Inhalt

LG München I, Endurteil v. 11.03.2021 – 1 HK O 17003/20
Titel:

Verbots des Inverkehrbringens und der Werbung für ein Nahrungsergänzungsmittel in Form von Gummibärchen

Normenketten:
UWG § 3a
VO (EG) Nr. 178/2002 Art. 14 Abs. 1, Abs. 2 lit. a
VO (EU) Nr. 1169/2011 Art. 7 Abs. 1 lit. a
Leitsätze:
1. Ein Nahrungsergänzungsmittel in Form von Gummibären mit der Bezeichnung „HEY SUNSHINE SUN VITAMINS“, von dem nur ein Bärchen pro Tag verzehrt werden soll, ist irreführend im Sinne von Art. 7 Abs. 1 lit. a VO (EU) Nr. 1169/2011. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Wird für ein solches Produkt mit allgemein anpreisenden Werbeaussagen wie „Naschen für Schönheit und Wohlbefinden“ liegt darin ein Verstoß gegen das Irreführungsverbot gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. a, Abs. 4 VO (EU) Nr. 1169/2011. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Marke, Verpackung, Arzneimittel, Gutachten, Kommission, Gesamteindruck, Kennzeichnung, Form, Verbraucher, Lebensmittel, Antragsteller, Bewerbung, Therapie, Feststellung, Kosten des Verfahrens, gesundheitsbezogene Angabe, pharmakologische Wirkung
Fundstelle:
GRUR-RS 2021, 47453

Tenor

I. Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Verfügung bei Meidung eines
vom Gericht für jeden Einzelfall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu EUR 250.000,00, ersatzweise Ordnungshaft, oder Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, zu vollziehen an einem der Geschäftsführer
verboten,
I. im Rahmen geschäftlicher Handlungen zu Wettbewerbszwecken das
Nahrungsergänzungsmittel
„HEY SUNSHINE SUN VITAMINS - VITAMIN D"
1. in den Verkehr zu bringen und/oder in den Verkehr bringen zu lassen und/oder zu bewerben und/oder bewerben zu lassen,
wenn dies geschieht wie in Anlage B/2 abgebildet
und/oder
2. mit nachfolgenden Angaben zu bewerben und/oder bewerben zu lassen:
a) „Naschen für Schönheit und Wohlbefinden: mit den Happy Sunshine Sun Vitamins von BEARS WITH BENEFITS!“,
wenn dies geschieht wie in Anlage C
und/oder
b) „Der verführerischfruchtige Geschmack macht die kleinen Bärchen zum Genuss. Naschen für die Schönheit - besser geht’s kaum!“
wenn dies geschieht wie in Anlage D
und/oder
c) „Mein täglicher Begleiter Vitamin D & dank @bearswith benefits so einfach und lecker zu sich zu nehmen Ich liebe die „Hey Sunshine Sun Vitamins“
wenn dies geschieht wie in Anlage D
und/oder
3. mit einer Menge von 50µg Cholecalciferol bzw. Vitamin D pro empfohlener Tagesverzehrmenge in den Verkehr zu bringen und/oder in den Verkehr bringen zu lassen,
wenn dies geschieht wie in Anlage B/1
II. Im übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückgewiesen.
III. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Antragssteller 1/10, die Antragsgegnerin 9/10.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich Ziffer I vorläufig vollstreckbar. Das Urteil ist hinsichtlich Ziffe II gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Der Antrag macht im Wege der einstweiligen Verfügung wettbewerbsrechtliche Unterlassungsansprüche für den Vertrieb und die Bewerbung eines Nahrungsergänzungsmittels (Vitamin D) in Form von Gummibärchen (Fruchtgummis) geltend.
2
Der Antragsteller ist ein Wettbewerbsverband, dem eine repräsentative Zahl von Mitgliedern aus dem Bereich der Nahrungsergänzungsmittel- und Süßwarenindustrie angehört, unter anderem rund 90 Apotheken, 10 Drogerien und Reformhäuser sowie die Vertriebsunternehmen ... Deutschland GmbH und die ...-SB Warenhaus GmbH mit ihrem weit verzweigten Filialnetz.
3
Die Antragsgegnerin ist eine GmbH mit Sitz in Grünwald/München. Sie handelt mit Nahrungsergänzungsmitteln und vertreibt ihre Produkte unter anderem in Drogerien wie der Kette dm, R. und D., ferner auch online über ihre eigene Homepage www...com. Die Nahrungsergänzungsmittel sind Fruchtgummis in Form von Gummibärchen, die unter der Marke „BEARS WITH BENEFITS“ angeboten werden.
4
Die Antragsgegnerin bewarb auf ihrer Homepage das Nahrungsergänzungsmittel „HEY SUNSHINE SUN VITAMINS - VITAMIN D“ in Form von Gummibärchen. Diese Nahrungsergänzungsmittel (NEM) werden in einer Einheit von 60 Stück in einem Gefäß mit Schraubdeckel vertrieben, das aus fast undurchsichtigem braunem Plastik besteht, und auf dem sich fast flächendeckend Papieraufkleber mit Informationen und Werbung befinden. Die Aufmachung dieser Umverpackung und die Fruchtgummis sind wie nachfolgend abgebildet gestaltet (Anlage B/2): Anlage B (Der Antragsteller ist der Ansicht, dass die Aufmachung des Produkts, die Angaben auf der Umverpackung sowie die Zusammensetzung für ein Lebensmittel nicht zulässig seien und dem Produkt die Verkehrsfähigkeit nähmen. Darüber hinaus seien auch verschiedene Angaben auf der Homepage zu dem Produkt wettbewerbswidrig.
5
Der Antragsteller mahnte die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 04.12.2020 ab (ASt 15). Die Antragsgegnerin gab keine Unterlassungserklärung ab. Daraufhin beantragte der Antragsteller am 16.12.2020 beim Landgericht München I den Erlass einer einstweiligen Verfügung.
6
Der Antragsteller ist der Ansicht, dass es sich bei dem Produkt um ein sogenanntes unsicheres Lebensmittel aufgrund der Gefahr der Überdosierung gemäß Art. 14 Abs. 1, Abs. 2 a VO(EG) Nr. 178/2002 (Basis-VO) handle. Die aufgedruckte Verzehrempfehlung „1 Stück am Tag“ beinhalte eine Verzehrmenge Vitamin D von 50 µg am Tag, womit die Verzehrempfehlung der gemeinsamen Expertenkommission DACH von BfR und BfRAM, dem amerikanischen Institut of Medicine (IOM) und der europäischen EFSA doppelt bis dreifach überschritten werde. Bereits bei einer täglichen Einnahmemenge von mehr als 25 µg könne es zur Beeinträchtigung des Gastrointestinaltrakts kommen. Da nach den dargelegten Expertenansichten die Gesundheitsschädlichkeit von einem Bär pro Tag (= 50 µg Vitamin D) nicht ausgeschlossen werden könne, sei das Lebensmittel unsicher im Sinne des Art. 14 Abs. 2 a der VO(EG) Nr. 178/2002 und damit nicht verkehrsfähig.
7
Vitamin D-haltige Fertigarzneimittel würden auf dem Markt nur Dosierungen zwischen 10 und 25 µg enthalten. Bei einer Überschreitung von 20 µg könne eine pharmakologische Wirkung, welche die Einstufung als Arzneimittel rechtfertige, nicht ausgeschlossen werden. Die EFSA empfehle die Zufuhr von 15 µg am Tag. Der sogenannte UL-Wert (tolerable upper intake level), wie ihn die EFSA für Vitamin D mit 100 µg festgesetzt habe, beziehe sich auf die Aufnahme über alle Vitamin D-Quellen, also auch über die normale Ernährung, sonstige angereicherte Lebensmittel und die Sonneneinstrahlung. Bei einer langfristig und täglich hoch dosierten Einnahme von Vitamin D-Präparaten über 50 µg bestehe nach der aktuellen Studienlage ein erhöhtes gesundheitliches Risiko. Die Einnahme von sehr hohen Mengen an Vitamin D könne zu Vergiftungserscheinungen führen, unter anderem zu Hyperkalzämie, Herzrhythmusstörungen, Schwäche, Nierenversagen sowie weiteren Organschäden (gemeinsame Expertenkommission, Stellungnahme zu Vitamin-D-haltigen Produkten vom 1.1.2017, Anl. ASt 12). Auch nach der Stellungnahme des BfR vom 31. Juli 2020 (ASt 14) sei die Einnahme hochdosierter Nahrungsergänzungsmittel mit Vitamin D nicht erforderlich. Bereits der Verzehr eines Gummibärchens pro Tag über einen längeren Zeitraum von 60 Tagen hinweg (60 Tagesdosen laut der Umverpackung) berge daher die Gefahr einer Überdosierung. Die Einstufung als Nahrungsergänzungsmittel sei nicht mehr gerechtfertigt, der Verzehr gesundheitlich bedenklich und damit nicht „sicher“.
8
Zu der von der Antragsgegnerin als Anlage AG 6 vorgelegten wissenschaftlichen Stellungnahme vom 16.02.2021 von Frau Dr. S2. betreffe nur abstrakt die Frage, ob ein NEM mit einer Tagesdosis von 50 µg Vitamin D im Sinne des Art. 14 der Basis-VO sicher sei. Diese Stellungnahme befasse sich nicht mit der konkreten Aufmachung des Produkts. Die Frage, welche gesundheitlichen Auswirkungen ein Lebensmittel auf den Metabolismus haben könne, können von der Ernährungsmedizin, nicht jedoch von der Lebensmittelchemie - zu denen die Sachverständige Dr. S2. gehört - beantwortet werden. Das BfR habe in seiner Stellungnahme von 2020 nicht nur die Punkte der Hyperkalzämie und der Hypercalciurie berücksichtigt, wie die EFSA, sondern auch ein erhöhtes Mortalitätsrisiko und ein erhöhtes Risiko eines Pankreaskarzinoms. Ein Lebensmittel dürfe gemäß Art. 7 der Basis-VO bereits dann nicht auf den Markt gebracht werden, wenn wissenschaftliche Ungewissheiten bezüglich der Existenz oder des Umfangs von Risiken für die menschliche Gesundheit bestünden.
9
Der Antragsteller ist der Ansicht, dass die Verpackung des NEM irreführend und damit nicht verkehrsfähig sei. Die Gesamtaufmachung des streitgegenständlichen NEM erwecke den Eindruck, dass es sich um einen konventionellen angereicherten Fruchtgummi handle, der bedenkenlos verzehrt werden könne, ohne dass Nachteile für die Gesundheit zu befürchten seien (vom Zucker abgesehen). Dieser Eindruck würde durch die niedlich winkenden ComicBären mit Sprechblase, die Verzierung durch Herzchen sowie die Angabe „Hey Sunshine Sun“, ferner durch das Lebensmittel in Gummibärchenform, gestützt. Der „Gummibär“ würde von Verbrauchern auf der ganzen Welt als Süßigkeit oder Nascherei erkannt. Dem Verbraucher, Erwachsene und Kinder, erschließe sich nicht, dass es sich um ein NEM handle, welches nicht wie Fruchtgummi in beliebigen Mengen genascht werden könne. Der Verbraucher finde allenfalls im Fließtext oder in einer senkrecht geschriebenen Bezeichnung die Information, dass es sich um ein NEM handle. NEM würden üblicherweise als Kapseln, Pastillen, Tabletten oder Pulver vertrieben, nicht jedoch als Fruchtgummis. Verbraucher kauften deshalb irregeführt eine hochpreisige Süßigkeit angereichert mit Vitaminen. Die gesamte Aufmachung widerspreche Art. 7 Abs. 1 a, 4, 13 Abs. 1 LMIV.
10
Der Antragsteller ist der Ansicht, nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 der NEMV seien für NEM nur „übliche“ Darreichungsformen wie dort beschrieben zulässig. Gummibärchen würden nach gefestigter Auffassung der Verbraucher als traditionelles Lebensmittel zum reinen Genuss verstanden, nicht jedoch als NEM. Die gewählte Form des „Gummibärchens“ sei daher bereits gemäß § 1 NEMV nicht zulässig, das Produkt damit nicht verkehrsfähig.
11
Die Bewerbung auf der Homepage (angegriffene Aussagen gemäß dem Verfügungsantrag Ziffer 2 a - c) hält der Antragsteller für irreführend, ferner um eine unspezifische gesundheitsbezogene Angabe gemäß Art. 10 Abs. 3 HCVO. Die Irreführung gemäß Art. 3 HCVO ergebe sich daraus, dass zum „Naschen“ aufgerufen werde, obwohl die tatsächliche Verzehrmenge von einem Bären am Tag nicht überschritten werden dürfe, um die Gefahr der Überdosierung zu vermeiden. Der Verbraucher verstehe unter „Naschen“ den genießerischen Stückfür-Stück-Verzehr, dies sei bei einem Produkt wie dem der Antragsgegnerin nicht möglich ohne Gefährdung. Die Aussagen würden auch zu einem übermäßigen Verzehr dieses NEM ermutigen. Die allgemeinen Angaben zu Wohlbefinden und Gesundheit seien unspezifische gesundheitsbezogene Angaben gemäß Art. 10 Abs. 3 HCVO, die dadurch unzulässig würden, dass sie zu übermäßigem Verzehr gemäß Art. 3 c HCVO aufrufe.
12
Der Antragsteller behauptet, dass das Original-Produkt (Anlage A) lediglich knapp über die Hälfte des dunklen Schraubgefäßes gefüllt sei. Die Verbrauchererwartung gehe aufgrund der Gesamtaufmachung dahin, dass er bei der Packungsgröße wesentlich mehr erhalte. Die Erwartung des Verbrauchers werde durch die tatsächliche Füllmenge enttäuscht. Gemäß § 43 Abs. 2 MessEG sei es verboten, Lebensmittel in Fertigpackungen in den Verkehr zu bringen, wenn sie ihrer Gestaltung und Befüllung nach eine größere Füllmenge vortäuschen als tatsächlich in ihnen enthalten sei. Diese Unterfüllung sei nicht einsichtig, da das Gefäß dunkel und fast vollständig beklebt sei. Industriell sei es möglich, Hohlräume, die durch bestimmtes Schüttgut entstünden, zum Beispiel durch Rütteltische maschinell zu entfernen. Die Antragsgegnerin habe keine Vorkehrung getroffen, diese Irreführung zu beseitigen. Die Antragsgegnerin müsse ein der Füllmenge angemessenes Gefäß wählen, damit nicht nach der Befüllung wieder Hohlräume entstehen könnten.
13
Die Antragsstellerin beantragt,
Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Verfügung bei Meidung eines vom Gericht für jeden Einzelfall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu EUR 250.000,00, ersatzweise Ordnungshaft, oder Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, zu vollziehen an einem der Geschäftsführer
verboten,
im Rahmen geschäftlicher Handlungen zu Wettbewerbszwecken das Nahrungsergänzungsmittel „HEY SUNSHINE SUN VITAMINS - VITAMIN D#
1. in den Verkehr zu bringen und/oder in den Verkehr bringen zu lassen und/oder zu bewerben und/oder bewerben zu lassen, wenn dies geschieht wie in Anlage B/2 abgebildet und/oder
2. mit nachfolgenden Angaben zu bewerben und/oder bewerben zu lassen:
a) „Naschen für Schönheit und Wohlbefinden: mit den Happy Sunshine Sun Vitamins von BEARS WITH BENEFITS!“, wenn dies geschieht wie in Anlage C und/oder
b) „Der verführerischfruchtige Geschmack macht die kleinen Bärchen zum Genuss. Naschen für die Schönheit - besser geht’s kaum!“
wenn dies geschieht wie in Anlage D und/oder
c) „Mein täglicher Begleiter Vitamin D & dank @bearswith benefits so einfach und lecker zu sich zu nehmen Ich liebe die „Hey Sunshine Sun Vitamins“
wenn dies geschieht wie in Anlage D und/oder
3. mit einer Menge von 50µg Cholecalciferol bzw. Vitamin D pro empfohlener Tagesverzehrmenge in den Verkehr zu bringen und/oder in den Verkehr bringen zu lassen, wenn dies geschieht wie in Anlage A [streitgegenständliches Produkt] und/oder Anlage B/1 und/oder
4. in den Verkehr zu bringen und/oder in den Verkehr bringen zu lassen, wenn die Füllmenge des Produktes deutlich hinter der Verpackungsgröße zurückbleibt und dies ohne Öffnen der Verpackung nicht ersichtlich ist, wenn dies geschieht wie in Anlage A [streitgegenständliches] und/oder wie in Anlage E abgebildet.
14
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückzuweisen.
15
Die Antragsgegnerin behauptet, die angesprochenen Verkehrskreise kennten NEM in Form von Fruchtgummis, auch in Tierformen. Es gebe keine Vorschrift, dass NEM in dieser Form nicht verkehrsfähig seien. Entscheidend sei, dass das NEM ordnungsgemäß als solches gekennzeichnet sei. Es treffe auch nicht zu, dass der angesprochene Verkehr bei dem streitgegenständlichen Produkt mit einem freundlich dreinblickenden, einarmig winkenden Bären oder einem Fruchtgummi in Bärenform eine konventionelle Süßigkeit mit Vitaminanreicherung erwarte und kein NEM. Die Darstellung von stilisierten Tieren und niedlichen graphischen Elementen auf Umverpackungen seien auch bei NEM gang und gäbe (wird ausgeführt mit vielen Beispielen). Das streitgegenständliche Produkt trage prominent die Kennzeichnung „Vitamin D“, so dass der Verkehr auch ein Vitamin D-Präparat erwarte. Das Produkt enthalte - unstreitig - auch alle sonstigen verpflichtenden Angaben neben der gesetzlich vorgeschriebenen Bezeichnung „Nahrungsergänzungsmittel“. Das Produkt würde auch nicht über den Lebensmittel-Einzelhandel vertrieben. Es befinde sich in einem für NEMtypischen Schraubbehältnis und koste 25,- EUR, so dass kein Anhaltspunkt für eine Irreführung von Verbrauchern im Hinblick auf eine Süßigkeit bestehe.
16
Die Antragsgegnerin behauptet, eine tägliche Verzehrmenge von 50 µg sei sicher im Sinne des Art. 14 BasisVO, es handle sich um eine zulässige Standarddosierung. Grenze im Sinne des Art. 14 BasisVO sei allein die Sicherheit. Maßgeblich sei nicht die „empfohlene“ tägliche Zufuhr, sondern, ab welchem Gehalt ein Lebensmittel nicht mehr sicher sei.
17
Die EFSA habe in ihrer Scientific Opinion von 2012 (AG 2 mit Übersetzung AG 3) über die zulässige obere Aufnahmemenge von Vitamin D festgestellt, dass die sichere tägliche Höchstmenge bei 100 µg liege, nämlich dem 20-fachen der von der Europäischen Union empfohlenen Tagesdosi. Die höchste Dosis, bei der auch bei andauernder Zufuhr keine erkennbaren messbaren negativen Auswirkungen bestünden, sei von der EFSA auf 250 µg festgesetzt worden. Erst bei einer längerfristigen Zufuhr von weit über 100 µg täglich sei auch nach der Stellungnahme der gemeinsamen Expertenkommission des BVL und BfArM (ASt 12) eine Überdosierung möglich. Bei Gesunden liege die Schwelle für eine Vitamin D-Intoxikation sogar erst bei 1000 bis 2500 µg pro Tag über Zeitraum von ein bis zwei Monaten (Anl. ASt 12, Stand 2017).
18
Die Antragsgegnerin ist der Ansicht, dass sich auch aus der Stellungnahme des BfR von Juli 2020 (ASt 14) keine Unsicherheit des Produkts feststellen lasse. Selbst wenn die Einnahme des streitgegenständlichen Produkts gemäß der Verzehrempfehlung möglicherweise zu einer Vitamin D-Zufuhr oberhalb des UL von 100µg führte, wäre das Produkt nicht unsicher. Es sei auf normale Verzehrgewohnheiten und die bestimmungsgemäße Verwendung des Produkts abzustellen. Über die normale Ernährung würden Erwachsene in Deutschland im Durchschnitt nur 2 bis 4 µg pro Tag aufnehmen, so dass sich bei der empfohlenen Verzehrdosis von 1 Gummibärchen (= 50 µg) ein Wert weit unterhalb der UL von 100 µg ergebe. Es sei nicht ersichtlich, weshalb langfristig von einer Einnahme von mehr als 100 oder gar 250 µg pro Tag auszugehen sei.
19
Die Antragsgegnerin ist der Ansicht, die Gutachten der EFSA seien für die Auslegung des Art. 14 der BasisVO maßgeblich, da es sich hierbei um EU-Sekundärrecht handle. Eine solche Festlegung könne nicht durch Stellungnahmen in einzelnen Mitgliedsstaaten unterlaufen werden, da dies die Warenverkehrsfreiheit beeinträchtige.
20
Der Antragsteller ist hierzu der Ansicht, es handle sich bei der wissenschaftlichen Stellungnahme der EFSA von 2012 (AG 2) nur um ein wissenschaftliches Gutachten mit keiner Verbindlichkeitswirkung. Lediglich die Europäische Kommission könne Höchstmengen für NEM festlegen. Da die EU dies jedoch für Vitamine in NEM noch nicht getan habe, obliege es den Mitgliedsstaaten durch die Lebensmittelkontrolle dafür zu sorgen, dass Unternehmer sichere Lebensmittel auf dem Markt bereitstellten. In Deutschland finde sich dies in den Stellungnahmen des BfR, wie der Anlage ASt 14. Da es sich bei dem streitgegenständlichen Produkt um einen rein innerdeutschen Sachverhalt handle, könne sich die Antragsgegnerin auch nicht auf die europäische Warenverkehrsfreiheit nach Art. 36 AEUV berufen.
21
Die Antragsgegnerin legt eine Stellungnahme der Sachverständigen für Lebensmittelchemie, Dr. S3. S2. vom 16. Februar 2021 vor (AG 6). Die Sachverständige bestätige, dass das Produkt mit einer Tagesempfehlung von 50 µg Vitamin D sicher sei. Die von der EFSA aus Studien abgeleitete UL von 100 µg pro Tag werde nicht erreicht, da die durchschnittliche Vitamin D-Aufnahme über die reguläre Ernährung in Europa zwischen 1,1 und 8,2 µg pro Tag liege, bei sehr hohem Vitamin D-Verzehr über die reguläre Ernährung bei maximal 16 µg pro Tag. Ein Zusammenhang zwischen einem hohen Vitamin D-Spiegel und dem Herz-KreislaufSystem oder einem Krebsrisiko sei nicht belegt.
22
Im Übrigen sei es für die Feststellung der „Unsicherheit“ im Sinne des Art. 14 BasisVO irrelevant, ob eine bestimmte Dosierung ernährungsspezifisch sinnvoll oder sogar nötig sei. Selbst das BfR mutmaße in seiner Risikobewertung vom Juli 2020 (ASt 14) lediglich, dass es Hinweise auf möglicherweise bestehende Risiken ab einer Menge von 75 µg Vitamin D pro Tag gebe. Aus den mit Anlage AG 2 vorgelegten Gutachten der EFSA (2012) zeige sich, dass selbst bei einer täglichen Einnahme von 250 µg Vitamin D keine negativen Auswirkungen auf die Gesundheit oder Körperfunktionen beobachtet werden können. Eine mit dem Produkt empfohlene tägliche Verzehrmenge von 50 µg betrage nur 1/5 des NOAEL (no observed adverse effect level) und die Hälfte des UL (tolerable upper intake level) gemäß EFSA, das Lebensmittel sei daher als sicher zu beurteilen.
23
Die Antragsgegnerin ist der Ansicht, der Begriff „Naschen“ verstoße nicht gegen Art. 3 Abs. 1 c, a HCVO. Die unter Ziffer 2. der Verfügungsanträge angegriffenen Werbeaussagen enthielten keine Nährwert- oder gesundheitsbezogenen Angaben. Sie würden auch nicht zum übermäßigen Verzehr ermuntern. Der Verkehr würde den Begriff „Naschen“ nicht zum Anlass nehmen, die angebrachte Verzehrempfehlung bewusst zu überschreiten.
24
Zur Füllmenge behauptet die Antragsgegnerin, dass keine Täuschung vorliege, da auf der Umverpackung die Menge von 60 Stück angegeben sei, die das Schraubgefäß auch enthalte. Mit einer täglichen Verzehrmenge von 1 Stück entspreche das Produkt 60 täglichen Einheiten, damit einer Reichweite von 2 Monaten. Im Hinblick auf die Bezeichnung als NEM und den Preis von 25,- EUR sei eine Täuschung des Verbrauchers über die Füllmenge ausgeschlossen. Im Übrigen sei die Füllmenge so zu beurteilen, wie einem das Produkt entgegen treten. Es entspreche der Verkehrserwartung.
25
Im Übrigen wird hinsichtlich des Tatbestands auf die vorgelegten Schriftsätze und Anlagen Bezug genommen.
26
Das Gericht hat im Termin vom 02.03.2021 3 gefüllte Schraubverschlußgefäße mit Gummibärchen in Augenschein genommen, nämlich das Produkt gemäß Anlage A im Original, ein Produkt, das die Antragstellervertreterin mitgebracht hatte, und ein Produkt, das der Antragsgegnervertreter mitgebracht hatte. Alle 3 Behälter waren bis ca. 1 bis 2 cm unter dem unteren Rand des Schraubverschlusses gefüllt. Die Befüllung senkte sich beim Schütteln des Produktes etwas ab.

Entscheidungsgründe

27
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung war fast in vollem Umfang begründet (Ziffern 1 - 3 des Verfügungsantrags). Lediglich hinsichtlich der beanstandeten Füllmenge des Produkts (Verfügungsantrag 4) war der Verfügungsantrag mit den konkreten Produkten unbegründet. Die Unterlassungsansprüche beruhen auf § 8 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2, § 3 a UWG i.V.m. Art. 14 Abs. 1, Abs. 2 a der VO(EG) Nr. 178/2002 (Basis-VO), Art. 7 Abs. 1 a LMIV. Es handelt sich bei dem streitgegenständlichen Produkt aufgrund der Gefahr der Überdosierung um ein unsicheres Lebensmittel im Sinne des Art. 14 Abs. 1, 2 a Basis-VO. Die Verpackung und der Gesamteindruck des streitgegenständlichen NEM sind irreführend hinsichtlich Art, Identität, Eigenschaften und Zusammensetzung des Lebensmittels gemäß Art. 7 Abs. 1 a LMIV, so dass das NEM in der konkreten Verpackung und Aufmachung nicht verkehrsfähig ist. Es erweckt den Eindruck, dass es sich um einen konventionellen angereicherten Fruchtgummi handelt, nicht jedoch um ein hochdosiertes NEM. Der Aufruf zum „Naschen“ in den werblichen Hinweisen stellt eine Irreführung dahingehend dar, da einerseits die tatsächliche Verzehrmenge von 1 Gummibärchen pro Tag nicht überschritten werden darf, andererseits aber zum Naschen aufgerufen werde, was den Verzehr von mehreren Gummibärchen beinhaltet.
Antrag 1: Fehlende Verkehrsfähigkeit
28
Der Antragsteller beanstandet hier sowohl die Verpackung des Nahrungsergänzungsmittels als auch den Fruchtgummi in Bärchenform. Gemäß Art. 7 Abs. 1 a VO (EU) Nr. 1169/2011 (LMIV) dürfen Informationen über Lebensmittel nicht irreführend in Bezug auf Art, Identität, Eigenschaften und Zusammensetzung sein. Maßgeblicher Beurteilungsmaßstab für die Frage, ob eine solche Irreführung vorliegt, sind die angesprochenen Verkehrskreise, nämlich Endverbraucher, die dieses Produkt entweder im Laden oder über einen Online-Shop sehen und erwerben. Der Antragsteller rügt sowohl die Verpackung an sich, nämlich die Aufkleber mit den Comicartigen Bären, die Sprechblasen, das Herz auf dem Deckel sowie die unzureichende Kennzeichnung als Nahrungsergänzungsmittel, ferner das Produkt selbst, nämlich ein Fruchtgummi in Bärchenform.
29
Im vorliegenden Fall kann der angesprochene Endverbraucher, zu denen auch die Mitglieder der erkennenden Kammer für Handelssachen gehören, nicht erkennen, dass es sich um ein Nahrungsergänzungsmittel handelt, auch wenn es mit der Zugabe von Vitamin D beworben wird. Die Verpackung und die Form der Fruchtgummis sind daher irreführend im Sinne des Art. 7 Abs. 1 a LMIV. Die Comicartige Gestaltung mit winkendem Bären, fliegenden Herzchen, die Bezeichnung als „HEY SUNSHINE SUN VITAMINS“ sowie die Gestaltung als Fruchtgummi, wie sie als Gummibärchen seit Jahrzehnten allgemein in der Bevölkerung bekannt sind, lässt zunächst die Vermutung aufkommen, dass es sich um ein Fruchtgummi handelt, das eben mit Vitamin D angereichert ist, nicht jedoch um ein Nahrungsergänzungsmittel, von dem nur 1 Bärchen pro Tag verzehrt werden soll. Auch lässt die Aufmachung nicht erkennen, dass es sich um ein Produkt handelt, bei dem bereits der Verzehr von 1 Bärchen die doppelte Menge der gemäß DGE empfohlenen Tagesdosis von 20 µg enthält. Mit dem Aufdruck „NRV: 1000%“, der inhaltlich der Pflichtkennzeichnung entspricht, kann der normale Verbraucher überhaupt nichts anfangen. Insbesondere kann er nicht erkennen, dass die Tagesdosis von 50 µg (1 Stück am Tag) bereits eine hohe Dosierung weit über der empfohlenen Nährstoffmenge darstellt.
30
Der Pflichthinweis, dass es sich um ein „Nahrungsergänzungsmittel“ handelt, befindet sich zum einen in kleiner Schrift in der 5. Zeile des Fließtextes zu einem Sternchen-Hinweis, ferner senkrecht am Rande des Aufklebers wiederum im Fließtext „60 Stück = 150 g - Nahrungsergänzungsmittel mit Vitamin D“. Die konkrete Position dieses Pflichthinweises ist an so unauffälliger Stelle, dass sie leicht überlesen wird. Im Zutatenverzeichnis finden sich die Nährstoffe Malz, Sirup, Zucker, Glucose, Geliermittel, Säuerungsmittel etc., nicht jedoch Vitamin D, so dass auch hier der Eindruck einer Süßigkeit verstärkt wird. Den Mitgliedern der erkennenden Kammer für Handelssachen sind Fruchtgummis, gerade auch in Form von Gummibärchen, seit Jahrzehnten bekannt und zwar als klebrige, fruchtige Süßigkeit, die aufgrund der Form, des Geschmacks und der Sensorik dazu verleitet, mehr als nur ein einziges Gummibärchen zu essen. Nahrungsergänzungsmittel dagegen sind den Mitgliedern der erkennenden Kammer für Handelssachen fast ausschließlich in Formen und Zubereitungen bekannt, die eher an Arzneimittel erinnern als an ein Genussprodukt, nämlich Tabletten, Dragees, Pulver zum Auflösen oder ähnliches.
31
Die von der Antragsgegnerin schriftsätzlich vorgetragenen und abgebildeten Fruchtgummis, die auch Nahrungsergänzungsmittel darstellen sollen, sind nicht geeignet glaubhaft zu machen, dass der Verkehr an eine solche Darreichungsform von Nahrungsergänzungsmitteln gewöhnt ist, da jegliche Angaben zur Verbreitung dieser Produkte fehlen. Einzelne Produkte können noch keine Verkehrsgewöhnung begründen. Auch der Vertrieb über Drogerieketten wie dm oder Rossmann legt nicht nahe, dass es sich um ein Nahrungsergänzungsmittel handelt, da in diesen Drogerieketten gerichtsbekannt in erheblichem Umfang auch Süßigkeiten wie Schokolade, Kekse etc. vertrieben werden. Lediglich der Preis - 25 EUR je Packung - könnte ein Hinweis darauf sein, dass es sich um etwas „Wertvolleres“ als um Gummibärchen zum Naschen handeln könnte.
32
Naschereien als Lebensmittel mit Vitaminanreicherung dagegen sind bekannt. Allerdings erreichen diese nach den von der Antragstellerin vorgetragenen Vorschriften der VO (EG) Nr. 1925/2006 eine geringe Anreicherung mit Vitaminen bei bestimmungsgemäßem Verzehr, nämlich 15% des Tagesreferenzwertes, der bei Vitamin D bei 5 µg pro 100 g liegt. Dies bedeutet, dass angereicherte Gummibärchen lediglich 0,75 µg pro 100 g - einer Menge, bei der der Magen bereits zuklebt - enthalten könnten. Eine Anreicherung von Süßigkeiten mit Vitamin D bedarf darüber hinaus einer Genehmigung, die nach dem unbestritten gebliebenen Vortrag des Antragstellers hinsichtlich Vitamin D bisher nicht vorliegt. Auch die von der Antragsgegnerin vorgelegten Beispiele zeigen bis auf ein Produkt („Vitabay“) keine Vitamin DFruchtgummis.
33
Der Antragsgegnerin ist damit nicht gelungen glaubhaft zu machen, dass die angesprochenen Verkehrskreise an Fruchtgummis mit hochdosiertem Vitamin D als Nahrungsergänzungsmittel als eine von mehreren Darreichungsformen gewöhnt wären. Die konkrete Gestaltung ist daher irreführend im Sinne des Art. 7 Abs. 1 a LMIV.
Antrag 2: Werbeaussagen „Naschen für Schönheit und Wohlbefinden“ u.a.
34
Die beanstandeten Werbeaussagen auf der Homepage verstoßen gegen das Irreführungsverbot gemäß Art. 7 Abs. 1 a, Abs. 4 LMIV. Es handelt sich nicht nur um eine allgemeine unspezifische Werbeanpreisung „für die Schönheit und das Wohlbefinden“, sondern um die Beschreibung der Art des Verzehrs, nämlich ein „Naschen“, „einfach und lecker“, was sich nach Ansicht der Mitglieder der erkennenden Kammer für Handelssachen kaum mit der Verzehrempfehlung von einem Stück pro Tag in Einklang bringen lässt. Kein Werbetexter würde eine Vitamintablette in Drageeform mit einem Aufruf zum „Naschen“ versehen, sondern allenfalls die tollen Wirkungen dieses Produkts ausloben. Das Wort „Naschen“ kann nicht losgelöst vom Produkt gesehen werden.
35
Nach Ansicht der Mitglieder der erkennenden Kammer für Handelssachen bezieht sich das Wort „Naschen“ bei winzigen Fruchtgummis wie Gummibärchen üblicherweise nicht auf 1 Stück, sondern auf das mehrfache genießerische Zugreifen auf mehrere Bärchen nach und nach. Bei der Bewerbung von Nahrungsergänzungsmitteln stehen dagegen die einzelnen Bestandteile im Vordergrund und die ausgelobten Wirkungen. Allenfalls findet sich ein Verzehrhinweis, der sich auf eine einfache Einnahme zum Beispiel durch das Auflösen in Wasser oder durch einen angenehmen Geschmack bezieht. Der Begriff „Naschen“ wird mit Genuss assoziiert und damit zum Beispiel mit Süßigkeiten, nicht jedoch mit Nahrungsergänzungsmitteln, bei denen die positive Wirkung auf Schönheit oder Gesundheit im Vordergrund steht.
Antrag 3: Unsicheres NEM durch überhöhten Vitamin D-Gehalt von 50 µg pro Tag Verzehrempfehlung
36
Das Produkt der Antragsgegnerin enthält 60 Bären und ist damit entsprechend der Verzehrempfehlung für die Einnahme von 50 µg pro Tag über einen Zeitraum von 2 Monaten hinweg gedacht. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass die tägliche Zufuhr von 50 µg über einen längeren Zeitraum hinweg ein erhöhtes gesundheitliches Risiko birgt, nämlich insbesondere für einen Anstieg von Herz-Kreislauf-Problemen und für ein Pankreaskarzinom. Um den täglichen Vitamin D-Bedarf zu decken, ist eine Zufuhr von 20 µg pro Tag unbedenklich und ausreichend (DACH-Referenzwert, Anl. Ast 13). Der amerikanische RDA-Wert des Institut of Medicine (IOM) liegt für Erwachsene bei 15 µg bei minimaler Sonnenexposition (Ast 12). Übliche Arzneimittel zur Vitamin D-Ergänzung beginnen bei einem Wert von 25 µg zur Therapie zum Beispiel von Osteoporose. Nach der EFSA liegt der sogenannte UL-Wert, d.h. der Wert, der nach dem Stand der Wissenschaft nicht zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führt, bei 100 µg pro Tag, und zwar aus allen Quellen, also auch der normalen Ernährung, der körpereigenen Bildung von Vitamin D und der Zufuhr von Nahrungsergänzungsmitteln. Es ist dem Antragsteller gelungen glaubhaft zu machen, dass von einer täglichen längerfristigen Zufuhr von Vitamin D-Präparaten zwischen 50 und 100 µg nach der aktuellen Studienlage ein erhöhtes Gesundheitsrisiko ausgeht. Die Stellungnahme des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) vom 31. Juli 2020 (Ast 14) führt aus, dass bei gelegentlichem Verzehr gesundheitliche Beeinträchtigungen derzeit als unwahrscheinlich angesehen werden, nicht jedoch bei langfristigem und täglichem Verzehr. Grundsätzlich könne bei ausreichendem Aufenthalt im Freien und entsprechender Sonnenbestrahlung sowie einer ausgewogenen Ernährung eine gute Vitamin D-Versorgung auch ohne die Einnahme von Vitamin DPräparaten erreicht werden. 20 µg Vitamin D pro Tag reichten aus, um den physiologischen Bedarf zur Erhaltung der Knochengesundheit von 97,5% der Population zu decken. Die Stellungnahme beschäftigt sich mit der UL von 100 µg, wie sie die EFSA als auch die amerikanische FNB angesehen hätten, nämlich für Erwachsene und Kinder ab 11 bzw. 9 Jahren. Die UL sei anhand des klinischen Endpunktes Hyperkalzämie abgeleitet worden. Nach den Pharmakovigilanz-Daten des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BFARM) seien für die Einnahme von ab 25 µg pro Tag (bei Kindern bis zu 4 Jahren ab 12,5 µg pro Tag) zahlreiche Nebenwirkungen, am häufigsten gastrointestinaler Art gelistet. In einem systematischen Rückblick zur Effektivität von Vitamin D zur Verhinderung von Knochenfrakturen bei älteren Personen sei ebenfalls ein kleiner, jedoch signifikanter Anstieg gastrointestinaler Symptome sowie von Nierenerkrankungen nachgewiesen. Das BfR kommt in der Risikobewertung zu dem Ergebnis, dass hochdosierte Vitamin D-Präparate (in der Studie 75 bis 100 µg pro Tag über 6 Monate verteilt) das Potential hätten, gesundheitlich bedenkliche Gesamtaufnahmemengen an Vitamin D zu verursachen, und zwar in Bereichen, die auch mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko bei Herz-Kreislauf-Problemen einhergehen. Eine Aufnahme von 100 µg pro Tag solle ärztlich überwacht werden, um das Mortalitätsrisiko zu senken. Ergänzend kommt das BfR zum Ergebnis, dass eine Zufuhr von mehr als 20 µg am Tag über Lebensmittel, zu denen auch die NEM gehören, ernährungswissenschaftlich nicht zu begründen sei.
37
Die von der Antragsgegnerin vorgelegte wissenschaftliche Stellungnahme der EFSA von 2012 (AG 2, in der Übersetzung AG 3) ist nicht geeignet, die Einstufung des streitgegenständlichen Produkts als unsicher im Sinne des Art. 14 Basis-VO zu erschüttern bzw. zu widerlegen. Die EFSA bestimmt die obere tolerierbare Aufnahmemenge (UL) mit 100 µg pro Tag bei Erwachsenen, 50 µg für Kinder und Jugendliche von 10 bis 17 Jahre. Für Kinder von 1 bis 10 Jahre würde eine UL von 50 µg vorgeschlagen, 25 µg für Säuglinge im Alter von 0 bis 12 Monaten. Die EFSA führt aus, dass die Hyperkalzämie als Indikator für die Toxizität ausgewählt worden sei, wenn sich hierauf der Wert von 100 µg pro Tag für Erwachsene beziehe. Die weiteren Studien, die von einer erhöhten Gesamtmortalität oder Krebserkrankung berichteten, seien inkonsistent. Die 25 (OH) D-Konzentration im Serum, die nach Einnahme hoher Vitamin D-Dosen steige, sei nicht geeignet zur Verwendung zur Charakterisierung des Risikos für ungünstige langfristige Gesundheitsfolgen. Diese wissenschaftliche Stellungnahme der EFSA ist von 2012, ist wesentlich älter als die Stellungnahme des BfR vom Juli 2020. Die Stellungnahme der EFSA stellt den Wissensstand von 2012 dar, insbesondere hinsichtlich der Gefahr der Steigerung der Mortalität, die damals aufgrund bestimmter Parameter nicht gesehen werden könne.
38
Die wissenschaftliche Stellungnahme der EFSA ist nicht zwingend für die Auslegung des Art. 14 Abs. 1, Abs. 2 a Basis-VO, da es sich nur um eine Stellungnahme handelt, nicht um eine Festlegung von Kriterien, für die die Kommission zuständig wäre.
39
Die Stellungnahme der Lebensmittelchemikerin Dr. S2. vom 16.02.2021 (AG 5) beschäftigt sich neben allgemeinen Feststellungen zur Aufnahme von Vitamin D vor allem mit dem Risiko der Hyperkalzämie. Die Feststellungen des BfR zur erhöhten HerzkreislaufMortalität und zum Pankreaskarzinom werden lediglich mit dem fehlenden Beleg dieser Zusammenhänge (evidenzbasiert) abgelehnt, nicht jedoch mit den dort ausführlich erwähnten Kohortenstudien. Das Risiko einer überhöhten Einnahme durch Kinder oder auch „naschenden“ Erwachsenen über 1-2 Stück pro Tag hinaus wird nicht bewertet.
40
Nach Art. 14 Abs. 2 a, Abs. 3 a Basis-VO ist für die Entscheidung der Frage, ob ein Lebensmittel „sicher“ ist oder nicht zu berücksichtigen:
„Die normalen Bedingungen seiner Verwendung durch den Verbraucher und auf allen Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen sowie die dem Verbraucher vermittelten Informationen einschließlich der Angaben auf dem Etikett oder sonstige ihm normalerweise zugängliche Informationen über die Vermeidung bestimmter die Gesundheit beeinträchtigender Wirkungen eines bestimmten Lebensmittels oder einer bestimmten Lebensmittelkategorie“.
41
Bei dem vorliegenden Produkt ist dabei auch zu berücksichtigen, dass es sich um ein ansprechend gestaltetes Produkt handelt, bei dem bereits der Verzehr eines einzigen Gummibärchens die empfohlene Verzehrmenge von Vitamin D von 15 bis 20 µg pro Tag überschreitet, sich aber noch unterhalb der unbedenklichen Verzehrmenge von 100 µg pro Tag befindet. Bei dem konkreten Produkt ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass es zunächst nur eine „Verzehrempfehlung“ beinhaltet, nicht jedoch eine Warnung. Der Text „das Produkt außerhalb der Reichweite von kleinen Kindern lagern. Die empfohlene Verzehrmenge darf nicht überschritten werden“ befindet sich an unauffälliger Stelle in winziger Schrift in einem Fließtext, so dass er keine unmittelbar wahrnehmbare Warnung enthält. Das ansprechend gestaltete Produkt in Form eines Gummibärchens, damit einer Süßigkeit, die üblicherweise in größeren Mengen als einem Stück verzehrt wird, ist daher geeignet, einen Verbraucher zu verführen, mehr als ein Stück zu sich zu nehmen. Bereits bei 100 µg, das heißt 2 Stück pro Tag, empfiehlt das BfR eine ärztliche Überwachung, wenn dies über einen längeren Zeitraum eingenommen wird. Insgesamt ist daher das Produkt in seiner konkreten Gestaltung und einer Anreicherung von 50 µg pro Stück entsprechend der Stellungnahme des BfR vom Juli 2020 (Ast 14) ohne ausreichende Warnhinweise aufgrund des möglicherweise erhöhten Mortalitätsrisikos und Risikos für das Pankreaskarzinom ohne ärztliche Überwachung als unsicher zu bewerten.
Antrag 4: Füllhöhe und Füllmenge
42
Hinsichtlich dieses Anspruchs war der Verfügungsantrag als unbegründet zurückzuweisen. Es ist der Antragstellerin nicht gelungen glaubhaft zu machen, dass das Schraubgefäß, in das die streitgegenständlichen Bärchen gefüllt sind, lediglich bis etwa knapp über die Hälfte gefüllt ist.
43
Das von dem Antragsteller vorgelegte Original-Produkt, Anlage A, das noch ungeöffnet war, wurde im Termin vom 02.03.2021 in Augenschein genommen und geöffnet. Ebenso wurden zwei weitere Produkte, die die Antragstellervertreterin und der Antragsgegnervertreter mitgebracht hatten, in Augenschein genommen. Bei allen 3 Produkten wurde festgestellt, dass sie bis etwa 1 bis 2 cm unter den unteren Rand des Schraubverschlusses gefüllt waren. Das Schraubgefäß hat gemäß der Anlage E eine Höhe von 9 cm. Nach Ansicht der Mitglieder der erkennenden Kammer für Handelssachen wird die Erwartung des Verbrauchers über die Befüllung des Gefäßes beim Öffnen des fast undurchsichtigen Produkts nicht enttäuscht. Gerade weil die Gummibärchen aufgrund der zahlreichen Ausbuchtungen sich ineinander verhaken, schwankt die Füllhöhe je nach Schüttelzustand. Eine Pflicht, solche Kleinprodukte auf ein Minivolumen maschinell zusammenzurütteln und dann in einer möglichst kleinen Verpackung unterzubringen, in der sie sich nicht mehr aufstellen können, besteht nicht. Eine Verbrauchererwartung dahingehend, dass in einem solchen Schraubgefäß ein Produkt wie Gummibärchen bis oben an den Rand gefüllt ist, besteht nach Ansicht der Mitglieder der erkennenden Handelskammer nicht. Der Unterlassungsanspruch aufgrund § 43 Abs. 2 MessEG besteht daher nicht.
Kosten: § 91, 92 ZPO
44
Vorläufige Vollstreckbarkeit: § 709 Satz 2. Hinsichtlich der Unterlassungsansprüche ist die einstweilige Verfügung ohne weiteres vorläufig vollstreckbar.