Inhalt

OLG München, Endurteil v. 06.10.2022 – 6 U 3044/22
Titel:

Kein hinreichend gesicherter Rechtsbestand nach negativem qualifizierten Hinweis in einem Generikafall

Normenketten:
ZPO § 935, § 940
EPÜ Art. 64 Abs. 1 u. 3
Leitsätze:
1. Der für den Erlass einer einstweiligen Verfügung erforderliche Verfügungsgrund setzt eine Interessenabwägung zwischen den dem Schutzrechtsinhaber ohne den Erlass der beantragten Verfügung drohenden Nachteilen und den Interessen des als Verletzer im Wege einer vorläufigen Eilmaßnahme in Anspruch genommenen Antragsgegner voraus, in die auch die Frage der voraussichtlichen Rechtsbeständigkeit des Verfügungspatents einzubeziehen ist. (Rn. 4 – 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dem für das Vorliegen eines Verfügungsgrundes darlegungs- und glaubhaftmachungsbelasteten Antragsteller kommt hinsichtlich der Frage des Rechtsbestands des Verfügungspatents eine Vermutung für dessen Gültigkeit ab Veröffentlichung der Erteilung des Patents zugute. Allerdings kann der Antragsgegner im Rahmen des ihm zu gewährenden rechtlichen Gehörs Einwendungen gegen den Rechtsbestand des Verfügungspatents vorbringen, was dann zur Obliegenheit des Antragstellers führt, etwaige Zweifel am Rechtsbestand zu widerlegen.  (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
3. Steht die Patentverletzung durch ein Generikaunternehmen in Rede, wird bereits nach der bisherigen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte München, Karlsruhe und Düsseldorf ein Abwarten des Ausgangs eines Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens als für den Patentinhaber regelmäßig nicht zumutbar angesehen. In einem solchen Fall bedarf es daher keiner Entscheidung, inwieweit diese Rechtsprechung infolge der Entscheidung des EuGH vom 28.04.2022 (GRUR 2022, 811 - Phoenix Contact/Harting) zu modifizieren ist. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
4. Sich aus einem den Rechtsbestand des Verfügungspatents ablehnenden qualifizierten Hinweis des Bundespatentgerichts ergebende Zweifel an der Rechtsbeständigkeit des Verfügungspatents wird der Antragsteller regelmäßig nur ausräumen können, wenn er konkrete Anhaltspunkte für die Annahme dartut und glaubhaft macht, dass der qualifizierte Hinweis erkennbar, also offenkundig fehlerhaft ist und wenn das Verletzungsgericht verlässlich beurteilen kann, dass auch keine andere Begründung für die Vernichtung durchgreifen kann. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagwort:
Einstweilige Verfügung
Vorinstanz:
LG München I, Endurteil vom 25.03.2022 – 7 O 3162/22
Fundstellen:
GRUR 2023, 796
LSK 2022, 46292
GRUR-RS 2022, 46292

Tenor

1. Die Berufung der Antragstellerin gegen das Endurteil des Landgerichts München I vom 25.03.2022, Az. 7 O 3162/22, wird zurückgewiesen.
2. Die Antragstellerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Tatbestand

I.
1
Von einem Tatbestand wird gemäß § 313a Abs. 1 S. 1, § 542 Abs. 2 S. 1 ZPO abgesehen.

Entscheidungsgründe

II.
2
Die gemäß § 511 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere gemäß §§ 519 Abs. 1, Abs. 2, 517 ZPO form- und fristgerecht eingelegte und gemäß § 520 Abs. 2, Abs. 3 ZPO begründete Berufung der Antragstellerin hat im Ergebnis keinen Erfolg.
3
Der für die Zulässigkeit des Verfügungsantrags erforderliche Verfügungsgrund ist im Streitfall nicht glaubhaft gemacht, da kein hinreichend gesicherter Rechtsbestand des Verfügungspatents angenommen werden kann.
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1. Der Erlass einer einstweiligen Verfügung setzt gem. §§ 935, 940 ZPO eine objektiv begründete Gefahr voraus, dass die Rechtsverwirklichung des Antragstellers mittels eines erst im Hauptsacheprozess erlangten Urteils unzumutbar vereitelt oder erschwert werden könnte. Dies bedingt zum einen eine für die Eilmaßnahme sprechende rein zeitliche Dringlichkeit, die im Streitfall nicht in Frage steht. Zudem ist eine Interessenabwägung zwischen den dem Schutzrechtsinhaber ohne den Erlass der beantragten Verfügung drohenden Nachteilen und den Interessen des als Verletzer im Wege einer vorläufigen Eilmaßnahme in Anspruch genommenen Antragsgegners vorzunehmen. Die Vornahme einer derartigen Interessenabwägung steht im Einklang mit der Europäischen Enforcement-Richtlinie (RL 48/2008/EG). So wird in den Erwägungsgründen der Richtlinie in Rn. 22 die Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sowie die Beachtung der besonderen Umstände des Einzelfalles bei Erlass einer einstweiligen Maßnahme (Art. 9 Enforcement-RL) vorausgesetzt. Der Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit ist im Übrigen auch in Art. 3 Abs. 2 Enforcement-RL normiert und basiert auf der regelmäßigen Grundrechtskollision bei der Durchsetzung von Immaterialgüterrechten. Dem nach Art. 17 Abs. 2 GR-Charta geschützten Recht des geistigen Eigentums auf Seiten des Antragstellers steht die gem. Art. 16 GR-Charta geschützte unternehmerische Freiheit des Antragsgegners gegenüber, was im jeweiligen Einzelfall stets eine Abwägung der Verhältnismäßigkeit einzelner Durchsetzungsmaßnahmen gebietet (s.a. Hauck – Der Rechtsbestand eines Verfügungspatents und die Vorgaben des europäischen Rechts, GRUR-Prax 2021, 127, 128).
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2. Im Rahmen dieser Interessenabwägung ist unter anderem auch die Frage der voraussichtlichen Rechtsbeständigkeit des Verfügungspatents mit einzubeziehen. Dabei ist einerseits das Interesse des Antragstellers an einer wirksamen Durchsetzung seines Patents und andererseits das Interesse des Antragsgegners, nicht aufgrund eines nachträglich nicht rechtsbeständigen Patents zu Unrecht in seiner wirtschaftlichen Tätigkeit eingeschränkt zu werden, zu berücksichtigen. Die dabei gebotene Prognose des Rechtsbestands des Verfügungspatents im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung resultiert aus der Tatsache, dass angegriffene Patente – trotz ihrer fachkundigen behördlichen Prüfung im Erteilungsverfahren – statistisch überwiegend ganz oder teilweise widerrufen bzw. für nichtig erklärt werden (vgl. Müller-Stoy/Giedke/Große-Ophoff – Aktuelle Vernichtungsquoten im deutschen Patentnichtigkeitsverfahren, GRUR 2022, 142; s.a. OLG Düsseldorf Urt. v. 4.3.2021 – 2 U 25/20, GRUR-RS 2021, 4420 Rn. 16 – Cinacalcet II). Dies lässt sich darauf zurückführen, dass vor dem Hintergrund der Komplexität der Materie die gründliche Recherche eines Wettbewerbers nicht selten Stand der Technik hervorbringt, der im Prüfungsverfahren nicht berücksichtigt wurde (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O., Rn. 16 – Cinacalcet II; Deichfuß – Die Prüfung des Rechtsbestands des Patents im einstweiligen Rechtsschutz, GRUR 2022, 33, 34). Das Patentrecht unterscheidet sich dabei nicht nur hinsichtlich dieser hohen Vernichtungsquote vom Markenrecht. Vielmehr setzt die Prüfung der Schutzfähigkeit einer Marke (vgl. § 8 MarkenG) völlig andere Kriterien voraus, als die Beurteilung der Patentfähigkeit einer angemeldeten Erfindung. Insbesondere ist bei Patentanmeldungen aus der Sicht der zuständigen Erteilungsstelle regelmäßig nicht abschließend überschaubar, ob sich aus dem – weltweit zu berücksichtigenden – Stand der Technik ein Hindernis für die Patenterteilung ergibt. Und auch im Verletzungsverfahren spielen Einwendungen gegen das Schutzrecht im Markenrechtsstreit eine andere Rolle als in einem Patentverletzungsverfahren. Während in einem einstweiligen Verfügungsverfahren wegen Verletzung einer geschützten Marke vom Antragsgegner das Bestehen älterer Rechte (§§ 9 bis 13 MarkenG) oder auch eine Rechtsmißbräuchlichkeit der Markenanmeldung eingewandt werden kann und das Verletzungsgericht außerdem einem schwach kennzeichnungskräftigen Zeichen im Rahmen der vorzunehmenden Schutzbereichsbestimmung einen geringeren Schutzumfang zusprechen wird, bleiben im Patentverletzungsrechtsstreit die für die Patentfähigkeit maßgeblichen Kriterien – wie insbesondere die Neuheit oder erfinderische Tätigkeit – bei der Beurteilung der sich aus einer Verletzung ergebenden Ansprüche im Wesentlichen unberücksichtigt.
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3. Der Erlass einer einstweiligen Verfügung zugunsten des Inhabers eines erteilten Patents unabhängig von einem hinreichend gesicherten Rechtsbestand kann auch nicht mit der Möglichkeit der Anordnung einer Vollzugssicherheit (Art. 9 Abs. 6 der Enforcement-RL, §§ 921 S. 2, 936 ZPO) und eines etwaigen Schadensersatzanspruchs des Antragsgegners (Art. 9 Abs. 7 der Enforcement-RL, § 945 ZPO) als regelmäßig verhältnismäßig gerechtfertigt werden. So kann die Anordnung einer Sicherheit den Interessen des in seiner unternehmerischen Freiheit eingeschränkten Antragsgegners allenfalls dann Rechnung tragen, wenn er bei späterer Nichtigerklärung des Verfügungspatents den Ersatz seines Schadens in der entsprechenden Höhe gegenüber dem Antragsteller auch durchsetzen kann. Dies ist nach der Rechtsprechung des EuGH (vgl. EuGH GRUR BeckRS 2019, 20738 – Bayer Pharma) allerdings bei einer späteren Nichtigerklärung des Verfügungspatents nicht automatisch anzunehmen und setzt außerdem in tatsächlicher Hinsicht auch einen für den Antragsgegner nicht immer einfach zu erbringenden Nachweis eines kausalen Schadens voraus. Im Übrigen legt auch der EuGH in der Entscheidung „Phoenix/HARTING“ zugrunde, dass das Verletzungsgericht vor der Anordnung einer einstweiligen Maßnahme die Frage der Rechtsbeständigkeit des Verfügungspatents würdigt (vgl. EuGH GRUR 2022, 811 Rn. 34: „Mit einer solchen Rechtsprechung wird ein Erfordernis aufgestellt, das Art. 9 Abs. 1 lit. a RL 2004/48 jede praktische Wirksamkeit nimmt, da es dem nationalen Richter verwehrt ist, im Einklang mit dieser Bestimmung eine einstweilige Maßnahme anzuordnen, um die Verletzung des in Rede stehenden, von ihm als rechtsbeständig und verletzt erachteten Patents unverzüglich zu beenden“ [Hervorhebungen hinzugefügt]).
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4. Das Vorliegen eines Verfügungsgrundes ist seitens der Antragstellerpartei darzulegen und glaubhaft zu machen (§§ 936, 920 Abs. 2 ZPO). Dabei gilt hinsichtlich der im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigenden Frage des Rechtsbestands des Verfügungspatents zunächst eine Vermutung für dessen Gültigkeit ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der Erteilung eines Patents (vgl. EuGH GRUR 2022, 811 Rn. 41 – Phoenix/HARTING). Allerdings kann die Antragsgegnerseite im Rahmen des ihr zu gewährenden rechtlichen Gehörs (vgl. Erwägungsgrund Nr. 22 der Enforcement-RL) Einwendungen gegen den Rechtsbestand des Verfügungspatents vorbringen, was dann zur Obliegenheit des Antragstellers führt, etwaige Zweifel am Rechtsbestand zu widerlegen.
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5. Es kann im Streitfall dahingestellt bleiben, inwieweit die Rechtsprechung des Senats (vgl. GRUR 2020, 385 Rn. 69 – Elektrische Anschlussklemme) sowie der Oberlandesgerichte Karlsruhe und Düsseldorf (vgl. OLG Düsseldorf GRUR-RR 2008, 329 – Olanzapin; BeckRS 2010, 15862 – Harnkatheterset; GRUR-RS 2021, 4420 Rn. 14 ff. – Cinacalcet II; OLG Karlsruhe GRUR-RR 2015, 509 – Ausrüstungssatz) zum Erfordernis eines zugunsten des Verfügungspatents ausgegangenen erstinstanzlichen Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens vor Erlass einer einstweiligen Verfügung infolge der Entscheidung des EuGH vom 28.04.2022 „Phoenix/HARTING“ (GRUR 2022, 811) zu modifizieren ist (vgl. dazu auch Deichfuß – Besprechung zu EuGH „Phoenix Contact/Harting, GRUR 2022, 800). Denn vorliegend steht eine Patentverletzung durch ein Generikaunternehmen inmitten, bei der auch schon nach bisheriger Rechtsprechung (vgl. Senat a.a.O. Rn. 62 – Elektrische Anschlussklemme; OLG Düsseldorf a.a.O. – Harnkatheterset; GRUR-RR 2013, 236, 240 – Flupirtin-Maleat; GRUR-RS 2021, 4420 Rn. 21 ff.; s.a. Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 14. Aufl., Kap. G Rn. 63 ff.) im Rahmen der Interessenabwägung ein Abwarten des Ausgangs eines Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens als für den Patentinhaber regelmäßig nicht zumutbar angesehen wurde. So ist bei einer Patentverletzung durch ein Generikaunternehmen der hierdurch entstehende Schaden im Falle einer späteren Aufrechterhaltung des Patents vielfach sehr hoch und – mit Rücksicht auf den durch eine entsprechende Festsetzung von Festbeträgen verursachten Preisverfall – nicht wieder gut zu machen. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass das Generikaunternehmen für seine Marktpräsenz im Allgemeinen keine eigenen wirtschaftlichen Risiken eingeht, weil das Präparat dank des Patentinhabers medizinisch hinreichend erprobt und am Markt etabliert ist. Daher kann in diesen Fällen eine Verbotsverfügung auch dann ergehen, wenn für das Verletzungsgericht zwar keine endgültige Sicherheit über den Rechtsbestand gewonnen werden kann, wenn aber die besseren Argumente für die Patentfähigkeit sprechen oder wenn (mit Rücksicht auf die im Rechtsbestandsverfahren geltende Beweislastverteilung) die Frage der Patentfähigkeit mindestens ungeklärt bleibt, wobei im Rahmen der vom Verletzungsgericht zu treffenden Prognoseentscheidung bereits ergangene Entscheidungen der zuständigen Stellen zum Rechtsbestand zu berücksichtigen sind (vgl. Senat Urt. v. 22.04.2021 – 6 U 6968/20, GRUR-RS 2021, 12272 Rn. 60, – Cinacalcet; OLG Düsseldorf, a.a.O. – Flupirtin-Maleat; OLG Düsseldorf, a.a.O. Rn. 22 – Cinacalcet II; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2021, 400 Rn. 47 – MS-Therapie II; Kühnen a.a.O. Rn. 64 ff.).
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6. Im Streitfall hat das Bundespatentgericht zu der von der Antragsgegnerin gegen das Verfügungspatent mit Klage vom 20.08.2020 erhobenen Nichtigkeitsklage (Az. 3 Ni 22/20) am 17.11.2021 einen den Rechtsbestand ablehnenden qualifizierten Hinweis gemäß § 83 Abs. 1 S. 1 PatG erlassen (Anlage rop J), in dem es zwar die Neuheit des Verfügungspatents bejaht, dessen erfinderische Tätigkeit aber verneint hat. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein derartiger Hinweis als qualifizierte Sachaussage des nach dem Gesetz für die Überprüfung der Entscheidungen der Erteilungsbehörden berufenen Bundespatentgerichts, der sich hinreichend klar gegen die Schutzfähigkeit des Patents ausspricht, aus der Sicht des Verletzungsgerichts in aller Regel zu dem Schluss führt, dass der Rechtsbestand in einem Maße ungesichert ist, dass eine Unterlassungsverfügung nicht mehr in Betracht kommt (vgl. Senat, Urteil v. 14.4.2016 – 6 U 4339/15, BeckRS 2016, 14740 Rn. 53; OLG Düsseldorf Urt. v. 4.3.2021 – 2 U 25/20, GRUR-RS 2021, 4420 Rn. 23 ff. – Cinacalcet II; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2021, 400 Rn. 42 ff. – MS-Therapie; Kühnen, a.a.O., Rn. 91). Sich hieraus ergebende Zweifel an der Rechtsbeständigkeit des Verfügungspatents wird der Antragsteller regelmäßig nur ausräumen können, wenn er konkrete Anhaltspunkte für die Annahme dartut und glaubhaft macht, dass der qualifizierte Hinweis des Bundespatentgerichts erkennbar, also offenkundig fehlerhaft ist und wenn das Verletzungsgericht verlässlich beurteilen kann, dass auch keine andere Begründung für die Vernichtung durchgreifen kann (vgl. Senat, a.a.O.; BeckRS 2016, 14740 Rn. 53; Kühnen a.a.O. Rn. 91). Der Bedeutung des qualifizierten Hinweises für die Beurteilung des Rechtsbestand durch die Verletzungsgerichte im Rahmen der Prüfung des Verfügungsgrundes im Eilverfahren bzw. einer Aussetzungsentscheidung im Hauptsacheverfahren hat auch der Gesetzgeber im Rahmen des Zweiten Patentrechtsmodernisierungsgesetzes vom 10.08.2021 durch die Neufassung des § 83 Abs. 1 PatG (gültig seit 01.05.2022) in den Sätzen 2 und 3 des § 83 Abs. 1 PatG Rechnung getragen, wonach der Erlass dieses Hinweises beschleunigt und dem Verletzungsgericht von Amts wegen übermittelt werden soll.
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Vorliegend wurde allerdings die Nichtigkeitsklage mit Urteil des BPatG vom 26.04.2022 (Anlage rop Q) als unzulässig zurückgewiesen, nachdem – worauf auch in dem vorgenannten qualifizierten Hinweis des Bundespatentgerichts bereits hingewiesen wurde – das vor dem EPA geführte Einspruchsverfahren wegen fehlender Erfüllung aller Verfahrensschritte gemäß Regel 82 AusfEPÜ formal noch nicht abgeschlossen war. In diesem Einspruchsverfahren hatte die Technische Beschwerdekammer des EPA das Verfügungspatent mit Entscheidung vom 03.09.2019 (T 0421/14 – 3.3.01) mit geänderten Ansprüchen – unter anderem dem vorliegend geltend gemachten Anspruch 1 – aufrechterhalten und die Einspruchsabteilung mangels eigener Zuständigkeit angewiesen, die Beschreibung entsprechend anzupassen (Anlage rop D/Da).
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Der Umstand, dass hier eine zur Bewertung des Rechtsbestands durch das BPatG gegenteilige Aufrechterhaltungsentscheidung der technisch ebenfalls sachkundig besetzten Beschwerdekammer des EPA vorliegt, hindert die Indizwirkung des qualifizierten Hinweises vom 17.11.2021 des BPatG nicht. Die zunächst positive Rechtsbestandsentscheidung des EPA wird durch die späteren Äußerungen des BPatG, dem die Entscheidung der Beschwerdekammer des EPA vorlag, in dem qualifizierten Hinweis hinreichend deutlich in Frage gestellt (vgl. auch Kühnen, a.a.O., Kap. G Rn. 67, 80; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2021, 400 Rn. 36 – MS-Therapie II). Dass die Nichtigkeitsklage anschließend als unzulässig zurückgewiesen wurde, vermag an der Indizwirkung des qualifizierten Hinweises ebenfalls nichts zu ändern. Denn wie die Antragsgegnerin in ihrer Berufungserwiderung vorgetragen hat, wurde von der T. GmbH am 27.07.2022 eine weitere Nichtigkeitsklage (Az. 3 Ni 19/22, Anlagenkonvolut AG 13) gegen das Verfügungspatent eingereicht (demgegenüber betraf das vom Landgericht auf Seite 4, zweiter Abs. und Seite 23 a. E. LGU zitierte Nichtigkeitsverfahren mit dem Az. 3 Ni 2/22 nicht das Verfügungspatent, sondern das parallele EP … 536, vgl. Anlage AG 8). Im Hinblick auf dieses nachfolgende Nichtigkeitsverfahren, das ebenfalls beim 3. Nichtigkeitssenat des BPatG anhängig ist (vgl. Anlage AG 14), lassen die von diesem Senat bereits geäußerten Hinweise zur fehlenden erfinderischen Tätigkeit des Verfügungspatents darauf schließen, dass derzeit mit einer Vernichtung des Verfügungspatents zu rechnen ist. Anhaltspunkte dafür, dass das BPatG von seiner vorläufig geäußerten Auffassung abrücken wird, sind nicht ersichtlich. Insbesondere hat das BPatG nach dem unwidersprochenen Vortrag der Antragsgegnerseite auch in dem das EP … 536 betreffenden Parallelverfahren mit weitgehend gleichlautenden Ansprüchen in der dortigen mündlichen Verhandlung seine Einschätzung der mangelnden Patentfähigkeit zum Ausdruck gebracht.
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7. Der technisch nicht sachkundig besetzte Senat vermag auch nicht zu konstatieren, dass die Rechtsbestandsbewertung des BPatG unvertretbar wäre, indem sich diese als ergebnisrelevant evident falsch erweisen würde und somit von einer Korrektur dieser vorläufigen Einschätzung im Verlauf des anhängigen Nichtigkeitsverfahrens auszugehen wäre. Eine dahingehende Prognose, dass die vom BPatG in dem qualifizierten Hinweis geäußerte Einschätzung des fehlenden Rechtsbestands im weiteren Nichtigkeitsverfahren revidiert werden wird, ist dem Senat im vorliegenden Eilverfahren nicht möglich. Eine derartige Feststellung ist auch nicht aufgrund der vorangehenden abweichenden Beurteilung durch die Einspruchsabteilung und die Beschwerdekammer des EPA veranlasst. Wird – wie vorliegend – die Frage, ob ein bestimmter Stand der Technik den Gegenstand des Verfügungspatents für den Durchschnittsfachmann nahegelegt hat, deren Beantwortung sinnvoll nur einer technisch einschlägig vorgebildeten Person möglich ist, von verschiedenen technisch qualifizierten Spruchkörpern mit jeweils nachvollziehbaren Gründen entgegengesetzt beurteilt, steht es dem Senat als Verletzungsgericht weder an, den gegebenen Widerspruch in den ergangenen technischen Entscheidungen zu klären, noch ist der Senat zu einer derartigen abschließenden technischen Beurteilung überhaupt in der Lage (vgl. auch OLG Düsseldorf Urt. v. 31.8.2017 – 2 U 11/17, BeckRS 2017, 125974 Rn. 52; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2021, 400 Rn. 37 – MS-Therapie II). Der Senat hat allerdings zu berücksichtigen, dass in dem anhängigen Nichtigkeitsverfahren die Beurteilung des BPatG maßgeblich ist.
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Hiervon ausgehend ist vorliegend nicht von einem gesicherten Rechtsbestand auszugehen. Eine evidente Unrichtigkeit des qualifizierten Hinweises des BPatG vermag der Senat – auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Antragstellerseite – nicht zu erkennen.
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a) Das Verfügungspatent EP … 548 betrifft eine orale Dosierungsform einer Aminopyrin-Zusammensetzung mit verzögerter Freisetzung zur symptomatischen Behandlung von Patienten mit Multipler Sklerose (vgl. Verfügungspatentschrift, Anlagen rop B/Ba, Abs. [0001], [0002]).
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Der mit dem Verfügungsantrag geltend gemachte Anspruch 1 des Verfügungspatents lautet in der von der Beschwerdekammer des EPA mit Entscheidung vom 03.09.2019 (Anlage rop D/rop Da) aufrecht erhaltenen Fassung in der englischen Verfahrenssprache wie folgt (Anlage rop E):
„A sustained release 4-aminopyridine composition for increasing the walking speed of a patient with multiple sclerosis, said composition to be administered as a stable dose treatment twice daily in a therapeutic dose of 10 milligrams of 4-aminopyridine.”
Sowie in deutscher Übersetzung (Anlage rop Ea): 4-Aminopyridin-Zusammensetzung mit verlängerter Freisetzung zur Steigerung der Gehgeschwindigkeit eines Patienten mit Multipler Sklerose, wobei die Zusammensetzung als eine Behandlung mit stabiler Dosis zweimal täglich in einer therapeutischen Dosis von 10 Milligramm 4-Aminopyridin verabreicht wird.
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Wie in Abs. [0003] der Verfügungspatentschrift ausgeführt wird, ist Multiple Sklerose (MS) eine degenerative und entzündliche neurologische Krankheit, die das zentrale Nervensystem beeinträchtigt, insbesondere die Myelinscheide von Nervenfasern. Durch eine Demyelinierung der Nervenfasern wird die Übertragung von Impulsen über die Nervenfasern verlangsamt oder blockiert. Das führt dazu, dass die MS-Patienten oftmals unter einer verminderten Gehfähigkeit bzw. einer verminderten Gehgeschwindigkeit bis hin zur Gehunfähigkeit leiden. Gemäß Abs. [0004] der Verfügungspatentschrift waren Kaliumkanalblocker als eine Klasse von Verbindungen bekannt, die die Leitung von Nervenimpulsen verbessern können. Eine Unterklasse davon sind Aminopyridine. Für diese Unterklasse und dabei insbesondere 4-Aminopyridin, auch bekannt als Fampridin, war bekannt, dass es zur Wiederherstellung der Leitung von Nervenimpulsen in blockierten und demyelinierten Nerven dienen kann. Ausweislich Abs. [0005] bis Abs. [0008] der Verfügungspatentschrift wurden Untersuchungen mit Fampridin mit einer schnell freisetzenden Zusammensetzung sowie Tierversuche mit intravenöser Verabreichung von Fampridin zur Behandlung von Rückenmarksverletzungen durchgeführt.
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Vor diesem technischen Hintergrund kann es als Aufgabe des Verfügungspatents angesehen werden, eine alternative Behandlungsmöglichkeit für die bekannte Fampridin-SR-Formulierung bei der Therapie von MS-Patienten bereitzustellen (vgl. BPatG, qualifizierter Hinweis vom 17.11.2021, Anlage rop J, Seite 2, Ziff. 4.)
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Zur Lösung dieser Aufgabe lehrt das Verfügungspatent in Anspruch 1 in der Fassung nach Entscheidung der Beschwerdekammer des EPA (vgl. Anlagen rop E/rop Ea) die Verwendung einer pharmazeutischen Zusammensetzung, deren Merkmale sich – entsprechend der Merkmalsgliederung des Landgerichts (Seiten 10/11 LGU) – wie folgt gliedern lassen:
1. 4-Aminopyridin-Zusammensetzung
1.1 mit verlängerter Freisetzung
1.2 zur Steigerung der Gehgeschwindigkeit eines Patienten mit Multipler Sklerose,
1.3. wobei die Zusammensetzung verabreicht wird als eine Behandlung
1.3.1 mit stabiler Dosis
1.3.2 zweimal täglich
1.3.3 in einer therapeutischen Dosis von 10 Milligramm 4-Aminopyridin.
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b) Das BPatG hat in seinem qualifizierten Hinweis vom 17.11.2021 auf Seite 3 unter Ziff. 7. (Anlage rop J) die Auffassung vertreten, der in Anspruch 1 des Verfügungspatents gelehrte Gegenstand beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Entgegenhaltung NiK 8 stelle für den Fachmann – einem Team aus einem Neurologen mit langjähriger Erfahrung auf dem Gebiet der Behandlung von MS-Patienten, einem Fachmann in klinischer Pharmakokinetik und einem pharmazeutischen Technologen (vgl. Anlage rop J, Seite 2 unter Ziff. 3.) – einen geeigneten Ausgangspunkt für den zur verfügungspatentgemäßen Erfindung führenden Lösungsweg dar. Der Fachmann dürfte Veranlassung gehabt haben, die in der NiK 8 offenbarte klinische Phase II-Studie, bei der die zwölfwöchige Gabe von Dosen von 10, 15 und 20 mg (jeweils b.i.d. = zweimal täglich) hinsichtlich der Wirksamkeit bei der Verbesserung der Gehgeschwindigkeit untersucht werde, zur Lösung der streitpatentgemäßen Aufgabe heranzuziehen. Dabei hätte der Fachmann mit angemessener Erfolgserwartung insbesondere die Dosierung von 10 mg b.i.d. in Betracht gezogen, da zum einen nur bei plausibler Erfolgsaussicht eine klinische Phase II-Studie durchgeführt werden dürfe und zum anderen aus der erfolgreichen Studie gemäß der Entgegenhaltungen NiK 7a-d bekannt gewesen sei, dass im Bereich von 10 mg bis 25 mg b.i.d. eine Wirksamkeit mit akzeptablem Sicherheitsprofil beobachtet worden sei und bei höheren Dosierungen der Nutzen von Fampridin-SR gegenüber den zunehmenden Nebenwirkungen abnehme. Die statistische Auswertungsmethode (hier: „Post-hoc-Responder-Analyse“) zum Nachweis der Wirksamkeit in einer Studie sei demgegenüber für die Patentfähigkeit nicht relevant. Diese sei nicht Teil der Ansprüche des Verfügungspatents, welche nur auf die Verwendung von 10 mg Fampridin-SR b.i.d. zur Verbesserung der Gehgeschwindigkeit gerichtet seien.
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c) Der Umstand, dass der qualifizierte Hinweis des BPatG eher kurz gehalten ist, lässt entgegen der Auffassung der Antragstellerseite nicht den Schluss zu, dass sich das BPatG mit den maßgeblichen Fragen sowie der Begründung der Technischen Beschwerdekammer des EPA gedanklich nicht auseinandergesetzt hätte. Nachdem das BPatG – wie in dem Hinweis zum Ausdruck gebracht wird – die Nichtigkeitsklage bereits als derzeit unzulässig angesehen hatte, hat es gleichwohl zu den sachlichen Erfolgsaussichten der Nichtigkeitsklage klar und eindeutig Stellung genommen. Dass der qualifizierte Hinweis in Umfang und Begründungstiefe hinter einer die Instanz abschließenden Entscheidung zurückbleibt, liegt grundsätzlich in der Natur eines derartigen vorläufigen Hinweises, besagt jedoch nichts über die Ernsthaftigkeit der Feststellungen und die Sorgfalt der vorangegangenen Prüfung. Nach § 83 Abs. 1 S. 1 PatG soll in dem qualifizierten Hinweis auf Gesichtspunkte hingewiesen werden, die für die Entscheidung voraussichtlich von besonderer Bedeutung sein werden oder der Konzentration der Verhandlung auf die für die Entscheidung wesentlichen Fragen dienlich sind, was jedoch keine Wiedergabe detaillierter Überlegungen zu sämtlichen einzelnen Argumenten der Parteien erfordert (s.a. BPatG Urt. v. 29.9.2021 – 3 Ni 12/20 (EP), GRUR-RS 2021, 47634 Rn. 34 – Sorafenib). Auch die Verwendung des Konjunktivs („dürfte“) in dem qualifizierten Hinweis spricht nicht gegen eine hinreichend eindeutige Positionierung des BPatG, sondern bringt lediglich zum Ausdruck, dass es sich um eine derzeitige vorläufige Auffassung handelt, wodurch der Anschein einer mangelnden Neutralität infolge einer endgültigen Festlegung vor Durchführung einer mündlichen Verhandlung und Erlass der Endentscheidung vermieden werden soll (BPatG, a.a.O. Rn. 36 – Sorafenib; s.a. OLG Düsseldorf GRUR-RR 2021, 249 Rn. 24 – Cinacalcet II). Nachdem dem BPatG die abweichende Entscheidung der Beschwerdekammer des EPA vorlag, kann auch unterstellt werden, dass es sich damit im Rahmen seiner Beurteilung auseinandergesetzt hat.
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d) Dass die Bewertung des BPatG in dem qualifizierten Hinweis evident unrichtig wäre, ist aus der Sicht des technisch nicht fachkundig besetzten Senats nicht festzustellen.
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Bei der in den Entgegenhaltungen NiK 7a-d (vgl. Anlage rop L/La) beschriebenen Studie handelt es sich um eine Dosisfindungsstudie („MS-F 201“). Die NiK 7a und 7b offenbaren die Verabreichung einer nachhaltig freisetzenden Zusammensetzung mit 4-Aminopyridin (Fampridin) mit einer steigenden Dosierung von – unter anderem – 10 mg b.i.d. an Patienten mit multipler Sklerose, wobei die Dosierung mindestens über eine Woche konstant war. Als Ergebnis wird festgehalten, dass die mit Fampridin behandelte Patientengruppe gegenüber der Placebo-Gruppe insgesamt eine statistisch signifikante Verbesserung bei der funktionalen Messung der Mobilität („25-Fuß-Geh-Test“, p= 0,04) aufwies (vgl. Nik 7a-c, Anlagen ropL/La). Allerdings liefert die Studie keinen Durchschnittswert, der speziell der Dosierung von 10 mg b.i.d. zugeordnet werden könnte (s.a. EPA, Anlage rop D/Da, Seite 27 Rn. 8.3, Seite 28 Rn. 8.5, letzter Abs., Seite 33 Rn. 9.2; BPatG, Anlage rop J, Seite 2 Rn. 6.1).
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Bei der Druckschrift NiK 8 (Anlage rop K/Ka) handelt es sich um eine finanzielle Stellungnahme, die von Unternehmen zur Vorbereitung eines geplanten Börsenganges eingereicht wird. Diese Druckschrift offenbart unter anderem die aktuelle Durchführung einer klinischen Phase II-Studie („MS-F202“) betreffend MS-Patienten (NiK 8, Seite 44), basierend auf den Ergebnissen der Studie gemäß NiK 7 („MS-F 201“). In dem Bericht wird mitgeteilt, dass im Rahmen dieser Studie Dosierungen von 10 mg b.i.d., 15 mg b.i.d. und 20 mg b.i.d. parallel zueinander im Hinblick auf ihre Sicherheit und Wirksamkeit zur Verbesserung der Gehgeschwindigkeit bei Patienten mit MS untersucht werden sollen. Ergebnisse der Studie werden in der NiK 8 nicht offenbart.
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Die Antragstellerin macht geltend, das BPatG habe insoweit verkannt, dass der Fachmann aufgrund der NiK 8 noch nicht von der therapeutischen Wirksamkeit einer stabilen 10 mg/Tag-Dosis im Hinblick auf eine Verbesserung der Gehfähigkeit von MS-Patienten hätte ausgehen können, vielmehr sei ihm diese erst aufgrund der von der Antragstellerin entwickelten Auswertung nahegelegt worden. Anders als bei der Fallkonstellation in der BGH-Entscheidung „Memantin“ habe die Antragstellerin nicht erstmals das „wie“, sondern das „ob“ der therapeutischen Wirksamkeit nachgewiesen. Diese Argumentation der Antragstellerin steht im Einklang mit den Erwägungen der Technischen Beschwerdekammer des EPA, die eine erfinderische Tätigkeit mit der Begründung bejaht hat, erst die von den Erfindern entwickelte und im Verfügungspatent offenbarte statistische Technik der „Post-hoc-Responder-Analyse“, die sich auf die Konsistenz des Ansprechens über mehrere Beurteilungsbesuche und nicht die Intensität des Ansprechens stützte, habe den Fachmann in die Lage versetzt, die Wirksamkeit zu erkennen. Dass diese Methode nicht neu und erfinderisch sei, sei nicht vorgetragen worden (Anlage rop D/Da, Seite 39 unter Ziff. 9.8.4).
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Zwar ist der Antragstellerin zunächst darin beizupflichten, dass – wie das Landgericht bereits zutreffend ausgeführt hat (vgl. LGU Seite 20 unter Ziff. 6 a) – der hier vorliegende Sachverhalt nicht mit der Konstellation identisch ist, die der „Memantin“-Rechtsprechung des BGH (GRUR 2011, 999 Rn. 44; s.a. BGH GRUR 2014, 54 Rn. 47 – Fettsäure sowie BGH GRUR 2022, 473 Rn. 63- Präventive Antibiotikabehandlung) zugrunde lag. Denn vorliegend wurde der Wirkstoff Fampridin nicht bereits im vorbekannten Stand der Technik zielgerichtet in der vom Verfügungspatent konkret gelehrten Dosierung für den therapeutischen Zweck lediglich in Unkenntnis eines genauen Wirkmechanismus angewandt. Nach den insoweit übereinstimmenden Feststellungen der Technischen Beschwerdekammer des EPA (vgl. Anlage rop D/Da Seiten 26 ff. unter Ziff. 8) und des BPatG (vgl. Anlage rop J Seite 2 unter Ziff. 6) war eine Dosierungsanweisung „10 mg b.i.d. Fampridin mit stabiler Dosis“ in den Entgegenhaltungen NiK 8 und NiK 7 nicht bereits unmittelbar und eindeutig offenbart. Danach liegt darin eine neue Dosierungsanweisung, die die Art und Weise, wie der Wirkstoff Fampridin zur Anwendung bei MS-Patienten eingesetzt werden kann, konkretisiert (vgl. BGH a.a.O., Rn. 44 – Memantin; BGH a.a.O., Fettsäure Rn. 47).
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Eine evidente Unrichtigkeit der Auffassung des BPatG im Hinblick auf die Frage der erfinderischen Tätigkeit folgt daraus jedoch nicht. Um den Gegenstand einer Erfindung als nahegelegt anzusehen i.S.v. Art. 56 S. 1 EPÜ, ist es erforderlich, dass der Fachmann einen Anlass hatte, den Weg der Erfindung zu beschreiten. Dazu bedarf es in der Regel zusätzlicher, über die Erkennbarkeit des technischen Problems hinausreichender Anstöße, Anregungen, Hinweise oder sonstiger Anlässe. Daneben muss aus der Sicht des Fachmanns eine hinreichende Erfolgserwartung gegeben sein (BGH Urt. v. 28.3.2017 – X ZR 17/15, BeckRS 2017, 111989 Rn. 29 m.w.N.; BGH GRUR 2020, 603 Rn. 35 ff. – Tadalafil). Dabei lassen sich die Anforderungen an eine angemessene Erfolgserwartung, die dem Fachmann Veranlassung gibt, einen in Betracht kommenden Lösungsweg trotz nicht sicherer Vorhersehbarkeit der Resultate zu beschreiten, nicht allgemeingültig formulieren. Sie sind vielmehr jeweils im Einzelfall unter Berücksichtigung des in Rede stehenden Fachgebiets, der Größe des Anreizes für den Fachmann, des erforderlichen Aufwands für das Beschreiten und Verfolgen eines bestimmten Ansatzes und der gegebenenfalls in Betracht kommenden Alternativen sowie ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile zu bestimmen (vgl. BGH GRUR 2020, 1178 Rn. 108 – Pemetrexed II; BGH GRUR 2019, 1032 Rn. 31 – Fulvestrant). Insoweit ist aus der technisch nicht fachkundigen Sicht des Senats nicht zu erkennen, dass die vom BPatG in seinem qualifizierten Hinweis vertretene Auffassung offenkundig unzutreffend wäre, wonach die therapeutische Wirkung der konkret beanspruchten Wirkstoffdosierung zur Behandlung bei MS-Patienten aus der Sicht des Fachmanns im maßgeblichen Prioritätszeitpunkt durch den Stand der Technik (Anlagen NiK 8 und Nik 7) bereits hinreichend wahrscheinlich gewesen sei. Das BPatG geht nachvollziehbar davon aus, dass der Fachmann ausgehend von NiK 8 mit angemessener Erfolgserwartung die in NiK 7 offenbarte niedrigste Dosierung von 10 mg b.i.d. in Betracht gezogen hätte (so im Übrigen auch das EPA in Anlage rop D/Da unter Ziff. 9.8.1). Zwar kann der Anlass, eine therapeutische Verwendung weiterzuverfolgen, für den Fachmann entfallen, wenn sich in der Folge noch erforderlicher Versuche Hindernisse oder sonstige Umstände einstellen, die aus fachlicher Sicht ein Fortschreiten auf dem eingeschlagenen Weg nicht länger als angeraten erscheinen ließen (BGH GRUR 2015, 356 Rn. 38 – Repaglinid). Dass der Fachmann angesichts der zunächst erfolgsversprechenden Ergebnisse der Studie gemäß Anlage NiK 7 in der Folge von weiteren Untersuchungen und Studien abgelassen und sein Vorhaben aufgegeben hätte, hat das BPatG, das dem EPA insoweit ausweislich des qualifizierten Hinweises nicht folgt, allerdings nicht angenommen. Dass die Einschätzung des fachkundig besetzten Nichtigkeitssenats des BPatG sich als offensichtlich falsch darstellt, kann der Senat – auch unter Berücksichtigung der Ausführungen der Technischen Beschwerdekammer des EPA (Anlage rop D/Da Seiten 36 ff. unter Ziff. 9.8), die dem BPatG ebenfalls vorlagen – nicht erkennen. Dies auch vor dem Hintergrund der in Beispiel 5 des Verfügungspatents (Abs. [0082] ff.) dargestellten Ergebnisse der klinischen Studie „MS-F 202“, die das EPA in seiner Entscheidungsbegründung unter Ziff. 9.8.2 und 9.8.3 (Anlage rop D/Da) heranzieht, wobei die Ergebnisse dieser Studie nicht Stand der Technik im Prioritätstag waren, sondern lediglich rückschauend als Beweis für die Schwierigkeit der Erbringung des Wirksamkeitsnachweis dienen sollen (vgl. EPA, Anlage rop D/Da, Seite 37, erster Absatz). Der Fachmann konnte am Prioritätstag des Verfügungspatents der Entgegenhaltung NiK 7b (Anlage rop L/La) entnehmen, dass Fampridin in der dort beschriebenen Studie unter anderem zweimal täglich in einer Dosis von 10 mg an Patienten mit multipler Sklerose verabreicht wurde. Im Rahmen dieser Studie konnte bereits eine insgesamt statistisch signifikante Verbesserung der Mobilität der mit Fampridin behandelten Patientengruppe gegenüber der Placebo-Gruppe festgestellt werden. Im Rahmen der weiteren klinischen Studie (Nik 8 = Anlage rop K/Ka), deren noch laufende Durchführung dem Fachmann im Prioritätszeitpunkt ebenfalls bekannt war, hat sich schließlich auch bestätigt, dass das dem Fachmann nahe gelegte Vorgehen einer Dosierung von 10 mg b.i.d. langfristig die Gehgeschwindigkeit von Patienten verbessert. Dabei ist die von der Antragstellerin angeführte „Post-hoc-Responder Analyse“ nicht Gegenstand der Patentansprüche, sondern stellt sich in diesem Zusammenhang als eine Auswertungsmethode für eine bereits nahegelegte Verwendung dar. Im Übrigen ist, wie der Patentanwalt der Antragsgegnerin im Termin vor dem Senat unwidersprochen vorgetragen hat, im Nichtigkeitsverfahren keineswegs unstreitig, dass diese Auswertungsmethode – soweit es darauf ankäme – erfinderisch ist.
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Vor dem Hintergrund dieser negativen Rechtsbestandsprognose hinsichtlich des Verfügungspatents im Nichtigkeitsverfahren ist der Erlass einer einstweiligen Verfügung nicht verhältnismäßig und ein Verfügungsgrund daher zu verneinen.
III.
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Die Kostenentscheidung ergeht aufgrund § 97 ZPO.