Titel:
Verwirkung der Ansprüche auf Rückabwicklung eines Lebensversicherungsvertrags
Normenketten:
BGB § 242
ZPO § 522 Abs. 2
Leitsätze:
1. Es kommt im Rahmen der Verwirkung nicht darauf an, ob und wann jemand tatsächlich von einem ihm zustehenden Recht Kenntnis hat, sondern auf die tatsächlichen Umstände, wie der andere Vertragspartner das Verhalten des Gegenübers deuten durfte. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch beim nicht belehrten Verbrauchern, die einen Lebensversicherungsvertrag abgeschlossen haben, kann eine Verwirkung der anzunehmen sein. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Rückabwicklung, Lebensversicherungsvertrag, Widerspruchsrecht, Verwirkung, Belehrungspflicht, Schadensersatz, Verbraucherinformationen
Vorinstanz:
LG Landshut, Endurteil vom 23.07.2020 – 74 O 615/20
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 25.10.2023 – IV ZR 452/21
Fundstelle:
GRUR-RS 2021, 63725
Tenor
1. Die Berufung der Klagepartei gegen das Urteil des Landgerichts Landshut vom 23.07.2020, Aktenzeichen 74 O 615/20, wird zurückgewiesen.
2. Die Klagepartei hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Landshut und dieser Beschluss sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Klagepartei kann die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 257.682,12 € festgesetzt.
Gründe
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1. Die Parteien streiten um Ansprüche wegen der Rückabwicklung eines anteilsgebundenen Lebensversicherungsvertrags. Die Beklagte ist eine britische Lebensversicherungsgesellschaft.
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Hinsichtlich der Darstellung des Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand im angefochtenen Urteil des Landgerichts sowie im Hinweisbeschluss des Senats vom 20.05.2021 (Bl. 191 ff. d.A. – Bd. II) Bezug genommen.
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Im Berufungsverfahren beantragt die Klagepartei mit Schriftsatz vom 29.09.2020:
1. Das Urteil des Landgerichts Landshut vom 23.07.2020, Az. 74 O 615/19, wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 257.682,12 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
die Zurückweisung der Berufung und verteidigt das erstinstanzliche Urteil.
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2. Mit Schriftsatz vom 01.09.2021 (Bl. 210 ff. d.A. – Bd. II) hält die Klagepartei an ihrem Berufungsbegehren fest. Hierauf wird Bezug genommen.
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Allein der Zeitablauf nach der Kündigung könne keine Verwirkung begründen, das Zeitmoment ersetzte sonst das zusätzlich erforderliche Umstandsmoment. Die Klagepartei habe vor 2019 keine Kenntnis gehabt von ihrem Widerspruchsrecht. Eine Verwirkung könne nicht analog §§ 124, 129 BGB bejaht werden; die Ansicht, dass dies entsprechend anzuwenden sei, überschreite die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung. Die Klagepartei nimmt Bezug auf Rechtsprechung des BGH, wonach der Zeitraum zwischen Vertragsschluss und Geltendmachung des Widerspruchs/Rücktritts stets mehr als 10 Jahre betragen habe.
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Unter Bezugnahme auf obergerichtliche Rechtsprechung wendet die Klagepartei ein, die Kündigung des unbelehrten Verbrauchers könne sein Widerrufsrecht nicht beeinträchtigen.
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Denn mangels Belehrung bzw. sonstiger Kenntnis des Widerrufsrechts begründe die Kündigungserklärung keinen rechtlich relevanten Vertrauenstatbestand für die spätere Nichtausübung des Widerrufsrechts. Auch durch die Entgegennahme von Auszahlungen und die Änderung des Auszahlungsplanes sowie durch die Abtretung sei keine Verwirkung eingetreten.
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In Bezug auf die Abtretung führt die Klagepartei unter Bezugnahme u.a. auf oberlandesgerichtliche Rechtsprechung aus, diese könne wegen der insofern bestehenden ganz außergewöhnlichen Umstände nicht zu Verwirkung führen. Bei der Versicherung habe es sich von Anfang an um einen bloßen Teil eines einheitlichen Anlagemodells gehandelt, was die Beklagte gewusst habe. Es habe damit keine freie Entscheidung bestanden für den Abschluss eines Lebensversicherungsvertrags, der durch eine nachfolgende Abtretung eine Bestätigung erfahren hätte. Die Würdigung des Senats führe dazu, dass der nicht belehrte Versicherungsnehmer praktisch zu keinem Zeitpunkt über ein Widerspruchsrecht verfügte. Eine Verwirkung komme nicht in Betracht, da zum Zeitpunkt der Abtretung das Recht des Versicherungsnehmers noch nicht entstanden war. Es werde erneut auf die schuldhafte Aufklärungspflichtverletzung der Beklagten und die hierzu ergangenen Entscheidungen des BGH vom 11.07.2012 (Az.: IV ZR 286/10 u. IV ZR 164/11) zur Haftung der Beklagten auf Schadensersatz hingewiesen; es handele sich nicht nur um eine unzureichende Belehrung.
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Die Klagepartei rügt schließlich, – neben den vom Senat als fehlend beanstandeten Informationen zur Antragsbindungsfrist – fehlten vorliegend die erforderlichen Informationen zu verbindlichen wie garantierten Rückkaufswerten. Das Fehlen dieser Verbraucherinformationen selbst begründe nach der Rechtsprechung des BGH ein eigenes Widerspruchsrecht; der Umfang der Informationspflichten sei anhand der diesen zugrunde liegenden europarechtlichen Vorgaben zu ermitteln, wozu der EuGH anzurufen sei. Außerdem seien die Verbraucherinformationen intransparent; dies begründe nach den europarechtlichen Vorgaben ein eigenständiges Widerspruchsrecht, wozu ebenfalls der EuGH anzurufen sei. Ausgehend hiervon sei die Revision zuzulassen und eine Entscheidung im Beschlusswege nicht möglich.
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3. Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird weiter Bezug genommen auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen.
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Die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Landshut vom 23.07.2020, Aktenzeichen 74 O 615/20, ist gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Auffassung des Senats das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
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Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf den Hinweisbeschluss vom 20.05.2021 Bezug, in dem bereits ausführlich dargelegt wurde, weshalb der Senat beabsichtigt, die Berufung der Klagepartei durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen und an dem der Senat auch in der nunmehrigen Besetzung festhält. Die Ausführungen im Schriftsatz vom 01.09.2021 geben keine Veranlassung zu einer anderen Beurteilung. Ergänzend ist insofern auszuführen:
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1. Zu dem Einwand, es dürfe im Rahmen der Verwirkung entgegen der Rechtsprechung des 25. Zivilsenats des OLG München das Umstandsmoment nicht durch das Zeitmoment ersetzt werden, wird darauf hingewiesen, dass der Senat vorliegend die Verwirkung gerade nicht allein wegen des Zeitablaufs annimmt bzw. dem Umstandsmoment wegen des Zeitablaufs eine geringere Bedeutung beimisst; zur Vermeidung von Wiederholungen wird Bezug genommen auf den Beschluss, dort S. 8 ff. (Bl. 198 ff. d.A. – Bd. II). Überdies kommt es im Rahmen der Verwirkung nicht darauf an, ob und wann jemand tatsächlich von einem ihm zustehenden Recht Kenntnis hat, sondern auf die tatsächlichen Umstände, wie der andere Vertragspartner das Verhalten des Gegenübers deuten durfte. Ergänzend wird Bezug genommen auf BGH, Urteil vom 16.07.2014, Az.: IV ZR 73/13, Rdnr. 42. Eine analoge Anwendung von §§ 124, 129 BGB ist nicht Gegenstand der Ausführungen des Senats. Soweit die Klagepartei selbst ausführt, dass nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Annahme von Verwirkung – bei Vorliegen weiterer besonderer Umstände – regelmäßig ein Zeitraum zwischen Vertragsschluss und Geltendmachung des Widerspruchs/Rücktritts von stets mehr als 10 Jahren lag, ist darauf hinzuweisen, dass dieser Zeitraum vorliegend rund 17 Jahre betragen hat (Hinweisbeschluss, S. 9 = Bl. 199 d.A. – Bd. II).
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2. Zu dem Einwand, es könne beim nichtbelehrten Verbraucher keine Verwirkung wegen der Ausübung des Kündigungsrechts angenommen werden, wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen auf den Hinweisbeschluss (dort S. 8 ff. = Bl. 198 ff. d.A. – Bd. II): Der Senat legt den Umstand, dass die Klagepartei vorliegend nicht ordnungsgemäß belehrt wurde, seiner Beurteilung zugrunde in Anwendung der hierzu ergangenen (und im Hinweisbeschluss zitierten) obergerichtlichen Rechtsprechung. Es wird nicht allein auf die Kündigung oder allein auf die weiteren im Beschluss angeführten Umstände abgestellt, sondern die Verwirkung besteht zur Überzeugung des Senats hier aufgrund der Gesamtschau der im Hinweisbeschluss erläuterten Umstände; dabei ist der Umstand der Kündigung von nur untergeordneter Bedeutung (Hinweisbeschluss, S. 10 = Bl. 200 d.A. – Bd. II).
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3. Zu den Einwendungen in Bezug auf die Einbindung der Versicherung in ein einheitliches Anlagemodell, die Bedeutung der Abtretung insoweit und die Kenntnis der Beklagten von diesen Umständen wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen auf die Ausführungen im Hinweisbeschluss (dort S. 8 f. = Bl. 198 f. d.A. – Bd. II). Auch beim nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmer kommt es darauf an, ob ausnahmsweise besondere Umstände vorliegen, aufgrund derer ein schutzwürdiges Vertrauen der Versicherers auf den Bestand des Vertrages angenommen werden kann – maßgeblich ist, ob der Versicherungsnehmer durch sein Verhalten den Eindruck erweckt hat, den Vertrag unbedingt fortsetzen zu wollen. Anders als die Klagepartei einwendet, führt die Wertung des Senats nicht dazu, dass dem Versicherungsnehmer vorliegend kein Widerspruchsrecht zugestanden hätte; denn ungeachtet der hier erfolgten Gesamtwürdigung aller Umstände führt allein das Umstandsmoment nicht zu Verwirkung. Auf die von der Klagepartei aufgeworfene Fragestellung, warum die Versicherung darauf vertrauen dürfe, dass eine als Sicherheit verwendete Lebensversicherung nicht von der Bank vorzeitig verwertet würde, kommt es nicht an: maßgeblich ist nur, welchen Eindruck der Versicherungsnehmer durch sein Verhalten erweckt.
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Schließlich greift der Einwand der Klagepartei nicht durch, der Beklagten könnten Versäumnisse vorgehalten werden, die sie unter Umständen zur Leistung von Schadensersatz verpflichtet hätten. Solche Ansprüche sind nicht streitgegenständlich und von der vorliegenden Fragestellung zu unterscheiden. Sie sind zudem verjährt (Klageschrift S. 3), was bei der erforderlichen Gesamtwürdigung zu berücksichtigen ist.
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Soweit die Klagepartei einwendet, die Freigabeerklärung der Bank sei erst nach Erklärung des Widerspruchs an die Beklagte übermittelt worden, kommt es hierauf letztlich nicht entscheidungserheblich an; der Umfang der Abtretung war unabhängig hiervon der Beklagten bekannt aus der ihr übermittelten Abtretungserklärung (Anlage B03). Es trifft nicht zu, dass vorliegend kein Todesfallschutz vereinbart war (Anlage K2, dort Bl. 1); die Todesfallleistung war auch mit abgetreten (Hinweisbeschluss, S. 10 = Bl. 200 d.A. – Bd. II, Anlage B03, dort Bl. 3).
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4. Die von der Klagepartei vorgebrachten Einwände gegen eine Entscheidung durch Beschluss gem. § 522 ZPO greifen nicht durch.
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Soweit die Klagepartei darauf abstellt, dass die erteilten Informationen unvollständig gewesen seien, wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen auf den Hinweisbeschluss. Bereits die Unvollständigkeit im Hinblick auf die Antragsbindungsfrist führt vorliegend dazu, dass der Vertrag als im Policenmodell zustande gekommen anzusehen ist mit der Folge eines grundsätzlich fortbestehenden Widerspruchsrechts (Hinweisbeschluss, S. 7 f. = Bl. 198 f. d.A. – Bd. II). Ob die Unterlagen darüber hinaus im Hinblick auf – nach Auffassung der Klagepartei – mitzuteilende garantierte bzw. unverbindliche Rückkaufswerte unvollständig waren und auch hieraus ein Widerspruchsrecht resultiert, ist nicht entscheidungserheblich (so bereits im Hinweisbeschluss, S. 8 = Bl. 198 d.A. – Bd. II). Es besteht damit insofern keine Veranlassung zur Vorlage an den EuGH bzw. Befassung des BGH.
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Zu dem Einwand, der Klagepartei stehe aufgrund intransparenter Verbraucherinformationen ein Widerspruchsrecht zu, nimmt der Senat Bezug auf BGH, Urteil vom 26.09.2007, Az.: IV ZR 321/05, Rdnr. 9 ff. Der BGH hat seine Rechtsprechung fortgeführt, auch nach Erlass der von der Klagepartei zitierten Urteile des EuGH (BGH, Urteil vom 11.12.2019, Az.: IV ZR 8/19, Rdnr. 25, vom 25.03.2020, Az.: IV ZR 18/19, Rdnr. 18, vom 06.05.2020, Az.: IV ZR 102/19, Rdnr. 21). Eine Vorlage an den EuGH oder Zulassung der Revision zum BGH ist nicht geboten.
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Die Maßstäbe der Berücksichtigungsfähigkeit der Gesichtspunkte von Treu und Glauben im Hinblick auf ein Widerspruchsrecht sind im Übrigen in der Rechtsprechung des EuGH geklärt, weshalb keine Veranlassung zur Vorlage besteht; die Anwendung auf den Einzelfall obliegt den nationalen Gerichten. Auch hat der BGH sich bereits in der Vergangenheit mehrfach mit der Berücksichtigungsfähigkeit der Gesichtspunkte von Treu und Glauben vor dem Hintergrund der einschlägigen europäischen Normen und Rechtsprechung befasst (u.a. Beschluss vom 13.01.2016, Az.: IV ZR 117/15, Rdnr. 3 ff., vom 22.03.2016, Az.: IV ZR 130/15, Rdnr. 2 ff.) und auch in neueren Entscheidungen (u.a. BGH, Urteil vom 03.06.2020, Az.: IV ZR 214/18, vom 28.10.2020, Az.: IV ZR 272/19, und vom 13.01.2021, Az.: IV ZR 67/20) – deutlich nach Erlass der Entscheidung des EuGH mit Urteil vom 19.12.2019 – an seiner Rechtsprechung insoweit festgehalten.
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Die Grundsätze zur Verwirkung bei fehlerhafter Belehrung sind höchstrichterlich geklärt. Auf die im Hinweisbeschluss zitierten Entscheidungen (S. 8 = Bl. 198 d.A. – Bd. II) wird Bezug genommen. Es ist Aufgabe der Instanzgerichte, diese Rechtsgrundsätze auf den jeweils vorliegenden Sachverhalt anzuwenden. Eine solche Einzelfallbewertung hat der Senat hier unter Berücksichtigung der maßgeblichen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vorgenommen. Divergierende Ergebnisse aufgrund der Würdigung des jeweils vorgetragenen Sachverhalts in tatsächlicher Hinsicht begründen indes keine Divergenz i.S. des § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, 522 Abs. 2 ZPO. Von einer Divergenz in diesem Sinne ist vielmehr nur dann auszugehen, wenn den Entscheidungen sich widersprechende abstrakte Rechtssätze zugrunde liegen (BGH, Beschluss vom 09.07.2007, Az.: II ZR 95/06, Rdnr. 2).
24
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
25
Die Feststellung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
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Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde in Anwendung von § 40, 47, 48 GKG, § 3 ZPO bestimmt.