Titel:
Unlautere gesundheitsbezogene Angaben im Zusammenhang mit dem Vertrieb eines Nahrungsergänzungsmittels
Normenketten:
UWG § 3a
VO (EU) Nr. 1924/2006 Art. 2 Abs. 1 lit. a, Art. 10 Abs. 1, Art. 13 Abs. 3
Leitsätze:
1. Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1924/2006 stellt eine Marktverhaltensregelung im Sinne von § 3 a UWG dar. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Nahrungsergänzungsmittel ist ein Lebensmittel im Sinne von Art. 2 Abs. 1 lit. a VO (EU) Nr. 1924/2006. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Werbeaussage "Aktivieren Sie jetzt Ihre Abwehrkräfte" stellt eine unzulässige gesundheitsbezogene Angabe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1924/2006 dar, weil ein unmittelbarer Wirkungszusammenhang zwischen dem beworbenen Nahrungsergänzungsmittel und den hierin enthaltenen Produktbestandteilen einerseits und dem Immunsystem als Funktion des menschlichen Organismus andererseits hergestellt wird. (Rn. 30 – 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagwort:
Gesundheitsbezogene Angaben
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Urteil vom 21.12.2023 – 29 U 4088/22
Fundstellen:
WRP 2022, 1314
LSK 2022, 17336
GRUR-RS 2022, 17336
Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, es bei Meidung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 EUR - ersatzweise Ordnungshaft - oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Wiederholungsfalle Ordnungshaft bis zu insgesamt 2 Jahren, wobei die Ordnungshaft an ihrem jeweiligen Geschäftsführer zu vollziehen ist. zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr für das Produkt „V… Pro Immun“ mit den folgenden Angaben zu werben:
a) „V… Pro Immun - Aktivieren Sie jetzt Ihre Abwehrkrane!“
„… aktivieren Sie Ihre Abwehrkräfte mit V… Pro Immun.“
b) „… einer Extraportion Zink, dem starken Partner für eine gesunde Immunfunktion.“
„… Vitamin C, D und B6, wichtigen Vitaminen, die ein gesundes Immunsystem unterstützen.“
„V… Pro Immun - wenn … Sie eine Extraportion an Vitamin C, D, B6 und Zink möchten - für ein gesundes Immunsystem.“
„[*] Vitamin C, D, B6 und Zink unterstützen ein gesundes Immunsystem.“,
wenn dies geschieht wie nachstehend eingeblendet:
c) „Mit Vitamin C und D zur Stärkung Ihrer Abwehrkrafte“,
wenn dies geschieht wie in dem YouTube-Video „V… Pro Immun Oktober 2020“.
2 Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 374,50 € zzgl. 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit 12.08.2021 zu bezahlen.
3. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.
4. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 20.000,00 € vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Unterlassung bestimmter gesundheitsbezogener Angaben im Zusammenhang mit dem Vertrieb des Nahrungsergänzungsmittels V… Pro Immun in Anspruch.
2
Die Klägerin ist ein in die Liste der qualifizierten Wirtschaftsverbände eingetragener Verein, dessen satzungsgemäße Aufgabe unter anderem in der Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs liegt.
3
Die Beklagte ist als Tochterunternehmen des gleichnamigen britischen Pharmaunternehmens insbesondere auf den Vertrieb sogenannter Healthcare Produkte ausgerichtet. Hierzu zählen Nahrungsergänzungsmittel, die rezeptfrei sowohl über Apotheken als auch über Drogerien sowie den Lebensmitteleinzel- und Versandhandel erhältlich sind und bei akuten oder chronischen Beschwerden Abhilfe schaffen sollen.
4
Die Klägerin ist im Frühjahr 2021 auf Werbeaussagen der Beklagten für deren frei verkäufliches Healthcare Produkt V… Pro Immun hingewiesen worden. Auf der Website der Beklagten (Anlage K 3) hieß es am 08.07.2021 unter anderem:
„V… Pro Immun - Aktivieren Sie jetzt Ihre Abwehrkräfte!“
„… aktivieren Sie ihre Abwehrkräfte mit Vitamin Pro Immun“
„V… Pro Immun unterstützt Ihren Körper mit Hilfe von Vitamin C, D und B6, wichtigen Vitaminen, die ein gesundes Immunsystem unterstützen“
„V… Pro Immun mit dem Zwei-Phasen-Komplex für ein gesundes Immunsystem“
„V… Pro Immun - wenn Sie eine Extraportion an Vitaminen C, D, B6 und Zink möchten - für ein gesundes Immunsystem“
„(*) Vitamin C, D, B6 und Zink unterstützen ein gesundes Immunsystem“.
5
Auf Youtube läuft seit Oktober 2020 das Werbevideo „V… Pro Immun Oktober 2020“ (Anlage K 4). Es wird eine Lehrerin in einem Klassenzimmer gezeigt; sie sagt vor ihren Schülern stehend: „Ich habe mir vorgenommen viel für meine Abwehrkräfte zu tun“. Dann wird die Produktverpackung von V… Pro Immun gezeigt. Eine Werbestimme verkündet: „Mit Vitamin C und D zur Stärkung Ihrer Abwehrkrafte“. Erneut kommt die Lehrerin zu Wort: „Bislang hat es super funktioniert - Toi Toi Toi“.
6
Mit Schreiben vom 14.04.2021 (Anlage K 5) hat die Klägerin die Beklagte abgemahnt und die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung gefordert. Die Beklagtenvertreterin hat mit Schreiben vom 28.04.2021 (Anlagen K 6 a-d) die Beanstandung zurückgewiesen und die Zulässigkeit der Werbeaussagen verteidigt.
Die Klägerin ist der Ansicht, dass es sich bei den streitgegenständlichen Werbeaussagen um gesundheitsbezogene Angaben (sog. Health Claims) handele, die nicht den Vorgaben der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 vom 20.12.2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel (sogenannte Health Claims Verordnung, nachfolgend nur HCVO) entsprächen.
7
In dem Anhang der zur HCVO ergangenen Verordnung (EU) 432/2012 seien die nach der HCVO zulässigen Angaben aufgeführt. Von diesen Vorgaben abweichende Werbeaussagen dürfe die Beklagte im Hinblick auf die in ihrem Produkt V… Pro Immun enthaltenen Nährstoffe, die Vitamine C, D und B6 sowie Zink nicht tätigen. Das Produkt könne im Wesentlichen nur mit der Angabe beworben werden, dass seine Inhattsstoffe zu einer „normalen Funktion des Immunsystems“ beitragen. Darüber hinaus dürften Health Claims, die für enthaltene Stoffe erlaubt sind, nicht auf das Gesamtprodukt bezogen werden.
8
Die streitgegenständlichen Health Claims seien in besonderem Maße geeignet, bei Verbrauchern übertriebene Erwartungen zu wecken. Insbesondere könne bei den angesprochenen Verkehrskreisen der Eindruck entstehen, V… Pro Immun setze ein noch inaktives körperliches System erst in Gang. Ferner könnten die Angaben, „V… Pro Immun (…) für ein gesundes Immunsystem“ sowie „V… Pro Immun - Aktivieren Sie jetzt Ihre Abwehrkräfte“ so verstanden werden, dass das Produkt eine Immunschwache überwinde und - gleichsam im Wege der Heilung - eine gesunde Immunabwehr herbeiführe.
9
Bei der hier verletzten Vorschrift der HCVO handele es sich um eine Marktverhaltensregelung, deren Verletzung regelmäßig geeignet sei, die Interessen der Mitbewerber und Verbraucher spürbar zu beeinträchtigen und die daher wettbewerbswidrig sei.
10
Die Klägerin beantragt:
I. Der Beklagten wird verboten, im geschäftlichen Verkehr für das Produkt „V… Pro Immun“ mit den folgenden Angaben zu werben:
a) „V… Pro Immun - Aktivieren Sie jetzt Ihre Abwehrkräfte!“
„… aktivieren Sie ihre Abwehrkräfte mit Vitamin Pro Immun“
b) „… einer Extraportion Zink, dem starken Partner für eine gesunde Immunfunktion“
„… Vitamin C, D und B6, wichtigen Vitaminen, die ein gesundes Immunsystem unterstützen“
„V… Pro Immun - wenn … Sie eine Extraportion an Vitamin C, D B6 und Zink möchten - für ein gesundes Immunsystem“
„(*) Vitamin C, D, B6 und Zink unterstützen ein gesundes Immunsystem“. wenn dies geschieht wie nachfolgend eingeblendet:
c) „Mit Vitamin C und D zur Stärkung ihrer Abwehrkräfte“
wenn dies geschieht wie in einem Youtube-Video „V… Pro Immun Oktober 2020“.
II. Der Beklagten wird für jeden Verstoß gegen die Unterlassungsverpflichtungen gem. oben I. ein Ordnungsgeld von bis zu 250.000, - €, ersatzweise Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Wiederholungsfalle bis zu zwei Jahren (Haft zu volziehen am jeweiligen Geschäftsführer) angedroht.
III. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 374,50 € zzgl. 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit Klagezustellung zu bezahlen.
11
Die Beklagte beantragt,
12
Die Beklagte ist der Ansicht, dass die geltend gemachten Ansprüche nicht bestehen. Die einzelnen Werbeaussagen seien - auch in der jeweiligen Nutzungsform - rechtlich zulassig.
13
Die Beklagte behauptet, die Aussage betreffend der „Aktivierung der Abwehrkrafte“ beziehe sich lediglich auf die Darreichungsform von V… Pro Immun in einer Flasche, deren Verschlusskappe bei Drehung die Inhaltsstoffe mischt und so ein verzehrfertiges Produkt erzeugt. Dies sei für angesprochene Verkehrskreise im Gesamtzusammenhang ohne weiteres erkennbar. Überdies führe jede Aufnahme von Nahrungsmitteln und mithin auch von Nahrungserganzungsmitteln zu einer „Stärkung“.
14
Ferner seien Nahrungsergänzungsmittel nach Ansicht der Beklagten nur für gesunde Menschen bestimmt. Die Angabe „V… Pro Immun - für ein gesundes Immunsystem“ sowie die ähnlich lautenden, sonstigen Produktbeschreibungen stellten daher lediglich eine Konkretisierung des gemäß der Verordnung (EU) 432/2012 zulassigen Health Claims dar, und zwar insofern, als die enthaltenen Nährstoffe zu einer „normalen Funktion des Immunsystems“ beitrügen. Die Beklagte tragt insoweit vor, dass die Begriffe „normal“ und „gesund“ gleichzusetzen seien. Dies folge daraus, dass Nahrungserganzungsmittel anders als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke im Sinne der Verordnung 609/2013 für gesunde Konsumenten bestimmt seien. Zudem ergabe sich auch aus Erwägungsgrund 3 der Richtlinie 2002/46/EG, dass sich Nahrungsergänzungsmittel an gesunde Menschen richten.
15
Die Kammer hat am 23.02.2022 zur Sache verhandelt. In prozessualer Hinsicht hat die Beklagte hierbei über ihren Prozessbevollmächtigten vorgetragen, dass für die Auslegung des hier in Rede stehenden Unionsrechts, namentlich der HCVO und der Richtlinie über Nahrungserganzungsmittel, ausschließlich der Gerichtshof der Europäischen Union zuständig sei und kein deutsches nationales Gericht. Sollte ein deutsches Gericht abschließend entscheiden, ohne den Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung anzurufen, liege eine Entziehung des gesetzlichen Richters vor, welche einen Verstoß gegen die verfassungsrechtlichen Rechte der Beklagten darstelle.
16
Für die weiteren Einzelheiten wird auf das Protokoll zur mündlichen Verhandlung vom 23.02.2022 sowie den Inhalt der Akte, insbesondere die gewechselten Schriftsalze nebst Anlagen, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
17
Die zulassige Klage ist in vollem Umfang begründet.
18
Die Klage ist zulässig Insbesondere ist das Landgericht München I zuständig. Die sachliche Zuständigkeit der Landgerichte folgt aus § 14 Abs. 1 UWG. In örtlicher Hinsicht ergibt sich die Zuständigkeit des Landgerichts München I aus dem Sitz der Beklagten in München. §§ 14 Abs. 2 Satz 1 UWG, 12, 17 Abs. 1 ZPO.
19
Die von der Klägerin gestellten Antrage sind zudem hinreichend bestimmt, § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.
20
Die geltend gemachten Unterlassungsansprüche stehen der Klägerin auf der Rechtsgrundlage der §§ 8 Abs. 3 Nr. 2, Abs. 1, 3 Abs. 1, 3a UWG i.V.m. Art. 10 HCVO zu.
21
1. Die Klägerin ist als in die Liste der qualifizierten Wirtschaftsverbande gemäß § 8b UWG eingetragener Verein zur Förderung gewerblicher oder selbstständiger beruflicher Interessen, dessen satzungsgemaße Aufgabe in der Durchsetzung des Rechts gegen den unlauteren Wettbewerb liegt, gemäß § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG aktivlegitimiert. Dass der Klägerin eine erhebliche Zahl von Unternehmern angehört, die Waren oder Dienstleistungen gleicher oder verwandter Art auch auf dem hier relevanten Markt für den Vertrieb von Nahrungsergänzungsmitteln vertreiben, und die Zuwiderhandlung die Interessen ihrer Mitglieder berührt, ist unstreitig.
22
2. Bei den streitgegenstandlichen Werbeaussagen handelt es sich um geschäftliche Handlungen im Sinne von § 2 Nr. 1 UWG. Die Klägerin stellt hiermit jeweils den aus ihrer Sicht besonderen gesundheitlichen Vorteil des Produkts V… Pro Immun für das menschliche Immunsystem als Kaufanreiz für potentielle Kunden zum Zwecke der Absatzförderung dar.
23
3. Samtliche von der Klägerin angegriffene Werbeaussagen sind unter dem Gesichtspunkt des Vorsprungs durch Rechtsbruch nach §§ 3 Abs. 1, 3a UWG i.V.m. Art. 10 Abs. 1 HCVO unzulässig.
24
a. Art. 10 Abs. 1 HCVO stellt eine Marktverhaltensregelung im Sinne von § 3 a UWG dar, deren Missachtung geeignet ist, den Wettbewerb zum Nachteil von Mitbewerbern und Verbrauchern spürbar zu beeinträchtigen (st. Rspr., statt vieler vgl. nur BGH, Urt. v. 19.09.2019, Az. I ZR 91/18 = GRUR 2019, 1299 Rn. 13 - Gelenknahrung III; BGH, Urt. v. 07.04.2016, Az. I ZR 81/15 = GRUR 2016, 1200 Rn. 12 - Repair Kapseln). Für die Spurbarkeit spricht schon der bei Verbrauchern hohe Stellenwert des Rechtsgutes Gesundheit und die dementsprechend erfahrungsgemäß besonders hohe Wirksamkeit gesundheitsbezogener Angaben.
25
b. Das von der Beklagten angebotene Produkt V… Pro Immun ist ein Lebensmittel im Sinne von Art. 2 Abs. 1 lit. a) HCVO i.V.m. Art. 2 Abs. 1 der Verordnung (EG) 178/2002 vom 28.01.2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (nachfolgend: VO 178/2002). Bei V… Pro Immun handelt es sich um ein zum Trinken in einem jeweils der Menge nach eine Tagesdosis enthaltenden, kleinen Flaschchen abgefülltes und zur Aufnahme von Menschen bestimmtes Erzeugnis.
26
Nichts anderes ergibt sich daraus, dass es sich bei V… Pro Immun um ein Nahrungsergänzungsmittel handelt. Nahrungsergänzungsmittel sind - anders als Arzneimittel - zunächst nicht gemäß Art. 2 Abs. 3 VO 178/2002 von dem Begriff der Lebensmittel ausgenommen. Vielmehr handelt es sich bei Nahrungsergänzungsmitteln - wie die Legaldefinition gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. b) HCVO i.V.m. Art. 2 lit. a) Richtlinie 2002/46/EG vom 10.06.2002 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Nahrungserganzungsmittel zeigt - bereits in begrifflicher Hinsicht um Lebensmittel, die in funktionaler Hinsicht dahingehend spezifiziert sind, dass sie in dosierter Form abgegeben werden und dazu bestimmt sind, die allgemeine Ernährung in Form eines Konzentrats an Nährstoffen oder sonstigen Stoffen mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung zu ergänzen. Überdies finden die Vorschriften der HCVO gemäß deren Art. 1 Abs. 5 ausdrücklich unbeschadet der Richtlinie 2002/46/EG Anwendung. Die Vorschriften der Nahrungserganzungsmittelrichtlinie werden durch die Vorgaben der HCVO daher nicht eingeschränkt. Gleiches gilt im umgekehrten Verhältnis der beiden Regelwerke. Die Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie schränkt die HCVO nicht ein, sondern stellt ihrerseits zusätzliche Anforderungen an den Vertrieb von Nahrungsergänzungsmitteln. Ihrem Schutzzweck nach sind die Vorschriften der HCVO dabei in vollem Umfang anzuwenden. Eine Ausnahme gilt lediglich für alle nach den Vorgaben der HCVO und ihren Ausführungsverordnungen sowie der Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie obligatorischen oder freigestellten Angaben. Denn einen sachlichen Grund dafür, gerade für Nahrungserganzungsmittel Angaben zuzulassen, die nach den Vorschriften der HCVO unzulässig sind, gibt es letztlich nicht (Rathke/Hahn in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Werkstand: 180. EL Juli 2021, Art. 1 VO (EG) 1924/20016 Rn. 26). Ihrem eigentlichen Sinn und Zweck nach, Endverbraucher vor sachlich nicht gerechtfertigten, übermaßig anlockenden gesundheitsbezogenen Anreizen der zu Werbe- und Verkaufszwecken von Lebensmittelanbietern verwendeten Angaben zu schützen, müssen die Vorgaben der HCVO letztlich erst recht auf Nahrungsergänzungsmittel Anwendung finden. Mit Blick auf die in Nahrungsergänzungsmitteln definitionsgemäß enthaltenen, emährungsspezifisch oder physiologisch wirksamen Nährstoffe oder sonstigen Stoffe ist ein Verbraucher in besonderem Maße geneigt, auf Grund der hohen Bedeutung des Wertes Gesundheit entsprechenden Angaben Glauben zu schenken, so dass das der HCVO zu Grunde liegende Schutzbedürfnis mit Blick auf Nahrungserganzungsmittel in besonderem Maße gegeben ist.
27
c. Bei den beanstandeten Aussagen handelt es sich um gesundheitsbezogene Angaben im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Nr. 5 HCVO. Eine gesundheitsbezogene Angabe ist demzufolge jede Angabe, mit der erklärt, suggeriert oder auch nur mittelbar zum Ausdruck gebracht wird, dass ein Zusammenhang zwischen einer Lebensmittelkategorie, einem Lebensmittel oder einem seiner Bestandteile einerseits und der Gesundheit andererseits besteht. Der Begriff „Zusammenhang“ ist dabei weit zu verstehen (EuGH, Urt. v. 06.09.2012, Az. C-544/10 = GRUR 2012, 1161, 1162 Tz. 34 - Deutsches Weintor, Rathke/Hahn in. Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Werkstand. 180. EL Juli 2021, Art. 2 VO (EG) 1924/20016 Rn. 45). Der Begriff „gesundheitsbezogene Angabe“ erfasst daher jeden Zusammenhang, der eine Verbesserung des Gesundheitszustands dank des Verzehrs des Lebensmittels impliziert (BGH, Urt. v. 07.04.2016, Az. I ZR 81/15 = BeckRS 2016, 17193 Tz. 19, BGH, Urt. v. 12.02.2015, Az. I ZR 36/11 = GRUR 2015, 403, 406 Tz. 33 - Monsterbacke II).
28
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Bei den hier streitgegenständlichen Angaben geht es aus Sicht der angesprochenen Kundenkreise im Kern jeweils darum, dass die Beklagte ihr Produkt V… Pro Immun durch dessen Inhaltsstoffe Vitamin C, D und B6 sowie dem Spurenelement Zink als ein das Immunsystem stärkendes Nahrungsergänzungsmittel bewirbt, um dieses mit der Aussicht, mögliche Krankheitserreger besser abwehren zu können, möglichst erfolgreich verkaufen zu körnen. Mit dem Verweis auf eine mit der Einnahme von V… Pro Immun verbundene Aktivierung von Abwehrkräften („V… Pro Immun - Aktivieren Sie jetzt ihre Abwehrkräfte“ und „… aktivieren Sie Ihre Abwehrkräfte mit V… Pro Immun“) suggeriert die Beklagte potentiellen Kunden, ein derzeit noch inaktives Immunsystem in Gang zu setzen. Die Behauptung eines infolge der Einnahme von V… Pro Immun gesunden Immunsystems („… einer Extraportion Zink, dem starken Partner für eine gesunde Immunfunktion“; „Vitamin C, D und B6, wichtigen Vitaminen, die ein gesundes Immunsystem unterstützen“; „V… Pro Immun - wenn … Sie eine Extraportion an Vitamin C, D, B6 und Zink möchten - für ein gesundes Immunsystem“ und „[*] Vitamin C, D, B6 und Zink unterstützen ein gesundes Immunsystem“) vermittelt potentiellen Kunden die Aussicht, ihr Immunsystem mit der Einnahme von V… Pro Immun gesund erhalten oder dieses wieder in einen gesunden Zustand versetzen zu können. Die in dem YouTube-Video mit dem Titel „V… Pro Immun Oktober 2020“ enthaltene Äußerung „mit Vitamin C und D zur Stärkung ihrer Abwehrkräfte“ vermittelt den angesprochenen Kunden den Eindruck, durch Einnahme des Produkts V… Pro Immun die Aktivität des eigenen Immunsystems mit dem Erfolg besserer und damit über den Ist-Zustand des angesprochenen Verbrauchers hinausgehender Abwehrkräfte steigern zu können.
29
d. Die angegriffenen gesundheitsbezogenen Angaben sind gemäß Art. 10 Abs. 1 HCVO verboten. Gemäß Art. 10 Abs. 1 HCVO gilt für spezielle gesundheitsbezogene Angaben ein Verwendungsverbot mit Erlaubnisvorbehalt (vgl. Hagenmeyer/Teufer in: Dauses/Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Werkstand: 55 EL Jan. 2022, C.IV., VO 1924/2006 Rn. 244). Die Voraussetzungen des gesetzlich vorgesehenen Erlaubnisvorbehalts sind hinsichtlich der angegriffenen Angaben nicht erfüllt.
30
aa. Bei den von der Klägerin beanstandeten Werbeaussagen handelt es sich um spezielle gesundheitsbezogene Angaben im Sinne von Art. 10 Abs. 1 HCVO.
31
Für die Abgrenzung zwischen einer speziellen gesundheitsbezogenen Angabe gemäß Art. 10 Abs. 1 HCVO und einer allgemeinen, nicht-spezifischen gesundheitsbezogenen Angabe gemäß Art. 10 Abs. 3 HCVO kommt es darauf an, ob mit der Angabe ein unmittelbarer Wirkungszusammenhang zwischen einer Lebensmittelkategorie, einem Lebensmittel oder einem seiner Bestandteile einerseits und einer Funktion des menschlichen Organismus andererseits hergestellt wird, dessen wissenschaftliche Absicherung in einem Zulassungsverfahren nach Art. 13 Abs. 3 HCVO oder Art. 15 bis 17 HCVO überprüft werden kann (BGH, Urt. v. 07.04.2016, Az. I ZR 81/15 = BeckRS 2016, 17193 Tz. 24 - Repair-Kapseln; BGH, Urt. v. 10.12.2015, Az. I ZR 222/13 = GRUR 2016, 412 Tz. 26 - Lernstark; OLG München, Urt. v. 31.10.2019, Az. 29 U 2177/19 = GRUR-RS 2019, 36005 Tz. 9). Ein solcher wissenschaftlich überprüfbarer Wirkungszusammenhang ist vorliegend gegeben:
32
Mit den streitgegenstandlichen Angaben wird jeweils ein unmittelbarer Wirkungszusammenhang zwischen dem Nahrungsergänzungsmittel V… Pro Immun und den hierin enthaltenen Produktbestandteilen Vitamin C, D, B6 und Zink einerseits und dem Immunsystem als Funktion des menschlichen Organismus andererseits hergestellt. Sämtliche Äußerungen werden von den angesprochenen Abnehmern dahingehend verstanden, dass die Einnahme von V… Pro Immun positive, gesundheitsförderliche Wirkungen auf das menschliche Immunsystem hat, indem die Einnahme des Produkts ein derzeit noch inaktives Immunsystem in Gang setzt („V… Pro Immun - Aktivieren Sie jetzt ihre Abwehrkräfte“ und „… aktivieren Sie Ihre Abwehrkräfte mit V… Pro Immun“), das Immunsystem in einem gesunden Zustand erhält oder wieder in einen solchen Zustand versetzt („… einer Extraportion Zink, dem starken Partner für eine gesunde Immunfunktion“; „Vitamin C, D und B6, wichtigen Vitaminen, die ein gesundes Immunsystem unterstützen“: „V… Pro Immun - wenn … Sie eine Extraportion an Vitamin C, D, 86 und Zink möchten - für ein gesundes Immunsystem“ und „[*] Vitamin C, D, B6 und Zink unterstützen ein gesundes Immunsystem“) bzw. die Aktivitat des Immunsystems mit dem Erfolg besserer und damit über den Ist-Zustand des angesprochenen Verbrauchers hinausgehender Abwehrkräfte steigern kann („mit Vitamin C und D zur Stärkung ihrer Abwehrkräfte“).
33
Das Immunsystem als Funktion des menschlichen Organismus ist auf ihren Wirkungszusammenhang mit Lebensmitteln wie dem Produkt V… Pro Immun wissenschaftlich im Rahmen eines formlichen Zulassungsverfahrens nach Art. 13 Abs. 3 HCVO überprüfbar. Dies folgt bereits daraus, dass gemäß Art. 1 Abs. 1 Verordnung (EG) 432/2012 vom 16.05.2012 zur Festlegung einer Liste zulässiger anderer gesundheitsbezogener Angaben über Lebensmittel als Angaben über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos sowie die Entwicklung und die Gesundheit von Kindern (nachfolgend nur: VO 432/2012) verschiedene gesundheitsbezogene Angaben zu positiven Auswirkungen bestimmter Lebensmittelinhaltsstoffe wie Eisen, Folat, Kupfer, Selen, Vitamin A, Vitamin B12, Vitamin B6, Vitamin C, Vitamin D und Zink auf das Immunsystem im Rahmen eines Prüfungsverfahrens nach Art. 13 Abs. 3 HCVO zugelassen wurden (vgl. BGH, Urt. v. 07.04.2016, Az. I ZR 81/15 = GRUR 2016, 1200, 1201 Tz. 21 - Repair Kapseln).
34
Dass die beanstandeten Angaben dabei teilweise in umgangssprachlichem Stil erfolgen, wenn etwa die Extraportion Zink als „starker Partner für eine gesunde Immunfunktion“ beworben wird, steht der Annahme einer spezifischen gesundheitsbezogenen Angabe nicht entgegen. Die Verwendung umgangssprachlicher Formulierungen widerspricht nicht der Natur einer Äußerung als spezielle gesundheitsbezogene Angabe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 HCVO. Entscheidend ist insoweit allein der konkrete und spezifische gesundheitsbezogene Bedeutungsgehalt (vgl. BGH, Urt. v. 07.04.2016, Az. I ZR 81/15 = GRUR 2016, 1200, 1202 Tz. 226 - Repair Kapseln).
35
bb. Die von der Beklagten zur Bewerbung des Produkts V… Pro Immun verwendeten Angaben sind überdies weder in der Gemeinschaftsliste zulässiger Angaben gemäß Art. 13 Abs. 3 HCVO i.V.m. Art. 1 VO 432/2012 aufgenommen noch können sie diesen sinngemäß gleichgestellt werden.
36
(1) Als gesundheitsbezogene Angabe zur Funktion des Immunsystems ist für sämtliche Nährstoffe einschließlich der in V… Pro Immun verwendeten Vitamine C, D und B6 sowie des Spurenelements Zink nur die Aussage „trägt zu einer normalen Funktion des Immunsystems bei“ zugelassen. Eine - hier im Ergebnis jedoch nicht relevante - Ausnahme gilt lediglich für Vitamin C, für das der weitere Claim „tragt zu einer normalen Funktion des Immunsystems wahrend und nach intensiver körperlicher Betätigung bei“ erlaubt ist. Die von der Beklagten für ihr Produkt V… Pro Immun verwendeten Angaben gehen jeweils über diesen zugelassenen Aussagegehalt hinaus.
37
(2) Die Angabe, mit der Einnahme von V… Pro Immun Abwehrkräfte aktivieren zu können („V… Pro Immun - Aktivieren Sie jetzt ihre Abwehrkräfte“ und „… aktivieren Sie Ihre Abwehrkräfte mit V… Pro Immun“), stellt - wie die Klägerin zutreffend ausgeführt hat - ein sehr viel stärkeres Wirkungsversprechen dar, als dies mit der zugelassenen Angabe eines Beitrages zu einer normalen Funktion des Immunsystems verbunden ist. Der Begriff des Aktivierens ist gleichbedeutend damit, etwas in Gang oder in Schwung zu bringen oder die Wirkung von etwas zu verstärken bzw. einer Sache zu größerer Wirksamkeit zu verhelfen. Dabei ist das Aktivieren eines bestimmten Prozesses dem allgemeinen Sprachgebrauch nach positiver besetzt als das Leisten eines bloßen Beitrags zu einer normalen Funktionsweise. Aktivieren impliziert letztlich, etwas im eigenen Interesse veranlassen und stärken zu können.
38
Bezugsobjekt des Aktivierens sind nach der streitgegenständlichen Formulierung hier die Abwehrkräfte des jeweiligen Konsumenten. Die Aussage wird daher dahingehend verstanden, dass gerade die Abwehrkräfte und damit das Immunsystem des Konsumenten in Gang gesetzt oder in Schwung gebracht bzw diesem zu größerer Wirksamkeit verholfen werden soll. Ein aktiviertes, in Gang gesetztes und damit aktiv arbeitendes Immunsystem versteht der angesprochene Verbraucher zugleich dahin, mögliche Krankheitserreger besser abwehren und so letztlich gesund bleiben oder wieder gesund werden zu können.
39
Verfehlt ist dagegen der Einwand der Beklagten, wonach sich die Angabe des Aktivierens auf das Gesamtprodukt beziehen soll, welches sich gerade durch eine besondere Darreichungsform auszeichne, bei der die Inhaltsstoffe erst durch Verdrehen der Verschlusskappe miteinander vermischt werden und so erst das verzehrfertige Produkt erzeugt wird. Ein solches Verkehrsverständnis der streitgegenstandlichen Angabe ist nach Ansicht der Kammer lebensfern und widerspricht sowohl nach dem Wortsinn als auch den Gesamtumständen der erkennbaren Absicht der Beklagten, bei den angesprochenen Konsumenten gezielt die Erwartung positiver Wirkungen auf das Immunsystem zu wecken. Das Offnen der Kapsel und das dabei erfolgende Vermischen der zunächst separierten Inhaltsstoffe zu einem verzehrfertigen Produkt schafft lediglich die mechanische Voraussetzung für den Verzehr. Das eigentliche Wirkversprechen bezieht sich aber eindeutig auf das Immunsystem und eben nicht - wie die Beklagte meint - auf den mechanischen Öffnungsvorgang. Vor diesem Hintergrund vermag der angesprochene Verbraucher die von der Beklagten mit Blick auf den mechanischen Öffnungsvorgang insinuierte Doppeldeutigkeit nicht zu erkennen. Relevant ist für den angesprochenen Verbraucher vielmehr nur das unmittelbare, auf das Immunsystem bezogene Wirkversprechen.
40
cc. Gleiches gilt im Ergebnis für die Werbung mit dem Wirkungsversprechen, dass der Verzehr von V… Pro Immun ein „gesundes“ Immunsystem unterstützt („… einer Extraportion Zink, dem starken Partner für eine gesunde Immunfunktion“; „Vitamin C, D und B6, wichtigen Vitaminen, die ein gesundes Immunsystem unterstützen“; „V… Pro Immun - wenn … Sie eine Extraportion an Vitamin C, D, B6 und Zink möchten - für ein gesundes Immunsystem“ und „[*] Vitamin C, D, B6 und Zink unterstützen ein gesundes Immunsystem“). Die Unzulässigkeit dieser Aussagen folgt bereits aus der Verwendung des Begriffs „gesund“, der als solcher nicht Bestandteil der nach Art. 13 Abs. 3 HCVO i.V.m. Art. 1 Abs. 2 VO 432/2012 erlaubten Angaben ist.
41
Zwar hängt die Zulässigkeit der Verwendung einer gesundheitsbezogenen Angabe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 HCVO nicht davon ab, dass die verwendete Angabe mit einer zugelassenen Angabe wörtlich übereinstimmt. Vielmehr dürfen auch mit einer zugelassenen Angabe sinngemäß gleichbedeutende Angaben verwendet werden (BGH, Urt. v. 10.12.2015, Az. I ZR 222/13 = GRUR 2016, 412, 416 Tz. 51 - Lernstark). Mit Blick auf den Sinn und Zweck gemäß Erwägungsgrund 28 HCVO und Erwägungsgrund 9 VO 432/2012, sicherzustellen, dass gesundheitsbezogene Angaben wahrheitsgemäß, klar, verlässlich und für den Verbraucher hilfreich sind, ist der Spielraum für gleichbedeutende Angaben indes eng (vgl. BGH, Urt. v. 26.02.2014, Az. I ZR 178/12 = GRUR 2014, 500, 502 Tz. 29 - Praebiotik). Die dementsprechend strengen Anforderungen an eine sinngemäße Übereinstimmung zwischen den hier angegriffenen Angaben und der zugelassenen Angabe eines Beitrages zu einem normalen Immunsystem sind vorliegend nicht erfüllt. Bei den Begriffen „gesund“ und „normal“ handelt es sich entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten bereits wortsinngemäß nicht um gleichbedeutende Angaben. Das Inaussichtstellen eines „gesunden“ Immunsystems suggeriert wegen des im allgemeinen Sprachgebrauch in hohem Maße positiv besetzten Begriffs „gesund“ ein deutlich weitreichenderes Wirkungsversprechen als das Inaussichtstellen eines „normalen“ Immunsystems.
42
Dazu kommt, dass die von der Klägerin angegriffenen Angaben „… einer Extraportion Zink, dem starken Partner für eine gesunde Immunfunktion“ und „V… Pro Immun - wenn … Sie eine Extraportion an Vitamin C, D, B6 und Zink möchten - für ein gesundes Immunsystem“ über den Begriff „gesund“ hinaus weitere werbliche Anpreisungen in Form der Begriffe „Extra“ und „starker Partner“ enthalten, von denen ein zusätzlicher erheblicher Kaufanreiz ausgehen kann und die als solche erst recht nicht von dem Sinngehalt der nach Art. 13 Abs. 3 HCVO i.V.m. Art. 1 Abs. 2 VO 432/2012 erlaubten gesundheitsbezogenen Angaben erfasst sind.
43
Nichts anderes gilt unter Berücksichtigung der Eigenart des streitgegenständlichen Produkts als Nahrungsergänzungsmittel. Bei der Argumentation der Beklagten, dass sich Nahrungsergänzungsmittel gemäß Erwägungsgrund 3 RL 2002/46/EG und im Gegensatz zu Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke im Sinne der Verordnung (EU) Nr. 609/2013 vom 12.06.2013 an gesunde Menschen richten und daher der Begriff „normal“ bei Nahrungserganzungsmitteln mit dem Begriff „gesund“ gleichbedeutend sei, handelt es sich um reine Begriffsspielerei, die weder dogmatisch schlüssig noch dem Regelungszweck der HCVO nach überzeugend ist. Wie bereits ausgeführt gelten die Verbotsbestimmungen des Art. 10 HCVO auch und mit Blick auf den Schutzzweck des Verbots gesundheitsbezogener Angaben letztlich erst recht für Nahrungsergänzungsmittel. Sachlich gerechtfertigte Gründe, den Anwendungsbereich des Art. 10 HCVO für Nahrungsergänzungsmittel einzuschränken, gibt es nicht. Ein Grund, warum das Verkehrsverständnis der von Nahrungsergänzungsmitteln angesprochenen Personengruppen im Hinblick auf den Begriff „gesund“ von dem allgemeinen Verkehrsverständnis abweichen sollte, ist nicht ersichtlich. Im Gegenteil sind erkrankte Personen als gleichfalls potentielle Konsumenten von Nahrungserganzungsmitteln mit Blick auf die Regelungen der HCVO zu gesundheitsbezogenen Angaben in besonderem Maße schutzwurdig.
44
Dies entspricht letztlich auch einer gesetzessystematischen Betrachtung. Gemäß Art. 6 Abs. 2 RL 2002/46/EG dürfen Nahrungsergänzungsmitteln keine Eigenschaften zugeschrieben werden, die der Verhütung, Behandlung oder Heilung von Humanerkrankungen dienen. Gemäß Art. 6 Abs. 2 letzter Halbsatz darf in der Kennzeichnung, Produktaufmachung und Werbung nicht einmal ein Hinweis auf solche Eigenschaften erfolgen. Ist aber bereits ein Hinweis auf krankheitsvermeidende oder heilende Eigenschaften von Nahrungserganzungsmitteln verboten, wäre es geradezu widersinnig, das Wirkungsversprechen eines „gesunden“ und damit krankheitsfreien Zustandes bei Nahrungserganzungsmitteln zuzulassen.
45
dd. Ebenfalls nicht von dem Erlaubnisvorbehalt gemäß Art. 13 Abs. 3 HCVO i.V.m. Art. 1 Abs. 2 VO 432/2012 gedeckt ist die von der Klägerin angegriffene Angabe „mit Vitamin C und D zur Stärkung ihrer Abwehrkräfte“. Auch das Wirkungsversprechen gestärkter Abwehrkräfte geht seinem Wortsinn nach erheblich über den Bedeutungsgehalt der zugelassenen Angabe eines Beitrages zu einem normalen Immunsystem hinaus.
46
Dem kann die Beklagte nicht entgegenhalten, dass Nahrungsergänzungsmittel ihrem Zweck nach gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 NEMV stets der Ergänzung der allgemeinen Ernährung dienen und Ernährung immer zu einer Stärkung führt. Mit dieser Argumentation würde der Regelungszweck des Art. 10 HCVO ad absurdum geführt. Denn dieser Logik folgend dürfte schlussendlich jede gesundheitsbezogene Angabe mit dem Terminus der „Stärkung“ ersetzt oder ergänzt werden. Damit würde aber die im Anhang zu Art. 1 Abs. 1 VO 432/2012 bewusst versachlicht und neutral gehaltene Formulierung gesundheitsbezogener Angaben in ihr Gegenteil verkehrt. Der Begriff „Starken“ bzw. „Stärkung“ ist im allgemeinen Sprachgebrauch in erheblichem Maße positiv besetzt. Im Zusammenhang mit einer gesundheitlichen Funktion des menschlichen Organismus wie dem Immunsystem suggeriert der Begriff des „Stärkens“ ein gesteigertes, besseres körperliches Wohlbefinden. Die angegriffene Angabe ist damit in besonderer Weise geeignet, von Verbrauchern als positiver Kaufanreiz wahrgenommen zu werden.
47
e. Schließlich liegt die für einen Unterlassungsanspruch erforderliche Begehungsgefahr vor. Die mit dem aufgezeigten Verstoß indizierte Wiederholungsgefahr wurde nicht durch Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung oder anderweitig ausgeräumt.
48
4. Von einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union zum Zwecke der Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV sieht die Kammer entgegen der Anregung der Beklagten ab. Die sich im vorliegenden Zusammenhang stellenden Auslegungsfragen lassen sich auf der Grundlage der einschlägigen Normen und der hierzu ergangenen Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesgerichtshofs ohne Weiteres beantworten. Die Rechtslage ist insoweit hinreichend klar und lässt aus Sicht der Kammer keinerlei Zweifel offen, welche die Notwendigkeit oder auch nur Zweckmäßigkeit einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV begründen könnten.
49
Eine wegen des Unterbleibens eines Vorabentscheidungsverfahrens drohende Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf den gesetzlichen Richter ist überdies nicht zu befürchten. Ungeachtet dessen, dass die nationalen Gerichte nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet sind, die zur Entscheidung der streitgegenständlichen Rechtsfragen einschlagigen Vorschriften europarechtlich auszulegen, besteht nur bei letztinstanzlich zuständigen Gerichten eine Vorlagepflicht, deren Missachtung einen Verstoß gegen den Anspruch auf den gesetzlichen Richter zur Folge haben könnte, Art. 267 Abs. 3 AEUV.
50
Der Anspruch auf Erstattung von Abmahnkosten im Umfang der geltend gemachten Kostenpauschale steht der Klägerin auf der Rechtsgrundlage der §§ 13 Abs. 3, 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG zu (vgl. Bornkamm/Feddersen in: Köhler/Bomkamm/Feddersen, UWG, 40. Aufl. 2022, § 13 UWG Rn. 132 m.w.N.). Einwände gegen die Höhe der geltend gemachten Kostenpauschale sind weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich.
51
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 709 Satz 1, 108 Abs. 1 ZPO.