Titel:
Zeitliche Dringlichkeit bei notwendiger Untersuchung des mutmaßlich patentverletzenden Erzeugnisses
Normenketten:
EPÜ Art. 64 Abs. 1, Abs. 3
PatG § 139 Abs. 1, § 140a Abs. 1
ZPO § 935, § 940
Leitsätze:
1. Sobald der Patentinhaber das mutmaßlich patentverletzende Erzeugnis in den Händen hat, trifft ihn die Obliegenheit, den betreffenden Gegenstand zügig und umfassend auf das Vorliegen einer Schutzrechtsverletzung zu untersuchen, also die notwendigen Untersuchungen alsbald in die Wege zu leiten, diese zielstrebig zum Abschluss zu bringen und, sofern sich ein positiver Befund ergibt, anschließend ohne übermäßiges Zögern die sich daraus ergebenden Verbietungsansprüche zu verfolgen. (Rn. 72) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für Europäische Patente streitet ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Erteilung eine Vermutung der Gültigkeit. Für die im Rahmen des Verfügungsgrundes vorzunehmende Prüfung des hinreichend gesicherten Rechtsbestands des Verfügungspatents bedeutet dies, dass aufgrund der Vermutung der Gültigkeit zunächst von einem gesicherten Rechtsbestand auszugehen ist und es im zweiseitigen einstweiligen Verfügungsverfahren dem Antragsgegner/Verfügungsbeklagten obliegt, diese Vermutung zu erschüttern (Fortführung von LG München I GRUR 2023, 152 Rn. 60 f. – Bortezomib). (Rn. 87) (redaktioneller Leitsatz)
3. Damit Zweifel am Rechtsbestand des Verfügungspatents sich in einer Zurückweisung des Verfügungsantrags niederschlagen können, muss das Verfügungsschutzrecht mit einem Einspruch oder einer Nichtigkeitsklage angegriffen werden, weil nur diese das Patent tatsächlich zu Fall bringen können (Anschluss an OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2007, 219 (220) - Kleinleistungsschalter). (Rn. 89) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Patentverletzung, Patent, Patentanspruch, Fachmann, Neuheit, Gerichtsvollzieher, Technik, Verletzung, Anspruch, Auslegung, Unterlassung, Kenntnis, Ausland, Einstellung, Stand der Technik, Bundesrepublik Deutschland, Aussicht auf Erfolg
Fundstelle:
GRUR-RS 2022, 44524
Tenor
1. Der Verfügungsbeklagten wird es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung vom Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000 € – ersatzweise Ordnungshaft – oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlungen insgesamt bis zu zwei Jahren, wobei die Ordnungshaft an den Geschäftsführern zu vollstrecken ist, im Wege der einstweiligen Verfügung untersagt Haarschneidegeräte, die eingerichtet sind, um durch Haar in eine Bewegungsrichtung bewegt zu werden, um Haar zu schneiden, wobei das Haarschneidegerät Folgendes umfasst:
- einen Gehäuseabschnitt;
- einen Klingensatz, der eine zur Haut zeigende obere Oberfläche aufweist, wobei der Klingensatz bezüglich des Gehäuseabschnitts schwenkbar eingerichtet ist; und
- einen freigebbaren Zusatzkamm, wobei der Zusatzkamm Folgendes umfasst
- mindestens ein Beabstandungsschutzelement, das eingerichtet ist, um den Klingensatz von einer Arbeitsoberfläche beim Betrieb zu beabstanden, insbesondere, um die zur Haut zeigende obere Oberfläche davon von der Haut eines Benutzers zu beabstanden,
- einen Montageabschnitt, der eingerichtet ist, um an einem Gehäuseabschnitt des Haarschneidegeräts angebracht zu sein,
in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in Verkehr zu bringen und/oder zu gebrauchen und/oder zu den genannten Zwecken einzuführen und/oder zu besitzen, wenn der freigebbare Zusatzkamm folgendes umfasst:
- einen Ausrichtungsbestimmungsabschnitt, der eingerichtet ist, um in den Klingensatz einzugreifen und eine Verriegelungsausrichtung des Klingensatzes, wenn er auf das Haarschneidegerät montiert ist, zu definieren.
- Anspruch 1, unmittelbare Verletzung –
2. Der Verfügungsbeklagten wird aufgegeben, sämtliche innerhalb der Bundesrepublik Deutschland in ihrer Verfügungsgewalt befindlichen unter Ziffer 1 genannten Erzeugnisse an einen von der Verfügungsklägerin zu beauftragenden Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Verwahrung herauszugeben, die solange andauert, bis über das Bestehen eines Vernichtungsanspruchs zwischen den Parteien rechtskräftig entschieden oder eine einvernehmliche Regelung herbeigeführt worden ist.
3. Die Verfügungsbeklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, in Ziffer 1 und 2 nur gegen eine einheitliche Sicherheitsleistung in Höhe von 500.000 €.
5. Der Streitwert wird auf 500.000 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Verfügungsklägerin ist Inhaberin des europäischen Patents (Anlage ES 3, nachfolgend: Verfügungspatent) und begehrt im einstweiligen Rechtsschutz eine Unterlassungsverfügung gegen die Verfügungsbeklagte wegen Patentverletzung.
2
Das Verfügungspatent wurde am 14.04.2015 angemeldet und nimmt eine Priorität vom 18.04.2014 in Anspruch. Veröffentlichung und Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung erfolgten am 18.12.2011. Das Verfügungspatent wurde mit Wirkung für Deutschland erteilt und steht in Deutschland in Kraft. In Belgien und den Niederlanden ist der Schutz für die entsprechende nationalen Patente spätestens seit dem 01.05.2022 aufgehoben.
3
Patentanspruch 1 des Verfügungspatents lautet im englischen Original wie folgt:
„A hair cutting appliance (10) arranged to be moved through hair in a moving direction (28) to cut hair, said hair cutting appliance (10) comprising:
- a housing portion (12);
- a blade set (20) having a skin-facing top surface (32), said blade set (20) arranged pivotably with respect to the housing portion (12); and
- a releasable attachment comb (50), said attachment comb (50) comprising:
- a supporting frame (52),
- at least one spacing guard element (58) arranged to space the blade set (20) from a working surface when in operation, particularly to space the skin-facing top surface (32) thereof from a user’s skin,
- a mounting portion (60) arranged to be attached to a housing portion (12) of the hair cutting appliance (10), the releasable attachment comb (50) being characterized by:
- an orientation determining portion (62) arranged to engage the blade set (20) and to define a locking orientation of the blade set (20) when mounted to the hair cutting appliance (10).“
4
Die nachfolgend eingeblendeten Abbildungen (Figuren 1, 2, 4, 8, 14, 15 und 16) der Verfügungspatentschrift zeigen Ausführungsbeispiele der Erfindung:
5
Wegen der weiteren Details wird auf die Patentschrift verwiesen.
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Die Verfügungsbeklagte vertreibt in der Bundesrepublik Deutschland Rasierapparate mit der Modelbezeichnung 5 (nachfolgend: angegriffene Ausführungsform). Dabei handelt es sich um ein Haarschneidegerät, das zusammen mit mehreren Aufsätzen und Kämmen angeboten wird, darunter auch einem verstellbaren Präzisionskamm. Die Verfügungsbeklagte bietet die angegriffene Ausführungsform über ihre Internetseite auch in Deutschland an und führt sie aus dem Ausland ins Inland ein.
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Die nachfolgende Abbildung zeigt die angegriffene Ausführungsform (vgl. Anlage ES 4b):
8
Die Verfügungsbeklagte erlangte erstmals im Rahmen der vom 02.09. bis 06.09.2022 andauernden Internationalen Funkausstellung (IFA) in Berlin Kenntnis davon, dass die Verfügungsbeklagte Rasierapparate nach der Art der angegriffenen Ausführungsform anbietet. Auf der IFA wurden die Präzisionsaufsteckkämme der Verfügungsbeklagten jedoch nicht ausgestellt. Sie waren bei mehreren Besuchen auf dem Messestand der Verfügungsbeklagten durch Mitarbeiter der Verfügungsklägerin nicht auffindbar.
9
Nach der IFA wurden die Verfügungsklägerin und die Prozessbevollmächtigten darauf aufmerksam, dass die Verfügungsbeklagte auf ihrer Webseite Rasierapparate der Serie zusammen mit verschiedenen Kämmen und Aufsätzen verkaufte. In einem Telefonat am 12.09.2022 beauftragte Frau P, Patentanwältin und IP Business Partner bei der Verfügungsklägerin im Geschäftsbereich „Grooming & Beauty“, die Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Verfügungsklägerin mit der Prüfung einer Reihe von möglichen Patentverletzungen durch auf der IFA ausgestellte Produkte (vgl. eidesstattliche Versicherung von Frau P vom 21.10.2022, Anlage ES 5). In dem Telefonat wurde vereinbart, dass sowohl der Prozessbevollmächtigte als auch die Verfügungsklägerin diese Produkte kaufen würden, um festzustellen, ob eines der Patente der Verfügungsklägerin verletzt werde.
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Am selben Tag bestellte die Verfügungsklägerin einen Rasierer des Typs 4 über die Webseite .com, die nur auf Niederländisch und Flämisch verfügbar ist und von dem niederländischen Unternehmen .com B.V. mit Sitz in betrieben wird. Auf dieser Webseite bieten verschiedene Verkäufer ihre Produkte an. Das von der Verfügungsklägerin bestellte Produkt wurde von dem belgischen Unternehmen mit Sitz in, Belgien, angeboten. Dieses Produkt, zu dem auch ein Präzisionskamm gehörte, traf am 14.09.2022 in den Geschäftsräumen der Verfügungsklägerin in ein.
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Ebenfalls am 12.09.2022 bestellten die Prozessbevollmächtigten der Verfügungsklägerin über die Internetseite .de einen Rasierer des Typs 2, der am 14.09.2022 in Hamburg geliefert wurde. Dieses Produkt enthielt keinen Präzisionskamm. Am 19.09.2022 teilten die Prozessbevollmächtigten der Verfügungsklägerin per E-Mail mit, dass der 2 keinen Präzisionskamm umfasste und schlugen vor, andere Modelle (4 und/oder 5) zu kaufen, um zu prüfen, ob diese eventuell patentverletzende Präzisionskämme enthielten (Anlage ES 6). Die E-Mail betraf neben der streitgegenständlichen Patentverletzung auch weitere Patentverletzungen. Die Verfügungsklägerin antwortete am selben Tag und beauftragte einen weiteren Testkauf durch ihre Prozessbevollmächtigten.
12
Die Bestellung eines Rasierers des Typs 5 wurde am 21.09.2022 aufgegeben (vgl. Anlage ES 4c). Das Produkt wurde den Prozessbevollmächtigten der Verfügungsklägerin am 26.09.2022 zugestellt.
13
Die Verfügungsklägerin trägt vor, dass die angegriffene Ausführungsform das Verfügungspatent unmittelbar wortsinngemäß verletze. Sie verweist hierzu auf Abbildungen (Anlage ES 4b) sowie ein als Anlage ES 4a vorgelegtes Exemplar der angegriffenen Ausführungsform. Sie ist der Ansicht, das Vorliegen eines Verfügungsgrunds setze nicht voraus, dass das Verfügungspatent ein kontradiktorisches Rechtsbestandsverfahren überstanden habe. Es bestünden keine Zweifel am Rechtsbestand des Verfügungspatents. Die Verfügungsklägerin habe die Dringlichkeitsfrist gewahrt, sie habe erst am 26.09.2022 Kenntnis von der Verletzung des Verfügungspatents durch die Verfügungsbeklagte erlangt.
14
Mit Schriftsatz vom 21.10.2022, bei Gericht eingegangen am selben Tag, hat die Verfügungsklägerin den vorliegenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen die Verfügungsbeklagte gestellt.
15
Die Verfügungsklägerin beantragt,
I. Der Antragsgegnerin wird es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung vom Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu EUR 250.000 – ersatzweise Ordnungshaft – oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlungen insgesamt bis zu zwei Jahren, wobei die Ordnungshaft an den Geschäftsführern zu vollstrecken ist, untersagt Haarschneidegeräte, die eingerichtet sind, um durch Haar in eine Bewegungsrichtung bewegt zu werden, um Haar zu schneiden, wobei das Haarschneidegerät Folgendes umfasst:
- einen Gehäuseabschnitt;
- einen Klingensatz, der eine zur Haut zeigende obere Oberfläche aufweist, wobei der Klingensatz bezüglich des Gehäuseabschnitts schwenkbar eingerichtet ist; und
- einen freigebbaren Zusatzkamm, wobei der Zusatzkamm Folgendes umfasst
- mindestens ein Beabstandungsschutzelement, das eingerichtet ist, um den Klingensatz von einer Arbeitsoberfläche beim Betrieb zu beabstanden, insbesondere, um die zur Haut zeigende obere Oberfläche davon von der Haut eines Benutzers zu beabstanden,
- einen Montageabschnitt, der eingerichtet ist, um an einem Gehäuseabschnitt des Haarschneidegeräts angebracht zu sein,
in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in Verkehr zu bringen und/oder zu gebrauchen und/oder zu den genannten Zwecken einzuführen und/o-der zu besitzen, wenn der freigebbare Zusatzkamm folgendes umfasst:
- einen Ausrichtungsbestimmungsabschnitt, der eingerichtet ist, um in den Klingensatz einzugreifen und eine Verriegelungsausrichtung des Klingensatzes, wenn er auf das Haarschneidegerät montiert ist, zu definieren.
- Anspruch 1, unmittelbare Verletzung –
II. Der Antragsgegnerin wird aufgegeben, sämtliche innerhalb der Bundesrepublik Deutschland in ihrer Verfügungsgewalt befindlichen unter Ziffer I.1 genannten Erzeugnisse an einen von der Antragstellerin zu beauftragenden Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Verwahrung herauszugeben, die solange andauert, bis über das Bestehen eines Vernichtungsanspruchs zwischen den Parteien rechtskräftig entschieden oder eine einvernehmliche Regelung herbeigeführt worden ist.
16
Die Verfügungsbeklagte beantragt,
den Verfügungsantrag zurückzuweisen.
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Die Verfügungsbeklagte ist im Wesentlichen der Ansicht, die angegriffene Ausführungsform verletze das Verfügungspatent nicht. Es fehle auch am Verfügungsgrund, weil kein hinreichend gesicherter Rechtsbestand des Verfügungspatents gegeben sei, der grundsätzliche voraussetze, dass dieses bereits ein kontradiktorisches Rechtsbestandsverfahren überstanden habe. Daran fehle es vorliegend. Auch davon abgesehen bestünden durchgreifende Zweifel am Rechtsbestand. Schließlich habe die Verfügungsklägerin auch die Dringlichkeitsfrist nicht gewahrt, weil sie spätestens am 14.09.2022 jedenfalls grob fahrlässige Unkenntnis von den maßgeblichen Umständen der behaupteten Patentverletzung gehabt habe.
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Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die eingereichten Schriftsätze samt Anlagen sowie auf das Sitzungsprotokoll vom 16.12.2022 (Bl. 164/166 d. A.) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
19
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ist zulässig (A.). Er ist auch begründet, weil die Verfügungsbeklagte den Gegenstand des Verfügungspatents benutzt und ein Verfügungsgrund gegeben ist (B.). Aus Verhältnismäßigkeitsgründen war der Beschluss hinsichtlich Unterlassung und Herausgabe zur Verwahrung nur gegen Sicherheitsleistung für vollstreckbar zu erklären (C.II.).
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Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist das Landgericht München I sachlich, örtlich und international zuständig, § 143 PatG, §§ 937, 32 ZPO i. V. mit § 38 Nr. 1 BayGZVJu, Art. 7 Nr. 2 EuGVVO.
21
Der Antrag ist auch begründet, weil das Vorliegen eines Verfügungsanspruchs (I.) und eines Verfügungsgrundes (II.) glaubhaft gemacht ist.
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I. Eine Verfügungsanspruch ist glaubhaft gemacht. Auf der Grundlage des beiderseitigen Vorbringens und der von der Verfügungsklägerin glaubhaft gemachten Tatsachen stehen der Verfügungsklägerin gegen die Verfügungsbeklagte wegen Verletzung von Anspruch 1 des Verfügungspatents Ansprüche auf Unterlassung und auf Herausgabe an einen Gerichtsvollzieher zur Verwahrung gemäß §§ 139 Abs. 1, 140a Abs. 1, 9 S. 2 Nr. 1 PatG i. V. mit Art. 64 Abs. 1 und 3 EPÜ zu.
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1. Das Verfügungspatent betrifft einen Aufsteckkamm für ein Haarschneidegerät sowie ein Haarschneidegerät, das mit einem Aufsteckkamm ausgestattet werden kann, vgl. [0001].
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a) Die Beschreibung der Verfügungspatentschrift erläutert, dass im Stand der Technik aus der WO 2013/150412 A1 ein Haarschneidegerät und ein entsprechender Klingensatz eines Haarschneidegeräts bekannt seien. Dieser Klingensatz umfasse eine feststehende Klinge und eine bewegliche Klinge, wobei die bewegliche Klinge gegenüber der feststehenden Klinge zum Schneiden von Haaren hin- und herbewegt werden könne. Der Klingensatz sei besonders geeignet, um sowohl Trimm- als auch Rasiervorgänge zu ermöglichen, vgl. [0002].
25
Für das Schneiden von Körperhaaren gebe es im Wesentlichen zwei üblicherweise unterschiedene Arten von elektrisch betriebenen Geräten: den Rasierapparat und den Haartrimmer oder die Haarschneidemaschine. Der Rasierer werde im Allgemeinen zum Rasieren verwendet, d. h. zum Schneiden der Körperhaare auf der Höhe der Haut, um eine glatte Haut ohne Stoppeln zu erhalten. Der Haartrimmer werde in der Regel verwendet, um die Haare in einem bestimmten Abstand von der Haut abzutrennen, d. h. um die Haare auf eine gewünschte Länge zu schneiden. Der Unterschied in der Anwendung spiegele sich in der unterschiedlichen Struktur und Architektur der Schneidklingenanordnung der beiden Geräte wider, vgl. [0003].
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Ein elektrischer Rasierer umfasse typischerweise eine Folie, d. h. ein ultradünnes perforiertes Sieb, und eine Schneidklinge, die entlang der Innenseite der Folie und in Bezug auf diese beweglich sei. Während der Benutzung werde die Außenseite der Folie auf die Haut gelegt und gedrückt, so dass alle Haare, die die Folie durchdrängen, von der Schneideklinge abgeschnitten würden, die sich in Bezug auf die Innenseite der Folie bewege, und in hohle Haarsammelteile im Inneren des Rasierers fielen, vgl. [0004].
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Ein elektrischer Haartrimmer hingegen bestehe in der Regel aus zwei Schneidemessern mit einer gezahnten Kante, die so übereinander angeordnet seien, dass sich die jeweiligen gezahnten Kanten überlappten. Im Betrieb bewegten sich die Klingen relativ zueinander hin und her und schnitten dabei alle Haare ab, die zwischen ihren Zähnen eingeklemmt seien. Die genaue Höhe über der Haut, in der die Haare abgeschnitten würden, werde in der Regel durch ein zusätzliches aufsteckbares Teil, den so genannten (Abstands-)Schutz oder Kamm, bestimmt, vgl. [0005].
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Darüber hinaus seien kombinierte Geräte bekannt, die grundsätzlich sowohl für Rasier- als auch für Trimmzwecke geeignet seien. Diese Geräte enthielten jedoch lediglich zwei getrennte und unterschiedliche Schneidabschnitte, nämlich einen Rasierabschnitt mit einem Aufbau, der dem Konzept der oben beschriebenen elektrischen Rasierapparate entspreche, und einen Trimmabschnitt mit einem Aufbau, der dem Konzept der Haartrimmer entspreche, vgl. [0006].
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Aus der WO 2013/150412 A1 sei ein Klingensatz bekannt, der eine stationäre Klinge umfasse, die die bewegliche Klinge so aufnehme, dass ein erster Abschnitt der stationären Klinge an der Seite der beweglichen Klinge angeordnet sei, die der Haut zugewandt sei, wenn sie zum Rasieren verwendet werde, und dass ein zweiter Abschnitt der stationären Klinge an der Seite der beweglichen Klinge angeordnet sei, die der Haut abgewandt sei, wenn sie verwendet werde. Darüber hinaus seien der erste Abschnitt und der zweite Abschnitt der feststehenden Klinge an einer gezahnten Schneidkante miteinander verbunden, wodurch eine Vielzahl von feststehenden Zähnen gebildet werde, die die jeweiligen Zähne der beweglichen Klinge abdeckten. Folglich werde die bewegliche Klinge durch die feststehende Klinge geschützt, vgl. [0010].
30
Diese Anordnung sei insofern vorteilhaft, als die feststehende Klinge dem Klingensatz eine erhöhte Festigkeit und Steifigkeit verleihen könne, da die feststehende Klinge auch auf der der Haut abgewandten Seite der beweglichen Klinge vorhanden sei. Dies könne im Allgemeinen eine Verringerung der Dicke des ersten Teils der feststehenden Klinge auf der der Haut zugewandten Seite der beweglichen Klinge ermöglichen. Da auf diese Weise die bewegliche Klinge während des Betriebs näher an die Haut herankomme, sei dieser Klingensatz gut für die Haarrasur geeignet. Abgesehen davon sei der Klingensatz auch besonders geeignet für das Trimmen von Haaren, da die Konfiguration der Schneidkante, einschließlich der jeweiligen Zähne, die sich mit Schlitzen abwechseln, es auch längeren Haaren ermögliche, in die Schlitze einzudringen und folglich durch die relative Schneidbewegung zwischen der beweglichen Klinge und der feststehenden Klinge geschnitten zu werden, vgl. [0011].
31
Daneben sei aus der EP 2 145 740 A1 ein Haarschneidegerät nach dem Oberbegriff des Anspruchs 1 des Verfügungspatents und aus der US 4,614,036 ein lösbarer Befestigungskamm nach dem Oberbegriff des Anspruchs 15 des Verfügungspatents bekannt, vgl. [0012].
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b) Als nachteilig an den aus dem Stand der Technik bekannten Elektrorasierern kritisiert die Verfügungspatentschrift, dass diese nicht besonders geeignet seien, um Haare auf eine gewünschte variable Länge über der Haut zu schneiden, d. h. für präzise Trimmvorgänge, was sich zumindest teilweise dadurch erklären lasse, dass sie keine Mechanismen zur Abstandshaltung der Folie und damit der Schneideklinge von der Haut enthielten. Selbst wenn dies der Fall wäre, z. B. durch Hinzufügen von Abstandshaltern, wie Abstandskämmen, würde die Konfiguration der Folie, die in der Regel eine große Anzahl kleiner Perforationen aufweise, die effiziente Erfassung aller Haare außer den kürzesten und steifsten beeinträchtigen vgl. [0007].
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Herkömmliche Haartrimmer seien wiederum für die Rasur nicht besonders geeignet, vor allem, weil die einzelnen Klingen eine gewisse Steifigkeit und damit Dicke benötigten, um die Scherenwirkung ohne Verformung durchzuführen. Es sei diese erforderliche Mindeststärke einer der Haut zugewandten Klinge, die verhindere, dass die Haare nahe der Haut abgeschnitten würden. Folglich müsse ein Benutzer, der seine Körperhaare sowohl rasieren als auch trimmen wolle, unter Umständen zwei separate Geräte kaufen und anwenden, vgl. [0008].
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Auch kombinierte Rasier- und Trimmgeräte wiesen mehrere Nachteile auf, weil sie grundsätzlich zwei Schneidmessersätze und entsprechende Antriebsmechanismen erforderten. Folglich seien diese Geräte schwerer und verschleißanfälliger als herkömmliche Einzweck-Haarschneidegeräte und erforderten außerdem kostspielige Herstellungs- und Montageverfahren. Auch die Bedienung dieser Kombigeräte werde oft als unkomfortabel und kompliziert empfunden. Selbst bei Verwendung eines herkömmlichen kombinierten Rasier- und Trimmgeräts mit zwei separaten Schneideabschnitten könne die Handhabung des Geräts und das Umschalten zwischen verschiedenen Betriebsmodi als zeitaufwändig und wenig benutzerfreundlich empfunden werden. Da die Schneidabschnitte typischerweise an unterschiedlichen Stellen des Geräts angebracht seien, könne die Führungsgenauigkeit (und damit auch die Schneidgenauigkeit) beeinträchtigt werden, da sich der Benutzer während des Betriebs an zwei unterschiedliche dominante Haltepositionen gewöhnen müsse, vgl. [0009].
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Allgemein gebe es bei Haarschneidegeräten noch Verbesserungsbedarf, insbesondere im Hinblick auf den Benutzerkomforts und die Leistungsfähigkeit. Insbesondere bei Haarschneidegeräten mit schwenkbar am Gehäuse angebrachten Klingensätzen könne der Betrieb des Geräts in unterschiedlichen Betriebsmodi eine Herausforderung darstellen. So könne es insbesondere schwierig sein, den Klingensatz eines solchen Geräts zuverlässig von der Haut des Benutzers abzusetzen, vgl. [0012].
36
c) Vor diesem Hintergrund stellt sich das Verfügungspatent die Aufgabe, einen Aufsteckkamm für ein Haarschneidegerät und ein Haarschneidegerät bereitzustellen, mit denen zumindest einige Nachteile bekannter Haarschneidegeräte aus dem Stand der Technik vermieden werden, vgl. [0013].
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d) Hierfür schlägt das Verfügungspatent eine Vorrichtung nach Maßgabe des erteilten Anspruchs 1 vor, der sich merkmalsmäßig wie folgt gliedern lässt:
1. Haarschneidegerät, das eingerichtet ist, um durch Haar in eine Bewegungsrichtung bewegt zu werden, um Haar zu schneiden, umfassend:
2. einen Gehäuseabschnitt;
3.1 der eine zur Haut zeigende obere Oberfläche aufweist,
3.2 wobei der Klingensatz bezüglich des Gehäuseabschnitts schwenkbar eingerichtet ist;
4. einen freigebbaren Zusatzkamm, umfassend:
4.2 mindestens ein Beabstandungsschutzelement, das eingerichtet ist, um den Klingensatz von einer Arbeitsoberfläche beim Betrieb zu beabstanden, insbesondere, um die zur Haut zeigende obere Oberfläche davon von der Haut eines Benutzers zu beabstanden,
4.3 einen Montageabschnitt, der eingerichtet ist, um an einem Gehäuseabschnitt des Haarschneidegeräts angebracht zu sein,
4.4 einen Ausrichtungsbestimmungsabschnitt, der eingerichtet ist, um in den Klingensatz einzugreifen und eine Verriegelungsausrichtung des Klingensatzes, wenn er auf das Haarschneidegerät montiert ist, zu definieren.
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d) Diese Lehre bedarf hinsichtlich der Merkmale 3.2 und 4.4 näherer Erläuterung.
39
a) Die durch das Verfügungspatent unter Schutz gestellte technische Lehre ist aus Sicht der angesprochenen Durchschnittsfachperson, eines/r Fachhochschulingenieurs/in der Fachrichtung Maschinenbau mit mehrjähriger Erfahrung in der Entwicklung von Körperpflegevorrichtungen, insbesondere von Rasierern und Haarschneidegeräten, zu ermitteln (vgl. Bl. 165/166 d.A.).
40
b) Nach Merkmal 3.2 ist der Klingensatz des anspruchsgemäßen Haarschneidegeräts bezüglich des Gehäuseabschnitts schwenkbar eingerichtet ist.
41
Dabei setzt Schwenkbarkeit i. S. von Merkmal 3.2 voraus, dass der Klingensatz verschwenkt werden kann, während das Haarschneidegerät bestimmungsgemäß und ohne den in Merkmalsgruppe 4 beschriebenen freigebbaren Zusatzkamm zum Schneiden von Haaren benutzt wird. Dies folgt aus einer funktionalen Betrachtung von Merkmal 3.2. Die schwenkbare Ausgestaltung des Klingensatzes soll – wie aus Beschreibungsstelle [0016] hervorgeht – ermöglichen, dass die Ausrichtung der Klinge während der Benutzung des Geräts im Rasiermodus, d. h. ohne Zusatzkamm, der Gesichtskontur folgen kann (vgl. [0016]: „In the shaving mode, when the attachment comb is detached from the hair cutting appliance, the blade set may be pivoted with respect to the housing, thereby providing a contour-following capability.“). Diese Auslegung findet ihre Stütze im Wortlaut der Merkmalsgruppe 3, weil gemäß Merkmal 3.1 die obere Oberfläche des Klingensatzes zur Haut zeigt („having a skin-facing top surface“). Damit stellt die Merkmalsgruppe 3 für die Spezifizierung des Klingensatzes auf den bestimmungsgemäßen Betriebszustand während der Benutzung ab, weil nur in diesem Zustand die betreffende Oberfläche zur Haut des Benutzers zeigt Dieser Auslegung steht – entgegen der Auffassung der Verfügungsbeklagten (vgl. Duplik, S. 18) – nicht entgegen, das in Merkmal 4.1 ausdrücklich vorgesehen ist, dass das Beabstandungsschutzelement eingerichtet ist, um den Klingensatz von einer Arbeitsoberfläche „beim Betrieb“ zu beabstanden, weil – wie dargelegt (s.o.) – auch Merkmalsgruppe 3 in Bezug auf den Klingensatz durch das Merkmal der Orientierung der oberen Oberfläche zur Haut auf den Zustand während des Benutzungsvorgangs abstellt.
42
Entgegen der Ansicht der Verfügungsklägerin (vgl. Replik, S. 24) bezieht sich die Schwenkbarkeit in Merkmal 3.2 jedoch nicht „(nur) auf eine Drehbewegung um eine Achse, die parallel zur Schneidekante des Klingensatzes und, während der Verwendung des Haarschneidegeräts, parallel zur Hautoberfläche ausgerichtet ist“. Eine derartige Einschränkung ergibt sich weder aus dem Wortlaut der Merkmalsgruppe 3 noch aus einer funktionalen Betrachtung. Der in [0016] beschriebene Zweck der Schwenkbarkeit, hierdurch zu ermöglichen, dass die Ausrichtung der Klinge während der Benutzung des Geräts der Gesichtskontur folgen kann (s.o.), kann nicht nur durch eine Drehbewegung um eine Achse, die parallel zur Schneidekante des Klingensatzes liegt, sondern etwa auch durch eine seitliche Kippbewegung des Klingensatzes gefördert werden.
43
c) Der freigebbare Zusatzkamm des Haarschneidegeräts (Merkmal 4) umfasst nach Merkmal 4.4 einen Ausrichtungsbestimmungsabschnitt, der eingerichtet ist, um in den Klingensatz einzugreifen und eine Verriegelungsausrichtung des Klingensatzes, wenn er auf das Haarschneidegerät montiert ist, zu definieren.
44
(1) Entgegen der Ansicht der Verfügungsbeklagten (vgl. Antragserwiderung, S. 3/8) muss der Ausrichtungsbestimmungsabschnitt nicht räumlich-körperlich getrennt von dem Beabstandungsschutzelement (Merkmal 4.2) und/oder dem Aufnahmesitz (Bezugszeichen 64) ausgebildet sein. Anspruch 1 enthält keine Einschränkung dahingehend, dass es sich bei diesen Elementen bzw. Abschnitten des Zusatzkamms um räumlich-körperlich getrennte Bauteile handeln muss. Vielmehr können diese Elemente bzw. Abschnitte auch ganz oder teilweise durch dasselbe Bauteil gebildet werden.
45
Dies folgt aus der Beschreibung von Ausführungsbeispielen in [0047], [0054] und [0069]. Werden – wie vorliegend – in der Beschreibung mehrere Ausführungsbeispiele als erfindungsgemäß vorgestellt, sind die im Patentanspruch verwendeten Begriffe im Zweifel so zu verstehen, dass sämtliche Ausführungsbeispiele zu ihrer Ausfüllung herangezogen werden können (BGH GRUR 2015, 972 Rn. 22 – Kreuzgestänge). Nach [0047] kann der Ausrichtungsbestimmungsabschnitt (62) den Aufnahmesitz (64) umfassen („By way of example, the orientation determining portion 62 may comprise a receiving seat 64 which may be arranged to contact the top surface 32 (refer to Fig. 5) of the blade set 20, at least sectionally.“). Dies findet sich auch in [0054] wieder („an orientation determining portion 62 may comprise a receiving seat 64“). Beschreibungsstelle [0069] erläutert, dass mindestens eine Aufnahmesitz (64) des orientierungsbestimmenden Abschnitts (62) im Allgemeinen einstückig mit den Kammzähnen (66) des Abstandsschutzelements (58) ausgebildet sein kann („With further reference to Fig. 16 and 17, it shall be further observed that the at least one receiving seat 64 of the orientation determining portion 62 may be generally integrally formed with the comb teeth 66 of the spacing guard element 58.“).
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Dieser Auslegung steht nicht entgegen, dass nach [0069] die Umsetzung von Ausrichtungsbestimmungsabschnitt, Aufnahmesitz und Beabstandungsschutzelement durch ein und dasselbe Element „vorgesehen“ sein „kann“, wenn das Beabstandungsschutzelement nicht verstellbar ist („Such an arrangement may be envisaged when a spacing guard element 58 is utilized that is basically not adjustable with respect to its spacing length.“) und es „bevorzugt“ sein „kann“, einen gesonderten Aufnahmesitz vorzusehen, wenn die Länge verstellbar ist („However, when a spacing guard element 58 is utilized which is adjustable in length, it may be preferred to provide separate receiving seats 64 that may form the orientation determining portion 62, refer also to Fig. 8 and Fig. 9.“). Nach dieser Beschreibung besteht ausdrücklich kein zwingender, sondern ein optionaler Zusammenhang zwischen der Ausbildung von Ausrichtungsbestimmungsabschnitt, Aufnahmesitz und Beabstandungsschutzelement durch eine räumlich-körperliche Einheit einerseits und einer nicht verstellbaren Abstandslänge andererseits, d. h. auch wenn die Abstandslänge verstellbar ist, können Ausrichtungsbestimmungsabschnitt, Aufnahmesitz und Beabstandungsschutzelement durch ein und dasselbe Bauteil ausgestaltet sein. Dass die Beschreibung der Patentschrift an zahlreichen Stellen das Wort „may“ verwende, führt – entgegen der Ansicht der Verfügungsbeklagten – nicht dazu, dass es sich in der Sprache des Verfügungspatents tatsächlich um einen zwingenden Zusammenhang handeln soll. Dies ist weder im Anspruch noch in der Beschreibung angelegt.
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Dass in Figur 16 die Bezugszeichen für den Ausrichtungsbestimmungsabschnitt (62) und den Aufnahmesitz (64) unterschiedliche Bauteile bezeichnen, führt – entgegen der Ansicht der Verfügungsbeklagten (vgl. Antragserwiderung, S. 7/8) – ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Ausführungsbeispiele und Bezugszeichen schränken den Patentanspruch nicht ein.
48
(2) Merkmal 4.4 ist – entgegen der Ansicht der Verfügungsbeklagten (vgl. Antragserwiderung, S. 9/11; Duplik, S. 2/6) – nicht dahingehend auszulegen, dass der Ausrichtungsbestimmungsabschnitt den Klingensatz durchgängig – unabhängig davon, ob der freigebbare Zusatzkamm auf unterschiedliche Haarlängen einstellbar ist oder nicht – in einer festen Position hält, solange der freigebbare Zusatzkamm zum Trimmen auf das Haarschneidegerät montiert ist. Eine derartige Einschränkung ist im Anspruch nicht angelegt. Vielmehr reicht es aus, wenn der Ausrichtungsbestimmungsabschnitt in einer bestimmten Ausgestaltung bzw. Einstellung des Zusatzkamms in den Klingensatz eingreift und eine Verriegelungsausrichtung des Klingensatzes definiert.
49
Dass Merkmal 4.4 lehrt, dass der Ausrichtungsbestimmungsabschnitt „eingerichtet ist, (…) eine Verriegelungsausrichtung des Klingensatzes, wenn er auf das Haarschneidegerät montiert ist, zu definieren“, bedeutet – entgegen der Auffassung der Verfügungsbeklagten (vgl. Antragserwiderung, S. 11; Duplik, S. 6) – nicht, dass das Definieren der Verriegelungsausrichtung stets und durchgängig gegeben sein muss, wenn der Zusatzkamm auf das Haarschneidegerät montiert ist. Diese Einschränkung ist im Anspruch nicht angelegt. Merkmal 4.4 formuliert „wenn“, nicht „immer wenn“.
50
Auch dass die Patentschrift zwischen dem Rasiermodus und dem Trimmmodus unterscheidet (vgl. [0001]: „More particularly, the present disclosure relates to a hair cutting appliance that is operable in a hair trimming mode and in a shaving mode.“) und der patentgemäße Aufsteckkamm bevorzugt die Trimmleistung verbessern soll (vgl. [0013]: „It is particularly preferred that the attachment comb enhances the trimming performance of the hair cutting appliance.“), führt – entgegen der Ansicht der Verfügungsbeklagten (vgl. Antragserwiderung, S. 9/11; Duplik, S. 2/6) – zu keinem anderen Ergebnis. Die Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Modi bedeutet nicht, dass das Vorhandensein eines möglichen „dritten Modus“ aus dem Anspruch herausführt. Auch folgt aus der bloßen Unterscheidung zwischen zwei Modi für sich genommen noch keine Festlegung auf eine genaue Ausgestaltung dieser beiden Modi. Die Beschreibung einer bevorzugten Ausgestaltung des Trimmmodus (vgl. [0013]: „particularly preferred“) schränkt den Patentanspruch nicht ein. Auch soweit die Verfügungsbeklagte darauf verweist, in [0015] sei beschrieben, dass der Trimmmodus durch freigebbaren Zusatzkamm aktiviert werde, indem er den Klingensatz in eine bestimmte Ausrichtung bringe (vgl. Duplik, S. 4), handelt es sich ersichtlich nur um eine mögliche Ausgestaltung („may activate the trimming mode“), die den Patentanspruch nicht einschränkt. Gleiches gilt schließlich für die Verweise der Verfügungsbeklagten auf zahlreiche Beschreibungsstellen, die lediglich Ausführungsbeispiele betreffen (vgl. Duplik, S. 4: „s. etwa Absätze [0015], [0027], [0028], [0033], [0035], [0046], [0047], [0048], [0061], [0062], [0064], [0068], [0051]“). Es kommt daher – entgegen der Ansicht der Verfügungsbeklagten (vgl. Antragserwiderung, S. 10; Duplik, S. 6) – auch nicht darauf an, dass in [0046] davon die Rede ist, dass die Trimmausrichtung auch als Verriegelungsausrichtung bezeichnet werden kann („However, when the attachment comb 50 is attached to the hair cutting appliance 10, in a trimming mode, it is preferred that the blade set 20 is brought into and maintained in a preferred trimming orientation which may also be referred to as locking orientation.“), und in [0047] Verriegelungsausrichtung und Trimmausrichtung alternativ verwendet werden („locking orientation or trimming orientation“). Dies gilt umso mehr, als [0046] nur „eine bevorzugte Trimmausrichtung“ („a preferred trimming orientation“) beschreibt und [0047] daran anknüpft („further“) und zunächst den Begriff der Verriegelungsausrichtung und erst als Alternative den Begriff der Trimmausrichtung verwendet.
51
(3) Der Begriff der Verriegelungsausrichtung i. S. von Merkmal 4.4 schließt Ausgestaltungen ein, bei denen (auch) bei Eingreifen des Ausrichtungsbestimmungsabschnitts in den Klingensatz noch ein gewisses Spiel für den Klingensatz besteht.
52
Dies geht bereits aus dem Wortlaut des Merkmals 4.4 hervor, wonach nur eine „Verriegelungsausrichtung“ („locking orientation“), keine „Verriegelungsposition“ erforderlich ist.
53
Darüber hinaus wird in der Beschreibung in [0027] und [0061] in Bezug auf Ausführungsbeispiele ausdrücklich erläutert, dass der Klingensatz „mit relativ hoher Genauigkeit in der gewünschten Verriegelungsausrichtung“ ([0027]: „As a result, the blade set may be kept with relatively high accuracy in the desired locking orientation.“) bzw. „in der Verriegelungsausrichtung (…) im Wesentlichen ohne nennenswertes Spiel“ gehalten wird ([0061]: „Therefore, the blade set 20 may be kept in the locking orientation suitable for trimming in a biased of preloaded state, basically without considerable play.“). Ein gewisses Spiel ist danach nicht ausgeschlossen.
54
1. Die Beklagte verletzt das Verfügungspatent unmittelbar gemäß § 9 S. 2 Nr. 1 PatG, weil sie die angegriffene Ausführungsform in der Bundesrepublik Deutschland anbietet und vertreibt und die angegriffene Ausführungsform von Anspruch 1 des Verfügungspatents unmittelbar wortsinngemäß Gebrauch macht.
55
e) Die Parteien streiten über die Benutzung des Merkmals 4.4. Gegen die Benutzung der übrigen Merkmale wendet sich die Verfügungsbeklagte zu Recht nicht. Denn diese werden nach dem unstreitigen Vortrag der Verfügungsklägerin von der angegriffenen Ausführungsform verwirklicht.
56
e) Die angegriffene Ausführungsform verwirklicht Merkmal 4.4.
57
Die unteren Seiten der Lamellen des Präzisionskamms der angegriffenen Ausführungsform, die der oberen Oberfläche des Klingensatzes zugewandt sind, wenn der Präzisionskamm auf dem Haarschneidegerät angebracht ist, stellen einen anspruchsgemäßen Ausrichtungsbestimmungsabschnitt dar.
58
Der aufsteckbare Präzisionskamm der angegriffenen Ausführungsform lässt sich unstreitig (vgl. Antragsschrift, S. 32; Antragserwiderung, S. 4) durch Rotation des Rades so einstellen, dass die unteren Seiten der Lamellen des Kammes auf der Oberfläche des Klingensatzes aufliegen.
59
Dies geht auch aus der folgenden Abbildung der angegriffenen Ausführungsform in der Anlage ES 4b (dort, S. 3) hervor:
60
Auch bei dem als Anlage ES 4a vorgelegtes Exemplar der angegriffenen Ausführungsform ist dies feststellbar.
61
Durch das Aufliegen der unteren Seiten der Lamellen auf den Klingensatz wird dieser in eine bestimmte Ausrichtung gebracht und kann aus dieser gegenüber dem Gehäuse nicht verschwenkt werden. Auch dies ergibt sich aus der obigen Abbildung und zeigt sich bei dem als Anlage ES 4a vorgelegten Exemplar der angegriffenen Ausführungsform, das in der mündlichen Verhandlung in Augenschein genommen wurde. Dass hierbei noch ein geringfügiges Spiel besteht, führt – wie im Rahmen der Auslegung begründet (s.o.) – aus der Patentbenutzung nicht hinaus.
62
Nach Auslegung der Kammer (s.o.) ist es für die Verwirklichung von Merkmal 4.4. gleichermaßen unerheblich, dass der aufgezeigte Ausrichtungsbestimmungsabschnitt bei der angegriffenen Ausführungsform zusammen mit dem Beabstandungsschutzelement gemäß Merkmal 4.2 (d.h. den Lamellen) und einem – nicht in Anspruch 1 erwähnten – Aufnahmesitz (d.h. der unteren Seite der Lamellen) in einem Bauteil ausgebildet ist (s.o.).
63
Soweit die Verfügungsbeklagte schließlich darauf verweist, dass die Lamellen des Präzisionskamms nur in einem Betriebszustand – bei der kürzesten Einstellung des verstellbaren Kamms – auf der Oberfläche des Klingensatzes aufliegen (vgl. Antragserwiderung, S. 11; Duplik, S. 6), führt dies ebenfalls nicht aus der Verletzung heraus. Nach Auslegung der Kammer (s.o.) setzt Merkmal 4.4 nicht voraus, dass der Ausrichtungsbestimmungsabschnitt den Klingensatz durchgängig in einer festen Position hält, solange der freigebbare Zusatzkamm zum Trimmen auf das Haarschneidegerät montiert ist. Eine Verletzung wird nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dadurch begründet, dass die Merkmale der angegriffenen Ausführungsformen objektiv geeignet sind, die patentgemäßen Eigenschaften und Wirkungen zu erreichen (BGH GRUR 2006, 399 Rn. 21 – Rangierkatze). Merkmal 4.4 ist daher auch verwirklicht, wenn die Lamellen des Präzisionskamm lediglich in einer von zehn Einstellungen auf der Oberfläche des Klingensatzes aufliegen und dadurch in diesen eingreifen und eine Verriegelungsausrichtung definieren.
64
1. Damit stehen der Verfügungsklägerin gegen die Verfügungsbeklagte die geltend gemachten Ansprüche im tenorierten Umfang zu.
65
a) Der Anspruch auf Unterlassung folgt aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ, § 139 Abs. 1 PatG.
66
Die Wiederholungsgefahr wird durch die festgestellten rechtswidrigen Benutzungshandlungen indiziert.
67
b) Der Anspruch auf Herausgabe an einen Gerichtsvollzieher zur Verwahrung folgt aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ, § 140a Abs. 1 PatG.
68
Der Anspruch auf Herausgabe an einen Gerichtsvollzieher zur Verwahrung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Vernichtungsanspruch oder eine einvernehmliche Regelung zwischen den Parteien ist als Minus im Vernichtungsanspruch gemäß § 140a Abs. 1 PatG enthalten und entspricht dem Verbot der unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Verfügungsverfahren.
69
II. Auch ein Verfügungsgrund i. S. von §§ 935, 940 ZPO ist glaubhaft gemacht.
70
Der Erlass einer einstweiligen Verfügung setzt gemäß §§ 935, 940 ZPO eine objektiv begründete Gefahr voraus, dass die Rechtsverwirklichung des Verfügungsklägers mittels eines erst im Hauptsacheprozess erlangten Urteils vereitelt oder erschwert werden könnte. Dies verlangt zum einen eine für die Eilmaßnahme sprechende rein zeitliche Dringlichkeit und daneben eine Abwägung der widerstreitenden Interessen zwischen den dem Schutzrechtsinhaber ohne den Erlass der beantragten Verfügung drohenden Nachteilen, welche gegen die Interessen des als Verletzer in Anspruch genommenen Verfügungsbeklagten abgewogen werden müssen. Das Vorliegen eines Verfügungsgrundes ist gemäß §§ 936, 920 Abs. 2 ZPO seitens des Verfügungsklägers darzulegen und glaubhaft zu machen (OLG München GRUR-RS 2021, 12272 Rn. 47 – Cinacalcet; LG München I GRUR 2022, 1808 Rn. 62 – Fingolimod; vgl. Voß in: Cepl/Voß, Prozesskommentar zum Gewerblichen Rechtsschutz, 3. Aufl. 2022, § 940 Rn. 64 f.).
71
1. Die zeitliche Dringlichkeit liegt vor.
72
a) Die erforderliche zeitliche Dringlichkeit ist grundsätzlich zu verneinen, wenn der Antragsteller/Verfügungskläger mit der Rechtsverfolgung ohne sachlichen Grund zu lange zögert, weil er in diesen Fällen selbst zu erkennen gibt, dass er nicht derart eilig auf das begehrte Verbot angewiesen ist, dass es ihm nicht zugemutet werden könnte, sein Rechtsschutzziel in einem Hauptsacheverfahren durchzusetzen. Die dabei nach ständiger Rechtsprechung im Bezirk des Oberlandesgerichts München im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes zu wahrende einmonatige Dringlichkeitsfrist wird in Lauf gesetzt, wenn der Antragsteller/Verfügungskläger Kenntnis von der fraglichen Verletzungshandlung und dem hierfür Verantwortlichen hat und er alle Informationen und Glaubhaftmachungsmittel besitzt, um mit Aussicht auf Erfolg einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung stellen zu können (vgl. OLG München GRUR 2020, 385 Rn. 60 – Elektrische Anschlussklemme; GRUR-RS 2021, 12272 Rn. 49 – Cinacalcet). Die erforderlichen Glaubhaftmachungsmittel muss sich der Antragsteller/Verfügungskläger zuvor mit der gebotenen Eile beschaffen (vgl. OLG München GRUR-RS 2021, 12272 Rn. 49 – Cinacalcet). Sobald der Patentinhaber das mutmaßlich patentverletzende Erzeugnis in den Händen hat, trifft ihn die Obliegenheit, den betreffenden Gegenstand zügig und umfassend auf das Vorliegen einer Schutzrechtsverletzung zu untersuchen, also die notwendigen Untersuchungen alsbald in die Wege zu leiten, diese zielstrebig zum Abschluss zu bringen und, sofern sich ein positiver Befund ergibt, anschließend ohne übermäßiges Zögern die sich daraus ergebenden Verbietungsansprüche zu verfolgen (vgl. Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 14. Aufl. 2022, Kap. G Rn. 153). Generell darf er dabei den sicheren Weg gehen und alle Glaubhaftmachungsmittel beschaffen, die bei einem denkbaren Verteidigungsverhalten des Gegners erforderlich werden können (Kühnen a.a.O., Kap. G Rn. 153; OLG München GRUR-RS 2021, 12272 Rn. 49 – Cinacalcet; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2013, 236, 238 – Flupirtin-Maleat). Maßgeblich ist stets, ob der Antragsteller/Verfügungskläger das Seinige getan hat, um seine Verbietungsrechte zügig durchzusetzen, also ob er seine Rechtsverfolgung in einer Weise vorantreibt, die die Ernsthaftigkeit seines Bemühens erkennen lässt und es deswegen objektiv rechtfertigt, ihm Zugang zum einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu gewähren. Dass jede Aufklärungs- und Verfolgungsmaßnahme für sich betrachtet gegebenenfalls auch zügiger hätte absolviert werden können, ist nicht von Belang (Kühnen a.a.O. Kap. G Rn. 143; OLG München GRUR-RS 2021, 12272 Rn. 49 – Cinacalcet; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2013, 236, 238 – Flupirtin-Maleat). Dabei muss sich den Antragsteller/Verfügungskläger die Kenntnis und das Verhalten seines Prozessbevollmächtigten nach allgemeinen Grundsätzen zurechnen lassen
73
b) Nach diesen Maßstäben hat die Verfügungsklägerin durch Einreichung ihres Verfügungsantrags vom 21.10.2022, bei Gericht eingegangen am selben Tag, die Dringlichkeitsfrist gewahrt.
74
a) Die Verfügungsklägerin hatte am 26.09.2022 und damit weniger als einen Monat vor Antragstellung positive Kenntnis von der streitgegenständlichen Verletzungshandlung und dem hierfür Verantwortlichen und war im Besitz aller erforderlichen Informationen und Glaubhaftmachungsmittel, um mit Aussicht auf Erfolg einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung stellen zu können. Erst am genannten Tag wurde den Prozessbevollmächtigten der Verfügungsklägerin ein Exemplar der angegriffenen Ausführungsform (Typ 5) zugestellt, das in über ein auf die Bundesrepublik Deutschland ausgerichtetes Angebot bestellt worden war, und konnte von diesen untersucht werden.
75
Dass der Verfügungsklägerin bereits zuvor, am 14.09.2022 ein Exemplar des Rasierers des Typs 4 zugestellt worden war, führt nicht zu einer früheren Kenntnis der Verfügungsklägerin, weil diese Bestellung nicht über ein auf die Bundesrepublik Deutschland ausgerichtetes Angebot erfolgte, so dass hierdurch keine Verletzungshandlung der Verfügungsbeklagten im Inland begründet wurde.
76
Daran ändert auch der von der Verfügungsbeklagten vorgebrachte Umstand nichts, dass die angegriffene Ausführungsform, insbesondere Rasierer des Typs 4 und 5, auch auf verschiedenen deutschen Webseiten angeboten wurde und wird und auf diesen Webseiten ersichtlich ist, dass dort die angegriffene Ausführungsform mit einem Präzisionskamm angeboten wird (vgl. Antragserwiderung, S. 14/15). Insbesondere im Hinblick auf denkbares Verteidigungsverhalten der Verfügungsbeklagten (s.o.) durfte sich die Verfügungsklägerin nicht darauf verlassen, dass Produkte der Verfügungsbeklagten, die über eine deutsche Webseite angeboten werden, gleichermaßen ausgestaltet sind wie Produkte, die über eine auf das Ausland ausgerichtete Webseite angeboten werden. Gerade im Hinblick auf das Eingreifen der Lamellen des Präzisionskamms in den Klingensatz (Merkmal 4.4), das nur in der niedrigsten Einstellung des Präzisionskamms gegeben ist, musste und durfte sich die Verfügungsklägerin nicht darauf verlassen, dass der auf den deutschen Webseiten abgebildete Präzisionskamm auch diese Einstellungsmöglichkeit aufweist. In den von der Verfügungsbeklagten vorgelegten Screenshots (Anlagen KRT 1 und KRT 2) sind keine Abbildungen enthalten, aus denen ersichtlich wäre, dass bei der niedrigsten Einstellung des Präzisionskamms die Lamellen auf dem Klingensatz aufliegen. Aus dem bloßen Umstand, dass ein Präzisionskamm auf den Webseiten abgebildet ist, kann nicht geschlossen werden, dass dieser genauso funktioniert wie der Präzisionskamm des Exemplars, das die Verfügungsklägerin selbst über die auf Belgien und die Niederlande ausgerichtete Webseite bezogen hatte. Dies gilt umso mehr, als der patentrechtliche Schutz durch Parallelpatente der Verfügungsklägerin in Belgien und den Niederlanden bereits spätestens am 01.05.2022 abgelaufen war, so dass eine unterschiedliche Ausgestaltung der Einstellungen des Präzisionskamms für diesen Markt und den deutschen Markt keineswegs fernliegend wäre.
77
b) Die Verfügungsklägerin muss sich jedoch zu Recht vorwerfen lassen, die erforderlichen Glaubhaftmachungsmittel sich nicht mit der gebotenen Eile beschafft zu haben. Insoweit ist eine Vorverlagerung des Fristbeginns auf den 21.09.2022 geboten.
78
An diesem Tag waren ersichtlich alle internen Abstimmungsprozesse abgeschlossen, weil an diesem Tag nach entsprechender E-Mail-Korrespondenz zwischen der Verfügungsklägerin und ihren Prozessbevollmächtigten am 19.09.2022 die Bestellung eines Exemplars der angegriffenen Ausführungsform (Typ 5) durch die Prozessbevollmächtigten auf einer deutschen Webseite aufgegeben wurde. Die Verfügungsklägerin bzw. ihre Prozessbevollmächtigten hätten an diesem Tag (dem 21.09.2022) schnellstmöglich einen Kauf und eine Lieferung eines Exemplars der angegriffenen Ausführungsform veranlassen müssen. Dies wäre angesichts des Umstands, dass es sich beim 21.09.2022 um einen Werktag handelte und die angegriffene Ausführungsform nach dem insoweit unstreitigen Vortrag der Verfügungsbeklagten (vgl. Antragserwiderung, S. 19) auch auf Plattformen, die Lieferung am selben Tag anbieten, sowie im stationären Einzelhandel angeboten wird, durchaus auch möglich gewesen.
79
c) Eine weitere Vorverlagerung des Fristbeginns ist entgegen der Auffassung der Verfügungsbeklagten nicht angezeigt.
80
Insbesondere beginnt die Frist – entgegen der Ansicht der Verfügungsbeklagten (vgl. Antragserwiderung, S. 14, 17, 19) nicht bereits am 14.09.2022, also dem Tag der Lieferung des über die Webseite .com bestellten Exemplars an die Verfügungsklägerin, zu laufen. Aus den bereits dargelegten Gründen (s.o.) musste und durfte sich die Verfügungsklägerin nicht darauf verlassen, dass Produkte der Verfügungsbeklagten, die über eine deutsche Webseite angeboten werden, gleichermaßen ausgestaltet sind wie Produkte, die über eine auf das Ausland ausgerichtete Webseite angeboten werden. Der Verfügungsklägerin ist insoweit auch ein gewisser Zeitraum für entsprechende interne Abstimmungsprozesse zuzubilligen. Dies gilt umso mehr, als die internen Vorgänge nach dem insoweit unbestrittenen Vortag der Verfügungsklägerin neben der streitgegenständlichen Patentverletzung auch weitere Patentverletzungen betraf, die nicht zwingend im Zusammenhang mit dem Präzisionskamm stehen müssen. Dass gewisse Aufklärungs- und Verfolgungsmaßnahmen für sich betrachtet gegebenenfalls auch zügiger hätten absolviert werden können, führt nach den dargelegten Grundsätzen (s.o.) für sich genommen nicht zu einer Vorverlagerung des Fristbeginns.
81
Aus den gleichen Gründen kommt auch keine Vorverlagerung auf den 19.09.2022, also den Tag der Beauftragung der Prozessbevollmächtigten per E-Mail, einen weiteren Testkauf eines Exemplars der angegriffenen Ausführungsform (Typ 4 und/oder 5) vorzunehmen, in Betracht. Ein Zeitraum von zwei Tagen zwischen Beauftragung und Bestellung begründet kein dringlichkeitsschädliches Verhalten im oben dargelegten Sinn.
82
2. Die bei der Prüfung des Verfügungsgrundes vorzunehmende umfassende Interessenabwägung fällt zu Gunsten der Verfügungsklägerin aus.
83
Abzuwägen sind hierbei die dem Schutzrechtsinhaber ohne den Erlass der beantragten Verfügung drohenden Nachteilen und die Interessen des als Verletzer in Anspruch genommenen Verfügungsbeklagten. Insofern ist auch der Rechtsbestand des Verfügungsschutzrechts von Bedeutung (vgl. OLG München GRUR-RS 2021, 12272 Rn. 47 – Cinacalcet; LG München I GRUR 2022, 1808 Rn. 62 – Fingolimod; LG München I GRUR 2022, 1808 Rn. 65 – Fingolimod; Voß a.a.O. § 940 Rn. 64 f.). Dieser ist vorliegend hinreichend gesichert.
84
a) Nach der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte Düsseldorf, Karlsruhe und München ist im Rahmen des Verfügungsgrundes darzulegen und glaubhaft zu machen, dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents jedenfalls hinreichend gesichert ist, wobei die Verfügungsklägerin insoweit die Darlegungs- und Glaubhaftmachungslast dafür trifft, dass die von der Verfügungsbeklagten gegen das Verfügungspatent vorgebrachten Einwendungen unberechtigt sind (vgl. statt aller OLG Düsseldorf InstGE 12, 114 = BeckRS 2010, 15862 – Harnkatheterset).
85
Dabei kann nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Düsseldorf, der sich das Oberlandesgericht München im Jahr 2020 teilweise angeschlossen hat (zur älteren Rspr. vgl. OLG München GRUR-RS 2017, 118983 Rn. 88 und 100 – Pemetrexed), grundsätzlich nur dann von einem hinreichend gesicherten Rechtsbestand ausgegangen werden, wenn das Verfügungspatent bereits ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat (OLG München GRUR 2020, 385 – Elektrische Anschlussklemme; OLG Düsseldorf GRUR-RR 2008, 329 = InstGE 9, 140 [146] – Olanzapin; InstGE 12, 114 = BeckRS 2010, 15862 – Harnkatheterset; GRUR-RR 2013, 236 – Flupirtin-Maleat). Von dem Erfordernis einer der Verfügungsklägerin günstigen streitigen Rechtsbestandsentscheidung kann danach nur in Ausnahmefällen abgesehen werden, z.B. wenn ein Rechtsbestandsverfahren deshalb nicht durchgeführt worden ist, weil das Verfügungspatent allgemein als schutzfähig anerkannt wird (was sich in dem Vorhandensein namhafter Lizenznehmer oder dergleichen widerspiegelt), die gegen den Rechtsbestand vorgebrachten Einwendungen sich schon bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung als haltlos erweisen oder außergewöhnliche Umstände gegeben sind, die es für die Verfügungsklägerin wegen der ihm aus einer Fortsetzung der Verletzungshandlungen drohenden Nachteile unzumutbar machen, den Ausgang eines Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens abzuwarten, wie regelmäßig bei Verletzungshandlungen von Generikaunternehmen anzunehmen sei (OLG Düsseldorf InstGE 12, 114 = BeckRS 2010, 15862 – Harnkatheterset).
86
b) An dieser Konzeption von Grundsatz und Ausnahmen kann nach Überzeugung der Kammer (jedenfalls) seit dem Urteil des Unionsgerichtshofs vom 28.04.2022 in der Rechtssache C-44/21 – Phoenix Contact/Harting (GRUR 2022, 811) nicht festgehalten werden (vgl. LG München I GRUR 2022, 1808 Rn. 68 – Fingolimod; Heinze, GRUR 2022, 1795, 1798).
87
a) Mit dem Unionsgerichtshof (vgl. EuGH GRUR Int 2020, 1071 Rn. 48 = BeckRS 2020, 490 – Paroxetin; GRUR 2022, 811 Rn. 41 – Phoenix Contact/Harting) geht die Kammer (jedenfalls) für europäische Patente davon aus, dass für sie ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Erteilung eine Vermutung der Gültigkeit streitet und sie ab diesem Zeitpunkt in vollem Umfang den unter anderem durch die RL 2004/48 gewährleisteten Schutz genießen. Für die im Rahmen des Verfügungsgrundes vorzunehmende Prüfung des hinreichenden gesicherten Rechtsbestands des Verfügungspatents bedeutet dies nach Ansicht der Kammer, dass (nunmehr) aufgrund der Vermutung der Gültigkeit zunächst von einem gesicherten Rechtsbestand auszugehen ist und es im zweiseitigen einstweiligen Verfügungsverfahren der Verfügungsbeklagten obliegt, diese Vermutung zu erschüttern (vgl. LG München I GRUR 2022, 1808 Rn. 68 – Fingolimod; a.A. LG Düsseldorf GRUR 2022, 1806 Rn. 61 – MS-Therapie III). Insoweit trägt hiernach die Verfügungsbeklagte im Ausgangspunkt die Darlegungs- und Glaubhaftmachungslast (vgl. Heinze, GRUR 2022, 1795, 1798).
88
Hat die Verfügungsbeklagte erhebliche Gründe, die zur Überzeugung der Kammer eine im Einzelfall hinreichende Wahrscheinlichkeit der Vernichtung des Verfügungspatents begründen, vorgetragen und gegebenenfalls glaubhaft gemacht und mithin die Vermutung der Gültigkeit erschüttert, obliegt es wiederum der Verfügungsklägerin, darzulegen und gegebenenfalls glaubhaft zu machen, dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents trotz der hiergegen erhobenen Angriffe hinreichend gesichert ist (vgl. LG München I GRUR 2022, 1808 Rn. 68 – Fingolimod), d. h. mit hoher Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden kann (vgl. LG München I GRUR-RS 2021, 37988 Rn. 46 – Sorafenibtosylat).
89
b) Damit Zweifel am Rechtsbestand des Verfügungspatents sich in einer Zurückweisung des Verfügungsantrags niederschlagen können, muss das Verfügungsschutzrecht mit einem Einspruch oder einer Nichtigkeitsklage angegriffen werden, weil nur diese das Patent tatsächlich zu Fall bringen können (OLG Düsseldorf InstGE 7, 147 – Kleinleistungsschalter; LG München I GRUR-RS 2021, 37988 Rn. 41 – Sorafenibtosylat; GRUR 2022, 1808 Rn. 69 – Fingolimod).
90
Daher ist es regelmäßig nicht ausreichend, im einstweiligen Verfügungsverfahren lediglich Einspruchs- oder Nichtigkeitsgründe aufzuzeigen, die zu einer Vernichtung des Verfügungspatents führen könnten, solange nicht spätestens bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung im Verfügungsverfahren tatsächlich beim Deutschen Patent- und Markenamt, beim Europäischen Patentamt (nachfolgend: EPA), beim Bundespatentgericht und zukünftig beim Einheitlichen Patentgericht ein Verfahren eröffnet wurde, in dem aufgrund dieses Vorbringens ein Widerruf bzw. die Nichtigerklärung des Patents verfügt werden kann. Liegt zwischen der Kenntnis der Verfügungsbeklagten vom Verletzungsvorwurf und dem Verhandlungstermin ein nur kurzer Zeitraum, innerhalb dessen der Verfügungsbeklagten nicht zugemutet werden kann, das Verfügungspatent mit einem förmlichen Rechtsbehelf anzugreifen, muss zumindest zweifelsfrei absehbar sein, dass der Rechtsbestand des Verfügungsschutzrechts zu gegebener Zeit angegriffen werden wird (OLG Düsseldorf InstGE 12, 114 = BeckRS 2010, 15862 – Harnkatheterset; LG München I GRUR 2022, 1808 Rn. 69 – Fingolimod).
91
c) Nach diesen Maßstäben ist nach Überzeugung der Kammer der Rechtsbestand des Verfügungspatents hinreichend gesichert. Die schriftsätzlich und in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Angriffe gegen den Rechtsbestand des Verfügungspatents rechtfertigen es nicht, den Verfügungsgrund zu verneinen. Die Kammer ist unter Berücksichtigung des beiderseitigen Vorbringens vom Rechtsbestand des Verfügungspatents überzeugt.
92
a) Dass zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im vorliegenden Verfahren die Nichtigkeitsklage der Verfügungsklägerin vom 14.12.2022 (Anlage KRT 14) noch nicht zugestellt und auch der Kostenvorschuss im Nichtigkeitsverfahren – wie die Verfügungsklägerin vorträgt – noch nicht bezahlt ist, kann hier dahinstehen, weil auch unter vollumfänglicher Berücksichtigung des Vorbringens der Verfügungsbeklagten der Rechtsbestand des Verfügungspatents hinreichend gesichert ist.
93
b) Der Gegenstand der Entgegenhaltung US 2004/0006873 A1 (Anlage KRT 7, nachfolgend: US ’873) steht der Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 des Verfügungspatents nicht entgegen.
94
(1) Die US ’873 offenbart ein Haarschneidegerät mit verstellbarem Klingensatz, der um eine stationäre Achse in mindestens zwei Schneidpositionen verstellbar ist (vgl. US ’873, „Abstract“ und [0001]). Zur näheren Erläuterung der US ’873 verweist die Verfügungsbeklagte unter anderem auf folgende Figuren der US ’873:
95
Die Verfügungsklägerin verweist daneben auf Figur 4 der US ’873:
96
(2) Der Gegenstand des Anspruchs 1 wird durch diese Entgegenhaltung nicht offenbart. Es werden nicht sämtliche beanspruchte Merkmale gezeigt.
97
So offenbart die US ’873 jedenfalls nicht unmittelbar und eindeutig, dass der Klingensatz bezüglich des Gehäuseabschnitts schwenkbar eingerichtet ist (Merkmal 3.2). Nach Auslegung der Kammer (s.o.) setzt Schwenkbarkeit i. S. von Merkmal 3.2 voraus, dass der Klingensatz verschwenkt werden kann, während das Haarschneidegerät bestimmungsgemäß und ohne den in Merkmalsgruppe 4 beschriebenen freigebbaren Zusatzkamm zum Schneiden von Haaren benutzt wird. Demgegenüber offenbart die US ’873 nur eine Lösung für das Verstellen der Ausrichtung des Klingensatzes durch Wechsel zwischen (mindestens) zwei bestimmten Positionen (vgl. US ’873, „Abstract“ und Figur 3, Positionen 1 und 2), wobei die eingestellte Ausrichtung während des Benutzungsvorgangs fest und unverändert bleibt. Dies geht auch aus der Erläuterung zu den Figuren 3 und 4 in [0069] der US ’873 hervor, weil dort beschrieben ist, wie die Klingenanordnung aus einer Position in die andere Position ausgeklinkt wird („thus disengaging said blade assembly out of one position into the newly chosen position“).
98
(3) Auch soweit die Verfügungsbeklagten geltend machen, dass die Entgegenhaltung US ’873 im parallelen USamerikanischen Erteilungsverfahren bezüglich der der Verfügungspatentanmeldung entsprechenden US 2015/15302381 A1 dazu geführt habe, dass dort unter anderem der Anspruch 1 durch Aufnahme weiterer Merkmale erheblich eingeschränkt worden sei (vgl. Antragserwiderung, S. 35), führt dies zu keiner anderen Beurteilung der Neuheit des Verfügungspatents gegenüber der US ’873. Die Kammer nimmt die Entscheidung des USPTO zur Kenntnis, teilt dessen Auffassung aber für das hiesige Patent aus den oben dargestellten Gründen nicht. So mögen die Beurteilungsmaßstäbe des USamerikanischen Patentrechts nicht identisch mit denen des europäischen Patentrechts sein und sich hierdurch erklären lassen, warum verschiedene Erteilungsentscheidungen anderer Behörden bestehen, die – ebenso wie das EPA – das Verfügungspatent wie angemeldet erteilt haben.
99
c) Auch der Gegenstand der Entgegenhaltung WO 2013/080114A1 (Anlage KRT 16, nachfolgend: WO ’114) steht der Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 nicht entgegen.
100
(1) Die WO ’114 offenbart ein Haarschneidesystem, insbesondere ein Haarschneidesystem, das eingerichtet ist, um die Länge des Haarschnitts variabel einzustellen, sowie ein entsprechendes Haarschneidegerät (vgl. WO ’114, S. 1).
101
Zur näheren Erläuterung der WO ’114 hat die Verfügungsbeklagte in der mündlichen Verhandlung unter anderem auf folgende Figuren der WO ’114 verwiesen:
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Die Verfügungsklägerin verweist daneben auf Figur 2 der WO ’114:
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(2) Der Gegenstand des Anspruchs 1 wird durch diese Entgegenhaltung nicht offenbart. Es werden nicht sämtliche beanspruchte Merkmale gezeigt.
104
Auch die WO ’114 offenbart jedenfalls nicht unmittelbar und eindeutig einen Klingensatz, der bezüglich des Gehäuseabschnitts schwenkbar eingerichtet ist (Merkmal 3.2). So offenbart die WO ’114 bereits nicht, dass der Klingensatz insgesamt beweglich, einstellbar oder schwenkbar ist, sondern nur, dass eine Klinge des Klingensatzes bestehend aus der stationären Klinge (24) und der beweglichen Klinge (26), nämlich die bewegliche Klinge (26) einstellbar bzw. verschiebbar ist, wie in den Figuren 10 und 11 dargestellt (vgl. WO ’114, S. 13, 17, 20). Zudem reicht – entgegen der Ansicht der Verfügungsbeklagten (vgl. Duplik, S. 27) – für eine Verschwenkbarkeit i. S. von Merkmal 3.2 eine bloße laterale Verschiebbarkeit zur Einstellung der Position der bewegbaren Klinge (26), wie sie in den Figuren 10 und 11 dargestellt wird (vgl. WO ’114, S. 13, 17, 20), nicht aus (s.o.).
105
d) Entgegen dem Vorbringen der Verfügungsbeklagten (vgl. Duplik, S. 30/32) fehlt es auch nicht an einer erfinderischen Tätigkeit im Hinblick auf die Entgegenhaltungen DE 199 39 509 A1 (Anlage KRT 18, nachfolgend: DE ’059) und US 4,614,036 (Anlage KRT 11, nachfolgend: US ’036).
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(1) Die Verfügungsbeklagte trägt insoweit im Wesentlichen vor, alle Merkmale des Anspruchs 1 ergäben sich aus einer Kombination der Entgegenhaltung DE ’059 mit der Entgegenhaltung US ’036.
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Die DE ’059 offenbare ein Haarschneidegerät gemäß den Merkmalen 1 bis 3, wie unter anderem die Figur 5 zeige, in der die Z-Achse die Verschwenkbarkeit verdeutliche:
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Die US ’036 offenbare einen freigebbaren Zusatzkamm gemäß Merkmalsgruppe 4, wie unter anderem die Figuren 6 und 10 zeigten:
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Für den Fachmann habe es zum Prioritätszeitpunkt nahe gelegen, die beiden Druckschriften miteinander zu kombinieren, schon allein, weil die US ’036 einen Zusatzkamm für einen Trockenrasierer beschreibt (Figur 10). Insofern habe es für den Fachmann keine besondere Hürde zu überwinden gegolten, um zwei Druckschriften, die sich beide auf Trockenrasierer beziehen, miteinander zu kombinieren, um das Ziel – Verbesserung der Rasur – zu erreichen. Der Fachmann habe hinsichtlich der DE ’059 außerdem deshalb eine konkrete Veranlassung gehabt, nach einer Kombination zu suchen, weil der in der DE ’059 beschriebene Zusatzkamm darin nicht näher beschrieben sei, so dass der Fachmann zum Prioritätszeitpunkt zwangsläufig nach möglichen Ausgestaltungen dieses Zusatzkammes gesucht hätte.
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(2) Dieser Ansicht schließt sich die Kammer nicht an.
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Ein hinreichender Anlass für die Kombination der beiden Entgegenhaltungen ist bereits weder vorgetragen noch ersichtlich. Dass beide Druckschriften Trockenrasierer beschreiben, stellt keinen hinreichenden Anlass für die Kombination dieser Druckschriften dar, insbesondere weil aus der DE ’059 kein Anlass ersichtlich ist, warum der Fachmann nach Möglichkeiten einer Einschränkung der darin beschriebenen Verschwenkbarkeit des Klingensatzes durch einen Zusatzkamm (gemäß Merkmal 4.4) suchen würde. Aus dem gleichen Grund stellt auch die bloße Offenbarung eines nicht näher beschriebenen Zusatzkamms in der DE ’059 keinen hinreichenden Anlass dar.
112
Unabhängig davon offenbart die US ’036 Merkmal 4.4 nicht unmittelbar und eindeutig. Jedenfalls aus der von der Verfügungsbeklagten insoweit in Bezug genommenen Figur 6 vermag die Kammer – entgegen dem Vorbringen der Verfügungsbeklagten – nicht unmittelbar und eindeutig erkennen, „dass der in der US 036 beschriebene Zusatzkamm derart ausgebildet ist, dass dieser einen schwenkbaren Scherkopf bzw. Klingensatz in einer bestimmten Ausrichtung bzw. Orientierung fixiert, insbesondere wenn dieser auf ein Haarschneidegerät mit einem schwenkbaren Scherkopf bzw. Klingensatz aufgesetzt wird“ (Antragserwiderung, S. 48). Insbesondere ist dort ein direkter Kontakt von Zusatzkamm und Klingensatz nicht ersichtlich.
113
Schließlich wurde die US ’036 vom EPA ersichtlich im Erteilungsverfahren berücksichtigt und hat die Erteilung des Anspruchs 1 wie beantragt nicht gehindert.
114
a) Auch das weitere Vorbringen der Verfügungsbeklagten ist nicht geeignet, die Überzeugung der Kammer vom Rechtsbestand des Verfügungspatents zu erschüttern. Insbesondere sind die übrigen Entgegenhaltungen vom Gegenstand des Verfügungspatents noch weiter entfernt als die obigen Entgegenhaltungen. Im Einzelnen:
115
(1) Soweit die Verfügungsbeklagte vorträgt, es fehle an der Ausführbarkeit des Anspruchs 1, weil das Verfügungspatent dem Fachmann nicht genügend Informationen gebe, um den Gegenstand des Anspruchs 1 in allen möglichen Ausführungsformen, d.h. über die gesamte Anspruchsbreite, nachzuarbeiten (vgl. Antragserwiderung, S. 29; Duplik, S. 17), verkennt die Verfügungsbeklagte, dass die Ausführbarkeit des Anspruchs 1 nicht voraussetzt, dass alle möglichen Ausführungsformen ausführbar offenbart sind. Ausführbar ist eine technische Lehre grundsätzlich bereits dann, wenn der Fachmann mithilfe seines Fachwissens in der Lage ist, den in den Erzeugnisansprüchen beschriebenen Gegenstand herzustellen und diejenigen Verfahrensschritte auszuführen, die in den Verfahrensansprüchen bezeichnet sind (BGH GRUR 2022, 1501 – Datensendeleistung; GRUR 2015, 472 Rn. 36 – Stabilisierung der Wasserqualität; GRUR 2022, 813 Rn. 69 – Übertragungsleistungssteuerungsverfahren). Hierzu ist nicht zwingend erforderlich, dass alle in der Beschreibung geschilderten Vorteile verwirklicht werden. Dass keine Ausführungsform ausführbar offenbart ist, ist weder von der Verfügungsbeklagten vorgetragen noch ersichtlich.
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(2) Die weiteren Neuheitsangriffe der Verfügungsbeklagten greifen ebenfalls nicht durch.
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(a) Der Gegenstand der Entgegenhaltung US 2013/0042487 A1 (Anlage KRT 8, nachfolgend: US ’487) steht der Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 nicht entgegen, weil die US ’487 jedenfalls nicht unmittelbar und eindeutig einen Ausrichtungsbestimmungsabschnitt offenbart, der eingerichtet ist, um in den Klingensatz einzugreifen und eine Verriegelungsausrichtung des Klingensatzes, wenn er auf das Haarschneidegerät montiert ist, zu definieren (Merkmal 4.4). Soweit die Verfügungsbeklagte insoweit auf Beschreibungsstelle [0026] der US ’487 („FIGS. 6 and 7 show the adjustment of the cutting length by varying the distance between the cutting line and the support point of the comb. The two extreme positions are shown; they allow a cutting length between about 0.5 and 6 mm. In that case, the cutting length is adapted by moving the comb. This movement is preferably motorized and the cutting mechanism is fixed and practically located on the tilting axis. This is the case where the tilting axes, the cutting line and the support point are globally superimposed.“) verweist (vgl. Antragserwiderung, S. 39/40; Duplik, S. 21/22), verkennt sie nach Überzeugung der Kammer deren Offenbarungsgehalt. Die Beschreibungsstelle betrifft nicht die Fixierung des Klingensatzes durch einen Zusatzkamm, sondern die Einstellung der Schnittlänge („the cutting length is adapted“) durch die Bewegbarkeit des Kammes („by moving the comb“) im Verhältnis zu einem fest eingestellten Schneidemechanismus („and the cutting mechanism is fixed“).
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Dies wird auch durch die Gegenüberstellung möglicher Einstellungsmechanismen in [0056] der US ’487 verdeutlicht („The distance between the support point 11 of the comb 4 and the cutting line 5 may be adapted by means of a motorized adjustment located on the handle of the beard trimmer as in the invention. This distance will determine the desired cutting length for the beard. The adjustment may easily and precisely be achieved if the user decides to trim his beard to different lengths depending on the areas. The adjustment may be achieved by adapting the position of the comb 4 and thus of the support point 11, which, in that specific case, requires mobility of the comb 4 (FIGS. 6 and 7). It may, however, also be achieved by maintaining the comb 4 stationery and by adapting the position of the cutting line 5, which then requires mobility of the cutting mechanism 9 (FIGS. 11 and 12).“).
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Aus den genannten Gründen kommt auch – entgegen der Ansicht der Verfügungsbeklagten (vgl. Duplik, S. 22) – von vornherein nicht in Betracht, dass der Fachmann die Fixierung durch das Kammelement „mitlese“.
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(b) Auch der Gegenstand der Entgegenhaltung EP 1 216 799 A2 (Anlage KRT 9, nachfolgend: EP ’799) steht der Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 nicht entgegen, weil diese Entgegenhaltung keinen verschwenkbaren Klingensatz i. S. von Merkmal 3 offenbart, sondern lediglich eine rotierbare Klingeneinheit, die ersichtlich nicht dazu vorgesehen ist, die Drehbewegung während der Benutzung des Haarscheidegeräts auszuführen.
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(3) Die Kammer ist im Übrigen auch vom Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit im Hinblick auf den Gegenstand des Anspruchs 1 überzeugt.
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(a) Soweit die Verfügungsbeklagte vorträgt, etwaige Unterschiede des Gegenstands des Anspruchs 1 zur US ’873, US ’487 und EP ’799 könnten jedenfalls keine erfinderische Tätigkeit begründen, insbesondere weil freigebbare Zusatzkämme zum Prioritätszeitpunkt hinlänglich vorbekannt gewesen seien, beispielsweise aus der bereits genannten US ’036 (vgl. Antragserwiderung, S. 46), ist dieses Vorbringen nicht geeignet, Zweifel der Kammer an der Erfindungshöhe des Anspruchs 1 zu begründen. Wie bereits zur Kombination der DE ’059 mit der US ’036 dargelegt (s.o.), ist kein hinreichender Anlass vorgetragen oder ersichtlich, warum der Fachmann gerade nach Möglichkeiten einer Einschränkung der Verschwenkbarkeit eines Klingensatzes durch einen Zusatzkamm suchen würde. Unabhängig davon beschreiben die US ’873 und die EP ’799 schon keine Verschwenkbarkeit i. S. von Merkmal 3 (s.o.).
123
(b) Auch soweit die Verfügungsbeklagte vorträgt, einer besonderen Veranlassung, die bekannten Kammaufsätze mit den ebenfalls bekannten Haarschneidegeräten zu kombinieren, habe es für den Fachmann schon deshalb nicht bedurft, weil die Dichte des Standes der Technik derart hoch sei, dass die Kombination nicht nur naheliegend sei, sondern sich geradezu aufdränge (vgl. Duplik, S. 30), vermag dies nicht zu überzeugen. Auch in Bereichen mit einer hohen Dichte des Standes der Technik sind erfinderische Schritte möglich und muss dementsprechend grundsätzlich auch patentrechtlicher Schutz möglich sein. Andernfalls wäre in diesen Bereichen ein Innovationsanreiz durch das Patentrecht gänzlich ausgeschlossen. Unabhängig davon bleibt es bei einer Einzelfallbetrachtung anhand der Maßstäbe der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur erfinderischen Tätigkeit, die nach dem Verständnis der Kammer den vorgetragenen Umstand eines dichten Stands der Technik nicht adressieren.
124
(c) Entgegen dem Vorbringen der Verfügungsbeklagten (vgl. Antragserwiderung, S. 47/49; Duplik, S. 30/32) fehlt es auch nicht an einer erfinderischen Tätigkeit im Hinblick auf eine Zusammenschau der Entgegenhaltungen EP 0 297 300 B1 (Anlage KRT 10, nachfolgend: EP ’300) und US ’036. Auch insoweit vermag die Kammer – wie im Hinblick auf die Kombination der DE ’059 mit der US ’036 (s.o.) – unter Berücksichtigung des beiderseitigen Vortrags keinen hinreichenden Anlass für den Fachmann zur Kombination dieser beiden Schriften erkennen. Schließlich wurde die US ’036 – wie bereits erwähnt (s.o.) – vom EPA im Erteilungsverfahren bereits berücksichtigt und hat die Erteilung des Anspruchs 1 nicht gehindert.
125
(d) Gleiches gilt hinsichtlich des Vortrags der Verfügungsbeklagten (vgl. Antragserwiderung, S. 49/51; Duplik, S. 32/33) zum behaupteten Fehlen der erfinderischen Tätigkeit im Hinblick auf eine Kombination der Entgegenhaltung EP ’300 bzw. DE ’509 und der EP 2055 449 A1 (Anlage KRT 12, nachfolgend: EP ’449). Zudem wurde auch die EP ’449 im Erteilungsverfahren des Verfügungspatents bereits vom EPA berücksichtigt.
126
(e) Auch eine Zusammenschau der EP 2 145 740 A1 (Anlage KRT 13, nachfolgend: EP ’740) mit der US ’873 steht – entgegen der Auffassung der Verfügungsbeklagten (vgl. Antragserwiderung, S. 52/53; Duplik, S. 33) – der Erfindungshöhe des Anspruchs 1 nicht entgegen. Ein hinreichender Anlass für den Fachmann, die beiden Entgegenhaltungen zu kombinieren, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Der Vortrag der Verfügungsbeklagten, der Fachmann hätte diese Kombination in Betracht gezogen, „da dem Fachmann zum Prioritätszeitpunkt bekannt war, dass ein schwenkbarer Klingensatz unter bestimmten Umständen, beispielsweise zum präzisen Schneiden von Haaren und/oder zum Ausrichten des Klingensatzes, um bestimmte Körperregionen zu rasieren, fixiert werden sollte, wobei dem Fachmann zum Prioritätszeitpunkt ebenfalls bekannt war, dass dieses bspw. durch einen freigebbaren Zusatzkamm realisiert werden kann“ (Antragserwiderung, S: 53), ist nicht geeignet, einen hinreichenden Anlass zu begründen. Dies gilt umso mehr, weil in Beschreibungsstelle [0011] der EP ’740 stattdessen erläutert wird, dass der Gegenstand der EP ’740 es ermöglicht, den Schneidekopf auch dann zu verstellen, wenn der Zusatzkamm auf dem Haarschneidegerät aufgesetzt ist („The invention further is concerned with a hair comb that is attachable to an electrical trimmer as proposed and which hair comb is designed to allow pivoting the pivotable trimmer head when the hair comb is attached so that a hair length of hairs to be trimmed is varied when the pivotable trimmer head is pivoted.“). Schließlich wurde auch die EP ’740 im Erteilungsverfahren des Verfügungspatents vom EPA bereits berücksichtigt (f) Schließlich ist für die Kammer nicht ersichtlich, dass die erfinderische Tätigkeit aufgrund einer Kombination der US 1 997 096 (Anlage KRT 17, nachfolgend: US ’096) zu verneinen wäre.
127
Die Verfügungsbeklagte trägt insoweit in Bezug auf Merkmal 4.4 des Anspruchs 1 des Verfügungspatents vor, die US ’096 beschreibe, dass der Klingensatz des dort beschriebenen Haarschneidegerätes durch Verwendung eines in dem freigebbaren Zusatzkamm ausgebildeten Reibungskolbens sowie einer in dem freigebbaren Zusatzkamm ausgebildeten Druckfeder entweder in einer Haarschneideausrichtung oder einer Rasierausrichtung gehalten werden könnte. Der US ’096 sei lediglich nicht eindeutig zu entnehmen, an welcher Stelle innerhalb des freigebbaren Zusatzkammes die entsprechende Druckfeder befestigt sei. Der Fachmann hätte somit zwangsläufig nach Punkten gesucht, an denen die entsprechende Druckfeder befestigt werden könne, wobei eine Möglichkeit beispielsweise die in dem Klingensatz ausgebildeten Flansche darstellten. Wähle er diese Ausgestaltung, dann greife der entsprechende Ausrichtungsbestimmungsabschnitt in den Klingensatz ein, wenn dieser an diesem befestigt sei und eine entsprechende Kraft auf diesen ausübe (vgl. Duplik, S. 35/36).
128
Ein konkreter Anlass, warum der Fachmann gerade diese Ausgestaltung der Befestigung wählen sollte, ist hierdurch weder vorgetragen noch ersichtlich. Das vorgebrachte Naheliegen ist nicht dargetan.
129
I. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
130
II. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht hinsichtlich Unterlassung und Herausgabe zur Verwahrung auf § 709 S. 1 ZPO.
131
Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit kommt vorliegend insoweit unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere auch des Fehlens einer positiven kontradiktorischen Rechtsbestandsentscheidung, nur eine vorläufige Vollstreckbarkeit gegen Sicherheitsleistung in Betracht (vgl. EuGH GRUR 2022, 811 Rn. 46 – Phoenix Contact/Harting). Insoweit ist eine einheitliche Sicherheit entsprechend der Summe der diesbezüglichen Teilstreitwerte zu bilden.
132
Dem stehen auch Gründe des effektiven Rechtsschutzes nicht entgegen. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass eine geringfügige Verzögerung der Vollstreckung durch die Anforderungen an die wirksame Erbringung der Sicherheitsleistung die effektive Rechtsdurchsetzung durch die Verfügungsklägerin erheblich beeinträchtigen würde.
133
Im Hinblick auf die Kosten folgt die vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung aus der Rechtsnatur der einstweiligen Verfügung.
134
III. Die Bestimmung des Streitwerts ergibt sich aus den Angaben der Verfügungsklägerin, denen die Verfügungsbeklagte nicht entgegengetreten ist, § 3 ZPO i. V. mit § 51 Abs. 1 GKG.