Inhalt

LG München I, Endurteil v. 29.09.2022 – 7 O 4716/22
Titel:

Anforderungen an den hinreichend gesicherten Rechtsbestand im einstweiligen Verfügungsverfahren

Normenketten:
EPÜ Art. 64 Abs. 1 und 3
PatG § 139 Abs. 1 S. 1
ZPO § 935, § 940
Leitsätze:
1. Jedenfalls für Europäische Patente streitet ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Erteilung eine Vermutung der Gültigkeit. Für die im Rahmen des Verfügungsgrundes vorzunehmende Prüfung des hinreichend gesicherten Rechtsbestandes des Verfügungspatents bedeutet dies nach Auffassung des Landgerichts München I, dass aufgrund der Vermutung der Gültigkeit zunächst von einem gesicherten Rechtsbestand auszugehen ist und es im zweiseitigen einstweiligen Verfügungsverfahren dem Antragsgegner/Verfügungsbeklagten obliegt, diese Vermutung zu erschüttern. (Rn. 68) (redaktioneller Leitsatz)
2. Durch die Vorlage einer für den Bestand des geltend gemachten Patentanspruchs (vorläufigen) negativen Einschätzung aus dem Bestandsverfahren wird die Vermutung der Gültigkeit regelmäßig erschüttert. Dies gilt grundsätzlich auch für (vorläufige) negative Einschätzungen aus inländischen oder ausländischen Bestandverfahren betreffend Parallelschutzrechte, die dieselbe Priorität in Anspruch nehmen. (Rn. 68) (redaktioneller Leitsatz)
3. Hat der Antragsgegner/Verfügungsbeklagte erhebliche Gründe, die zur Überzeugung der Kammer eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Vernichtung des Verfügungspatents begründen, vorgetragen und gegebenenfalls glaubhaft gemacht und mithin die Vermutung der Gültigkeit erschüttert, obliegt es wiederum dem Antragsteller/Verfügungskläger darzulegen und gegebenenfalls glaubhaft zu machen, dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents trotz der hiergegen  erhobenen Angriffe hinreichend gesichert ist. Im Falle des Vorliegens (vorläufiger) negativer Einschätzungen aus in- oder ausländischen Bestandsverfahren ist vom Antragsteller/Verfügungskläger insoweit auch vorzutragen und gegebenenfalls glaubhaft zu machen, dass und warum die (vorläufige) negative Einschätzung fehlerhaft ist (Diagnose) und im weiteren Gang des Bestandsverfahren überwunden werden wird (Prognose) (Rn. 68) (redaktioneller Leitsatz)
4. Damit sich Zweifel am Rechtsbestand des  Verfügungspatents in einer Zurückweisung des Verfügungsantrags niederschlagen können, muss das Verfügungsschutzrecht in der Regel mit einem Einspruch oder einer Nichtigkeitsklage angegriffen werden oder ein solcher Angriff zumindest - soweit zwischen der Kenntnis des Verletzungsvorwurfs durch den Verfügungsbeklagten und dem Verhandlungstermin nur ein kurzer Zeitraum liegt - zweifelsfrei absehbar sein. Außerdem ist es erforderlich, dass der Antragsgegner/Verfügungsbeklagte in einer rechtzeitig eingereichten, in sich geschlossenen, verständlichen, vollständigen, zusammenhängenden und schlüssigen schriftsätzlichen Darstellung zu den Entgegenhaltungen und den daraus abgeleiteten sowie sonstigen Angriffen auf den Rechtsbestand vorträgt. (Rn. 69 – 70) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagwort:
Einstweilige Verfügung
Vorinstanz:
LG München I, Beschluss vom 11.05.2022 – 7 O 4716/22
Rechtsmittelinstanz:
OLG München vom -- – 6 U 6200/22
Fundstellen:
LSK 2022, 26511
GRUR 2022, 1808
GRUR-RS 2022, 26511

Tenor

1. Die einstweilige Verfügung vom 11.05.2022 wird bestätigt.
2. Die Verfügungsbeklagte trägt die weiteren Kosten des Rechtsstreits.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens um die Verletzung des deutschen Teils eines europäischen Patents für eine pharmazeutische Zusammensetzung zur oralen Verabreichung, die den Wirkstoff 2-Amino-2-[2-(4-Octylphenyl)-Ethyl]-Propane- 1,3-Diol (nachfolgend: Fingolimod) umfasst.
2
Die Verfügungsklägerin ist ausschließliche alleinverfügungsberechtigte Inhaberin des europäischen Patentes EP 990 B1 (Anlage FDB 10/10a, nachfolgend: Verfügungspatent), welches am 30.03.2012 unter Inanspruchnahme der Prioritäten von 01.04.2011 (US 2011…) und 11.10.2011 (US 2011…) angemeldet wurde. Die Veröffentlichung und Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung erfolgte am 27.11.2019. Das Verfügungspatent ist mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilt und steht in Kraft (Anlage FBD 1). Patentanspruch 1 des Verfügungspatents lautet im englischen Original wie folgt:
„A solid pharmaceutical composition suitable for oral administration, comprising
a) a first compound which is 2-amino-2-[2-(4-octylphenyl) ethyl]propane-1,3-diol, or a pharmaceutically acceptable salt thereof,
b) a filler, and
c) a stabilizer comprising a cyclodextrin, wherein the composition comprises 0.5 mg of the first compound.“
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Der Konzern der Verfügungsklägerin vertreibt in der Bundesrepublik Deutschland das Medikament A® mit dem Wirkstoff Fingolimod, das zur Behandlung verschiedener Patientengruppen mit schubförmigremittierender Multipler Sklerose verwendet wird. Für A® bestand bis zum Ablauf des 22. März 2022 ein regulatorischer Vermarktungsschutz nach Art. 14 Abs. 11 VO (EG) 726/2004, § 24b Abs. 1 S. 2 AMG.
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Die Verfügungsbeklagte ist eine auf den Vertrieb von Generika spezialisierte Gesellschaft des Pharmakonzerns Y. mit Sitz in Augsburg. Die Verfügungsbeklagte hat am 12. April 2021 vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte („BfArM“) die arzneimittelrechtliche Marktzulassung für das Arzneimittel „Fingolimod beta 0,5 mg Hartkapseln“ (nachfolgend: angegriffene Ausführungsform) in einer Dosierung von 0,5 mg erhalten. Die angegriffene Ausführungsform enthält 0,5 mg Fingolimod in Form von 0,56 mg Fingolimodhydrochlorid (Figolimod-HCI), 49 mg BetaCyclodextrin und 0,5 mg Magnesiumsterat.
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Am 01.04.2022 erfolgte die erstmalige Listung der angegriffenen Ausführungsform in der Lauer-Taxe, wovon die Verfügungsklägerin am 25.02.2022 Kenntnis erlangt hat.
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Auf Antrag der Verfügungsklägerin auf Erlass einer einstweiligen Verfügung mit Schriftsatz vom 22.04.2022, eingegangen bei Gericht am selben Tag, wurde der Verfügungsbeklagten eine Frist zur Stellungnahme bis zum 08.05.2022 eingeräumt. Die Verfügungsbeklagte hat innerhalb dieser Frist ergänzend zu ihrer bereits zuvor eingereichten Schutzschrift zum Verfügungsantrag Stellung genommen. Nach teilweiser Antragsrücknahme durch die Verfügungsklägerin (Auskunft, Herausgabe zur Vernichtung und Rückruf), hat das Landgericht München I im Beschlusswege am 11.05.2022 folgende einstweilige Verfügung erlassen:
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1. Der Verfügungsbeklagten wird im Wege der einstweiligen Verfügung unter Androhung ei nes Ordnungsgeldes bis zu zweihundertfünfzigtausend Euro oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten - Ordnungshaft auch für den Fall, dass das Ordnungsgeld nicht beigetrieben werden kann - wegen jeder Zuwiderhandlung untersagt,
feste pharmazeutische Zusammensetzungen, geeignet für die orale Verabreichung, umfassend
a) eine erste Verbindung, bei der [es] sich um
2-Amino-2-[2-4-octylphenyl) ethyl]propan-1,3-diol oder ein pharmazeutisch unbedenkliches Salz davon handelt,
b) einen Füllstoff, bei dem es sich auch um Cyclodextrin handeln kann, und c) einen Cyclodextrin umfassenden Stabilisator wobei die Zusammensetzung 0,5 mg der ersten Verbindung umfasst,
(EP 990 B1, Anspruch 1, unmittelbare Verletzung)
nämlich
- Fingolimod beta 0,5 mg Hartkapseln, 28 Stück (PZN 174 1)
- Fingolimod beta 0,5 mg Hartkapseln, 56 Stück (PZN 174 2)
- Fingolimod beta 0,5 mg Hartkapseln, 98 Stück (PZN 174 3)
in der Bundesrepublik Deutschland herzustellen, anzubieten, in den Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen.
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2. Von den Kosten des Verfahrens haben die Antragstellerin 1/5 und die Verfügungsbeklagte 4/5 zu tragen.
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3. Die Vollziehung dieser einstweiligen Verfügung wird von der vorherigen Leistung einer Si cherheit durch die Antragstellerin zu Gunsten der Verfügungsbeklagten in Höhe von 3.000.000,00 € abhängig gemacht.
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Diese einstweilige Verfügung wurde der Verfügungsbeklagten am 30.05.2022 von der Verfügungsklägerin im Parteibetrieb zugestellt. Die gemäß Ziffer 3 der einstweiligen Verfügung in Höhe von 3 Mio. € zu leistende Sicherheit wurde am 30.05.2022 durch Übergabe einer Bürgschaftsurkunde vom 25.05.2022 erbracht.
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Gegen die am 30.05.2022 zugestellte einstweilige Verfügung hat die Verfügungsbeklagte mit Schriftsatz vom 14.06.2022, eingegangen bei Gericht am selben Tag, Widerspruch eingelegt. Der Antrag der Verfügungsbeklagten vom 14.06.2022 auf vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus der einstweiligen Verfügung vom 11.05.2022 wurde vom Landgericht München I mit Beschluss vom 13.07.2022 zurückgewiesen.
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Die Verfügungsbeklagte hat am 08.05.2022 Nichtigkeitsklage gegen das Verfügungspatent beim Bundespatentgericht (Az. 3 Ni 13/22) eingereicht (Anlagen AG 13).
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Die Verfügungsklägerin ist der Auffassung, die Verfügungsbeklagte verletze das Verfügungspatent unmittelbar. Die angegriffene Ausführungsform mache von den Anspruch 1 des Verfügungspatents wortsinngemäß Gebrauch, denn die angegriffene Ausführungsform verwende Cyclodextrin sowohl als patentgemäßen Stabilisator also auch als Füllstoff.
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Auch ein Verfügungsgrund liege vor. Die Dringlichkeitsfrist sei im Hinblick auf die Listung der angegriffenen Ausführungsform in der Lauer-Taxe gewahrt. Das Verfügungspatent sei rechtsbeständig und von der Verfügungsbeklagten auch nicht mit Einspruch angegriffen worden. Auch die Interessenabwägung falle zugunsten der Verfügungsklägerin aus. Die nachteiligen Konsequenzen eines Vertriebs der angegriffenen Ausführungsform seien deutlich gravierender als die Folgen eines verzögerten „early entry“ durch die Verfügungsbeklagte.
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Die Verfügungsbeklagte beantragt,
unter Aufhebung der einstweiligen Verfügung des Landgerichts München I vom 11. Mai 2022, Aktenzeichen 7 O 4716/22, den auf ihren Erlass gerichteten Antrag vom 22. April 2022 zurückzuweisen.
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Die Verfügungsklägerin beantragt,
die einstweilige Verfügung vom 11.05.2022 zu bestätigen und der Verfügungsbeklagten die weiteren Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
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Die Verfügungsbeklagte ist der Auffassung, die angegriffene Ausführungsform mache von Anspruch 1 des Verfügungspatents keinen Gebrauch, da es an dem erforderlichen Stabilisator fehle. Verfügungspatentgemäß habe der Stabilisator die Aufgabe, die durch die in der Formulierung vorhandenen Hilfsstoffe verursachte Reaktion des Wirkstoffs Fingolimod in Abbauprodukte zu verhindern und somit die Lagerstabilität zu erhöhen. Insoweit unterscheide das Verfügungspatent, wie der Fachmann auch, zwischen den Eigenschaften „stabil“, also nicht degradiert, sowie „homogen“, also gleichmäßig.
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Das in der angegriffenen Ausführungsform verwendete Beta-Cyclodextrin wirke jedoch nicht stabilisierend im Sinne einer erhöhten Lagerstabilität, weil eine Stabilisierung des Wirkstoffs durch Cyclodextrin regelmäßig nur eintrete, wenn Cyclodextrin einen Inklusionskomplex bilde, was nur durch Verfahren wie Sprühtrocknung, Kneten oder Präzipitation erreicht werden könne, nicht jedoch durch eine physikalische Mischung wie bei der angegriffenen Ausführungsform. Zudem sei eine Stabilisierung des Wirkstoffs Fingolimod in der angegriffenen Ausführungsform nicht möglich, weil Fingolimod-HCI ohnehin stabil sei und auch durch den einzigen weiteren Hilfsstoff in der angegriffenen Ausführungsform nicht weiter destabilisiert werde.
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Bei dem in der angegriffenen Ausführungsform verwendeten Beta-Cyclodextrin handele es sich vielmehr lediglich um einen Füllstoff, was sich auch schon aus dem für einen Füllstoff typischen Verhältnis von Cyclodextrin zum Wirkstoff Fingolimod von 100:1 ergebe. Entsprechend sehe das Verfügungspatent für die Verwendung von Cyclodextrin als Stabilisator ein Verhältnis zum Wirkstoff von 3:1 vor.
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Unabhängig davon fehle es an einem Verfügungsgrund, denn es bestünden erhebliche Zweifel am Rechtsbestand. Anspruch 1 des Verfügungspatents sei durch die WO 2005/025553 (Anlage AG 9) nahegelegt, die eine Kombination von Fingolimod 0,5 mg mit Cyclodextrin als Stabilisator offenbare. Auch die WO 2008/037421 (Anlage AG 10) offenbare eine feste pharmazeutische Zusammensetzung von Fingolimod und Dextrin. Zudem sei zum Prioritätstag die Verabreichung von 0,5 mg Fingolimod in einer festen oralen Darreichungsform genauso bekannt gewesen, wie das Erfordernis, festen oralen Darreichungsformen Füllstoffe und Stabilisatoren zuzugeben, um den Stabilitätskriterien der Zulassungsbehörden zu genügen. Auch die Verwendung von Cyclodextrin als Stabilisator sei bekannt gewesen. Dem Fachmann sei zudem auch die Lösung des Problems des Anhaftens des Wirkstoffs an den zur Herstellung verwendeten Geräten durch die Auskleidung der verwendeten Geräte mit einem Füllstoff bekannt gewesen (AG 24).
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Auch fehle es an einem überwiegenden Interesse der Verfügungsklägerin am Erlass der begehrten einstweiligen Verfügung. Der von der Verfügungsklägerin behauptet Umsatzverlust sei nicht nachvollziehbar. Der Verfügungsbeklagten hingegen drohe eine dauerhafte Benachteiligung, da es aufgrund der umkämpften Marktsituation mehr als fraglich sei, ob sich die Verfügungsbeklagte mit ihrem Produkt jemals wieder am Markt etablieren könne. Zudem verhalte sich die Verfügungsklägerin widerrechtlich, da sie ein erhebliches Drohpotential gegenüber anderen Marktteilnehmern hervorgerufen habe, indem sie diese wegen vermeintlicher Patentverletzungen sowie wettbewerblicher Ansprüche habe abmahnen lassen.
22
Hierauf erwidert die Verfügungsklägerin, das Verfügungspatent sei nicht auf eine Stabilisierung durch die Bildung eine Komplexbildung mit dem Wirkstoff Fingolimod beschränkt. Denn wie die Verfügungsbeklagte zutreffend ausführe, beschreibe das Verfügungspatent als zu lösendes Problem auch die Bereitstellung einer gleichmäßigen Zusammensetzung. Dieses Problem werde verfügungspatentgemäß durch den Stabilisator Cyclodextrin gelöst.
23
Das Verfügungspatent sei auch rechtsbeständig. Soweit die Verfügungsbeklagte auf die NK 8 abstelle, handele es sich hierbei schon nicht um vorpublizierten Stand der Technik, denn diese datiere auf den 16.11.2020. Im Übrigen trage die Verfügungsbeklagte hinsichtlich der fehlenden erfinderischen Tätigkeit lediglich vor, dass der Fachmann der oralen Formulierung von Figolimod Cyclodextrin zugeben könne. Sie erläutere jedoch nicht, warum der Fachmann gerade Cyclodextrin als Stabilisator verwendet hätte und warum er Veranlassung oder Motivation für diesen Schritt gehabt hätte. Hierzu fehle jeder Vortrag, der jedoch erforderlich sei, weil mit A® eine etablierte Formulierung verfügbar gewesen sei, die der Fachmann nicht ohne konkrete Veranlassung geändert hätte.
24
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die zwischen den Parteivertretern gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, die Schutzschrift, das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 04.08.2022 sowie den übrigen Akteninhalt verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die einstweilige Verfügung ist auf den Widerspruch der Verfügungsbeklagten auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen; dies führt zu ihrer Bestätigung, weil das Bestehen eines Verfügungsanspruchs und eines Verfügungsgrundes glaubhaft gemacht sind.
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I. Der Verfügungsklägerin steht gegen die Verfügungsbeklage ein Verfügungsanspruch auf Unterlassung des Herstellens, Anbietens, Inverkehrbringens, Gebrauchens oder Einführens oder Besitzens zu den genannten Zwecken der angegriffenen Ausführungsform aus § 139 Abs. 1 Satz 1 PatG i.V. m. Art. 64 Abs. 1, Abs. 3 EPÜ zu. Die angegriffene Ausführungsform verwirklicht die Merkmale des geltend gemachten Anspruchs 1 des Verfügungspatents wortsinngemäß.
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1. Das Verfügungspatent betrifft eine pharmazeutische Zusammensetzung, die zur oralen Verabreichung geeignet ist und 0,5 mg Fingolimod umfasst.
28
a) Zum Stand der Technik führt das Klagepatent aus, dass Fingolimod (2-Amino-2-[2-(4- Octylphenyl)-Ethyl]-Propan-1,3-Diolhydrochlorid) als erstes orales Arzneimittel zur Verringerung der Rückfälle und zur Verzögerung des Fortschreitens der Behinderung bei Patienten mit schubförmiger Multipler Sklerose (MS) zugelassen worden sei. Zuvor seien die auf dem Markt befindlichen MS-Medikamente alle durch häufige Injektionen, entweder intravenös oder intramuskulär, je nach Medikament, einmal pro Tag bis einmal pro Woche verabreicht worden (Absatz [0002]).
29
Nach Absatz [0004] des Verfügungspatents seien pharmazeutische Zusammensetzungen enthaltend Fingolimod in freier Form oder in einer pharmazeutisch akzeptablen Salzform oder als Phosphatderivat, insbesondere in Form von oralen Formulierungen, im Stand der Technik bekannt gewesen. Beispielsweise beschreibe das EP1 613 288 eine Tablette enthaltend 1,4 mg und Kapseln enthaltend 0,56 mg, 1,0 mg oder mehr des Hydrochloridsalzes von Fingolimod. Im Stand der Technik habe es jedoch keinen Hinweis auf eine Zusammensetzung gegeben, die eine geringe Menge von Fingolimod enthalte und die die verfügungspatentgemäßen Anforderungen an eine pharmazeutische Zusammensetzung erfülle (Absatz [0004]).
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b) Das Verfügungspatent kritisiert an diesem Stand der Technik, dass immer noch Bedarf an der Bereitstellung einer verbesserten pharmazeutischen Zusammensetzung zur oralen Verabreichung enthaltend Fingolimod in freier Form, in einer pharmazeutisch akzeptablen Salzform oder als Phosphatderivat bestehe. Insbesondere gebe es Bedarf an der Bereitstellung einer pharmazeutischen Zusammensetzung, mit der eine geringe Menge der Verbindung sicher und über einen längeren Zeitraum verabreicht werden könne, d. h. eine Zusammensetzung, die stabil und homogen sei, und eine angemessene Gleichförmigkeit des Inhalts aufweise, wobei der Gehalt an Fingolimod höchstens 0,5 mg betrage (Absatz [0005]).
31
Der Erhalt einer stabilen, homogenen Zusammensetzung, die z. B. eine angemessene Gleichmäßigkeit der Inhaltsstoffe und/oder des Arzneimittelgehalts aufweist, sei besonders kritisch für eine Zusammensetzung, die eine geringe Menge des Wirkstoffs enthalte, da in einem solchen Fall selbst geringfügige Änderungen der Wirkstoffmenge, z. B. aufgrund von Abbau oder mangelnder Gleichmäßigkeit, zu einer erheblichen Auswirkung auf den Gesamtgehalt des Arzneimittels, das der Patient konsumiert, führen könnten, [0006].
32
Bei Formulierung von Fingolimod sei der Fachmann mit mehreren Schwierigkeiten konfrontiert. Denn viele pharmazeutisch akzeptable Hilfsstoffe seien nicht mit Fingolimod kompatibel, d. h., wenn sie mit Fingolimod gemischt würden, entstünden Verunreinigungen oder Abbauprodukte in einem nicht akzeptablen Ausmaß. Zudem sei Fingolimod von Natur aus statisch und neige dazu, an Metalloberflächen zu haften, insbesondere wenn es mikronisiert sei. Dies führe zu einer nicht zu vernachlässigenden Entmischung des Wirkstoffs während der Herstellung der Formulierung (Absatz [0006]).
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c) Das Verfügungspatent stellt sich daher die Aufgabe, eine stabile pharmazeutische Zusammensetzung mit einer geringen Menge Fingolimod bereitzustellen.
34
d) Zur Lösung dieses Problems schlägt das Verfügungspatent eine pharmazeutische Zusammensetzung mit einem Stabilisator umfassend Cyclodextrin mit den Merkmalen des Anspruchs 1 des Verfügungspatents vor, der sich wie folgt gliedern lässt:
35
1. Feste pharmazeutische Zusammensetzung, geeignet für die orale Verabreichung, umfassend
1.1. eine erste Verbindung, bei der [es] sich um 2-Amino-2-[2-(4-octylphenyl) ethyl]propan-1,3-diol oder ein pharmazeutisch unbedenkliches Salz davon handelt,
1.1.1 wobei die Zusammensetzung 0,5 mg der ersten Verbindung umfasst,
1.2. einen Füllstoff und
1.3. einen Cyclodextrin umfassenden Stabilisator.
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2. Diese Lehre bedarf in zwei entscheidenden Punkten näherer Erläuterung:
37
a) Die durch das Verfügungspatent unter Schutz gestellte technische Lehre ist aus der Sicht des angesprochenen Durchschnittsfachmanns, eines Formulierungswissenschaftler, aus den Merkmalen des Verfügungspatentanspruchs 1 im Einzelnen und in ihrer Gesamtheit unter Heranziehung der Beschreibung sowie der Zeichnungen zu ermitteln. Dabei ist unter Berücksichtigung von Beschreibung und Zeichnungen der technische Sinngehalt zu ergründen, der dem Wortlaut des Patentanspruchs aus fachmännischer Sicht beizumessen ist (vgl. BGHZ 189, 330 Rn. 23 - Okklusionsvorrichtung). Hierbei können der allgemeine Sprachgebrauch wie auch der allgemeine technische Sprachgebrauch Anhaltspunkte für das Verständnis des Fachmanns geben. Allerdings ist letztlich nur der sich aus der Patentschrift ergebende Begriffsinhalt maßgeblich, wobei Patentschriften im Hinblick auf die dort gebrauchten Begriffe gleichsam ihr eigenes Lexikon darstellen können und die Begriffe abweichend vom allgemeinen Sprachgebrauch benutzt werden können (vgl. BGH, GRUR 1999, 909, 912 - Spannschraube). Nur wenn und soweit sich die Lehre des Patentanspruchs mit der Beschreibung und den Zeichnungen nicht in Einklang bringen lässt und ein unauflösbarer Widerspruch verbleibt, dürfen diejenigen Bestandteile der Beschreibung, die im Patentanspruch keinen Niederschlag gefunden haben, nicht zur Bestimmung des Gegenstands des Patents herangezogen werden (BGHZ 189, 330 Rn. 23 = GRUR 2011, 701 - Okklusionsvorrichtung).
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b) Merkmal 1.2 versteht der Durchschnittsfachmann dahingehend, dass es sich bei einem Füllstoff um einen Zusatz zum Wirkstoff handelt, der dazu dient, die geringe Menge und damit das geringe Volumen eines Wirkstoffes so anzuheben, dass übliche Kapselfüllmaschinen die Kapseln problemlos und präzise füllen können, ohne dass der Füllstoff negative Wechselwirkungen auf das Wirkstoffgemisch hat.
39
Das Verfügungspatent definiert den Begriff Füllstoff nicht näher. Aus Absatz [0006] ergibt sich insoweit lediglich, dass Hilfsstoffe, bspw. Füllstoffe, keine negativen Wechselwirkungen auf den Wirkstoff haben sollen. Weiter zählt das Verfügungspatent in Absatz [0018] lediglich beispielsweise auf, dass der Füllstoff aus einem Zuckeralkohol, mikrokristalliner Cellulose (z. B. Avicel®), Methylcellulose, Hydroxypropylcellulose, Hydroxypropylmethylcellulose, Stärke (z. B. Maisstärke, Quellstärke), Dicalciumphosphat und Mischungen davon ausgewählt werden kann und sein Anteil zwischen 0,1% bis etwa 90% bezogen auf das Gesamtgewicht der Zusammensetzung betragen kann (vgl. insoweit Absatz [0019]).
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Dem Fachmann ist jedoch aufgrund seines allgemeinen Fachwissens (vgl. insgesamt Anlage AG 12/12a) bekannt, dass bei Formulierungen eines Wirkstoffes die Wirkstoffdosis häufig sehr gering (mg) ist und solche kleinen Mengen in isolierter Form sehr schwierig zu verpacken und zu handhaben sind und daher einer der grundlegenden Zwecke der Formulierung eines Wirkstoffs darin besteht, eine Zusammensetzung herzustellen, die leicht zu verarbeiten, zu verpacken und zu verabreichen ist. Insoweit ist es allgemeines Fachwissen das Fachmanns, Füllstoffe zu verwenden, wenn der Wirkstoffanteil zu gering ist, um den Hauptteil der Formulierung auszumachen, um eine problemlose und präzise Herstellung der Formulierung zu ermöglichen.
41
Soweit die Verfügungsbeklagte der Ansicht ist, das Verfügungspatent fordere, dass es sich bei dem verfügungspatentgemäßen Füllstoff nicht um Cyclodextrin handeln dürfe, findet diese Auslegung keine Stütze in der Patentschrift. Wie oben dargelegt, gibt Anspruch 1 die Ausgestaltung des Füllstoffs nicht weiter vor und auch aus der Beschreibung lässt sich nicht entnehmen, dass es sich bei dem Füllstoff nicht um Cyclodextrin handeln dürfe. Zwar ist der Verfügungsbeklagten insoweit zuzugeben, dass in der beispielsweisen Aufzählung der möglichen Füllstoffe im Verfügungspatent Cyclodextrin nicht enthalten ist, jedoch handelt es sich hierbei lediglich um eine nicht abschließende Aufzählung. Allein aus dem Fehlen von Cyclodextrin in der Aufzählung lässt sich mithin nicht ableiten, dass es sich bei dem Füllstoff nicht um Cyclodextrin handeln darf.
42
c) Merkmal 1.3 entnimmt der Fachmann, dass der verfügungspatentgemäße Stabilisator Cyclodextrin umfassen muss und die Aufgabe hat, eine Gleichmäßigkeit des Wirkstoffgehalts in der Formulierung sicherzustellen und/oder zu bewirken, dass die verfügungspatentgemäße Formulierung über einen längeren Zeitraum stabil bleibt, also der Abbauprozess des Wirkstoffs reduziert wird.
43
Dabei erläutert der Wortlaut des Merkmals 1.3 und des Anspruchs 1 des Verfügungspatents den Begriff des Stabilisators nicht näher, sondern gibt lediglich vor, dass die Zusammensetzung einen Stabilisator, der Cyclodextrin enthält, umfasst.
44
Ausgehend von dem allgemeinen fachmännischen Verständnis, nach dem ein Stabilisator eine Komponente einer Formulierung ist, die hauptsächliche die Aufgabe hat, den Wirkstoff zu stabilisieren, also den Abbau des Wirkstoffs im zeitlichen Verlauf zu reduzieren (zum fachmännischen Verständnis vgl. S. 4 des Schriftsatzes der Verfügungsbeklagten vom 26.07.2022), entnimmt der Fachmann der Beschreibung des Verfügungspatents, dass das Verfügungspatent die verfügungspatentgemäße Wirkung des Stabilisators nicht hierauf beschränkt. Denn schon nach dem Vortrag der Verfügungsbeklagten beschränkt sich - was dem Fachmann aufgrund seines allgemeinen Fachwissens bekannt ist - die Aufgabe des Stabilisators nicht allein darauf, den Abbau des Wirkstoffs zu verhindern. In diesem Wissen erkennt der Fachmann, dass das Verfügungspatent insoweit sein eigenes Lexikon darstellt (vgl. BGH, GRUR 1999, 909, 912 - Spannschraube) und verfügungspatentgemäß dem Stabilisator sowohl die Aufgabe zukommen kann, das Abbauen des Wirkstoffs in der Formulierung zu verhindern und/oder eine gleichmäßige Verteilung des Wirkstoffs zu bewirken.
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Insoweit entnimmt der Fachmann dem Absatz [0006] des Verfügungspatents, dass bei Formulierungen, die nur eine geringe Menge an Wirkstoffgehalt aufweisen, bereits eine geringfügige Änderung der Wirkstoffmenge, z. B. aufgrund von Abbau oder mangelnder Gleichmäßigkeit, zu einer erheblichen Auswirkung auf den Gesamtgehalt des Wirkstoffs, den der Patient im Laufe der Zeit zu sich nimmt, führt. Daher ist es nach dem Klagepatent besonders wichtig, eine stabile, homogene Zusammensetzung, die z. B. eine angemessene Gleichmäßigkeit der Inhaltsstoffe aufweist, zu erhalten. Weiter entnimmt der Fachmann Absatz [0006], dass die Stabilität von festen Zusammensetzungen, die Fingolimod enthalten, von der Konzentration des Wirkstoffs abhängt und die Abbauempfindlichkeit bei niedriger Konzentration steigt und viele pharmazeutisch akzeptable Hilfsstoffe nicht mit Fingolimod kompatibel sind, was dazu führt, dass Fingolimod in Gegenwart dieser Hilfsstoffe instabil ist und daher Abbauprodukte über einem akzeptablen Niveau entstehen.
46
Entgegen der Ansicht der Beklagten erläutert das Verfügungspatent im Zusammenhang mit dem verfügungspatentgemäßen Stabilisator in Absatz [0006] jedoch weiter, dass der Fachmann bei der Formulierung einer oralen Zusammensetzung, die Fingolimod enthält, aufgrund der Natur und der Eigenschaft der Verbindung mit weiteren Schwierigkeiten konfrontiert sei. Denn Fingolimod sei von Natur aus statisch und neige dazu, an Metalloberflächen zu haften, insbesondere wenn es mikronisiert sei, was zu einer nicht zu vernachlässigenden Entmischung des Wirkstoffs während der Herstellung der Formulierung und zu Problemen, insbesondere bei Dosierungen mit niedrigen Wirkstoffgehalt, führen könne.
47
Ausgehend hiervon entnimmt der Fachmann Absatz [0006], dass es durch die Verwendung eines Stabilisators, z. B. eines Cyclodextrins, möglich ist, pharmazeutische Zusammensetzungen mit einer geringen Menge von Fingolimod zur oralen Verabreichung herzustellen, die eine angemessene Gleichförmigkeit der Inhaltsstoffe aufweisen und auch über längere Zeiträume physikalisch stabil sind. Das Klagepatent führt insoweit aus:
„It has now been found that by using a stabilizer, for example a cyclodextrin, it becomes possible to prepare pharmaceutical compositions for oral administration comprising a low amount of 2-amino-2-[2-(4-octylphenyl) ethyl]propane-1,3-diol, in free form (…), which show an appropriate content uniformity and are physically stable even during extended periods of time.” Aufgrund dieser zentralen Aussage des Verfügungspatents („It has now been found that by using a stabilizer“) erkennt der Fachmann, dass abweichend von seinem allgemeinen fachmännischen Verständnis, verfügungspatentgemäß durch die Verwendung eines Stabilisators sowohl eine physikalische Stabilität über einen längeren Zeitraum, also auch die Gleichförmigkeit der Inhaltsstoffe bei der Herstellung der Formulierung erreichen werden können. Entsprechend entnimmt der Fachmann Absatz [0006] weiter, dass durch die Verwendung eines Stabilisators, der Cyclodextrin umfasst, die Wechselwirkung von Fingolimod mit den anderen Hilfsstoffen, die für die Herstellung einer festen Zusammensetzung zur oralen Verabreichung benötigt werden bzw. verwendet werden können, gering ist und zudem die Entmischung, die sonst während des Herstellungsprozesses auftritt und zu einem teilweisen Verlust der Arzneimittelsubstanz führt, reduziert wird.
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Dass der verfügungspatentgemäße Stabilisator gerade auch die gleichmäßige Verteilung des Arzneimittelgehalts in der endgültigen Zusammensetzung bewirkt und zur Lösung der aufgezeigten Schwierigkeiten auch bewirken soll, entnimmt der Fachmann, entgegen der Ansicht der Verfügungsbeklagten, ebenfalls dem Absatz [0006], in dem das Verfügungspatent ausdrücklich ausführt, dass es durch die Verwendung eines Stabilisators, insbesondere eines Cyclodextrins, bei der Formulierung möglich sei, die verschiedenen Bestandteile (Wirkstoff und Hilfsstoffe) so zu vermengen, dass eine gleichmäßige Verteilung des Arzneimittelgehalts in der endgültigen Zusammensetzung gewährleistet ist.
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Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass der Wirkstoff Fingolimod grundsätzlich stabil im Sinne des Nicht-Entstehens von Abbauprodukten ist. Hiervon geht auch das Verfügungspatent aus, wenn es in Absatz [0006] ausführt, dass Fingolimod in Gegenwart von verschiedenen Hilfsstoffen instabil werde. Daher entnimmt der Fachmann Absatz [0006] des Verfügungspatents, dass der Gesichtspunkt der Verbesserung der Lagerstabilität durch die Zugabe des Stabilisators einhaltend Cyclodextrin nur dann relevant ist, wenn zugleich ein anderer Hilfsstoff beigegeben worden ist, der ansonsten zur Instabilität des Wirkstoffs Fingolimod führen würde. Damit ist es für den Fachmann jedoch offensichtlich, dass durch die Zugabe des Stabilisators enthaltend Cyclodextrin nicht in jedem Fall eine Verbesserung der Lagerstabilität erreicht wird bzw. erreicht werden kann, so dass es verfügungspatentgemäß ausreichend ist, wenn eine der beiden vom Verfügungspatent adressierten Wirkungen eintritt. Mithin entnimmt der Fachmann dem Verfügungspatent, dass durch die Verwendung eines Stabilisators, der Cyclodextrin umfasst, sowohl das Problem gelöst ist, dass Fingolimod durch die Zugabe eines weiteren Hilfsstoffs gegebenenfalls instabil wird (aber nicht muss), als auch das Problem der Sicherstellung einer gleichmäßigen Verteilung des Wirkstoffs bei der Herstellung.
50
Entgegen der Ansicht der Beklagten unterscheidet das Verfügungspatent im Zusammenhang mit der Wirkung des verfügungspatentgemäßen Stabilisators gerade nicht zwischen einer homogenen (gleichförmigen) und einer stabilen Zusammensetzung. Vielmehr zeigt das Klagepatent auch in den von der Verfügungsbeklagten zitierten Abschnitten des Absatzes [0006] lediglich auf, dass die Erzielung einer stabilen, homogenen Zusammensetzung besonders kritisch ist. Der Verfügungsbeklagten ist insoweit zuzugeben, dass, wie oben gezeigt, das Verfügungspatent bei der Darstellung der bestehenden Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Formulierung von Fingolimod die Stabilität der Formulierung mit dem Abbau des Wirkstoffs in Verbindung setzt. Bei der Beschreibung der verfügungspatentgemäßen Erfindung („It has now been found that“), dass die Zugabe eines Stabilisators („by using a stabilizer“) dazu führt, dass beide zuvor beschriebenen Schwierigkeiten (Stabilität und Gleichförmigkeit/Homogenität bei der Herstellung) gerade durch die Zugabe des Stabilisators, der Cyclodextrin enthält, gelöst wird, nimmt das Verfügungspatent hingegen gerade keine Unterscheidung zwischen „stabil“ und „homogen“ vor, sondern erläutert, dass durch die Verwendung des Stabilisators beide Ziele, die Gleichförmigkeit und die Stabilität, erreicht werden.
51
Der Verfügungsbeklagten kann auch insoweit nicht gefolgt werden als sie meint, die Beschreibung in Absatz [0006] dürfe nicht zur Bestimmung des Gegenstands des Patents herangezogen werden, weil sie mit der Lehre des Verfügungspatentanspruchs nicht in Einklang zu bringen sei und ein unauflösbarer Widerspruch verbleibe, denn Anspruch 1 des Verfügungspatents enthält gerade keine Vorgaben zur patentgemäßen Funktion des Stabilisators. Insoweit kann sich die Beschreibung in Absatz [0006] hierzu auch nicht in Widerspruch setzten.
52
Auch aus der Tatsache, dass das Verfügungspatent in den Tabellen 3 und 4 Vergleichsbeispiele, bei denen der Abbau von Fingolimod mit und ohne Cyclodextrin verglichen wird, offenbart, führt nicht dazu, dass der Fachmann dem Verfügungspatent entnimmt, dass der verfügungsgemäße Stabilisator allein dazu dient, den Abbau des Wirkstoffs zu reduzieren. Denn diesem Verständnis stehen sowohl die Ausführungen des Absatzes [0006] als auch des Absatzes [0058] entgegen. Denn in Absatz [0058] führt das Verfügungspatent aus, dass durch die in Tabelle 2 dargestellten Ergebnisse zur Gleichförmigkeit der Mischung gezeigt werde, dass es nach dem Mischen kein Entmischungsproblem gegeben habe. Insoweit offenbart das Verfügungspatent, worauf die Verfügungsbeklagte zutreffend hinweist, zwar keine Vergleichsdaten ohne die Verwendung von Cyclodextrin. Dies ist nach den Ausführungen des Klagepatents aber auch nicht erforderlich, da bereits anhand der verwendeten Daten erkannt wurde, dass das zuvor beschriebene Problem der Entmischung bei der Verwendung von Cyclodextrin nicht mehr besteht.
53
Soweit die Verfügungsbeklagte im Rahmen der Verletzungsdiskussion der Ansicht ist, eine Erhöhung der Stabilität der verfügungspatentgemäßen Formulierung sei nur durch die Bildung von Inklusionskomplexen möglich, verkennt sie, dass das Verfügungspatent weder im Anspruch noch in der Beschreibung die Bildung von Inklusionskomplexen fordert. Vielmehr kann die Formulierung verfügungspatentgemäß auch durch Trockenmischung erfolgen (vgl. [0048]).
54
Soweit die Verfügungsbeklagte in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, es sei Aufgabe des Füllstoffs, eine gleichförmige Verteilung des Wirkstoffs (Homogenität) herbeizuführen, finden sich hierfür in der Verfügungspatentschrift keine Anhaltspunkte. Solche konnten von der Verfügungsbeklagte auch auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung nicht aufzeigt werden.
55
3. Die angegriffenen Ausführungsform macht vom Gegenstand des Anspruchs 1 des Verfügungspatents wortsinngemäß Gebrauch.
56
a) Angegriffene Ausführungsform ist das Arzneimittel „Fingolimod beta 0,5 mg Hartkapseln“.
57
b) Die Parteien streiten um die Verwirklichung der Merkmale 1.2 und 1.3 durch die angegriffene Ausführungsform. Gegen die Benutzung der übrigen Merkmale wendet sich die Verfügungsbeklagte zu Recht nicht. Denn diese werden von den angegriffenen Ausführungsformen verwirklicht.
58
aa) Die angegriffene Ausführungsform macht auch von Merkmal 1.2 Gebrauch. Die angegriffene Ausführungsform hat ein Gesamtgewicht von 50 mg und enthält 48,94 mg Beta-Cyclodextrin, mithin handelt es sich um einen verfügungspatentgemäßen Füllstoff, da das verwendete BetaCyclodxtrin unstreitig dazu verwendet wird, das geringe Volumen des Wirkstoffes anzuheben, damit übliche Kapselfüllmaschinen die Kapseln problemlos und präzise füllen können. Unstreitig ruft Beta-Cyclodextrin zudem keine negativen Wechselwirkungen mit dem Wirkstoff Fingolimod hervor. Wie oben dargelegt, gibt eines keine patentgemäße Vorgabe, dass der Füllstoff nicht Cyclodextrin sein darf.
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bb) Die angegriffene Ausführungsform macht auch von Merkmal 1.3 Gebrauch, denn unstreitig gewährleistet die Verwendung von Cyclodextrin bei der Herstellung der angegriffenen Ausführungsform eine gleichmäßige Verteilung des Wirkstoffgehalts in der endgültigen Zusammensetzung und wirkt damit verfügungspatentgemäß als Stabilisator im Sinne von Merkmal 1.3.
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4. Im Hinblick auf das Anbieten der angegriffenen Ausführungsform durch das Listen in der Lauer-Taxe besteht Wiederholungsgefahr. Im Übrigen wird die Wiederholungsgefahr durch die rechtswidrige Benutzungshandlung des Anbietens indiziert.
61
II. Ein Verfügungsgrund im Sinne von §§ 935, 940 ZPO liegt vor. Die zeitige Durchsetzung des Verfügungsanspruchs ist erforderlich, weil ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis der klagenden Partei an der Erlangung eines Vollstreckungstitels im summarischen Verfahren der einstweiligen Verfügung besteht.
62
Der Erlass einer einstweiligen Verfügung setzt gem. §§ 935, 940 ZPO eine objektiv begründete Gefahr voraus, dass die Rechtsverwirklichung des Verfügungsklägers mittels eines erst im Hauptsacheprozess erlangten Urteils vereitelt oder erschwert werden könnte. Dies verlangt zum einen eine für die Eilmaßnahme sprechende rein zeitliche Dringlichkeit und daneben eine Abwägung der widerstreitenden Interessen zwischen den dem Schutzrechtsinhaber ohne den Erlass der beantragten Verfügung drohenden Nachteilen, welche gegen die Interessen des als Verletzer in Anspruch genommenen Verfügungsbeklagten abgewogen werden müssen. Das Vorliegen eines Verfügungsgrundes ist seitens der Verfügungskläger darzulegen und glaubhaft zu machen (§§ 936, 920 II ZPO) (OLG München Endurteil v. 22.4.2021 - 6 U 6968/20, GRUR-RS 2021, 12272).
63
1. Die für den Erlass einer einstweiligen Verfügung notwendige Dringlichkeit liegt vor. Die im Bezirk des OLG München geltende 1-Monatsfrist wurde eingehalten. Die Verfügungsklägerin hat unstreitig erst am 25.03.2022 von der Listung der angegriffenen Ausführungsform Kenntnis erlangt. Der Verfügungsantrag datiert vom 22.04.2022.
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2. Die bei der Prüfung des Verfügungsgrundes vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu Gunsten der Verfügungsklägerin aus.
65
a) Das Erfordernis des Verfügungsgrundes umfasst in Patentstreitigkeiten auch die Frage des Rechtsbestandes des Verfügungspatents. Dieser ist vorliegend hinreichend gesichert.
66
aa) Nach der bisherigen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte Düsseldorf, Karlsruhe und München ist im Rahmen des Verfügungsgrundes darzulegen und glaubhaft zu machen, dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents jedenfalls hinreichend gesichert ist, wobei den Verfügungskläger insoweit die Darlegungs- und Glaubhaftmachungslast dafür trifft, dass die vom Verfügungsbeklagten gegen das Verfügungspatent vorgebrachten Einwendungen unberechtigt sind (vgl. statt aller OLG Düsseldorf, InstGE 12, 114 = BeckRS 2010, 15862 - Harnkatheterset).
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Dabei kann nach der bisherigen Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Düsseldorf, der sich das Oberlandesgericht München im Jahr 2020 teilweise angeschlossen hat (wegen der bis dahin geltenden hiervon abweichenden ständigen Rechtsprechung vgl. OLG München GRUR-RS 2017, 118983 - Pemetrexed, Rn. 88 und 100), grundsätzlich nur dann von einem hinreichend gesicherten Rechtsbestand ausgegangen werden, wenn das Verfügungspatent bereits ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat (OLG München, GRUR 2020, 385 - Elektrische Anschlussklemme; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2008, 329 = InstGE 9, 140 [146] - Olanzapin; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2013, 236 - Flupirtin-Maleat; OLG Düsseldorf, InstGE 12, 114 BeckRS 2010, 15862 - Harnkatheterset). Von dem Erfordernis einer dem Verfügungskläger günstigen streitigen Rechtsbestandsentscheidung kann danach nur in Ausnahmefällen abgesehen werden, z. B. wenn beispielsweise ein Rechtsbestandsverfahren deshalb nicht durchgeführt worden ist, weil das Verfügungspatent allgemein als schutzfähig anerkannt wird (was sich in dem Vorhandensein namhafter Lizenznehmer oder dergleichen widerspiegelt), die gegen den Rechtsbestand vorgebrachten Einwendungen sich schon bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung als haltlos erweisen, oder außergewöhnliche Umstände gegeben sind, die es für den Verfügungskläger wegen der ihm aus einer Fortsetzung der Verletzungshandlungen drohenden Nachteile unzumutbar machen, den Ausgang eines Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens abzuwarten (OLG Düsseldorf, InstGE 12, 114 = BeckRS 2010, 15862 - Harnkatheterset). Außergewöhnliche Umstände seien dabei bei Verletzungshandlungen von Generikaunternehmen regelmäßig anzunehmen (OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2013, 236 - Flupirtin-Maleat).
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bb) Auch wenn es vorliegend hierauf im Ergebnis nicht ankommt, da, wie dargelegt, auch nach der bisherigen Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Düsseldorf, der sich das Oberlandesgericht München im Jahr 2020 teilweise angeschlossen hat, bei Verfügungsanträgen wegen Patentverletzungen durch Generikaunternehmen regelmäßig das Erfordernis des Vorliegens einer für den Verfügungskläger günstigen streitigen Rechtsbestandsentscheidung entfällt, geht die Kammer (jedenfalls) für europäische Patente mit dem Unionsgesichtshof (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Januar 2020 - C-307/18, Rn. 48 = BeckRS 2020, 490 - Paroxetin; zitiert im Urteil vom 28. April 2022 - C-44/21 -, Rn. 41 = GRUR 2022, 811 - Phoenix Contact/Harting) davon aus, dass für Europäische Patente ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Erteilung eine Vermutung der Gültigkeit streitet. Für die im Rahmen des Verfügungsgrundes vorzunehmende Prüfung des hinreichenden gesicherten Rechtsbestandes des Verfügungspatents bedeutet dies nach Ansicht der Kammer, dass (nunmehr) aufgrund der Vermutung der Gültigkeit zunächst von einem gesicherten Rechtsbestand auszugehen ist und es im zweiseitigen einstweiligen Verfügungsverfahren dem Antragsgegner/Verfügungsbeklagten obliegt, diese Vermutung zu erschüttern. Durch die Vorlage einer für den Bestand des geltend gemachten Patentanspruchs (vorläufigen) negativen Einschätzung aus dem Bestandsverfahren wird die Vermutung der Gültigkeit regelmäßig erschüttert. Dies gilt grundsätzlich auch für (vorläufige) negative Einschätzungen aus inländischen oder ausländischen Bestandverfahren betreffend Parallelschutzrechte, die dieselbe Priorität in Anspruch nehmen (vgl. LG München I BeckRS 2017, 141696 Rn. 16). Hat der Antragsgegner/Verfügungsbeklagte erhebliche Gründe, die zur Überzeugung der Kammer eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Vernichtung des Verfügungspatents begründen, vorgetragen und gegebenenfalls glaubhaft gemacht und mithin die Vermutung der Gültigkeit erschüttert, obliegt es wiederum dem Antragsteller/Verfügungskläger darzulegen und gegebenenfalls glaubhaft zu machen, dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents trotz der gegen den Rechtsbestand erhobenen Angriffe hinreichend gesichert ist. Im Falle des Vorliegens (vorläufiger) negativer Einschätzungen aus inoder ausländischen Bestandsverfahren ist vom Antragsteller/Verfügungskläger insoweit auch vorzutragen und gegebenenfalls glaubhaft zu machen (vgl. LG München I GRUR-RS 2015, 07460; BeckRS 2017, 126085; BeckRS 2017, 141696; BeckRS 2019, 2009; BeckRS 2019, 6225; BeckRS 2019, 18565), dass und warum die (vorläufige) negative Einschätzung fehlerhaft ist (Diagnose) und im weiteren Gang des Bestandsverfahren überwunden werden wird (Prognose). Die dazu notwendige Argumentation ist schriftsätzlich so aufzubereiten, dass die Kammer in die Lage versetzt wird, diese Beurteilung ohne Beweisaufnahme, also mit „Bordmitteln“, sicher treffen zu können. Ist eine sichere Beurteilung der Ausführungen zur Diagnose und Prognose nicht möglich, wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung regelmäßig zurückzuweisen sein.
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cc) Damit Zweifel am Rechtsbestand des Verfügungspatents sich in einer Zurückweisung des Verfügungsantrags niederschlagen können, muss das Verfügungsschutzrecht allerdings mit einem Einspruch oder einer Nichtigkeitsklage angegriffen werden, weil nur diese das Patent tatsächlich zu Fall bringen können (OLG Düsseldorf, InstGE 7, 147 - Kleinleistungsschalter). Daher ist es regelmäßig nicht ausreichend, im einstweiligen Verfügungsverfahren lediglich Einspruchsoder Nichtigkeitsgründe aufzuzeigen, die zu einer Vernichtung des Verfügungspatents führen könnten, solange nicht spätestens bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung im Verfügungsverfahren tatsächlich beim Deutschen Patent- und Markenamt, beim Europäischen Patentamt, beim Bundespatentgericht und zukünftig beim Einheitlichen Patentgericht ein Verfahren eröffnet wurde, in dem aufgrund dieses Vorbringens ein Widerruf bzw. die Nichtigerklärung des Patents verfügt werden kann. Liegt zwischen der Kenntnis des Verfügungsbeklagten vom Verletzungsvorwurf und dem Verhandlungstermin ein nur kurzer Zeitraum, innerhalb dessen dem Verfügungsbeklagten nicht zugemutet werden kann, das Verfügungspatent mit einem förmlichen Rechtsbehelf anzugreifen, muss zumindest zweifelsfrei absehbar sein, dass der Rechtsbestand des Verfügungsschutzrechts zu gegebener Zeit angegriffen werden wird (OLG Düsseldorf, Urteil vom 29. April 2010 - I-2 U 126/09 - Harnkatheterset).
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Zudem ist es erforderlich, dass der Antragsgegner/Verfügungsbeklagte in einer rechtzeitig eingereichte, in sich geschlossenen, verständlichen, vollständigen, zusammenhängenden und schlüssigen schriftsätzlichen Darstellung zu den Entgegenhaltungen und den daraus abgeleiteten sowie sonstigen Angriffen auf den Rechtsbestand vorträgt. Hierbei ist ein alleiniger Verweis auf Anlagen, insbesondere die Einspruchsschrift oder die Nichtigkeitsklage und Anlagen hierzu, in der Regel nicht ausreichend. Denn allgemein reicht eine Bezugnahme auf Anlagen allenfalls dann aus, wenn diese Anlagen selbst den Anforderungen an schriftsätzliches Vorbringen im Zivilprozess genügen. Dies ist jedoch bei einem an das DPMA, das EPA oder das BPatG gerichteten Schriftsatz oftmals gerade nicht der Fall, weil sich die Parteien in einer Vielzahl von Fällen darauf verlassen, dass die dort statuierten Spruchkörper mit technisch sachverständigen Personen besetzt sind, die den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln, und denen eventuell im Einzelfall sogar Stand der Technik bereits geläufig ist, ohne dass es hierzu näherer Erläuterungen bedarf. Hingegen sind im Patentverletzungsprozess, wie in jedem Zivilprozess, aufgrund des Vortragsgrundsatzes die tatsächlichen Umstände schriftsätzlich vorzutragen, aus welchen sich die begehrte Rechtsfolge ergibt. Zu den tatsächlichen Umständen zählen auch Ausführungen zum technologischen Hintergrund, zum Fachmann und zu dessen fachmännischem Verständnis im Allgemeine und bezogen auf die Offenbarung einzelner Entgegenhaltungen. Eine Amtsermittlung findet nicht statt. Grundlage der Überprüfung des Rechtsbestandes ist daher allein der - gegebenenfalls mündlich ergänzte - rechtzeitige schriftsätzliche Vortrag (ständige Rechtsprechung der Kammer, z.B. LG München I, Schlussurteil vom 24.07.2014 - Aktenzeichen 7 0 24814/13, BeckRS 2014, 16686; LG München I, LG München I, Urteil vom 20. Dezember 2018 - 7 O 10496/17 -, juris), wenn und soweit dieser die Argumentation im Bestandverfahren erläutert.
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dd) Danach ist der Rechtsbestand des Verfügungspatents vorliegend als hinreichend gesichert anzusehen. Die schriftsätzlich bzw. in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Angriffe gegen den Rechtsbestand des Verfügungspatents rechtfertigen es nicht, einen Verfügungsgrund zu verneinen. Insbesondere rechtfertigt es der Vortrag der Verfügungsbeklagten zur angeblich fehlenden erfinderischen Tätigkeit ausgehend von der NK 8 nicht, einen Verfügungsgrund zu verneinen.
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(1) Bei der NK 8 handelt es sich um die Zusammenfassung der Produkteigenschaften („Summary of Product Characteristics“) des Marktproduktes A®. Dieses wurde unstreitig am 17.03.2011 und damit vor dem vom Verfügungspatent in Anspruch genommenen Prioritätstag vom 01.04.2011 zugelassen. Soweit die Verfügungsklägerin insoweit vorträgt, dass die Anlage NK 8 lediglich die Erkenntnisses vom 16.11.2020 widerspiegele, mag dies zwar zutreffend sein, jedoch hat sie den Vortrag der Verfügungsbeklagten, dass das Arzneimittel A® am 17.03.2011 zugelassen worden sei, nicht bestritten und auch nicht vorgetragen, dass sich die Formulierung zwischen 2011 und 2022 geändert habe. Mithin handelt es sich bei den Produkteigenschaften des Marktprodukt A® um vorbekannten Stand der Technik.
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Zwar offenbart die Entgegenhaltung NK 8 eine feste orale Darreichungsform, nämlich eine Kapselformulierung mit 0,5 mg Fingolimod, Mannitol und Magnesiumstearat, jedoch nicht eine Formulierung umfassend 0,5 mg Fingolimid und einen Stabilisator, der Cyclodextrin umfasst. Insoweit trägt die Verfügungsbeklagte vor, dass die Verwendung von Cyclodextrin als Hilfsstoff, insbesondere auch als Stabilisator, zur Verbesserung der physikalischen und chemischen Stabilität, bekannt gewesen sei. Daher sei es naheliegend gewesen, Cyclodextrin der aus der NK 8 bekannten Formulierung hinzuzugeben und darin als Stabilisator zu verwenden.
74
Dieser Vortrag ist jedoch nicht ausreichend, um eine fehlende erfinderische Tätigkeit zur Überzeugung der Kammer darzutun.
75
Denn die Verfügungsbeklagte unterlässt es bereits zu begründen, warum der Fachmann das Arzneimittel A® als Ausgangspunkt seiner Überlegungen ausgewählt hätte. Hierzu hätte es jedoch sowohl im vorliegenden Verfahren als auch im Nichtigkeitsverfahren Vortrag bedurft, denn nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bedarf die Wahl eines Ausgangspunkts einer besonderen Rechtfertigung. Diese Rechtfertigung kann zwar die in der Regel aus dem Bemühen des Fachmanns abzuleiten sein, für einen bestimmten Zweck eine bessere - oder auch nur eine andere - Lösung zu finden, als sie der Stand der Technik zur Verfügung stellt (BGH, Urteil vom 18. 6. 2009 - Xa ZR 138/05 - Fischbissanzeiger), aber auch dieser Vortrag muss, sollte diese Fallgruppe gegeben sein, gehalten werden.
76
Darüber hinaus hat es die Verfügungsbeklagte auch unterlassen, substantiiert vorzutragen, welche Anstöße, Anregungen, Hinweise oder sonstige Anlässe es für den Fachmann gegeben hat, die Lösung des technischen Problems gerade auf dem Weg der Erfindung zu suchen. Dieser Vortrag ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs jedoch regelmäßig - außer in Fällen, in denen es für den Fachmann auf der Hand liegt, was zu tun ist - erforderlich.
77
Die Verfügungsbeklagte ist der Ansicht, es bedürfe keines weiteren Vortrags zur Veranlassung des Fachmanns, die bekannte feste orale Darreichungsform mit 0,5 mg Fingolimod um einen Stabilisator zu ergänzen, der Cyclodextrin enthält. Dem vermag sich die Kammer nicht anzuschließen. Insoweit verkennt die Verfügungsbeklagte, dass dem Fachmann gerade bekannt war, dass die bereits existierende feste orale Darreichungsform mit 0,5 mg Fingolimod auch ohne Cyclodextrin stabil war, und es daher keines zusätzlichen Stabilisators bedurfte. Daher ist nicht ersichtlich, dass es für den Fachmann in dieser Situation auf der Hand lag, eine bereits stabile Formulierung um einen Stabilisator enthaltend Cyclodextrin zu ergänzen.
78
Soweit die Beklagte mit Schriftsatz vom 08.05.2022 (dort S. 24 Rn. 75) vorträgt, der Fachmann habe ausgehend von der NK 13 (Cylclodextrins in Drug Delivery: an Updated Review (Challa et al. 2005)) Veranlassung gehabt, neben der bereits bekannten festen oralen Darreichungsform für den Wirkstoff Fingolimod eine weitere feste orale Zusammensetzung für den Wirkstoff Fingolimod zu suchen, da in der Anlage NK 13 bereits auf die Möglichkeit einer Kombination von Fingolimod mit Cyclodextrin als Stabilisator in einer festen oralen Darreichungsform hingewiesen worden sei, unterlässt es die Verfügungsbeklagte, konkret zum Inhalt der NK 13, einen 28 Seiten umfassenden wissenschaftlichen Aufsatz in englischer Sprache, vorzutragen und insoweit konkret anzugeben, an welcher Stelle der Entgegenhaltung NK 13 sich die behauptete Anregung befinden soll, sowie eine Übersetzung dieser Stelle vorzulegen. Im Hinblick auf das Erfordernis eines schlüssigen in sich geschlossenen schriftsätzlichen Vortrags ist dies nicht ausreichend.
79
Soweit die Beklagte in der mündlichen Verhandlung und mit nicht nachgelassenem Schriftsatz vom 04.08.2022, also nach Schluss der mündlichen Verhandlung, vorträgt, der Fachmann habe bei der Suche nach einer weiteren festen oralen Darreichungsform aufgrund der WO 2005/025553 (NK 14) Veranlassung gehabt, einen Füllstoff und Cyclodextrin als Stabilisator zu berücksichtigen, hat die Verfügungsbeklagte diesen Vortrag schriftsätzlich vor der mündlichen Verhandlung nicht gehalten. Vielmehr war dieser Vortrag lediglich Gegenstand der als Anlage AG 13 vorgelegten Nichtigkeitsklage, was, wie ausgeführt, regelmäßig und auch hier nicht ausreichend ist. Unabhängig davon verhilft dieser Vortrag der Verfügungsbeklagten nicht zum Erfolg, denn die Entgegenhaltung NK 14 gibt dem Fachmann gerade keine Veranlassung, Cyclodextrin zur Erhöhung der Lagerstabilität in festen Formulierungen zu verwenden, denn in der Entgegenhaltung NK 14 wird Cyclodextrin lediglich im Zusammenhang mit flüssigen Formulierungen offenbart. Darüber hinaus handelt es sich bei der NK 14 um eine Entgegenhaltung aus dem Jahr 2005. In Kenntnis der Tatsache, dass das zugelassene Arzneimittel A® auch ohne Cyclodextrin hinreichend stabil ist, hätte der Fachmann, wie die Verfügungsklägerin unbestritten vorgetragen hat, den Vorschlag, den Stabilisator Cyclodextrin zusammen mit dem Wirkstoff Fingolimod zu verwenden, verworfen.
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Auch im Hinblick darauf, dass bei der Erteilung des Verfügungspatents ausweislich [0004] zum einen eine feste orale Formulierung mit 0,5 mg Fingolimod (Kapseln, enthaltend 0,56 mg Hydrochloridsalz von Fingolimod) und zum anderen auch die Lehre der NK14 bekannt waren, und mithin beide Entgegenhaltung von der Erteilungsbehörde bereits berücksichtigt worden waren, gebieten diese Argumente der Verfügungsbeklagten es nicht, das Vorliegen eines Verfügungsgrunds zu verneinen.
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(2) Soweit sich die Verfügungsbeklagte darüber hinaus auch auf die NK 14 als alternativen nächstliegenden Stand der Technik als Ausgangspunkt beruft, fehlt es wiederum an einer schriftsätzlichen Darlegung, warum der Fachmann diese Entgegenhaltung als Ausgangspunkts seiner Überlegung ausgewählt hätte. Darüber hinaus wurde die Entgegenhaltung NK 14 im Erteilungsverfahren berücksichtigt und ein Naheliegen mit der Begründung verneint, dass die Entgegenhaltung NK 14 die Verwendung von Cyclodextrin in festen Formulierungen zur Erhöhung der Lagerstabilität nicht nahelege.
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(3) Soweit die Verfügungsbeklagte in der von ihr unter dem 14.03.2022 eingereichten Schutzschrift die Rechtsbeständigkeit des Verfügungspatents mit dem Argument der fehlenden Ausführbarkeit und der fehlenden erfinderischen Tätigkeit im Hinblick auf die AG10 (WO 2008/037421) angegriffen hat, können diese Angriffe auf den Rechtsbestand bereits deshalb nicht zu einer Zurückweisung des Verfügungsantrags führen, weil sich dieses Vorbringen weder in der als Anlage AG 13 vorgelegten Nichtigkeitsklage der Verfügungsklägerin findet, noch im vorliegenden Verfügungsverfahren erklärt wurde, warum diese Vorbringen noch nicht in das Nichtigkeitsverfahren eingeführt worden ist und dass dies alsbald nachgeholt werden wird. Gleiches gilt für die mit Schriftsatz vom 26.07.2022 vorgelegten Entgegenhaltungen AG24 (Auszug aus James Swarbrick, Encyclopedia of Pharmaceutical Technology, 2007) und AG25 (A® von der FDA genehmigte Packungsbeilage vom 21. September 2010). Auch diese sind derzeit nicht Gegenstand des Nichtigkeitsverfahrens und die Verfügungsbeklagte hat auch nicht dargetan, dass diese alsbald in das Nichtigkeitsverfahren eingeführt werden.
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b) Auch im Übrigen fällt die Interessenabwägung zu Gunsten der Verfügungsklägerin aus, da es ihr nicht zuzumuten ist, den Markteintritt der Verfügungsbeklagten mit einem Generikum hinzunehmen und jedenfalls für einen Zwischenzeitraum auf die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen verwiesen zu werden. Denn die Verfügungsklägerin hat dargelegt und glaubhaft gemacht, dass ihr durch die Verletzungshandlungen des verfügungsbeklagten Generikaunternehmens aufgrund der sozialrechtlichen Festsetzung von Festpreisen ein nicht revidierbarer Preisverfall drohe.
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Der Verfügungsbeklagten hingegen droht lediglich ein geringer Schaden. Denn schon nach Vortrag der Verfügungsbeklagten dürfte es unproblematisch möglich sein, das verwendete BetaCyclodextrin durch einen anderen „Füllstoff“ zu ersetzten. Insoweit hat die Verfügungsbeklagte im Rahmen der Diskussion um die Frage der Patentbenutzung vorgetragen, dass es nicht erforderlich sei, den Wirkstoff Fingolimod zu stabilisieren, und dass das in der angegriffenen Ausführungsform verwendete Beta-Cyclodextrin nur ein Füllstoff sei, der, wie es auch anderen Generikaherstellern machten, durch einen anderen Füllstoff ersetzt werden könne. Unabhängig davon kann der mögliche Schaden der mit geringerem unternehmerischem Risiko tätigen Verfügungsbeklagten eher durch Ersatzleistungen ausgeglichen werden. Deswegen hat die Kammer auch eine Sicherheitsleistung als Voraussetzung für die Vollziehung der einstweiligen Verfügung angeordnet, deren Höhe sich mangels näherer Angaben der Verfügungsbeklagten an dem von der Antragstellerin angegebenen Streitwert orientiert.
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III. Die erlassene einstweilige Verfügung ist auch nicht nach §§ 929, 927 ZPO aufzuheben. Die der Verfügungsklägerin am 18.05.2022 von Amts wegen zugestellte einstweilige Verfügung wurde am 30.05.2022, und damit innerhalb eines Monats, im Parteibetrieb zugestellt und damit rechtzeitig vollzogen. Die angeordnete Sicherheitsleistung war zu diesem Zeitpunkt unstreitig erbracht.
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IV. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 ZPO.