Titel:
EuGH-Vorlage: Öffentliche Wiedergabe durch Fernsehapparat in Hotelzimmer bei lizenzierter Signalweiterleitung durch hoteleigene Kabelverteilanlage?
Normenketten:
InfoSoc-RL Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Erwägungsgründe 23, 27, 32
UrhG § 15 Abs. 2, § 20, § 20b Abs. 1, § 22
Leitsätze:
1. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV zur Auslegung von Art. 3 Absatz 1 der RL 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (nachfolgend kurz: InfoSoc-Richtlinie) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
2. Ist Art. 3 Absatz 1 der InfoSoc-Richtlinie so auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Gepflogenheit entgegensteht, die als öffentliche Wiedergabe eine Bereitstellung der Einrichtungen, die eine Wiedergabe ermöglichen oder bewirken, wie der Fernsehapparate in den Gästezimmern oder dem Fitnessraums eines Hotels, dann ansieht, wenn zwar zusätzlich das Sendesignal an die Einrichtungen über eine hoteleigene Kabelverteilanlage weitergeleitet wird, diese Kabelweitersendung aber aufgrund einer vom Hotel erworbenen Lizenz rechtmäßig erfolgt?
Schlagworte:
öffentliche Wiedergabe, Fernsehapparat, Hotel, Kabelverteilanlage, Sendesignal, Empfangsgerät, Lizenz, EuGH-Vorlage, RL 2001/29/EG
Vorinstanz:
LG München I vom -- – 42 O 10057/20
Rechtsmittelinstanz:
EuGH Luxemburg vom -- – C-723/22
Fundstellen:
CR 2023, 200
LSK 2022, 36628
ZUM-RD 2023, 85
GRUR-RS 2022, 36628
GRUR 2023, 330
Tenor
I. Das Verfahren wird gemäß § 148 ZPO ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV zur Auslegung von Art. 3 Absatz 1 der RL 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (nachfolgend kurz: InfoSoc-Richtlinie) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 3 Absatz 1 der InfoSoc-Richtlinie so auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Gepflogenheit entgegensteht, die als öffentliche Wiedergabe eine Bereitstellung der Einrichtungen, die eine Wiedergabe ermöglichen oder bewirken, wie der Fernsehapparate in den Gästezimmern oder dem Fitnessraums eines Hotels, dann ansieht, wenn zwar zusätzlich das Sendesignal an die Einrichtungen über eine hoteleigene Kabelverteilanlage weitergeleitet wird, diese Kabelweitersendung aber aufgrund einer vom Hotel erworbenen Lizenz rechtmäßig erfolgt?
Entscheidungsgründe
1
Die Parteien streiten beim vorlegenden Gericht darüber, ob die Beklagte als Betreiberin eines Hotels das Recht der öffentlichen Widergabe an einer Folge der Fernsehserie „W. …“, das die Klägerin behauptet innezuhaben, dadurch verletzt hat, dass diese aufgrund der Ausstrahlung in einem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender auf von der Beklagten zur Verfügung gestellten Fernsehgeräten in einem Hotelzimmer und einem Fitnessraum zu sehen war, an die die Beklagte das Sendesignal über eine hoteleigene Kabelverteilanlage aufgrund einer erworbenen Lizenz rechtmäßig weitergeleitet hat.
2
Die Erwägungsgründe der InfoSoc-Richtlinie lauten auszugsweise wie folgt:
„(23) Mit dieser Richtlinie sollte das für die öffentliche Wiedergabe geltende Urheberrecht weiter harmonisiert werden. Dieses Recht sollte im weiten Sinne verstanden werden, nämlich dahin gehend, dass es jegliche Wiedergabe an die Öffentlichkeit umfasst, die an dem Ort, an dem die Wiedergabe ihren Ursprung nimmt, nicht anwesend ist. Dieses Recht sollte jegliche entsprechende drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Übertragung oder Weiterverbreitung eines Werks, einschließlich der Rundfunkübertragung, umfassen. Dieses Recht sollte für keine weiteren Handlungen gelten.
(27) Die bloße Bereitstellung der Einrichtungen, die eine Wiedergabe ermöglichen oder bewirken, stellt selbst keine Wiedergabe im Sinne dieser Richtlinie dar.
(32) Die Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf das Vervielfältigungsrecht und das Recht der öffentlichen Wiedergabe sind in dieser Richtlinie erschöpfend aufgeführt. Einige Ausnahmen oder Beschränkungen gelten, soweit dies angemessen erscheint, nur für das Vervielfältigungsrecht. Diese Liste trägt den unterschiedlichen Rechtstraditionen in den Mitgliedstaaten Rechnung und soll gleichzeitig die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts sichern. Die Mitgliedstaaten sollten diese Ausnahmen und Beschränkungen in kohärenter Weise anwenden; dies wird bei der zukünftigen Überprüfung der Umsetzungsvorschriften besonders berücksichtigt werden.“
3
Die InfoSoc-Richtlinie bestimmt unter anderem:
Artikel 1 Anwendungsbereich
(1) Gegenstand dieser Richtlinie ist der rechtliche Schutz des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte im Rahmen des Binnenmarkts, insbesondere in Bezug auf die Informationsgesellschaft.
Artikel 3 Recht der öffentlichen Wiedergabe von Werken und Recht der öffentlichen Zugänglichmachung sonstiger Schutzgegenstände
(1) Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern das ausschließliche Recht zusteht, die drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Wiedergabe ihrer Werke einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung der Werke in der Weise, dass sie Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich sind, zu erlauben oder zu verbieten.
4
§ 15 des deutschen Urheberrechtsgesetzes (UrhG) lautet auszugsweise:
(2) Der Urheber hat ferner das ausschließliche Recht, sein Werk in unkörperlicher Form öffentlich wiederzugeben (Recht der öffentlichen Wiedergabe). Das Recht der öffentlichen Wiedergabe umfasst insbesondere
- 1.
-
das Vortrags-, Aufführungs- und Vorführungsrecht (§ 19),
- 2.
-
das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung (§ 19a),
- 3.
-
das Senderecht (§ 20),
- 4.
-
das Recht der Wiedergabe durch Bild- oder Tonträger (§ 21),
- 5.
-
das Recht der Wiedergabe von Funksendungen und von öffentlicher Zugänglichmachung (§ 22).
Das Senderecht ist das Recht, das Werk durch Funk, wie Ton- und Fernsehrundfunk, Satellitenrundfunk, Kabelfunk oder ähnliche technische Mittel, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
6
§ 20b UrhG bestimmt unter anderem:
(1) Das Recht, ein gesendetes Werk im Rahmen eines zeitgleich, unverändert und vollständig weiterübertragenen Programms weiterzusenden (Weitersendung), kann nur durch eine Verwertungsgesellschaft geltend gemacht werden. Dies gilt nicht für
1. Rechte an einem Werk, das ausschließlich im Internet gesendet wird,
2. Rechte, die ein Sendeunternehmen in Bezug auf seine Sendungen geltend macht.
Das Recht der Wiedergabe von Funksendungen und der Wiedergabe von öffentlicher Zugänglichmachung ist das Recht, Funksendungen und auf öffentlicher Zugänglichmachung beruhende Wiedergaben des Werkes durch Bildschirm, Lautsprecher oder ähnliche technische Einrichtungen öffentlich wahrnehmbar zu machen. § 19 Abs. 3 gilt entsprechend.
2. Umstände des Ausgangsverfahrens
8
a. Die Klägerin, eine nach deutschem Recht unabhängige, auf Gewinnerzielung ausgerichtete Verwertungseinrichtung nimmt die Beklagte, die Betreiberin eines Hotels, auf Unterlassung in Anspruch, eine Folge der Fernsehserie „W. …“ im Wege einer Funksendung durch von der Beklagten aufgestellte Fernsehgeräte in Gästezimmern sowie im Fitnessbereich ihres Hotels in München öffentlich wiederzugeben, sofern das Funksignal zu den Fernsehgeräten mittels Coaxial- oder Datenkabel zugeführt wird.
9
Der Klage liegt ein Vorfall am 17.11.2019 um 6.20 Uhr zugrunde, als ein Herr K. und drei weitere Personen die von einem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ausgestrahlte Serienfolge als Gäste in ihrem Zimmer auf einem vom Hotel zur Verfügung gestellten Fernseher angesehen haben. Herr K. schaute sich die Episode zudem im Fitnessbereich des Hotels an.
10
Die Empfangsgeräte waren nicht von der Beklagten eingeschaltet worden, die Zuleitung des Fernsehsignals an die Geräte erfolgte jeweils zeitgleich und unverändert über eine hoteleigene Kabelverteilanlage. Für die Kabelweitersendung hat die Beklagte umfassend Lizenzverträge mit den deutschen Verwertungsgesellschaften abgeschlossen.
11
Die Beklagte sieht sich als berechtigt an, die im frei empfangbaren öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlten Sendungen ihren Gästen auf den Fernsehgeräten in den Zimmern und dem Fitnessbereich aufgrund der lizenzierten Kabelweitersendung zur Verfügung zu stellen.
12
Die Klägerin ist demgegenüber der Ansicht, der Beklagten falle sowohl im Hinblick auf die in den Zimmern aufgestellten Fernseher als auch das im Fitnessbereich von ihr vorgehaltene Fernsehgerät eine Urheberrechtsverletzung zur Last, weil sie aufgrund der Weiterleitung des Sendesignals über eine hoteleigene Kabelverteilanlage in das Recht der öffentlichen Wiedergabe eingreife. Dass die Beklagte mit den Verwertungsgesellschaften das Recht zur Kabelweitersendung geklärt habe, sei unerheblich.
13
b. Das vorlegende Gericht neigt dazu, die Art. 3 Absatz 1 der InfoSoc-Richtlinie umsetzenden nationalen Regelungen in § 22 UrhG und § 20b Abs. 1 UrhG in Verbindung mit § 15 Abs. 2 Nr. 3 und 5 UrhG so zu verstehen, dass in richtlinienkonformer Auslegung eine öffentliche Wiedergabe angesichts von Erwägungsgrund 27 zwar noch nicht in einem bloßen Zurverfügungstellen von Empfangsgeräten zu erblicken ist (vgl. EuGH ECLI:EU:C:2020:268 Rn. 35 - Stim und SAMI/Fleetmanager; ECLI:EU:C:2006:764 Rn. 46 - SGAE), dass in dieses Recht jedoch aufgrund der vorgelagerten Weiterleitung des Signals an die Empfangsgeräte mittels einer hoteleigenen Kabelverteilanlage eingegriffen wird (EuGH ECLI:EU:C:2006: 764 Rn. 42 - SGAE; ECLI:EU:C:2016:379 Rn. 47 und 54 - Reha Training).
14
Der Begriff „öffentliche Wiedergabe“ vereint zwei kumulative Tatbestandsmerkmale, nämlich eine „Handlung der Wiedergabe“ eines Werkes und dessen „öffentliche“ Wiedergabe (EuGH ECLI:EU:C:2017:218 - AKM; ECLI:EU:C:2018:634 - Renckhoff, E- ECLI:CLI:EU:C:2019:1111 Rn. 61 - Nederlands Uitgeversverbond). Eine zentrale Rolle kommt dem Nutzer und der Vorsätzlichkeit seines Handelns zu, wenn er in voller Kenntnis der Folgen seines Verhaltens tätig wird, um seinen Kunden Zugang zu einem geschützten Werk zu verschaffen, und zwar insbesondere dann, wenn ohne dieses Tätigwerden die Kunden das ausgestrahlte Werk nicht oder nur schwer empfangen könnten (EuGH ECLI:EU:C:2012:140 Rn. 82 - SCF; ECLI:EU:C:2012:141 Rn. 31 - Phonographic Performance Ireland; ECLI:EU:C:2017:456 Rn. 26 - Stichting Brein).
15
Eine bloße Bereitstellung von Empfangsgeräten unterscheidet sich maßgeblich von den Handlungen der Wiedergabe, mit denen Dienstleister geschützte Werke absichtlich dadurch an ihre Kunden übertragen, dass sie zusätzlich und willentlich ein Signal über Fernseh- oder Radioempfänger verbreiten, die sie in ihrer Einrichtung installiert haben (EuGH ECLI:EU:C:2020:268 Rn. 35 - Stim und SAMI/Fleetmanager; ECLI:EU:C:2016:379 - Rn. 47 u. 54 - Reha Training).
16
c. Das vorlegende Gericht sieht im zu entscheidenden Fall die Annahme einer „Handlung der Wiedergabe“ entsprechend den vorgenannten Grundsätzen allerdings dadurch infrage gestellt, dass das über das bloße Zurverfügungstellen von Empfangsgeräten hinausgehende Verhalten der Beklagten lediglich in einer Weitersendung des Fernsehsignals über die hoteleigene Kabelverteilanlage bestand, zu dem die Beklagte aufgrund der unstreitigen Lizenzierung durch die Verwertungsgesellschaften berechtigt war. Durch die Aufspaltung der öffentlichen Wiedergabe gemäß Art. 3 Abs. 1 InfoSoc-Richtlinie im nationalen Recht in das Recht nach § 20b UrhG („Weitersendung“) und das Recht nach § 22 UrhG („Wiedergabe von Funksendungen“) erscheint es zweifelhaft, ob der Schluss von einem Verhalten des Nutzers, zu dem er aufgrund einer Lizenz nach § 20b UrhG berechtigt ist, nämlich der Kabelweitersendung innerhalb des Hotels, auf seinen Vorsatz zu einer „Handlung der Wiedergabe“ insgesamt berechtigt ist, wenn sein Verhalten im Übrigen nur in dem - nicht tatbestandsmäßigen - Zurverfügungstellen von Empfangsgeräten besteht.
17
Zwar wird im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 InfoSoc-Richtlinie vertreten, dass es grundsätzlich auf die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Quelle im Rahmen der Wiedergabehandlung nicht ankommt (Wandtke/Bullinger/Leenen, UrhR, 6. Aufl., InfoSoc-RL, Art. 3, Rn. 14). Problematisch erscheint dies aber deshalb, weil im vorliegenden Fall die separate Verwertung zweier Aspekte der öffentlichen Wiedergabe nach Art. 3 Abs. 1 InfoSoc-Richtlinie vor dem Hintergrund einer Vollharmonisierung der Verwertungsrechte in der Richtlinie eintreten würde, die auch die verbindliche Obergrenze des Schutzniveaus festlegt (EuGH ECLI:EU:C:2014:76 Rn. 37, 40 - Svensson; Wandtke/Bullinger/Leenen, UrhR, 6. Aufl., InfoSoc-RL, Vorbemerkung zu Art. 1 ff., Rn. 8, 9).
18
Die Öffentlichkeit der Wiedergabe sieht das vorlegende Gericht im zu entscheidenden Fall als gegeben an, weil es sich bei den Gästen eines Hotels um recht viele Personen sowie um ein jeweils neues Publikum handelt, da Hotelgäste sowohl in den Zimmern als auch im Fitnessbereich gewöhnlich rasch aufeinanderfolgen (vgl. EuGH ECLI:EU:C:2006:764 Rn. 38, 39, 42 - SGAE; ECLI:EU:C:2012:141 Rn. 41, 42, 51 - Phonographic Performance Ireland).
19
Mit der nachfolgenden Vorlagefrage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um die Auslegung von Art. 3 Absatz 1 der InfoSoc-Richtlinie. Dies deshalb, weil es Zweifel an der Annahme einer „Handlung zur Wiedergabe“ hat, wenn der Nutzer eines geschützten Werkes das Recht zur Weitersendung per Kabel nach nationalem Recht lizenziert hat und sich sein Verhalten im Übrigen im Zurverfügungstellen von Empfangsgeräten erschöpft:
20
Ist Art. 3 Absatz 1 der InfoSoc-Richtlinie so auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Gepflogenheit entgegensteht, die als öffentliche Wiedergabe eine Bereitstellung der Einrichtungen, die eine Wiedergabe ermöglichen oder bewirken, wie der Fernsehapparate in den Gästezimmern oder dem Fitnessraums eines Hotels, dann ansieht, wenn zwar zusätzlich das Sendesignal an die Einrichtungen über eine hoteleigene Kabelverteilanlage weitergeleitet wird, diese Kabelweitersendung aber aufgrund einer vom Hotel erworbenen Lizenz rechtmäßig erfolgt?