern es ist im ersten Schritt Aufgabe der Beklagten, die von ihr gerügte Diskriminierung darzutun (s.o. LG München I, Urteil vom 17.02.2023, 21 O 4140/21 – „untergeordnete Mehrbaum-Unterteilungsinformation“, zur Veröffentlichung vorgesehen). Macht der Lizenzsucher als Diskriminierungsvorwurf geltend, der Patentinhaber lizenziere zu unterschiedlichen Preisen, muss der Lizenzsucher in der Regel anhand von Beispielen aus der Lizenzierungspraxis des Patentinhabers konkrete Anhaltspunkte darlegen, dass er konkret gegenüber wem und warum diskriminiert wird.
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Im Einzelnen:
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aa) Die Klägerin hat den Beklagten hinreichende Einsicht in ihre Lizenzierungspraxis gewährt und damit im zunächst gebotenen Umfang Transparenz geschaffen.
149
Hierfür hat die Klägerin den Beklagten Lizenzverträge mit insgesamt Unternehmensgruppen in einem elektronischen Datenraum zugänglich gemacht. Es handelt sich hierbei um folgende Lizenzverträge mit folgenden Pauschalsummen:
...
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Aus diesen bestehenden Verträgen samt den weiteren Informationen der Klägerin, die sie in den elektronischen Datenraum eingestellt hat, ergibt sich ein hinreichender Einblick in ihre Lizenzierungspraxis. Aus dem Wissen darum hätten die Beklagten zumindest Anhaltspunkte ableiten können und müssen, warum die Klägerin zu unterschiedlichen Preisen lizenziere, wenn sie eine Diskriminierung bzw. nicht hinreichend belegte Nichtdiskriminierung rügen. Insbesondere hätten die Beklagten hiernach für die hinreichende Darlegung ihrer Rüge einen konkreten Diskriminierungsvorwurf erheben müssen.
151
Ein lizenzwilliger Patentnutzer muss als Lizenzsucher zwar grundsätzlich über die wesentlichen Faktoren für die Bemessung der zu zahlenden Lizenzgebühr unterrichtet sein. Hierfür muss er in der Regel die ihm angebotene Lizenzgebühr anhand der wesentlichen Faktoren für den Preis erläutert bekommen. Wird eine Pauschallizenzgebühr für Nutzungen in der Vergangenheit und in der Zukunft vereinbart, kann entsprechend dem Sinn und Zweck der Pauschalzahlung ein niedrigerer Maßstab gelten. Je mehr Lizenzverträge abgeschlossen sind, desto eher kann sich die Erläuterung der Faktoren auf eine Gegenüberstellung der konkret angebotenen Gebühr mit den vereinbarten Lizenzgebühren in bereits abgeschlossenen Lizenzverträgen beschränken. Aus offengelegten Lizenzverträgen mit Dritten samt weiteren erläuternden Informationen des Patentinhabers, die er beispielsweise in einen elektronischen Datenraum eingestellt hat, ergibt sich aber grundsätzlich für einen lizenzwilligen Patentnutzer ein hinreichender Einblick in die Lizenzierungspraxis des Patentinhabers.
152
bb) Die Klägerin hat den Beklagten ebenfalls den Vertrag offengelegt. Entgegen der Rüge der Beklagten ergibt sich aus den konkreten Umständen der Offenlegung kein schlechterdings untragbares Verhalten der Klägerin (unter (1)). Aus dem Vergleich des  Vertrags mit dem letzten, der Unternehmensgruppe der Beklagten unterbreiteten Angebot ergibt sich gleichfalls keine Diskriminierung zu Lasten der Beklagt (unter (2) und (3)).
153
(1) Bevor die Beklagten Zugang zum Inhalt des Vertragstexts erlangt haben, hat die Klägerin den Beklagten zeitlich in engem Zusammenhang zum Vertragsschluss den wesentlichen Inhalt des Vertrags mitgeteilt. Sofern die Beklagten geltend machen, dass ihnen der Vertrag erst ca. sechs Monate nach Abschluss und kurz vor der mündlichen Verhandlung in diesem Verfahren vollständig offengelegt worden ist, folgt hieraus weder eine Diskriminierung noch ein anderer Aspekt, unter dem das Verhalten der Klägerin als schlechterdings untragbar erscheint.
154
(2) Dass die von den Beklagten geltend gemachten Unterschiede in dem Vertrag der Klägerin mit sowie mit anderen Lizenznehmern bei der angenommenen Entwicklung der künftigen Verkaufszahlen (Prognose der Experten vs. Inhalt der Vereinbarung der Parteien) sowie bei weiteren Annahmen z. B. für den „EVS voice share“ oder beim „EVS shipment“ zu dem ihnen gemachten Angebot bestehen können, führt angesichts des Inhalts der Lizenzverträge, der eine pauschale Lizenzgebühr für die Vergangenheit und Zukunft enthält, im Vergleich mit den Beklagten nicht zu einer Diskriminierung.
155
(a) Selbst wenn sich beim Herunterrechnen der Pauschalgebühr insofern Unterschiede zwischen einzelnen Verträgen ergeben könnten, was die „effektive Lizenzgebühr“ anbelangt, die jedoch weder Bestandteil der bestehenden Lizenzverträge noch des Angebots ist, so begründen diese aufgemachten Preisunterschiede keine Diskriminierung, weil die Preisbestimmung nicht so kleinteilig betrachtet werden darf. Entscheidend ist vielmehr, ob die bislang mit Dritten vereinbarten Lizenzgebühren und die den Beklagten angebotenen Lizenzbedingungen in einem den Schutzzwecken des Kartellrechts entsprechenden wettbewerbskonformen, die Errichtung, Gewährleistung und Absicherung eines Binnenmarkts dienenden Gesamtgefüge stehen und die angebotene Pauschallizenz den beklagten Lizenzsucher beim Marktzugang nicht diskriminiert. Eine Diskriminierung könnte zum Beispiel bestehen, wenn ein der Beklagten vergleichbarer Wettbewerber der Beklagten im nicht geringfügigen Umfang günstigere Konditionen erhalten hätte, also eine nicht geringfügig niedrigere Pauschalgebühr bei vergleichbaren Annahmen der jeweils preisbildenden Faktoren zu entrichten hat. Macht ein Patentbenutzer geltend, die ihm angebotene Lizenz sei nicht FRAND, weil sie schlechter als die Vertragsbedingungen der Konkurrenz sei, muss er, um als lizenzwillig angesehen zu werden, bereit sein, jedenfalls zu diesen (angeblich vorteilhafteren) Bedingungen den Lizenzvertrag zu schließen, und diese Bereitschaft objektiv durch sein Verhalten zum Ausdruck bringen (LG München I aaO).
156
Auch bei einer etwaigen Varianz in der bisherigen Preisbildung des Patentinhabers, die jedoch keine so erhebliche Ungleichbehandlung begründet, dass sie nicht im Verhandlungsweg zwischen zwei lizenzwilligen Partnern gelöst werden kann, würde eine vernünftige Partei, die an dem erfolgreichen und interessengerechten Abschluss der Verhandlungen interessiert ist, diesen Umstand als Chance begreifen und versuchen, (trotzdem) zu einem vernünftigen, angemessenen und interessengerechten Vertragsschluss zu gelangen. Das gilt insbesondere hinsichtlich einzelner Finessen im Zahlenwerk, die sich erst beim Herunterrechnen der Pauschalgebühr ergeben.
157
(b) Daher greift der Einwand der Beklagten nicht durch, wenn sie aus bestehenden Unterschieden zwischen den einzelnen mathematischen Faktoren der jeweiligen Verträge eine Uneinheitlichkeit des gesamten Lizenzsystems der Klägerin ableiten. Insofern ist der Vergleich des vorliegenden Falls mit dem -Vertrag lehrreich: Denn die Beklagten haben, obwohl sie ihre Vergleichbarkeit mit zuvor betont hatten, nicht geltend gemacht, die mit vereinbarte Pauschallizenzgebühr in Höhe von diskriminiere sie. Denn dieser Betrag liegt in derselben Größenordnung wie der, den die Klägerin zuletzt der Unternehmensgruppe der Beklagten angeboten hat. Eine wettbewerbsverzerrende Diskriminierung scheidet demnach aus.
158
Ebenfalls haben die Beklagten nicht erklärt, entsprechend den Bedingungen des Vertrags unter Anpassung an die konkreten Umstände im Detail, die bei der Unternehmensgruppe der Beklagten herrschen, bereit zu sein. Eine vernünftige Partei, die an dem erfolgreichen und interessengerechten Abschluss der Verhandlungen interessiert ist, würde diese von den Beklagten angeführte Varianz bei der Preisbildung als Chance begreifen und versuchen, (trotzdem) zu einem vernünftigen, angemessenen und interessengerechten Vertragsschluss zu gelangen. Stattdessen haben die Beklagten auf Angaben bestanden, aus denen sich ihre Nichtdiskriminierung ergebe, was für die erforderliche Darlegung der geltend gemachten Diskriminierung jedenfalls nicht ausreicht.
159
Auch die übrigen Widersprüche, Ungereimtheiten und Abweichungen, die die Beklagten im Vergleich ihres Angebots mit anführen, überschreiten jedenfalls einen bestimmten Detailgrad nicht. Es geht dabei nicht um das Große und Ganze des Vertrags, sondern um einzelne Finessen im Zahlenwerk, die mangels erheblicher Auswirkung auf die Gesamthöhe der vereinbarten Pauschallizenz keine so erhebliche Ungleichbehandlung der Beklagten gegenüber begründen können, dass sie nicht im Verhandlungsweg zwischen zwei lizenzwilligen Partnern gelöst werden können. Jedenfalls sind sie insofern weder hinreichend dargetan noch für die Kammer ersichtlich.
160
(3) Wenn die Beklagten anführen, in dem Vertrag mit seien , so ergibt sich hieraus keine Diskriminierung der Beklagten. Jedenfalls ist die Klägerin am Ende der Verhandlungen bereit, von (zugunsten der Beklagten unterstellt) diskriminierenden Bedingungen abzurücken.
161
cc) Hinsichtlich der Unternehmensgruppe hat die Klägerin den Vertrag unstreitig in Teilen geschwärzt im elektronischen Datenraum den Beklagten zugänglich gemacht. Die Klägerin hat den geschwärzten Inhalt erklärt und die Berechnungsgrundlagen der darin vereinbarten Lizenzgebühr aufgezeigt. Aus diesen Ausführungen der Klägerin und insbesondere der Lizenzgebühr von ergibt sich jedenfalls kein Anhaltspunkt für eine Diskriminierung der Beklagten.
162
Zusätzlich zu diesen Informationen brauchte die Klägerin den geschwärzten Teil des Vertragstexts im konkreten Einzelfall auch nicht in den Datenraum einzustellen. Der konkrete Inhalt des Gesamtvertrags mag für die Beklagten zwar interessant sein. Für die Begründetheit des Einwands kommt es aber auf die Offenlegung dieses Gesamtvertrags nicht entscheidungserheblich an.
163
Aus dem Vortrag der Beklagten ergibt sich jedenfalls nicht, dass es unter dem Gesichtspunkt der gerügten Diskriminierung überhaupt auf die gewährten Konditionen ankommt. Selbst wenn der Vertrag den Beklagten vollständig vorgelegt würde, ist immer noch nicht dargetan und auch nicht ersichtlich, wie sich hieraus eine Diskriminierung zulasten der Beklagten ergeben könnte, weil die Beklagten selbst nicht anführen, dass sie mit vergleichbar sind und selbst auch nicht geltend machen, ihre Produkte und Dienstleistungen entsprächen auf dem Markt denen von . Vortrag zu einer konkreten Ungleichbehandlung mit einer anderen Person ist aber Voraussetzung für eine Diskriminierung. Hieran fehlt es jedoch. Insofern hilft es den Beklagten auch nicht weiter, wenn sie in der mündlichen Verhandlung unter Verweis auf eine Rechtsprechung des OLG Karlsruhe geltend machen, vergleichbarer Lizenznehmer sei jedes Unternehmen, das Smartphones vertreibe. Hieraus folgt keine konkrete Ungleichbehandlung.
164
Mangels weiterer Relevanz ist hier für die Kammer auch unerheblich, ob tatsächlich die Lizenzgebühr in Höhe der vereinbarten an die Klägerin bezahlt hat, was die Beklagten mit Nichtwissen bestritten haben. Jedenfalls zeigen die Beklagten keine Anhaltspunkte auf, hieran berechtigterweise zu zweifeln.
165
Daher kann gleichsam die Frage offenbleiben, ob der Offenlegung des Vertrags überhaupt die von der Klägerin angeführten und von den Beklagten in Abrede gestellten Geheimhaltungspflichten entgegenstehen, sowie unabhängig davon, ob der von der Beklagten erhobene Vorwurf, die Klägerin habe in diesem Prozess widersprüchlich zum USamerikanischen Verfahren zur Implementierung von vorgetragen, mit der von den Beklagten behaupteten Folge durchgreifen würde, die Klägerin müsse Transparenz schaffen und den Vertrag mit offenlegen.
166
dd) Sofern es weitere Lizenzverträge zu dem streitgegenständlichen Patent geben mag, die aus einer Zeit stammen, bevor die Klägerin die Patente erworben habe, ergibt sich hieraus ebenfalls keine Diskriminierung, weil weder ersichtlich noch dargetan ist, warum sich hieraus eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung durch die Klägerin gegenüber den Beklagten ergeben könnte.
167
ee) Überdies ergibt sich gegenüber keine Diskriminierung, wenn diesem Unternehmen eingeräumt worden ist.
168
Zum einen hat die Klägerin den Beklagten einen Lizenzvertrag mit angeboten, den die Unternehmensgruppe der Beklagten (aus anderen Gründen) nicht angenommen hat. Zum anderen gibt es einen objektiven Grund für eine Differenzierung zwischen und der Unternehmensgruppe der Beklagten, .
169
b) Entgegen der Rüge der Beklagten ist die der Unternehmensgruppe der Beklagten von der Klägerin angebotene Lizenzgebühr nicht willkürlich.
170
aa) Ein Verstoß gegen das Willkürverbot kann gegeben sein, wenn der Patentinhaber seine Preisgestaltung nicht hinreichend plausibel erläutern kann. Allerdings ist zu beachten, dass sich aus einem nicht FRAND-Bedingungen entsprechenden Angebot als solchem noch kein Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung des Patentinhabers ergibt. Ein Missbrauch liegt vielmehr erst darin, dem Patentverletzer die Verhandlung und den Abschluss eines in Ansehung der im Verhandlungsprozess artikulierten Interessen angemessenen FRAND-Lizenzvertrags zu verweigern oder unmöglich zu machen und stattdessen das Patent oder eines der zu lizenzierenden Patente klageweise durchzusetzen (vgl. BGH aaO Rn. 78 – FRAND-Einwand II).
171
Welche Anforderungen an die Erläuterung zu stellen sind, ergibt sich in erster Linie aus den konkreten Umständen des Einzelfalls. Der lizenzwillige Patentsucher muss über die wesentlichen Faktoren für die Bemessung der Lizenzgebühr unterrichtet sein. Hierfür muss er in der Regel die ihm angebotene Lizenzgebühr anhand der wesentlichen Faktoren für den Preis erläutert bekommen. Je mehr Lizenzverträge abgeschlossen sind, desto eher kann sich die Erläuterung der Faktoren auf eine Gegenüberstellung der konkret angebotenen Gebühr mit den vereinbarten Lizenzgebühren in bereits abgeschlossenen Lizenzverträgen beschränken. Die Erläuterung dient dem Schutz des lizenzwilligen Patentnutzers. Dieser soll einen Ein- und Überblick über die Höhe und Berechnung der verlangten Lizenzgebühr erhalten, um aufgrund der erlangten Informationen in der Lage zu sein, mit dem Patentinhaber hinreichend informiert über seine Lizenz zu verhandeln. Eine Ausnahme von der Erläuterungspflicht kann bestehen, wenn der Patentnutzer bereits hinreichend über die Lizenzierungspraxis des Patentinhabers (sei es aus öffentlichen Quellen, sei es aus eigener Erfahrung) informiert ist.
172
aa) Von der Höhe der verlangten Lizenzgebühr auf deren Unangemessenheit und von ihrer Unangemessenheit auf Willkür zu schließen, ist jedenfalls in den Fällen, in denen der kartellrechtliche Zwangslizenzeinwand (sog. FRAND-Einwand) als Verteidigung gegen eine Patentverletzung, also im Passivprozess, erhoben wird, lediglich in (sehr gut zu begründenden) Ausnahmefällen möglich, wenn im Einzelfall so hohe Lizenzforderungen gestellt werden, dass sie bar jeder Vernunft erscheinen und damit willkürlich sind.
173
Allein eine hohe Lizenzforderung macht das klägerische Angebot in der Regel nicht willkürlich. Es müssen grundsätzlich weitere pönale Aspekte hinzutreten, um das Verhalten des Patentinhabers als schlechterdings untragbar zu bewerten bzw. es mit der Folge als nicht ernst gemeint einzuordnen, dass es hierauf objektiv keiner Reaktion des Patentnutzers bedarf. Abgesehen davon ist es Aufgabe der Verhandlungen zwischen den Parteien, eine Lösung für die Preisfrage zu finden und eine ggf. unangemessen hohe Preisvorstellung des Patentinhabers auf ein objektiv vernünftiges, interessengerechtes und angemessenes Maß zu nivellieren. Das heißt, dass in aller Regel eine Reaktion des lizenzsuchenden Patentnutzers auf das Angebot des Patentinhabers erforderlich ist, um im Einzelfall die Faktoren für die zutreffende Preisbestimmung durch Verhandlungen zu klären. Verhandeln die Parteien ernsthaft, zügig und konstruktiv, können sie nach der Erfahrung der Kammer in der Regel ihre unterschiedlichen Vorstellungen über den Preis einvernehmlich klären. Sollte dies den Parteien nicht gelingen, können sie sich hierbei (zum Beispiel durch Schiedsgutachten, durch Schlichtungs- oder Schiedsverfahren oder durch Mediationen) von dritter Seite unterstützen lassen. Finden die Parteien auch so keine Lösung, bleibt der Rechtsweg. Dabei kann der Patentnutzer grundsätzlich entweder aktiv die Lizenz gerichtlich vom Patentinhaber einfordern oder in einem vom Patentinhaber veranlassten Patentverletzungsverfahren den kartellrechtlichen Zwangslizenzeinwand als Rechtsverteidigung (zum Beispiel über § 242 BGB dolo agit, vgl. BGH GRUR 2009, 694 Rn. 24 – Orange-Book-Standard) gegen die Patentverletzung erheben, so dass die Patentstreitkammer zu prüfen hat, ob (insbesondere) dem patentrechtlichen Unterlassungsanspruch ein kartellrechtlicher Anspruch des Patentbenutzers auf Unterlassung des Missbrauchs der marktbeherrschenden Stellung (vor allem unter dem Gesichtspunkt der Zugangsverweigerung) entgegensteht (BGH aaO, FRAND-Einwand II, Rn. 54).
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Hierbei kommt es in aller Regel nicht auf den tatsächlichen Zugang zur patentierten Technik an, der regelmäßig besteht. Daher geht es bei der Zugangsverweigerung um den rechtlichen, den legalen Zugang zur Nutzung gewerblicher Schutzrechte (vgl. Bechtold/Bosch, GWB, 10. Auflage 2021, § 19 Rn. 67). Dieser Zugang wird (ohne damit die Diskussion „access to all“ vs. „licence to all“ entscheiden zu wollen) in der Regel durch Abschluss eines Lizenzvertrags erreicht. Wird dem Patentnutzer der Abschluss des nachgesuchten Lizenzvertrags verweigert, verlangt der Patentinhaber für die Lizenz ein unangemessen hohes Entgelt oder stellt er sonstige unangemessene Bedingungen, kann dies eine Zugangsverweigerung bedeuten (vgl. BGH aaO Rn. 59 – FRAND-Einwand II; Bechtold/Bosch, GWB, 10. Auflage 2021, § 19 Rn. 68).
175
Kartellrechtlich können sich die Fälle der Zugangsverweigerung mit denen des Preis- oder Konditionenmissbrauchs überlappen und sind wegen des einheitlichen Maßstabs der Angemessenheit (insbesondere der Geltung des Vergleichsmarktkonzepts) grundsätzlich nicht trennscharf abgrenzbar. So kann es Preise geben, deren Forderung sowohl die Fallgruppe der Zugangsverweigerung als auch die des Preismissbrauchs betrifft.
176
In Fällen, in denen der kartellrechtliche Zwangslizenzeinwand gegen Ansprüche wegen Patentverletzung geltend gemacht wird, kommt es nach Überzeugung der Kammer jedoch maßgeblich auf die Abgrenzung zwischen Zugangsverweigerung und Preismissbrauch an.
177
Für die Beurteilung des Preismissbrauchs ist in aller Regel Kenntnis des kartellgemäßen Preises erforderlich. Diese Kenntnis haben die Parteien und das Gericht eines Patentverletzungsverfahrens in aller Regel nicht. Zumeist herrscht häufig lediglich Kenntnis, zu welchen Konditionen die Wettbewerber des Patentnutzers den Marktzutritt erlangt haben. Der Verletzungsprozess, in dem der „FRAND-Einwand“ geltend gemacht wird, ist auch nicht auf die Ermittlung des kartellrechtlich richtigen Preises gerichtet. Aufgrund der prozessualen Situation, in der beide Seiten versuchen, sich gegenseitig für das bisherige Nichtzustandekommen des Lizenzvertrags verantwortlich zu machen, werden vielmehr nicht die Vertragsbedingungen ermittelt, die FRAND entsprechen, sondern die Bedingungen, die nicht FRAND sind (zum Ganzen Meier-Beck, FS Säcker, 2021, S. 275, 289/290).
178
Die Bestimmung des kartellgemäßen Preises ist dem Gericht daher – hinreichenden Tatsachenvortrag vorausgesetzt – regelmäßig nur durch ein zeit- und kostenintensives Sachverständigengutachten möglich. Währenddessen ist der Patentinhaber (faktisch) an der Durchsetzung seines Patents gehindert, und der Verletzer kann das Patent weiterhin tatsächlich ungestört nutzen. Der Verletzer erhält hierdurch insoweit zumindest zeitweise eine faktische Freilizenz (zu dem Gedanken der Freilizenz in anderem Zusammenhang MeierBeck, FS Säcker, 2021, S. 275, 285). Das zeigt, dass bei einer Überprüfung des Preismissbrauchs ein Ungleichgewicht zu Lasten des Patentinhabers besteht, der mit Blick auf die begrenzte Lebensdauer aktueller Spitzentechnologie und die beschränkte Laufzeit von Patenten generell dringend einer schnellen Entscheidung über die Patentverletzung bedarf. Daher kann der Aspekt des Preismissbrauchs insbesondere dem patentrechtlichen Unterlassungsanspruch nur entgegengehalten werden, wenn sich die Geltendmachung des Preismissbrauchs in der Konstellation des konkreten Einzelfalls nicht als rechtsmissbräuchlich darstellt.
179
Dass der Verletzer sich nicht unbeschränkt auf die ihm aus Art. 101, 102 AEUV zustehenden Rechte berufen kann, wird in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs und des Bundesgerichtshofs betont: nicht nur den Patentinhaber, auch den Patentnutzer treffen Pflichten (EuGH GRUR 2015, 764, 767, Rn. 63 ff. – Huawei/ ZTE; BGH aaO Rn. 56 ff. – FRAND-Einwand II). Auch er kann sich unredlich verhalten (vgl. BGH aaO Rn. 61 – FRAND-Einwand II). Ein entscheidender Aspekt ist hierbei, dass der Verletzer keine Verzögerungstaktik verfolgen darf (s. u.). Macht der Patentnutzer jedoch einen Preismissbrauch derart geltend, dass die Prüfung der Begründetheit des Preismissbrauchseinwands – nach gegebenenfalls mehrjährigen und erfolglosen Verhandlungen – zu einer (weiteren prozessualen) Verzögerung führen würde, ist ihm dieser Einwand im Verletzungsverfahren grundsätzlich zu versagen.
180
Wiederum greift hier maßgeblich die obige Überlegung durch: Eine Partei, die an einem Zustandekommen des Lizenzvertrags wirklich interessiert ist, wird Einwendungen hinsichtlich des Preises frühzeitig geltend machen. Wie ebenfalls oben begründet worden ist, führt auch eine hohe (anfängliche) Preisvorstellung des Patentinhabers zu einer Verhandlungspflicht. Der richtige Preis kann, wie die übrigen Vertragsbedingungen, erst durch die Verhandlungen zwischen den Parteien ermittelt werden. Soweit eine lizenzwillige Partei erkennt, dass der Patentinhaber nicht gewillt ist, substanziell von einem zu hohen (aus Sicht des Patentverletzers) Preis abzurücken, wird sie sich in aller Regel nicht gesetzeswidrig und ggf. strafbar verhalten und das Patent einfach nutzen, sondern grundsätzlich aktiv gerichtlich die Festsetzung des richtigen Preises verfolgen, insbesondere schon vor der Erhebung der Verletzungsklage. Daher ist der Einwand des Preismissbrauchs im Verletzungsverfahren, wie eingangs erläutert, nur in krassen Fällen zu berücksichtigen.
181
Eine substanzielle Beschränkung der Rechte des Patentnutzers geht damit nicht einher. In vielen Fällen kennen Parteien und Verletzungsgericht die Bedingungen von Vergleichsverträgen und vergleichen die zwischen den Parteien gewechselten Angebote mit den dortigen Bedingungen. Diese Preise führen jedenfalls grundsätzlich nicht zu einer Zugangsverweigerung. Denn sind sie zum Beispiel weitgehend etabliert und vom Markt akzeptiert, erscheinen sie trotz Unkenntnis des kartellgemäßen Preises als wettbewerbskonform und nicht zugangsbeschränkend.
182
Hinzu kommt, dass der lizenzsuchende Patentnutzer, der mit dem Patentinhaber über den Preis der Lizenz keine Einigung erzielt hat, so reagieren kann, in einem ersten Schritt den Lizenzvertrag mit vergleichbaren Konditionen zu seinen Wettbewerbern abzuschließen und so den begehrten (legalen) Zugang zum Markt zu erhalten. Im Anschluss daran bleibt es ihm unbenommen, falls er den vereinbarten Preis (weiterhin) für missbräuchlich hält, ggf. (mit Unterstützung der Kartellbehörden) bei einer auf solche Streitigkeiten spezialisierten Kartellstreitkammer die Klärung des kartellrechtlich angemessenen Preises für die Lizenz herbeizuführen (vgl. Meier-Beck, aaO, S. 275, 291). Eine weitere Möglichkeit könnte grundsätzlich ebenso in einem Angebot nach § 315 BGB bestehen (vgl. OLG Karlsruhe GRUR-RS 2021, 9325; Meier-Beck, aaO, S. 275, 290/291; Osterrieth, Patentrecht, 6. Auflage 2021, Rn. 920; Bukow in: Haedicke/Timmann, Handbuch des Patentrechts, 2. Auflage 2020, § 13 Rn. 384; im Einzelfall kritisch LG Mannheim GRUR-RS 2021, 6244).
183
Auch wenn man zwischen der patentrechtlichen Position des Patentinhabers einerseits und der durch das Kartellrecht gewährten Position des Patentnutzers im Wettbewerb andererseits im Wege der „praktischen Konkordanz“ einen angemessenen Ausgleich sucht, erscheint dieser durch die vorgenannten Möglichkeiten des Patentnutzers gegeben. Durch die aufgezeigten Wege kann sich der Patentnutzer im Rahmen der Verletzungsklage angemessen verteidigen und erhält die Möglichkeit, den kartellrechtlich richtigen Preis anderweitig ermitteln zu lassen. Gleichzeitig erhält der Patentinhaber die Möglichkeit, dass das Verletzungsverfahren in einem angemessenen Zeitrahmen geführt wird.
184
aa) Nach diesen Maßstäben ist die von der Klägerin den Beklagten angebotene Lizenzgebühr nicht willkürlich. Die Klägerin hat die Faktoren für die Preise hinreichend erläutert und den Beklagten die hierfür erforderlichen Informationen zur Verfügung gestellt. Die in dem elektronischen Datenraum eingestellten Übersichten genügen grundsätzlich hierfür, um die Beklagten in die Lage zu versetzen, mit der Klägerin in Kenntnis der Konditionen dritter Unternehmen informiert über die für sie angemessenen Lizenzgebühren zu verhandeln.
185
(1) Sofern die Beklagten anführen, das insbesondere bei zugrunde gelegte Zahlenwerk sei von der Klägerin willkürlich gewählt und hätte mit den tatsächlichen Umständen nichts zu tun, begründet dies keine Willkür. Selbst wenn die Kammer hier zugunsten der Beklagten unterstellte, dass dies so zutrifft, bleibt es den Beklagten unbenommen, die Klägerin im Wege der Verhandlung zu ersuchen, ihr vergleichbare Konditionen anzubieten, um Zugang zum Markt durch Abschluss eines Lizenzvertrags zu erhalten. Stattdessen haben die Beklagten auf ihren Angeboten beharrt (s.o. zum Diskriminierungsvorwurf) und das willkürliche Festsetzen von Verkaufszahlen und anderen Werten sowie die nicht widerspruchsfreie Erläuterung gerügt.
186
(2) Wenn die Beklagten anführen, die Klägerin habe sich geweigert, den Beklagten Lizenz anzubieten, so ergibt sich hieraus jedenfalls keine Willkür. Zum einen hat die Klägerin der Unternehmensgruppe der Beklagten erfolglos eine Lizenz angeboten (s. o.). Zum anderen hat die Unternehmensgruppe der Beklagten keinen Anspruch darauf, dass die Klägerin den von ihnen als Gegenangebot unterbreiteten Lizenzvertrag mit den konkreten Bedingungen abschließt.
187
Die Klägerin hat den Beklagten zum einen erfolglos eine Lizenz angeboten (s.o.). Zum anderen besitzen sämtliche Lizenzverträge der Klägerin eine Gesamtlaufzeit, die denen ihrer jüngsten Patente entspricht. Insofern bedarf es für das Abweichen von dieser Praxis eines rechtfertigenden Grunds. Einen solchen haben die Beklagten bislang nicht hinreichend dargetan.   Doch fehlt es an der Darlegung eines konkreten berechtigten Interesses der Beklagten, warum die Klägerin zu ihren Gunsten von dem bislang etablierten Lizenzmodell, das nach Vortrag der Klägerin ungefähr 70% des Markts abdeckt, abweichen sollte.  Ein hierauf begründetes berechtigtes Interesse tragen die Beklagten aber nicht vor.
...
188
(3) Wenn die Beklagten anführen, in dem Vertrag mit seien , so ergibt sich hieraus entsprechend den oben bei dem Diskriminierungsvorwurf genannten Gründen keine Willkür der Klägerin.
189
c) Letztlich ergibt sich auch aus dem Umstand, dass die Klägerin den Beklagten erst im den Lizenzvertrag mit vorgelegt haben, kein schlechterdings untragbares Verhalten, weil die Beklagten über den Inhalt des im geschlossenen Vertrags nicht im Unklaren gelassen worden sind, sondern ihnen dieser unverzüglich nach Vertragsschluss mitgeteilt worden ist (siehe unten Ziffer 3.). Die von den Beklagten geltend gemachte Anregung, das Verfahren ruhend zu stellen und angesichts der Offenlegung des drucklose Verhandlungen der Parteien zu ermöglichen, greift angesichts dessen nicht durch. Denn es fehlt an Anhaltspunkten dafür, dass sich hierdurch etwas am bisherigen zurückhaltenden Verhandlungsverhalten der Beklagten ändern würde.
190
d) Aus den weiteren Rügen der Beklagten folgt ebenfalls nicht, dass das klägerische Lizenzangebot schlechterdings untragbar gewesen ist und die Beklagten von jeglichen Reaktionspflichten (besonders von der Pflicht, alle Einwände zugleich zu benennen) entbunden worden sind.
191
2. Die Lizenzunwilligkeit der Beklagten zeigt sich in ihrem zögerlichen Verhandeln der Lizenzbedingungen.
192
Die Unternehmensgruppe der Beklagten hat die Verhandlungen zum Abschluss des angeblich gewollten Lizenzvertrags nicht zielführend geführt. Sie hat sich weder hinreichend zielstrebig noch hinreichend konstruktiv bei den Verhandlungen für den Abschluss des angeblich gewollten Lizenzvertrags eingesetzt. Vielmehr zeigt das Gesamtverhalten der Unternehmensgruppe der Beklagten ihr fehlendes Interesse, mit der Klägerin zügig zum Abschluss des Lizenzvertrags zu gelangen. Die Unternehmensgruppe der Beklagten verfolgt zur Überzeugung der Kammer das Ziel, ihre eigenen (finanziellen) Lizenzbedingungen gegen die Klägerin durchsetzen zu wollen. Sie wendet hierfür auch eine Verzögerungstaktik an. So ist sie bereit, als Druckmittel eine möglichst lange Zeit das Klagepatent unberechtigt und ohne Bezahlung zu nutzen.
193
a) Die anfängliche Lizenzunwilligkeit der Beklagten ergibt sich objektiv im Wesentlichen aus dem im Folgenden dargestellten zögerlichen und nicht hinreichend förderlichen Verhalten der Unternehmensgruppe der Beklagten während der Verhandlungen mit der Klägerin. Insbesondere hat die Unternehmensgruppe der Beklagten im ersten Jahr der Verhandlungen ihre Lizenzbereitschaft nicht erklärt. Nach der Videokonferenz und dem Angebot der Klägerin im hat sie zudem zu viel Zeit verstreichen lassen und damit nicht hinreichend zügig und konstruktiv auf das Lizenzangebot der Klägerin reagiert.
194
Nachdem die Klägerin die Unternehmensgruppe der Beklagten am auf die Verletzung unter anderem des Klagepatents hingewiesen hat, hat die Unternehmensgruppe der Beklagten am den Erhalt des Verletzungshinweises bestätigt und am mitgeteilt, wer in ihrem Haus Ansprechpartner ist. Am hat die Klägerin der Unternehmensgruppe der Beklagten dann den Entwurf eines Geheimhaltungsvertrags („Non Disclosure Agreement“ = NDA) übermittelt. Einen solchen haben die Parteien am mit dem Inhalt unterschrieben, … .
195
Auf Bitte der Klägerin um Durchführung einer Videokonferenz vom ist diese mit der Unternehmensgruppe der Beklagten am durchgeführt wurden, wobei die Klägerin der Unternehmensgruppe der Beklagten ein Lizenzangebot in Höhe von unterbreitet und erläutert hat. Im Nachgang zu dieser Konferenz hat die Klägerin den Beklagten die Präsentation mit der Erläuterung des Lizenzangebots, Muster von Lizenzverträgen, eine Liste ihrer standardessenziellen Patente sowie IPEC-Reports zu 14 USamerikanischen und zu 14 europäischen Patenten übermittelt. Die Unternehmensgruppe der Beklagten bestätigte am den Erhalt dieser Unterlagen.
196
Mehr als ein halbes Jahr später, nämlich am, hat die Unternehmensgruppe der Beklagten zu vier der 14 europäischen Patente aus dem Portfolio der Klägerin um Übersendung von Rechtsbestandsrechercheberichten gebeten sowie mitgeteilt, dass ihre Analyse des Portfolios weiterhin andauere.
197
Nachdem am das NDA ab- ist, hat die Klägerin gegen die Beklagten unter anderem vor der 7. Zivilkammer des Landgerichts München I Klage erhoben und einen Antrag auf Erlass einer Anti-Anti-Suit-Injunction gegen die Unternehmensgruppe der Beklagten gestellt, die am erlassen und der Unternehmensgruppe der Beklagten am zugestellt worden ist.
198
b) Die von der Unternehmensgruppe der Beklagten nach Zustellung der Klage im Ausgangsverfahren unternommenen Mitwirkungen am Verhandlungsprozess genügen nach Überzeugung der Kammer nicht, um ihre Lizenzwilligkeit zu belegen.
199
Das im Folgenden dargestellte Verhalten der Parteien, das die wesentlichen Umstände wiedergibt (insbesondere auf die Schriftsätze der Beklagten vom 19.08.2022 – Klageerwiderung FRAND, vom 19.12.2022 – Duplik FRAND und vom 13.01.2023 – Quadruplik FRAND sowie der Klägerin vom 19.10.2022 – Replik FRAND und vom 09.01.2023 – Triplik FRAND wird ergänzend Bezug genommen), macht deutlich, dass die anfänglich zögerliche Haltung der Unternehmensgruppe der Beklagten auch nach Klageerhebung im Ausgangsverfahren fortbestanden hat. Die Unternehmensgruppe der Beklagten hat die Verhandlungen nicht hinreichend gefördert, obwohl es ihr möglich gewesen wäre, und hat sich gleichfalls nicht hinreichend konstruktiv, sondern zögerlich verhalten. Insbesondere hat die Unternehmensgruppe der Beklagten von der Klägerin stetig weitere Informationen und Aufklärungen gefordert, ohne dass sich die hierauf erteilten Auskünfte in hinreichend greifbaren Fortschritten bei der Verhandlung niedergeschlagen haben.
200
aa) Nachdem die Klägerin am der Unternehmensgruppe der Beklagten angeboten hat, Lizenzverträge, die die Klägerin mit anderen Unternehmen geschlossen hat, unter Geltung eines entsprechenden NDAs zu offenbaren, hat die Unternehmensgruppe der Beklagten am um Übersendung eines solchen Entwurfs gebeten, den die Klägerin am der Unternehmensgruppe der Beklagten übermittelt und den diese mit Änderungen am zurückgeschickt hat, so dass am das weitere NDA zwischen den Parteien geschlossen worden ist.
201
Am hat die Klägerin die Unternehmensgruppe der Beklagten um Nennung von Personen gebeten, die Zugang zu dem elektronischen Datenraum erhalten sollen, in den die Klägerin die Lizenzverträge einstellt. Am hat die Unternehmensgruppe der Beklagten der Klägerin diese Personen benannt und am darum gebeten, die Bedingungen des Angebots der Klägerin zu diskutieren und den kompletten Lizenzvertrag der Klägerin mit Apple in den Datenraum einzustellen, wozu sich die Klägerin am bereit erklärt hat und die Parteien am eine Videokonferenz durchgeführt haben.
202
Am hat die Unternehmensgruppe der Beklagten gerügt, dass die Dokumente im elektronischen Datenraum lediglich online lesbar sind. Weiterhin hat die Unternehmensgruppe der Beklagten moniert, dass zwei Lizenzverträge der Rechtsvorgängerin der Klägerin fehlen sowie der vollständige Lizenzvertrag der Klägerin mit nach wie vor nicht im Datenraum vorhanden ist.
203
Am hat die Klägerin der Unternehmensgruppe der Beklagten mitgeteilt, der Datenraum sei so im NDA vorgesehen. Ebenso habe die Unternehmensgruppe der Beklagten bei den Verhandlungen über das NDA nie beanstandet, dass die Dokumente lediglich online lesbar seien. Außerdem hat die Klägerin geltend gemacht, dass von den (zum damaligen Zeitpunkt) geschlossenen Drittlizenzverträgen vollständig und ohne geschwärzte Passagen im elektronischen Datenraum verfügbar sind und dass dort ebenfalls alle relevanten Informationen zum Lizenzvertrag der Klägerin mit der Unternehmensgruppe der Beklagten offenbart sind. Im Übrigen hat die Klägerin ergänzt, dass eine Offenlegung des Lizenzvertrags mit wegen Erfordernissen der Geheimhaltung nicht möglich sei. Schließlich hat die Klägerin erneut ihr Lizenzangebot, das seit über einem Jahr vorliegt und auf das die Beklagten bisher nicht inhaltlich reagiert haben, erläutert sowie von elf chinesischen Patenten eine IPEC-Analyse übersendet.
204
Am hat die Unternehmensgruppe der Beklagten der Klägerin ein Gegenangebot mit einer Pauschalzahlung von unterbreitet, wobei ist. Die Unternehmensgruppe der Beklagten hat ihr Gegenangebot erläutert. Außerdem hat die Unternehmensgruppe der Beklagten kritisiert, dass der Lizenzvertrag mit nach wie vor nicht komplett offengelegt worden ist.
205
Am hat die Klägerin das Gegenangebot zurückgewiesen und ein neues Angebot unterbreitet. Um den Wunsch der Beklagten aufzunehmen, hat die Klägerin den Beklagten in einer Videokonferenz und mit E-Mail vom ein weiteres Lizenzangebot unterbreitet, das eine Zahlung von vorgesehen hat. Hierfür hat die Klägerin Zahlen für die Verkäufe und Prognosen zugrunde gelegt und die Unternehmensgruppe der Beklagten gebeten, diese zu korrigieren, falls sie nicht korrekt seien.
206
Am hat die Unternehmensgruppe der Beklagten im Rahmen einer Videokonferenz nochmals ihr Angebot über erläutert und in Fortsetzung der Videokonferenz am 2 angeboten, . Überdies hat die Unternehmensgruppe der Beklagten Beklagten ihr Lizenzangebot mitgeteilt. Am hat die Unternehmensgruppe der erhöht.
207
Im Mai 2022 hat die Unternehmensgruppe der Beklagten in E-Mails Zahlen der Klägerin hinsichtlich der Berechnung der Lizenzgebühren bei bestehenden Lizenzverträgen kritisiert und um Erläuterung gebeten, warum laut Lizenzvertrag zahlen soll, während nach der Kalkulationstabelle zu zahlen wären, und um Rückmeldung zum Gegenangebot sowie um ein Treffen gebeten.
208
Daraufhin hat die Klägerin mit E-Mail vom das letzte Gegenangebot der Unternehmensgruppe der Beklagten abgelehnt und mit E-Mail vom ein neues Angebot in Höhe von . Außerdem hat die Klägerin ein weiteres Lizenzangebot über im Rahmen einer Videokonferenz vom gemacht. Auf dieses Angebot der Klägerin hat die Unternehmensgruppe der Beklagten im Rahmen einem Videokonferenz vom reagiert und ihr Gegenangebot auf erhöht.
209
Im hat die Klägerin der Unternehmensgruppe der Beklagten mitgeteilt, dass sie mit einem weiteren Smartphone-Hersteller, nämlich, einen Lizenzvertrag abgeschlossen hat. Außerdem hat sie die Unternehmensgruppe der Beklagten die wesentlichen Eckpunkte des Lizenzvertrags mit erläutert (Laufzeit, Lizenzgegenstand, Höhe der Pauschallizenzzahlung und Berechnung der Lizenzgebühr).
210
Im haben die Parteien dann in E-Mails und Videokonferenzen die zu erwartenden Verkaufszahlen der Unternehmensgruppe der Beklagten ebenso wie die wirtschaftliche Vergleichbarkeit der Unternehmensgruppe der Beklagten mit anhand einer Präsentation der Klägerin diskutiert.
211
Am hat die Klägerin im Rahmen einer Videokonferenz eine Präsentation zur aktuellen Marktsituation gehalten und der Unternehmensgruppe der Beklagten angesichts des geschlossenen Lizenzvertrags mit sowie des gezogenen Vergleichs der Unternehmensgruppe der Beklagten mit diesem Konzern ein Lizenzvertragsangebot über vorgelegt und dieses per E-Mail gesendet.
212
Mit E-Mail vom hat die Klägerin die Unternehmensgruppe der Beklagten an das Angebot vom erinnert, worauf die Beklagten am reagiert und die Parteien für den eine Videokonferenz vereinbart haben. In dieser haben die Vertreter der Beklagten unter anderem geäußert, dass  .
213
bb) Die Unternehmensgruppe der Beklagten hat damit an den Lizenzverhandlungen zu spät und für den Abschluss eines Lizenzvertrags zu wenig förderlich mitgewirkt. Sie hat sich insbesondere nicht so verhalten, dass hierfür hinreichend konkrete Fortschritte erzielt werden.
214
Ein Lizenzsucher, der den erfolgreichen Abschluss eines Lizenzvertrags anstrebt, hätte sich – anders als es die Unternehmensgruppe der Beklagten getan hat – durch fortdauerndes Verhandeln und förderliche sowie konstruktive Mitwirkung bemüht, dass es zum Abschluss des gewollten Lizenzvertrags kommt. Insbesondere haben die Beklagten ihre Gegenangebote erst spät im Verhandlungsprozess unterbreitet und sind jedenfalls am Ende nicht bereit gewesen, diese maßgeblich zu erhöhen, obwohl sich aus den Ausführungen der Klägerin (zuletzt in der Triplik vom 09.01.2022) ergibt, dass die Unternehmensgruppe der Beklagten im Vergleich zu den anderen Lizenzverträgen, die die Klägerin geschlossen hat, lediglich einen Bruchteil der dort vereinbarten Zahlungen angeboten hat. Auch zeigt das letzte Gegenangebot von ihre Lizenzunwilligkeit, weil trotz der grundsätzlichen Vergleichbarkeit mit lediglich etwas mehr als des von bezahlten Betrags angeboten wird und die Beklagten nicht erläutert haben, welche Annahmen sie für ihr eigenes Zahlenwerk bis zum Jahr zugrunde gelegt haben. Aus Sicht der Kammer wäre vielmehr zu erwarten gewesen, dass die Beklagten ein Lizenzangebot unterbreiten, dass entsprechend der gebotenen Anpassungen, aber in etwa in der Größenordnung liegt, in der ihr Wettbewerber mit der Klägerin eine Einigung gefunden hat.
215
3. An dieser festgestellten Lizenzunwilligkeit der Beklagten ändert sich nichts durch ihren Einwand, das Angebot der Unternehmensgruppe der Beklagten sei das einzige schriftliche Lizenzangebot, das die FRAND-Kriterien erfülle, so dass sie nicht als lizenzunwillig angesehen werden dürfen.
216
a) Die Unternehmensgruppe der Beklagten stützt sich im Grunde darauf, dass ihr Angebot von FRAND sei, weil die Klägerin für die Gesamtlaufzeit bis einen Betrag von zuletzt fordert.
217
b) Dieser Einwand greift nicht durch, weil die Beklagten einen Lizenzvertrag zu solchen Bedingungen nicht von der Klägerin beanspruchen können.
218
Voraussetzung für den Einwand der Beklagten ist, dass das klägerische Angebot von auf heruntergerechnet werden kann und ein entsprechender Vertrag zu diesen Konditionen überhaupt zur Disposition stünde, was mangels Darlegung eines berechtigten Interesses der Unternehmensgruppe der Beklagten gegenüber der Klägerin an bislang bereits nicht der Fall ist (s.o.). Außerdem ist das Lizenzangebot der Klägerin so konzipiert, dass für die Preisbildung lediglich Verkäufe bis einbezogen werden, mit denen zugleich Verkäufe bis abgegolten werden. Eine arithmetische Verteilung der bis auf bis scheidet damit aus.
219
III. Auch aus den übrigen Einwänden und Rügen der Beklagten ergibt sich unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände des Einzelfalls keine Begründetheit des kartellrechtlichen Zwangslizenzeinwands.
220
Besonders aus dem mit Schriftsatz vom 28.03.2023 vorgelegten Urteil des UK High Court vom 16.03.2023 in Sachen Interdigital v. Lenovo (Anlage VP-Kart35) ergibt sich jedenfalls mangels Übertragbarkeit der tatsächlichen Umstände auf diesen Fall hier kein anderes Ergebnis.
221
IV. Der zulässige Antrag der Beklagten auf Dokumentenvorlage ist zurückzuweisen. Er ist unbegründet.
222
1. Nachdem die Kammer die fehlende Lizenzwilligkeit der Beklagten festgestellt hat, übt sie das ihr nach § 142 ZPO eingeräumte Ermessen dahingehend aus, dass es der beantragten Dokumentenvorlage nicht bedarf. Einem lizenzunwilligen Verhandlungspartner brauchen weitere geheimhaltungsbedürftige Informationen nicht offenbart und die entsprechenden Dokumente nicht vorgelegt zu werden, wenn sie für den Prozess nicht relevant sind.
223
Das ist hier der Fall. Aus den konkreten Umständen des Einzelfalls ergibt sich keine Relevanz für das Verfahren. Denn die Vorlage ist nicht entscheidungserheblich. Die Beklagten sind nicht lizenzwillig. Anhaltspunkte dafür, dass sich durch die beantragte Vorlage der Dokumente hieran etwas ändern könnte und sie ihr verzögerndes und nicht förderliches Verhalten aufgeben würden, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
224
2. Entgegen der Annahme der Beklagten ist der Anspruch auch nicht bereits deswegen begründet, weil die Beklagten die Dokumente lediglich online einsehbar in den elektronischen Datenraum gestellt haben, wobei es aber nicht möglich ist, die Dokumente zu drucken, zu speichern oder anderweitig zu sichern. Denn die Beklagten haben auch so die Möglichkeit, sich mit dem Inhalt der Dokumente vertraut zu machen und diesen zu Kenntnis zu nehmen. Zwar wird ihnen damit erschwert, diese Dokumente zum Gegenstand des Verfahrens zu machen und es ist zuzugeben, dass die Klägerin die Kontrolle über den Datenraum ausübt. Doch es damit im Einzelfall dem Informationsinteresse der Beklagten hinreichend genüge getan. Den Inhalt der Dokumente kann die Beklagte zum Beispiel ohne Weiteres durch Abfotografieren des Bildschirms „sichern“. Außerdem ist im Lauf des Verfahrens (zu Recht) nicht eingewandt worden, sie könne sich nicht entsprechend verteidigen. Dass der Inhalt solcher Datenräume nicht als elektronischer Akteninhalt angesehen werden kann, mag zutreffen, ändert aber – wohl entgegen Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 15. Auflage 2023, Kap. E Rn. 598 – nichts an der fehlenden Vorlageverpflichtung. Denn maßgeblich ist das Informationsbedürfnis der betroffenen Person.
225
3. Durch Vorlage des -Vertrags hat die Klägerin den Antrag im Übrigen zum Teil erfüllt.
D.
226
Eine Aussetzung nach § 148 ZPO mit Blick auf die Nichtigkeitsklage der Beklagtenseite vom 19.08.2022 (Anlage VP2) ist nicht geboten.
227
I. Die Einleitung eines Einspruchsverfahrens oder die Erhebung einer Nichtigkeitsklage stellen als solches keinen Grund dar, das Verfahren auszusetzen. Anderenfalls würde man dem Angriff auf das Klagepatent eine den Patentschutz hemmende Wirkung beimessen, die ihm nach dem Gesetz gerade fremd ist (BGH GRUR 1987, 284 – Transportfahrzeug). Bei der gebotenen Interessenabwägung hat grundsätzlich das Interesse des Patentinhabers an der Durchsetzung des ihm erteilten Patents Vorrang (vgl. Cepl in: Cepl/Voß, Prozesskommentar Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, 3. Auflage 2022, § 148 ZPO Rn. 106 m.w.N). Denn das Patent bietet nur eine beschränkte Schutzdauer. Für die Dauer der Aussetzung ist das Schutzrecht mit Blick auf den Unterlassungsantrag, der einen wesentlichen Teil des Schutzrechts darstellt, noch zusätzlich praktisch aufgehoben. Daher kommt eine Aussetzung grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Vernichtung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (Cepl in: Cepl/Voß, aaO, § 148 ZPO Rn. 107 m.w.N.).
228
Eine erstinstanzliche Entscheidung des zur Entscheidung über den Rechtsbestand berufenen (regelmäßig mit Fachpersonen besetzten) Organs ist grundsätzlich hinzunehmen, sofern die Entscheidung nicht offensichtlich fehlerhaft ist (Voß, in: BeckOK, PatR, PatG § 139 Vor §§ 139-142b (Verletzungsprozess) Rn. 186 m.w.N.). Die durch die Entscheidung benachteiligte Partei muss darlegen, inwieweit die Entscheidung falsch ist (Diagnose) und warum das zur Entscheidung berufene Organ in zweiter Instanz anders entscheiden wird (Prognose).
229
II. Nach diesen Maßstäben ist das Verfahren weder mit Blick auf das Berufungsverfahren gegen das Urteil des Patentgerichts vom 6.12.2021 (WKS4), noch mit Blick auf die Nichtigkeitsklage VP2 auszusetzen.
230
Ob eine Aussetzung erfolgt, steht im Ermessen des Gerichts, § 148 ZPO. Das Gericht berücksichtigt bei der Prüfung der Ausübung seines Ermessens, ob eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Vernichtung des Klagepatents spricht.
231
Der Gegenstand des Klagepatents in der hier geltend gemachten, durch das Patentgericht eingeschränkt aufrecht erhaltenen Fassung ist nach Auffassung der Kammer rechtsbeständig. Die von der Beklagtenseite im Rahmen ihres Aussetzungsantrags geltend gemachten Nichtigkeitsargumente greifen nicht durch. Der Gegenstand des Klagepatents ist insbesondere neu und erfinderisch.
232
1. Zweifel an der Neuheit der eingeschränkt aufrecht erhaltenen Ansprüche gegenüber der Druckschrift NK1 (Michael Jerome Hawley, Structure out of Sound, 1993, im Folgenden „Hawley“) bestehen nicht.
233
Die Druckschrift Hawley befasst sich u. a. mit dem Erkennen von Musik von Audiosignalen mittels eines Musikdetektors. Der Musikdetektor macht sich zu eigen, dass Musik – anders als Sprache – Töne enthält, die über einen bestimmten Zeitraum konstant bleiben.
234
Hawley offenbart nach den Feststellungen des Patentgerichts in dem erstinstanzlichen Nichtigkeitsurteil WKS4 nicht das Merkmal 2.2.3. Hawley berechnet zwar aus den Abtastwerten eines Schallsignals eines aktuellen Rahmens ein aktuelles Residualspektrum des Schallsignals (Merkmal 1.2). Diese Berechnung findet jedoch nicht statt, indem von dem Spektrum des Schallsignals die Spektrumsuntergrenze subtrahiert wird (hierzu Patentgericht, WKS4, S. 35/36).
235
Soweit die Beklagtenseite sich mit Schriftsatz vom 18.01.2023 auf die Berufungsbegründung in der Sache 4 Ni 10/21 gegen das Urteil WKS4 bezieht und sich den Vortrag der dortigen Berufungsklägerin zu eigen macht, setzt die Beklagtenseite (mit der Berufungsklägerin, VP3 Rn.176-200) lediglich ihre eigene Auffassung an die Stelle des Patentgerichts.
236
2. Der Gegenstand des Klagepatents ist ebenso erfinderisch.
237
Der Gegenstand des Klagepatents ist nicht durch eine Kombination der Druckschriften NK1 („Hawley“) mit NK2 („Matsubara“), NK3 („Klapuri“) oder NK4 („Hosoya) nahegelegt.
238
a) Um den Gegenstand einer Erfindung als nahegelegt anzusehen, ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung zum einen erforderlich, dass die Fachperson mit ihrer durch Ausbildung und berufliche Erfahrung erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Lage gewesen ist, die erfindungsgemäße Lösung des technischen Problems aus dem Vorhandenen zu entwickeln. Zum anderen muss die Fachperson Grund gehabt haben, den Weg der Erfindung zu beschreiten. Dazu bedarf es in der Regel zusätzlicher, über die Erkennbarkeit des technischen Problems hinausreichender Anstöße, Anregungen, Hinweise oder sonstiger Anlässe (vgl. BGH GRUR 2018, 716, 718, Rn. 25 m.w.N. – Kinderbett).
239
Für eine Fachperson kann sich ein Anlass ergeben, ausgehend von einer Entgegenhaltung nach einer Qualitätsverbesserung zu suchen, wenn sich aus dem Dokument des Stands der Technik ergibt, dass dort eine Lösung offenbart ist, die einen Kompromiss zwischen möglichst geringer Rechnerleistung und möglichst hoher Qualität darstellt (vgl. BGH GRUR 2020, 1074, Rn. 40 m.w.N. – Signalübertragungssystem).
240
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann die Anwendung eines bestimmten Mittels auch ohne entsprechende Anregung naheliegend sein, wenn dieses als ein generelles, für eine Vielzahl von Anwendungsfällen in Betracht zu ziehendes Mittel seiner Art nach zum allgemeinen Fachwissen des angesprochenen Fachmanns gehört, die Nutzung der in Rede stehenden Funktionalität sich in dem zu beurteilenden Zusammenhang als objektiv zweckmäßig darstellt und keine besonderen Umstände feststellbar sind, die eine Anwendung aus fachlicher Sicht als nicht möglich, mit Schwierigkeiten verbunden oder sonst untunlich erscheinen lassen (vgl. BGH GRUR 2020, 1074, Rn. 49 m.w.N. – Signalübertragungssystem). Die Anwendung eines bestimmten Mittels setzt voraus, dass überhaupt eine Veranlassung für eine Verbesserung bestand, mithin ein Anlass für eine Kombination bestimmter im Stand der Technik bekannter Druckschriften (in vorzitierter Entscheidung in Rn. 39 ff. adressiert; zu Schriftsatz vom 19.01.2023, S. 6 ff.).
241
b) Die NK1 bietet der Fachperson keinen Anlass, die in Merkmal 2.2.3 adressierte Berechnungsweise durch eine Kombination mit der Druckschrift Matsubara zu erzielen.
242
Wie das Patentgericht zutreffend ausgeführt hat, bietet die Nk1 eine in sich geschlossene, gut funktionierende Lösung für eine Berechnung des aktuellen Residualspektrums des Schallsignals, die von der Berechnung nach Merkmal 2.2.3 des Klagepatents abweicht. Diese Druckschrift liefert der Fachperson daher keinen Anlass, eine Begradigung des Schallsignalspektrums durch Subtraktion eines spektralen Untergrunds in Betracht zu ziehen (Patentgericht WKS4, S. 38). Diese Feststellung des Patentgerichts ist unabhängig von dem neben Hawley zur Kombination zitierten Stand der Technik, weil sie schlicht darauf abstellt, dass die NK1 keinen Anlass für eine Kombination (irgend-) einer anderen Schrift zur Erreichung des Merkmals 2.2.3 des Anspruchs 1 des Klagepatents bietet.
243
Das Vorbringen der Beklagten, die Fachperson sei allgemein bestrebt, Verbesserungen aufzufinden und werde aufgrund der Fortschritte bei der verfügbaren Rechnerleistung ein verbessertes Verfahren zum Schätzen einer Tonalität und dadurch nach einer alternativen Methode zur Erzeugung des zweidimensionalen Spektral-Bildes suchen, so dass er zu den Druckschriften NK2, NK3 oder NK4 gelange, die Merkmal 2.2.3 offenbarten, entkräftet nicht die Überlegungen des Patentgerichts, das in der NK1 ein geschlossenes, funktionierendes System sieht (zu Klageerwiderung S. 31).
244
Der Umstand, dass es sich bei der NK1 um eine Dissertation handelt, begründet keine andere Einschätzung. Die Kammer kann als richtig unterstellen, dass eine Fachperson grundsätzlich nicht davon ausgeht, dass Algorithmen in einer Dissertation ausgereift oder technisch perfekt wären. Der Umstand, dass die NK1 eine Dissertation darstellt, war dem Patentgericht indes bewusst (zu Duplik S. 20). Als einen Ausgangspunkt für Verbesserungen versteht die Fachperson entgegen der Einschätzung der Beklagten (Duplik S. 20) die Überlegungen in der NK1 auch nicht wegen dessen S. 23, vorletzter Absatz. Hawley bezeichnet hier nicht die vorgestellte Analyse als nützlichen Ausgangspunkt, sondern Musik als solche („Music is a particularly well-codified and highly structured form of sound, so it provides a useful point of departure.“). Selbst wenn Hawley, wie die Beklagtenseite meint, die allgemeine Lehre offenbart, das „zweidimensionale Spektral-Bild“ zu erzeugen und zu verwenden, und den Algorithmus „findPeaks“ nur als eine beispielhafte Möglichkeit hierfür anführt (Klageerwiderung S. 31, Duplik S. 21/22, VP2 S. 18), ist damit noch kein konkreter Anlass aufgezeigt, ein besseres Verfahren für den Musikdetektor zu entwickeln.
245
Zutreffend ist, dass Hawley in Abschnitt 5.1 „false hits“ und eine mögliche Anpassung des Filters adressiert. Ebenso ist in Abschnitt 5.2 eine Einladung zu weiteren Untersuchungen einzelner Aspekte ausgesprochen. Diese Angaben beschreiben mögliche Änderungen, geben aber keinen konkreten Anlass für die Fachperson, den Ansatz von Hawley in eine bestimmte Richtung weiterzudenken. Das Patentgericht hat die in der NK1 offenbarte Lösung des findPeaks-Algorithmusses trotz der angesprochenen Fehlerrate als gut funktionierende Lösung beschrieben, so dass dieser Umstand der Fachperson gerade keinen Anlass bietet, nach einer Verbesserung zu suchen. Die Beklagtenseite setzt ihre eigene Einschätzung, die Fachperson hätte sich schon durch die Fehlerrate zu einer Verbesserung veranlasst gesehen (Schriftsatz vom 18.01.2023, S. 12), wiederum an Stelle der Einschätzung des Patentgerichts. Soweit am Ende von Abschnitt 5.2 eine mögliche Anpassung bei technischen Weiterungen adressiert ist, geht es um Sprachsynthese. Die Fachperson hat keinen Anlass, hieraus auf Adaptionen auch der Musikerkennung aufgrund technischer Neuerungen zu schließen (zu S. 2/5 Schriftsatz vom 19.01.2023 und der Diskussion in der Sitzung).
246
Aus dem Umstand, dass sich die in der NK1 offenbarte Lehre mit mehr Rechnerleistung präzisieren lässt, kann ebenfalls kein konkreter Anlass entnommen werden. Zwar kann, wie oben erläutert, ein im Stand der Technik offenbarter Kompromiss zwischen möglichst geringer Rechnerleistung und möglichst hoher Qualität Anlass für die Fachperson sein, nach Verbesserungen zu suchen. Die Beklagtenseite hat aber nicht dargetan, dass die NK1 einen solchen Kompromiss adressiert, oder eine Adaption bei verbesserter Rechnerleistung in den Blick nimmt. Vielmehr zeigt Hawley, dass der Algorithmus schneller als „real time“ läuft (siehe S. 84, “The music filter with conservative settings shown here runs about 8% faster than realtime on a Motorola 68040 computer; with settings appropriate for skimming hours of sound, like movie soundtracks, it runs about 5x faster than realtime.”, zu der Diskussion in der Sitzung). Aufgrund technischer Neuerungen können grundsätzlich stets neue Algorithmen entwickelt werden. Hawley lässt aber nicht erkennen, dass aufgrund der technischen Gegebenheiten bei Verfassung der Druckschrift Kompromisse zu Lasten der Qualität erforderlich waren, die die Fachperson konkret veranlassen würden, Verbesserungen zu suchen.
247
Ebenso wenig folgt aus einem möglichen spektralen Versatz ∆f der lokalen Maxima gegenüber der wahren Frequenz f des Tons, oder einer Verschiebung einer Frequenzdrift eines Tons, dass eine Fachperson automatisch Anlass hat, das in der NK1 offenbarte System zu verbessern. Die Beklagtenseite stellt mögliche Fehlfunktionen heraus, wohingegen das mit Fachpersonen besetzte Patentgericht das System von Hawley als gut funktionierend charakterisiert hat (zu Schriftsatz vom 18.01.2023, S. 9/11).
248
Aus dem Umstand, dass 2006 die Methode der spektralen Subtraktion zum allgemeinen Fachwissen zählte, wie die Beklagtenseite meint (Schriftsatz vom 18.01.2023, S. 11), folgt nach obigen Erläuterungen ebenso wenig, dass die Fachperson Anlass hatte, die spektrale Subtraktion auf die in der NK1 offenbarte Erfindung anzuwenden.
249
Auf die Frage, ob die Fachperson Anlass hatte, insbesondere auf die Druckschriften NK2, NK3 und NK4 zurückzugreifen, die sich nicht mit Musikdetektoren befassen, kommt es daher nicht an (zu Replik S. 44 ff.).
E.
250
I. Die Kostenfolge ergibt sich aus dem Verhältnis von Obsiegen zu Unterliegen. Die Klägerin obsiegt voll.
251
II. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO. § 712 ZPO ist nicht anzuwenden, weil die Beklagtenseite einen über die üblichen Nachteile einer Vollstreckung hinausgehenden, nicht zu ersetzenden Nachteil durch die Vollstreckung nicht dargetan hat.
252
Die Festsetzung von Teilstreitwerten entspricht gängiger Übung der Verletzungskammern am Landgericht München I. Die Kammer schätzt die entsprechenden Teilstreitwerte dem klägerischen Interesse entsprechend wie im Tenor angegeben.