Inhalt

OLG München, Endurteil v. 22.04.2021 – 6 U 6968/20
Titel:

Zeitliche Dringlichkeit in Patentsachen 

Normenketten:
EPÜ Art. 52, Art. 87, Art. 100 Buchst. a, Art. 100 Buchst. c
ZPO § 945
Leitsätze:
1. Die für den Erlass einer einstweiligen Verfügung zu wahrende Dringlichkeitsfrist beträgt einen Monat. Sie wird in Lauf gesetzt, wenn der Antragsteller Kenntnis von der fraglichen Verletzungshandlung und dem hierfür Verantwortlichen hat und alle Informationen und Glaubhaftmachungsmittel besitzt, um mit Aussicht auf Erfolg einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung stellen zu können. (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)
2. Sobald der Patentinhaber das mutmaßlich patentverletzende Erzeugnis in den Händen hat, trifft ihn die Obliegenheit, den betreffenden Gegenstand zügig und umfassend auf das Vorliegen einer Schutzrechtsverletzung zu untersuchen.  (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Patentinhaber ist in der Wahl des durch ihn mit der Untersuchung der angegriffenen Ausführungsform beauftragten Labors grundsätzlich frei, solange das betreffende Labor nicht von vornherein ungeeignet erscheint, um die von ihm geforderten Untersuchungen in einem zeitlich vertretbaren Rahmen durchzuführen. (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagwort:
Einstweilige Verfügung
Vorinstanz:
LG München I, Endurteil vom 04.11.2020 – 21 O 11628/20
Fundstellen:
LSK 2021, 12272
GRUR-RR 2021, 297
GRUR-RS 2021, 12272

Tenor

I.  Die Berufung der Antragstellerin gegen das Endurteil des Landgericht München I vom 04.11.2020, Az. 21 O 11628/20, wird zurückgewiesen.
II.  Die Antragstellerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Tatbestand

I.
1
Die Antragstellerin nimmt die Antragsgegnerin im einstweiligen Verfügungsverfahren wegen wortsinngemäßer Verletzung des deutschen Teils des Europäischen Patents EP 3 395 338 B1 auf Unterlassung in Anspruch.
2
Bei dem Verfügungspatent (vgl. Anlagen rop8a/8b), dessen alleinige Inhaberin die Antragstellerin ist, handelt es sich um eine Teilanmeldung des Europäischen Patents EP 1 663 182, die aus der internationalen Anmeldung WO 2005/034928 A1 (Anlage HW7) vom 10.09.2004 hervorgegangen ist. Das Verfügungspatent nimmt die Priorität der US-Patentanmeldung US 60/502,219 vom 12.09.2003 in Anspruch. Die Erteilung des Verfügungspatents wurde am 01.05.2019 veröffentlicht. Das Verfügungspatent steht in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft (Anlage rop9).
3
Der Rechtsbestand des Stammpatents EP ’182 wurde im Rahmen eines Einspruchsbeschwerdeverfahrens mit Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts vom 12.04.2018 in geänderter Fassung bestätigt (Az. T 1063/15, Anlage rop23). Gegen das Verfügungspatent sind sechs Einsprüche anhängig. Mit Datum vom 05.03.2021 hat die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts eine vorläufige Stellungnahme abgegeben (Anlage rop40).
4
Gegenstand des Verfügungspatents ist eine Schnellauflösungsformulierung enthaltend Cinacalcethydrochlorid (Cinacalcet-HCI).
5
Patentanspruch 1 des Verfügungspatents
lautet in der englischen Verfahrenssprache:
A pharmaceutical composition comprising
a) cinacalcet HCI;
b) a pharmaceutically acceptable excipient comprising microcrystalline cellulose in an amount ranging from 25–85 % and starch in an amount ranging from 5–35 % and wherein the weight ratio of microcrystalline cellulose and starch ranges from 1:1–15:1, wherein the percentage by weight is relative to the total weight of the composition.
und in deutscher Übersetzung:
Eine pharmazeutische Zusammensetzung umfassend
a) Cinacalcet-HCI;
b) einen pharmazeutisch akzeptablen Arzneistoffträger, umfassend mikrokristalline Cellulose in einer Menge im Bereich von 25–85 % und Stärke in einer Menge im Bereich von 5–35 % und wobei das Gewichtsverhältnis von mikrokristalliner Cellulose und Stärke in einem Bereich von 1:1–15:1 liegt, wobei der Prozentsatz nach Gewicht auf das Gesamtgewicht der Zusammensetzung bezogen ist.
6
Die Antragsgegnerin ist Inhaberin einer Marktzulassung (Anlage rop11) für den deutschen Markt des Generikums ... das den Wirkstoff Cinacalcet-HCI enthält und in drei Wirkstoffstärken (30 mg/60 mg/90 mg Cinacalcet-HCI) angeboten wird (angegriffene Ausführungsform).
7
Die Antragstellerin ließ der Antragsgegnerin mit anwaltlichem Schreiben vom 27.02.2020 (Anlage ropl) eine Berechtigungsanfrage zukommen. Auf eine mit anwaltlichem Schreiben vom 30.03.2020 (Anlage rop2) erneut an die Antragsgegnerin gerichtete Aufforderung zur Stellungnahme reagierte die Antragsgegnerin mit anwaltlichem Schreiben vom 06.04.2020 (Anlage rop3) und erklärte darin, dass sie grundsätzlich bereit sei, ein Muster ihres generischen Cinacalcet-Produkts zur Verfügung zu stellen. Nach weiterer Korrespondenz mit der Antragstellerin teilte die Antragsgegnerin mit anwaltlichem Schreiben vom 04.05.2020 (Anlage rop7) mit, nicht bereit zu sein, ein Produktmuster zur Verfügung zu stellen. Die Listung des Generikums ... in der Lauer Taxe wurde am 24.04.2020 veröffentlicht und erfolgte zum 01.05.2020 (Anlage rop 13). Nach dem Erwerb eines Produktmusters der angegriffenen Ausführungsform durch die Antragstellerseite am 05.05.2020 in einer Apotheke in München (vgl. Anlage rop33) übersandte sie dieses am 11.05.2020 zur Analyse an das US-amerikanisches Testlabor .... Die Versendung erfolgte über die niederländische Tochtergesellschaft des Labors (wo es am 19.05.2020 einging und noch am selben Tag weitergeleitet wurde) und traf am 01.06.2020 bei dem Labor in den USA ein. Die Ergebnisse der Analyse lagen am 07.08.2020 vor.
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Das Landgericht hat mit Endurteil vom 21.10.2020, im Tatbestand berichtigt mit Beschluss vom 22.12.2020, den Antrag der Antragstellerin vom 07.09.2020 abgewiesen, es der der Antragsgegnerin bei Meidung der gesetzlichen Ordnungsmittel zu untersagen,
eine pharmazeutische Zusammensetzung umfassend
a) Cinacalcet-HCI;
b) einen pharmazeutisch akzeptablen Arzneistoffträger, umfassend mikrokristalline Cellulose in einer Menge im Bereich von 25–85 % und Stärke in einer Menge im Bereich von 5–35 % und wobei das Gewichtsverhältnis von mikro-kristalliner Cellulose und Stärke in einem im Bereich von 1:1–15:1 liegt, wobei der Prozentsatz nach Gewicht auf das Gesamtgewicht der Zusammensetzung bezogen ist,
nämlich
Cinacalcet beta 30 mg Filmtabletten (Zulassungs-/Reg-Nr. (AMG76): 95221.00.00: EU-Verfahren: DE/H4452/001/DC),
Cinacalcet beta 60 mg Filmtabletten (Zulassungs-/Reg-Nr. (AMG76): 95222.00.00: EU-Verfahren: DE/H/4452/002/DC),
Cinacalcet beta 90 mg Filmtabletten (Zulassungs-/Reg-Nr. (AMG76): 95223.00.00: EU-Verfahren: D E/H/4452/003/DC),
in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu besitzen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen.
9
Zur Begründung hat das Landgericht, auf dessen tatsächliche Feststellungen gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen wird, Folgendes ausgeführt:
10
Der geltend gemachte Unterlassungsanspruch bestehe zwar dem Grunde nach aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ i.V.m. § 139 Abs. 1 PatG. Der Erlass einer einstweiligen Verfügung komme jedoch mangels Vorliegens des erforderlichen Verfügungsgrundes nicht in Betracht.
11
Das Verfügungspatent betreffe eine Schnellauflösungsformulierung enthaltend den Wirkstoff Cinacalcet-HCI. Gemäß Abs. [0002] der Patentschrift seien calciumrezeptoraktive Verbindungen wie beispielsweise Cinacalcet-HCI im Stand der Technik bekannt. Solche calciumrezeptoraktiven Verbindungen könnten unlöslich oder kaum löslich in Wasser sein, speziell in ihrem nicht-ionisiertem Zustand. Eine solche begrenzte Löslichkeit könne die Anzahl der Formulierungen und Darreichungsformen begrenzen, welche für diese calciumrezeptoraktiven Verbindungen verfügbar seien. Begrenzte Wasserlöslichkeit könne zudem in einer niedrigen Bioverfügbarkeit der Verbindungen resultieren. Ausgehend von diesem Stand der Technik stelle sich das Verfügungspatent die Aufgabe, die Auflösbarkeit der calciumrezeptoraktiven Verbindung aus einer Dosierungsform – möglichst während der in vivo-Exposition – zu maximieren (Abs. [0003]). Ferner bestehe dem Verfügungspatent zu Folge das Bedürfnis, die Bioverfügbarkeit der kalziumrezeptor-aktiven Verbindung während der in vivo-Exposition zu verbessern. Zur Lösung dieser Aufgabe schlage das Verfügungspatent eine Zusammensetzung mit den Merkmalen des Patentanspruchs 1 vor (vgl. Merkmalsgliederung LGU, Seite 9).
12
Die angegriffene Ausführungsform mache nach dem Ergebnis der durchgeführten Analyse wortsinngemäß von sämtlichen Merkmalen des Patentanspruchs 1 Gebrauch. Dem sei die Antragsgegnerin auch nicht entgegengetreten.
13
Allerdings fehle es an dem für den Erlass einer einstweiligen Verfügung notwendigen Verfügungsgrund.
14
Dabei komme es im vorliegenden Fall nicht darauf an, ob der Rechtsprechung des Senats und des Oberlandesgerichts Düsseldorf insoweit zu folgen sei, dass eine einstweilige Verfügung in Patentverletzungsfällen grundsätzlich nur dann in Betracht komme, wenn das Verfügungspatent bereits in einem kontradiktorischen Verfahren einer Überprüfung auf seine Schutzfähigkeit standgehalten habe, oder ob einstweilige Verfügungen mit Blick auf die gebotene effektive Rechtsdurchsetzung (Art. 9, 3 Abs. 2 der Durchsetzungsrichtlinie) angesichts der gesetzlich vorgesehenen Bindung der Verletzungsgerichte an die Entscheidungen der für den Rechtsbestand zuständigen, fachkundigen Behörden bereits grundsätzlich und nicht nur in den in den vorgenannten Entscheidungen aufgeführten Sonderkonstellationen gewährt werden müssten. Selbst wenn man entgegen der Rechtsprechung der zuständigen Oberlandesgerichte von dem grundsätzlichen Erfordernis eines kontradiktorisch geführten Rechtsbestandsverfahrens absehen wollte, müsse ein nach den allgemeinen Kriterien zu prüfender Verfügungsgrund gegeben sein, also die Glaubhaftmachung einer objektiv begründeten Gefahr, dass durch Veränderung des status quo die Rechtsverwirklichung des Antragstellers mittels des im Hauptsacheprozess erlangten Urteils einschließlich dessen Vollstreckung vereitelt oder erschwert würden. Dabei sei das Sicherungsinteresse des Antragstellers auf der einen Seite und der Eingriff in die Rechte des Antragsgegners durch die einstweilige Verfügung auf der anderen Seite abzuwägen. Notwendig sei eine einstweilige Verfügung vor allem dann nicht, wenn der Antragsteller mit der Geltendmachung seiner Rechte unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalles so lange zugewartet habe, dass die nun bestehende Dringlichkeit dadurch erst entstanden sei. Obgleich bei Anwendung der allgemeinen Maßstäbe das Interesse eines Antragsgegners der gesetzlichen Regelung nach über die Schadensersatzregelung des § 945 ZPO für den Fall abgesichert sei, dass sich eine einstweilige Verfügung nachträglich als ungerechtfertigt erweisen sollte, müssten mit einem vorläufigen Unterlassungstitel gegebenenfalls verbundene, unverhältnismäßige Härten gerade auch mit Blick auf Art. 3 Abs. 2 der Durchsetzungsrichtlinie vermieden werden. Daher komme jedenfalls in Fällen, in denen sich die Unwirksamkeit eines Patents geradezu aufdränge und ein Widerruf im Rahmen eines anhängigen Einspruchsverfahrens mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei, die Annahme der für den Erlass einer einstweiligen Verfügung notwendigen Dringlichkeit nicht in Betracht.
15
Im vorliegenden Fall könne der Antragstellerin zwar nicht entgegengehalten werden, die Rechtsverfolgung nicht hinreichend dringlich betrieben zu haben. Insbesondere gingen die Verzögerungen im Zusammenhang mit der Auswahl des Testlabors in den USA nicht zu ihren Lasten. Aus der maßgeblichen ex-ante-Perspektive sei die Entscheidung der Antragstellerin, die angegriffene Ausführungsform über das ihr bereits bekannte und erprobte Testlabor in den USA analysieren zu lassen, nicht als dringlichkeitsschädlich zu beanstanden. Der Antragstellerin sei insoweit zuzubilligen, den aus ihrer Sicht verlässlicheren Weg über das ihr bekannte und bewährte Labor zu wählen, da mit der Beauftragung ihr nicht bekannter, neuer Labore weitere Unwägbarkeiten hätten verbunden sein können, die ihrerseits wiederum mögliche weitere Verzögerungen hätten nach sich ziehen können.
16
Allerdings sei der Erlass einer einstweiligen Verfügung im vorliegenden Fall nicht notwendig im Sinne von § 940 ZPO, da mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sei, dass das Verfügungspatent im Rahmen der anhängigen Einspruchsverfahren widerrufen werde. Die ganz überwiegenden Gründe sprächen vorliegend dafür, dass die Voraussetzungen des Einspruchsgrundes der unzulässigen Erweiterung gemäß Art. 100 lit. c) EPÜ erfüllt seien. Gemäß Art. 101 Abs. 2, 100 lit. c), Art. 123 Abs. 2 EPÜ sei ein europäisches Patent zu widerrufen, wenn dessen Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung oder, wenn das Patent auf einer Teilanmeldung beruhe, über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe. Entscheidend sei damit, ob der von der Antragstellerin geltend gemachte Anspruch 1 über den Inhalt der Stammanmeldung WO ’928 hinausgehe. Das Verbot der Erweiterung gelte gem. Art. 76 Abs. 1 EPÜ gleichermaßen für Teilanmeldungen in Verhältnis zur Stammanmeldung, wobei die gleichen Grundsätze wie bei Art. 123 Abs. 2 EPÜ anzuwenden seien. Art. 123 Abs. 2 EPÜ liege der Gedanke zugrunde, dass es einem Anmelder nicht gestattet sei, seine Position durch Hinzufügung von in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarten Gegenständen zu verbessern, weil ihm dies zu einem ungerechtfertigten Vorteil verhülfe und der Rechtssicherheit für Dritte, die sich auf den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung verließen, abträglich sein könnte. Vor dem Hintergrund des daher gebotenen, strengen Prüfungsmaßstabes gelte, dass jede Änderung an den die Offenbarung betreffenden Teilen einer Europäischen Patentanmeldung oder eines Europäischen Patents (der Beschreibung, der Patentansprüche und der Zeichnungen) dem in Art. 123 Abs. 2 EPÜ statuierten zwingenden Erweiterungsverbot unterliege und daher unabhängig vom Kontext der vorgenommenen Änderung nur im Rahmen dessen erfolgen dürfe, was der Fachmann der Gesamtheit dieser Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens – objektiv und bezogen auf den Anmeldetag – unmittelbar und eindeutig entnehmen könne (sog. „Goldstandard“). Maßgeblich sei der Vergleich mit der jeweiligen Fassung von Beschreibung, Patentansprüchen und Zeichnungen.
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Nach diesen Maßstäben sei davon auszugehen, dass das Verfügungspatent eine unzulässige Erweiterung der Stammanmeldung WO ’928 darstelle. Die maßgebliche Offenbarung des Anspruchs 1 des Verfügungspatents ergebe sich der Antragstellerin zufolge zum einen aus Anspruch 1 des Dokuments EP 3 395 338 A 1 und zum anderen aus den Absätzen [0004], [0013], [0034] und [0035] der Stammanmeldung. Die Offenbarung in Anspruch 1 der Teilanmeldung an sich genüge wie bereits dargelegt nicht. Entscheidend sei gemäß Art. 100 lit. c) EPÜ vielmehr, dass sich eine dem geltend gemachten Patentanspruch entsprechende Offenbarung aus der der Teilanmeldung zu Grunde liegenden Stammanmeldung ergebe. In der Stammanmeldung werde der von der Antragstellerin geltend gemachte Anspruch indes nicht den Vorgaben der Großen Beschwerdekammer entsprechend in unmittelbarer und eindeutiger Weise offenbart. Insbesondere erschließe sich nicht, woraus sich aus Sicht eines Fachmannes aus Abs. [0004] der Stammanmeldung die Offenbarung einer Arzneimittel-Verbindung mit einem bestimmten Anteil an Cellulose und Stärke, die noch dazu in einem spezifisch vorgegebenen Gewichtsverhältnis zueinander stehen sollten, ergeben solle. Abs. [0004] enthalte lediglich eine ganz allgemeine und aus dem Stand der Technik hinlänglich bekannte Zielsetzung, einen bestimmten Wirkstoff mit einem geeigneten Arzneimittelträger zur Verfügung zu stellen. Zugleich werde betont, dass für die vorliegende Erfindung das Erreichen eines bestimmten Auflösungsprofils von Bedeutung sei. Worin genau das zu lösende technische Problem liege und wie die entsprechende Lösung erreicht werde, sei hieraus nicht ersichtlich. Abs. [0004] werde auch in dem von der Antragstellerin genannten Abs. [0013] nicht dahingehend weiter konkretisiert, dass dem Fachmann daraus die dem geltend gemachten Anspruch 1 zu Grunde liegende Merkmalskombination offenbart würde. Abs. [0013] offenbare dem Fachmann die Verwendung des aus dem Stand der Technik im Prioritätszeitpunkt bekannten Wirkstoffs Cinacalcet als möglichen calciumrezeptoraktiven Arzneimittelbestandteil. Dazu werde näher erläutert, dass der Wirkstoff Cinacalcet in verschiedenen Formen bereitgestellt werden könne (etwa amorphe Pulver, kristalline Pulver und Gemische entsprechender Pulver). Darüber hinaus werde dem Fachmann auch aus Abs. [0034] und [0035] die anspruchsgemäße Merkmalskombination nicht auf die notwendige eindeutige und unmittelbare Weise offenbart. Die genannten Absätze offenbarten vielmehr jeweils nur einzelne Merkmale, deren Kombination aus Sicht des Fachmanns nicht naheliege. Abs. [0034] offenbare Merkmal 3.3 des Verfügungspatents. Abs. [0035] offenbare Merkmale 3.1, 3.2. und 3.4. Dabei ergebe sich eine Kombination der einzelnen Merkmale aus Abs. [0034] und [0035] für den Fachmann schon deswegen nicht in eindeutig und unmittelbarer Art und Weise, weil allein das in Abs. [0034] beschriebene Gewichtsverhältnis wiederum in drei verschiedenen Varianten gelehrt werde.
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Dass eine Kombination dieser Merkmale nach dem Offenbarungsgehalt der Stammanmeldung für den Fachmann nicht naheliege, ergebe sich weiter daraus, dass die in der Stammanmeldung aufgelisteten, insgesamt 118 einzelnen Ansprüche, Unteransprüche und rückbezogenen Ansprüche in keinem Fall die mit dem Verfügungspatent geltend gemachte Merkmalskombination vorsähen. Vielmehr zeige eine nähere Betrachtung der in den Ansprüchen der Stammanmeldung offenbarten Merkmalskombinationen, dass eine klare Differenzierung zwischen den Ausführungsbeispielen der Abs. [0034] und [0035] erfolge. So sähen die Ansprüche 39 und 40 der Stammanmeldung jeweils rückbezogen auf Ansprüche 31 und 1 die Verwendung von mikrokristalliner Cellulose oder Stärke mit dem jeweils in Abs. [0035] vorgesehenen Gewichtsanteil vor. Anspruch 35 der Stammanmeldung sehe daneben das in Abs. [0034] offenbarte Gewichtsverhältnis zwischen Stärke und mikrokristalliner Cellulose vor. Eine Kombination der Ansprüche 35, 39 und 40 der Stammanmeldung werde in dieser dagegen nicht offenbart. Ferner könne eine Offenbarung der in Anspruch 1 des Verfügungspatents genannten Merkmalskombination auch nicht unter Berücksichtigung der weiteren Ansprüche der Stammanmeldung angenommen werden. Zwar werde die Verwendung von Stärke in Verbindung mit mikrokristalliner Cellulose in den Ansprüchen 48 sowie 98, 99 und 106 bis 110 der Stammanmeldung als solche offenbart, dies allerdings ausschließlich in Kombination mit jeweils weiteren Merkmalen. Insbesondere werde von den vorstehend genannten Ansprüchen der Stammanmeldung jeweils ausdrücklich die Verwendung eines Bindemittels vorausgesetzt. Eine Offenbarung der in Anspruch 1 des Verfügungspatents geltend gemachten Merkmalskombination könne hier nicht angenommen werden, weil die Weglassung eines Bindemittels als unzulässige Erweiterung anzusehen sei. Der Fachmann erkenne aus der Stammanmeldung insoweit vielmehr, dass es sich bei dem mit einem Gewichtsanteil von 1 % bis 5 % zu verwendenden Bindemittel um ein für die Erfindung wesentliches Merkmal handele. Ob eine Änderung durch Weglassen eines Merkmals zulässig sei, ohne dass ein entsprechend geänderter Anspruch über den ursprünglichen Offenbarungsgehalt hinausgehe, bestimme sich dem Europäischen Patentamt zu Folge nach einem dreistufigen Wesentlichkeitstest. Vorliegend scheitere die Zulässigkeit des Weglassens der Verwendung eines in einem bestimmten Gewichtsverhältnis vorgesehenen Bindemittels bereits auf der ersten Stufe des vorgenannten Wesentlichkeitstests. Die Antragstellerin selbst habe im Rahmen des Einspruchsverfahrens betreffend das EP ’182 betont, dass es sich bei dem in einem bestimmten Gewichtsanteil vorgesehenen Bindemittel um einen für die Erfindung entscheidenden Bestandteil handele. Vor diesem Hintergrund stelle es einen letztlich unauflösbaren Widerspruch dar, wenn man im Rahmen des Verfügungsverfahrens nunmehr ein Bindemittel als verzichtbaren und unwesentlichen Bestandteil betrachten wollte. Weiter zeige insbesondere Abs. [0037] der Stammanmeldung, dass der in Ansprüchen 98 ff. der Stammanmeldung in Bezug genommene Anspruch 78 das Bindemittel als wesentlichen Bestandteil ansehe. Dem entspreche auch der Offenbarungsgehalt des Abs. [0038] der Stammanmeldung, in dem eine Formulierung mit konkret benannten Hilfsstoffen und bestimmten Mengenangaben beschrieben und der Fachmann ausdrücklich auf die Verwendung eines Bindemittels hingewiesen werde. Gleiches folge aus den Abschnitten [0057] bis [0070], in denen die Herstellung von Tabletten in drei verschiedenen Stärken (30 mg, 60 mg, 90 mg Cinacalcet HDI) beschrieben werde, wobei sämtlich als Hilfsstoffe Stärke, mikrokristalline Cellulose als Verdünnungsmittel, Povidon als Bindemittel und Crospovidon als Sprengmittel enthalten seien. Nichts anderes ergebe sich aus dem von der Antragstellerin vorgelegten Entwicklungsbericht vom 14.08.2020 aus einem aktuell durchgeführten Test, der die Sicht des relevanten Fachmanns im Zeitpunkt der Einreichung der Stammanmeldung nicht belege. Auch die von der Antragstellerin darüber hinaus vorgelegte Sachverständigenerklärung von Professor Blume verhalte sich nicht dazu, ob Bindemittel mit einem bestimmten Gewichtsanteil in der anspruchsgemäßen Formulierung nach der Offenbarung der Stammanmeldung als wesentlich anzusehen seien. Verdünnungsmittel und Bindemittel seien im Rahmen des gemäß Anspruch 78 der Stammanmeldung geschützten Ausführungsbeispiels die unmittelbaren Gegenspieler um die Löslichkeit des an sich nur schwer löslichen Wirkstoffs Cinacalcet. Das in einem bestimmten Gewichtsverhältnis vorgesehene Bindemittel könne daher nicht als unwesentliches, verzichtbares Merkmal angesehen werden.
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Die Antragstellerin hat gegen das ihr am 06.11.2020 zugestellte Endurteil mit Schriftsatz vom 04.12.2020 Berufung eingelegt, die sie mit Schriftsatz vom 04.01.2021 begründet hat.
20
Die Antragstellerin führt zur Begründung ihrer Berufung Folgendes aus:
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Das Landgericht habe zu Unrecht den Verfügungsantrag zurückgewiesen, weil es den Verfügungsgrund auf der Grundlage des sog. dreistufigen Wesentlichkeitstest versagt habe. Der dreistufige Wesentlichkeitstest sei nicht der richtige Maßstab. Zum dreistufigen Wesentlichkeitstest sei in einer jüngeren Entscheidung der Beschwerdekammer des EPA vom 08.07.2020 (T 0437/17) in Anlehnung an die frühere Entscheidung T 2599/12 ausgeführt worden, dass in Fällen, in denen gezeigt werden könne, ob eine Änderung innerhalb der Grenzen dessen gemacht worden sei, was der Fachmann eindeutig und unmittelbar unter Einsatz des allgemeinen Fachwissens objektiv gesehen und bezogen auf das Anmeldedatum dem Inhalt der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht entnehmen könne, d.h. ob die Änderung den „Goldstandard“ erfülle, der sog. Drei-Punkte-Wesentlichkeitstest überflüssig, unnötig und missverständlich sei und nicht angewendet werden solle.
22
Im Ausgangspunkt allerdings noch zutreffend habe das Landgericht für die Frage, ob eine unzulässige Erweiterung vorliege, auf die ursprüngliche Stammanmeldung WO ’928 abgestellt, die mit dem geltend gemachten Anspruch 1 des Verfügungspatents zu vergleichen sei. Die in Anspruch 1 beschriebene pharmazeutische Zusammensetzung sei eindeutig und unmittelbar in der Stammanmeldung WO ’928 als zur Erfindung gehörend offenbart, wenn – richtigerweise – auf die Abschnitte [0004] und [0013] und [0034] und [0035], die die Erfindung in allgemeiner Form beschrieben, abgestellt werde, ohne sogleich – zu Unrecht – unter Vernachlässigung dieser allgemeinen Offenbarungsstellen die speziellen Ansprüche in den Blick zu nehmen.
23
Bei einer zutreffenden Beurteilung des Offenbarungsgehaltes der WO ’928 ergebe sich, dass der sog. „Goldstandard“ erfüllt sei und die Voraussetzungen des Einspruchsgrundes der unzulässigen Erweiterung gemäß Art. 100 lit. c) EPÜ nicht vorlägen. Das Landgericht habe die einzelnen für eine Offenbarung in Frage kommenden Abschnitte der Stammanmeldung mit der – stillschweigenden – Vorgabe untersucht, dass die Merkmale des erteilten Anspruchs nur dann in der Stammanmeldung offenbart wären, wenn sie sich geschlossen in einem einzigen der in Rede stehenden Abschnitte finden würden (vgl. Seite 14 LGU unter Ziffer (3)). Das sei nicht der richtige Prüfungsmaßstab. Durchaus könnten sich die in Rede stehenden Merkmale aus der Kombination zweier Abschnitte der Stammanmeldung ergeben. Die Unterteilung der Beschreibung in Abschnitte sei lediglich redaktioneller Natur, sodass die Anmeldung auch so gelesen werden könne, als wenn die Untergliederung in Abschnitte nicht vorhanden wäre. Abgesehen davon gebe es keinen Rechtssatz des Inhalts, dass bei der Ermittlung des Gesamtoffenbarungsgehaltes einer Stammanmeldung nur solche Merkmale offenbart seien, deren Kombination für den Fachmann „naheliege“ (vgl. LGU Seite 15 oben). Die Kategorie des „Naheliegens“ passe in diesem Zusammenhang nicht. Es gehe einzig und allein um die Frage, ob und welche Merkmale „als zur Erfindung gehörend“ eindeutig und unmittelbar ursprünglich offenbart worden seien. Hierfür sei auf die Stammanmeldung in ihrer Gesamtheit abzustellen, ohne diese in einzelne Abschnitte zu zergliedern.
24
Das Landgericht gehe – ebenfalls zu Unrecht – noch einen Schritt weiter in die andere Richtung und verenge den Offenbarungsgehalt, indem es sich zum Maßstab mache, ob die Ansprüche der Stammanmeldung die Kombination der Merkmale des erteilten Anspruches des Verfügungspatents vorsähen (Seite 15 LGU oben). Einen Rechtsatz, dass die Ansprüche der Ursprungsoffenbarung für die Ermittlung dessen, was ursprünglich offenbart worden sei, zwingend maßgeblich seien, gebe es aber nicht. Auch was in den Ansprüchen einer Anmeldung überhaupt nicht aufgegriffen werde, könne gleichwohl in der gesamten Anmeldeschrift als zur Erfindung gehörend ursprünglich offenbart sein. Es sei daher rechtsfehlerhaft, für eine etwaige Offenbarung im allgemeinen Beschreibungsteil der Stammanmeldung die Ansprüche als limitierende Grenze für den Offenbarungsgehalt zu sehen.
25
Im Kontext der gesamten Offenbarung fänden sich in den Absätzen [0004], [0013], [0034] und [0035] die maßgebende Offenbarungsgrundlage für den Anspruch 1 des Verfügungspatents. Zu Recht stelle das Landgericht fest, dass Absatz [0035] die Merkmale 3.1, 3.2 und 3.4 des erteilten Anspruchs offenbare. Soweit das Landgericht weiter zu Recht feststelle, dass das Merkmal 3.3 betreffend das Gewichtsverhältnis von Cellulose und Stärke nicht in Abschnitt [0035] offenbart sei, verwundere dies nicht, weil Abschnitt [0035] nicht das Gewichtsverhältnis der Stoffe zueinander, sondern die Menge in Prozent bezogen auf das Gesamtgewicht der Zusammensetzung darstelle. Zu Recht stelle das Landgericht weiter fest, dass das Merkmal 3.3 betreffend das Gewichtsverhältnis von Cellulose und Stärke zueinander in Abschnitt [0034] offenbart sei. Aus diesen Feststellungen des Landgerichts ergebe sich, dass die in Rede stehenden Merkmale 3.1 bis 3.4 eindeutig und unmittelbar in der Stammanmeldung offenbart seien. Zu Unrecht verneine das Landgericht dies mit dem Argument, dass das in Abschnitt [0034] beschriebene Gewichtsverhältnis „wiederum in drei verschiedenen Varianten gelehrt wird“. Damit übergehe das Landgericht den Hinweis in Abschnitt [0034], dass das prinzipiell offenbarte Gewichtsverhältnis von 1:1 zu 15:1 beispielhaft („for example“) verengt werden könne. Wenn eine prinzipielle Möglichkeit vorgeschlagen werde, die beispielhaft engere Bereiche umfasse, würden damit nicht „drei verschiedene Varianten“ gelehrt. Bei seiner Sicht vernachlässige das Landgericht auch vollständig die unterschiedliche Einleitung des Abschnittes [0034] im Vergleich zu derjenigen des Abschnittes [0035]. Es heiße zu Beginn des Abschnittes [0034], dass in „some embodiments of the present invention“ die Zusammensetzung umfassen könne „microcrystalline cellulose and starch“, und zwar in dem genannten Gewichtsverhältnis zueinander. Der nächste Abschnitt [0035] schließe nahtlos hieran an, wenn ohne Verweis auf ein weiteres „embodiment“ sowohl für „microcrystalline cellulose“ als auch für „starch“ der Gehalt in Gewichtsprozenten bezogen auf das Gesamtgewicht der Zusammensetzung genannt werde. Dies werde insbesondere auch durch die Verwendung des bestimmten Artikels „The“ zu Beginn des ersten und des zweiten Satzes in Abschnitt [0035] deutlich. Der bestimmte Artikel „The“ verknüpfe somit die in Abschnitt [0035] genannten Bereiche unmittelbar und eindeutig mit der direkt zuvor genannten Ausführungsform gemäß Abschnitt [0034]. Die beiden Abschnitte [0034] und [0035] seien also nicht voneinander zu trennen, sondern wegen der engen inhaltlichen und grammatikalischen Verbindung wie ein einziger Fließtext zu lesen und zu verstehen. Daher seien dem Fachmann in diesen beiden Abschnitten [0034] und [0035] der Stammanmeldung eindeutig und unmittelbar die Merkmale 3.1 bis 3.4 als zur beanspruchten Erfindung gehörend offenbart, so dass der erteilte Anspruch 1 des Verfügungspatentes auf diese Merkmale habe gerichtet werden können.
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Auf die weiter vom Landgericht auf den Seiten 15 bis 20 LGU erörterten Ansprüche der Stammanmeldung komme es somit nicht an.
27
Da es in den beiden Abschnitten [0034] und [0035] um „the composition“ gehe, womit eine solche gemeint sei wie in den beiden Abschnitten [0004] und [0013] offenbart, seien auch die weiteren Merkmale 1, 2 und 3 ursprungsoffenbart, was das Landgericht zu Recht nicht problematisiert habe.
28
Die Antragstellerin beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils des Landgerichts München 1 vom 04.11.2020 (Az. 21 O 1162 8/20) wie folgt für Recht zu erkennen:
I. Der Verfügungsbeklagten wird im Wege der einstweiligen Verfügung, und zwar wegen der besonderen Dringlichkeit ohne vorherige mündliche Verhandlung, untersagt, eine pharmazeutische Zusammensetzung umfassend
a) Cinacalcet-HCI;
b) einen pharmazeutisch akzeptablen Arzneistoffträger, umfassend mikrokristalliner Cellulose in einer Menge im Bereich von 25–85 % und Stärke in einer Menge im Bereich von 5–35 % und wobei das Gewichtsverhältnis von mikrokristalliner Cellulose und Stärke in einem im Bereich von 1:1–15:1 liegt, wobei der Prozentsatz nach Gewicht auf das Gesamtgewicht der Zusammensetzung bezogen ist,
nämlich Cinacalcet beta 30 mg Filmtabletten (Zulassungs-/Reg-Nr. (AMG76): 95221.00.00; EU-Verfahren: DE/H/4452/001/DC),
Cinacalcet beta 60 mg Filmtabletten (Zulassungs-/Reg-Nr. (AMG76): 95222.00.00; EU-Verfahren: DE/H/4452/002/DC),
Cinacalcet beta 90 mg Filmtabletten (Zulassungs-/Reg-Nr. (AMG76): 95223.00.00; EU-Verfahren: DE/H/4452/003/DC),
in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen;
– EP 3 395 338 – Patentanspruch 1 –
II. Der Verfügungsbeklagten wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen dieses gerichtliche Verbot als Zwangsvollstreckungsmaßnahme Ordnungsgeld bis zu EUR 250.000,00, ersatzweise Ordnungshaft, oder eine Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, im Falle mehrfacher Zuwiderhandlung bis zu insgesamt 2 Jahren, jeweils zu vollziehen an ihrem Geschäftsführer, angedroht.
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Die Antragsgegnerin beantragt:
Die Berufung der Antragstellerin gegen das Urteil des Landgericht München I vom 4.11.2020, Aktenzeichen 21 O 11628/20, wird zurückgewiesen.
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Die Antragsgegnerin führt in Erwiderung auf die Berufung unter ergänzender Bezugnahme auf ihr erstinstanzliches Vorbringen Folgendes aus:
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Das Erstgericht habe rechtsfehlerfrei ganz überwiegende Gründe dafür angenommen, dass im Hinblick auf den mit dem Verfügungspatent beanspruchten Gegenstand die Voraussetzungen des Einspruchsgrundes der unzulässigen Erweiterung gemäß Art. 100 lit. c) EPÜ erfüllt seien. Bei Anwendung des Goldstandards gelange das Erstgericht zutreffend zu dem Ergebnis, dass das Verfügungspatent gegenüber dem Offenbarungsgehalt der Stammanmeldung unzulässig erweitert sei. Die beanspruchte Merkmalskombination werde nicht in den von der Antragstellerin insoweit in Bezug genommenen Absätzen [0004], [0013], [0034] und [0035] der Stammanmeldung offenbart. Das Erstgericht weise hierzu zutreffend darauf hin, dass Absatz [0004] der Stammanmeldung lediglich eine ganz allgemeine und aus dem Stand der Technik bekannte Zielsetzung, einen bestimmten Wirkstoff mit einem geeigneten Arzneimittelträger bereitzustellen, offenbare, und auch durch Absatz [0013] nicht weiter konkretisiert werde. Die Absätze [0034] und [0035] offenbarten für den Fachmann jeweils lediglich einzelne Merkmale, aber nicht deren Kombination. Auch die Berücksichtigung der Ansprüche der Stammanmeldung führe nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Erstgerichts zu keinem anderen Ergebnis. Zwar werde die Verwendung von Stärke und mikrokristalliner Cellulose als solche in einzelnen Ansprüchen der Stammanmeldung offenbart. Dies sei aber ausschließlich in Kombination mit jeweils weiteren Merkmalen der Fall, nämlich insbesondere der Verwendung eines für die Erfindung wesentlichen Bindemittels mit einem bestimmten vorgegebenen Gewichtsanteil. Dies habe allerdings keinen Eingang in den Anspruch 1 des Verfügungspatents gefunden.
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Es sei zwar zutreffend, dass bei der Beurteilung einer Änderung der Patentansprüche grundsätzlich der Goldstandard anzuwenden sei. Die Antragstellerin verkenne dabei jedoch, dass der dreistufige Wesentlichkeitstest dabei auch weiterhin – jedenfalls unterstützend – herangezogen werden dürfe, wie auch durch die von der Antragstellerin in Bezug genommene Entscheidung T 0437/17 bestätigt werde. Entgegen den Ausführungen der Antragstellerin sei es also nicht per se unzulässig, den dreistufigen Wesentlichkeitstest anzuwenden. Die Anwendung bleibe vielmehr dann möglich, wenn der dreistufige Wesentlichkeitstest ein Indiz dafür liefern solle, ob eine Änderung mit Art. 123 Abs. 2 EPÜ in der Auslegung gemäß dem Goldstandard vereinbar sei. Er könne also bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Änderung helfen, solange er den Goldstandard nicht ersetze und zu keinem anderen Ergebnis führe. An diese Vorgaben habe sich das Erstgericht bei der Beurteilung der beim Verfügungspatent gegenüber der Stammanmeldung vorgenommenen Änderungen konsequent und damit frei von Rechtsfehlern gehalten, indem die gemäß dem Goldstandard formulierten Kriterien zur Beurteilung einer Änderung der Patentansprüche den Ausgangspunkt des Erstgerichts bildeten (vgl. LGU S. 12) und der dreistufige Wesentlichkeitstest lediglich ergänzend herangezogen werde (vgl. LGU S. 16).
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Völlig zutreffend habe das Erstgericht festgestellt, dass der beanspruchte Gegenstand in den Absätzen [0004], [0013], [0034] sowie [0035] der Stammanmeldung nicht offenbart sei. Die Auffassung der Antragsgegnerin, dass die Absätze [0034] und [0035] nur aus redaktionellen Gründen voneinander getrennt seien und deren Offenbarungsgehalt in Kombination zu lesen sei, treffe nicht zu. Absatz [0034] offenbare das Gewichtsverhältnis, das mikrokristalline Cellulose und Stärke zueinander aufweisen sollten. Hierfür offenbare Absatz [0034] mehrere Alternativen Absatz [0035] offenbare den Gehalt für mikrokristalline Cellulose und Stärke, wobei für den Gehalt des jeweiligen Hilfsstoffs ebenfalls mehrere Alternativen genannt seien. Der Fachmann müsse also den Gehalt beider Hilfsstoffe aus den hierfür genannten Listen auswählen. Dies verkenne die Klägerin offenbar, wenn sie darauf hinweise, dass der Fachmann die in den Absätzen [0034] und [0035] offenbarten Merkmale als Fließtext lese. Es sei hierbei auch unerheblich, dass die in Anspruch 1 des Verfügungspatents gewählten Merkmale den jeweils breitesten Bereich der in den Listen genannten Möglichkeiten abdeckten. Der Offenbarungsgehalt der Stammanmeldung gebe dem Fachmann nämlich keinen Hinweis dahingehend, dass der breiteste Bereich gegenüber den engeren Bereichen bevorzugt auszuwählen sei. Die in den Absätzen [0034] und [0035] genannten Bereiche stellten sich für den Fachmann vielmehr als gleich bevorzugte Alternativen dar, also jeweils eigenständige Listen, aus denen das jeweilige Merkmal ausgewählt werden müsse. Die Aufnahme eines Mitglieds aus zwei Listen in die Patentansprüche ohne klaren Hinweis auf eine solche Kombination in den maßgeblichen Anmeldeunterlagen sei aber gemäß der einschlägigen Rechtsprechung des EPA eine unzulässige Erweiterung gemäß Art. 123 Abs. 2, Art. 76 Abs. 1 EPÜ.
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Wie bereits in erster Instanz dargelegt, sei die beanspruchte Merkmalskombination gemäß Anspruch 1 des Verfügungspatents auch nicht in den Ansprüchen 1, 35, 39 und 40 der Stammanmeldung offenbart. Der Stammanmeldung fehle jeder Hinweis für den Fachmann darauf, dass die auf den Anspruch 1 jeweils rückbezogenen Ansprüche 35, 39 und 40 miteinander zu verknüpfen seien. Soweit die Antragstellerin ausführe, dass das Erstgericht angeblich einen Rechtssatz angewandt habe, wonach die Ansprüche der Ursprungsoffenbarung für die Ermittlung dessen, was ursprünglich offenbar worden sei, zwingend maßgeblich seien, verkenne sie, dass das Erstgericht einen solchen Rechtssatz weder formuliert noch angewandt habe. Vielmehr habe das Erstgericht in Einklang mit dem Goldstandard den gesamten Offenbarungsgehalt der Stammanmeldung und damit natürlich auch den Offenbarungsgehalt der Ansprüche der Stammanmeldung gewürdigt, um zu prüfen, ob die beanspruchte Merkmalskombination in den Ansprüchen offenbart sein könne.
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Der Vollständigkeit halber sei schließlich darauf hingewiesen, dass auch der ursprüngliche Anspruch 78 der Stammanmeldung mit den vom ihm abhängigen Ansprüchen 89, 99, 106 bis 110 die Merkmalskombination gemäß Anspruch 1 des Verfügungspatents nicht offenbare, denn Anspruch 78 erfordere, dass die pharmazeutische Zusammensetzung ein Bindemittel aufweise und zwar in einem Gehalt von 1–5 Gew.-%. Entgegen den Ausführungen der Antragstellerin sei es in diesem Zusammenhang unbedenklich, dass das Erstgericht die Existenz des Bindemittels für wesentlich im Sinne des dreistufigen Wesentlichkeitstests halte und die unzulässige Erweiterung gegenüber dem Offenbarungsgehalt der Stammanmeldung auch mit dem Fehlen dieses Bestandteils in der pharmazeutischen Zusammensetzung begründe. Es sei Aufgabe der vermeintlichen Erfindung des Verfügungspatents, eine Cinacalcet-HCI-enthaltende pharmazeutische Zusammensetzung, die ein ganz spezifisches Auflösungsprofil aufweise, zur Verfügung zu stellen. Für dieses Auflösungsprofil sei die Existenz eines Bindemittels, noch dazu in einem Konzentrationsbereich von 1–5 Gew.-% wesentlich. Dies folge nicht nur aus der Anwendung des dreistufigen Wesentlichkeitstests, sondern auch aus der in Einklang mit den vom Erstgericht formulierten Vorgaben des Goldstandards vorzunehmenden Prüfung, ob der Fachmann die Merkmalskombination gemäß Anspruch 1 des Verfügungspatents, das heißt eine pharmazeutische Zusammensetzung ohne Bindemittel, der Gesamtheit dieser Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens – objektiv und bezogen auf den Anmeldetag – unmittelbar und eindeutig entnehmen könne. Das Erstgericht habe den Goldstandard angewandt und sei dabei zu dem gleichen Ergebnis gelangt, das der dreistufige Wesentlichkeitstest ergeben habe, nämlich, dass die Stammanmeldung die beanspruchte Merkmalskombination nicht ohne Bindemittel offenbare. Mit dieser Vorgehensweise habe das Erstgericht eindeutig den in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA formulierten Voraussetzungen genügt, wonach die Anwendung des dreistufigen Wesentlichkeitstests jedenfalls dann unbedenklich sei, wenn das durch ihn erlangte Ergebnis mit dem Ergebnis der Beurteilung auf Grundlage des Goldstandards übereinstimme.
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Der Verfügungsantrag sei im Übrigen auch deshalb zurückzuweisen, weil es dem mit dem Verfügungspatent beanspruchten Gegenstand an Neuheit mangele. Wie bereits erstinstanzlich umfassend ausgeführt (vgl. Schriftsatz vom 19.10.2020, S. 14 ff.), nehme das Verfügungspatent die Priorität der US ’219 vom 12.09.2003 nicht wirksam in Anspruch. Um die Priorität der US’219 für die Stammanmeldung und das Verfügungspatent in Anspruch nehmen zu können, müssten die Erfinder das aus der US’219 resultierende Prioritätsrecht vor dem Anmeldetag der Stammanmeldung auf die Verfügungsklägerin übertragen haben. Ausweislich den in der Erteilungsakte des USPTO zugänglichen Unterlagen hätten die Erfinder das Recht zur Inanspruchnahme der Priorität der US’219 erst nach dem Anmeldetag der Stammanmeldung übertragen, nämlich am 29.11.2004, so dass eine Übertragung des Prioritätsrechts nicht innerhalb der gemäß Art. 87 Abs. 1 EPÜ einzuhaltenden Frist von zwölf Monaten ab dem Anmeldetag der Prioritätsanmeldung erfolgt sei. Dass zwischen den Erfindern und der Verfügungsklägerin eine konkludente Vereinbarung zur Übertragung des Prioritätsrechts bereits vor dem Anmeldetag der Stammanmeldung getroffen worden sei, sei nicht ersichtlich. Der Umstand, dass die Erfinder eine ausdrückliche Erklärung in Bezug auf die Übertragung des Prioritätsrecht nach dem Anmeldetag der Stammanmeldung, nämlich erst am 29.11.2004 abgegeben hätten, spreche vielmehr dagegen. Nachdem die Erfinder in der Stammanmeldung nur für die USA und die Antragstellerin für alle Länder mit Ausnahme der USA benannt worden seien, könne bei dieser Konstellation auch nicht von gemeinsamen Anmeldern ausgegangen werden, wie erstinstanzlich bereits ausgeführt. Dies werde auch durch die kürzlich veröffentlichte Entscheidung T 407/15 der Beschwerdekammer des EPA bestätigt (PBP BE2). Das effektive Datum des Verfügungspatents sei aufgrund der nicht wirksamen Inanspruchnahme der Priorität des US ’219 der Anmeldetag der Stammanmeldung, also der 10.09.2004. Damit sei die Merkmalskombination gemäß Anspruch 1 des Verfügungspatents nicht mehr neu gegenüber dem Cinacalcethaltigen Produkt Sensipar® der Antragstellerin, das im März 2004 von der amerikanischen Arzneimittelbehörde zugelassen und ab dem 04.04.2004 in den USA vermarktet worden sei.
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Schließlich fehle es der Merkmalskombination gemäß Anspruch 1 des Verfügungspatents auch an erfinderischer Tätigkeit, wie bereits erstinstanzlich vorgetragen (vgl. Schriftsatz vom 19.10.2020, S. 20 ff. und ergänzend Ausführungen der Berufungserwiderung Rn. 46 ff.).
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Zudem sei die vom Erstgericht ohne nähere Begründung erfolgte Annahme, dass die Antragstellerin die Rechtsverfolgung hinreichend dringlich betrieben habe, rechtsfehlerhaft, so dass das Erstgericht den Verfügungsantrag jedenfalls auch wegen fehlender Dringlichkeit hätte zurückweisen müssen. Hätte das Erstgericht das Vorbringen der Parteien zur Auswahl und Beauftragung des Testlabors sowie zum anschließenden Vorgehen der Antragstellerin bis zur Einreichung des Verfügungsantrags umfassend gewürdigt, wäre es zu dem gleichen Ergebnis gelangt wie das LG Düsseldorf in dem im parallelen Verfügungsverfahren zum EP 3 260 117 B1 ergangenen Urteil vom 15.01.2021, Az. 4c O 55/20 (vgl. Anlage PBP BE 9). Die lückenlosen Feststellungen des LG Düsseldorf belegten, dass jede Verzögerung in dem viermonatigen Zeitraum vom Erwerb des Testmusters am 05.05.2020 bis zur Einreichung des Verfügungsantrags am 07.09.2020 im Ergebnis jeweils auf das Verhalten der Antragstellerin zurückzuführen sei. Dies gelte nicht nur für die Versendung des Testmusters und die internen Abstimmungs- und Genehmigungsprozesse, sondern vor allem auch für die Auswahl des Testlabors und den Umstand, dass die Antragstellerin nicht einmal versucht habe, auf die Abläufe bei dem Testlabor einzuwirken, um die Testdurchführung zu beschleunigen. Diese nachlässige Vorgehensweise rechtfertige den Schluss, dass der Antragstellerin an einer eiligen Rechtsverfolgung nicht gelegen und die Angelegenheit folglich insgesamt nicht dringlich gewesen sei. Die Feststellungen des Landgerichts griffen daher zu kurz, soweit es lediglich auf die – ohnehin zu kritisierende – Auswahl des Testlabors abstelle und dabei die übrigen gegen die Dringlichkeit sprechenden Umstände der Vorgehensweise der Antragstellerin gänzlich unberücksichtigt lasse.
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Die Antragstellerin erwidert hierauf, das EPA habe mit Vorbescheid vom 05.03.2021 (Anlage rop40/40a) in Bezug auf alle vorgetragenen Gesichtspunkte genau den gegenteiligen Standpunkt eingenommen und mit überzeugender und eingehender Begründung die Schutzfähigkeit des Verfügungspatentes bejaht, so dass sämtliche Einsprüche aller Voraussicht nach zurückgewiesen werden würden. Aufgrund dessen sei von der Schutzfähigkeit des Verfügungspatents auszugehen. Insbesondere sei die Einspruchsabteilung in ihrer vorläufigen Stellungnahme zutreffend zu dem Schluss gekommen, dass das Verfügungspatent die Priorität der US 60/502,219 wirksam in Anspruch nehmen könne. Dies stehe im Einklang mit mehreren Entscheidungen der Einspruchsabteilungen des EPA aus den letzten vier Jahren, die das Prinzip der gemeinsamen Anmelder auch dann angewandt hätten, wenn die Anmelder der Prioritätsanmeldung unter den Anmeldern der PCT-Nachanmeldung gewesen seien, ohne dass es erforderlich gewesen sei, dass sie auch für den Bestimmungsstaat EP als Anmelder genannt gewesen seien. Demgegenüber beruhe die Entscheidung in der Rechtssache T 407/15 auf der Feststellung der Beschwerdekammer, wonach – anders als hier – die Anmelder der prioritätsbegründenden Anmeldung nicht zugleich Anmelder der prioritätsbeanspruchenden Anmeldung gewesen seien. Davon abgesehen hätten die im Verfügungspatent genannten Erfinder als Angestellte der Antragstellerin vor dem Prioritätszeitpunkt des Verfügungspatents ihre Rechte an zukünftigen Erfindungen und damit auch das vorliegende Prioritätsrecht an die Antragstellerin als ihre Arbeitgeberin abgetreten (vgl. eidesstattliche Versicherung Anlage rop 42/rop 42a, Ziff. 13–19). Damit im Einklang stehe es, dass die Übertragung zwischen den Erfindern und der Antragstellerin später zu formalen Erfassungszwecken noch einmal schriftlich bestätigt worden sei, und zwar ausdrücklich unter Verwendung der Vergangenheitsform („have sold, assigned, transferred ...“), wie das EPA in seinem Vorbescheid zutreffend festgestellt habe (s. Anlage rop 40, Ziff. 4.6).
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Die Bejahung der erfinderischen Tätigkeit durch die Einspruchsabteilung sei nicht nur im Ergebnis sondern auch mit der zugrundeliegende Begründung absolut konsistent mit den entsprechenden Ausführungen und Schlussfolgerungen der Beschwerdekammer in der Entscheidung zum Stammpatent sowie der Einspruchsabteilung in ihren vorläufigen Stellungnahmen zu den aus weiteren Teilanmeldungen hervorgegangenen Patenten EP 3 260 117 und EP 3 395 340. Wie das OLG Düsseldorf in einem parallelen Verfahren (GRUR-RS 2021, 4420) aus dem parallelen Patent EP ’117 der Antragstellerin gegen einen anderen Wettbewerber vor dem Hintergrund des fachkundigen und sorgfältig begründeten Vorbescheids zu EP ’117 festgestellt habe, komme der Einschätzung des EPA vorliegend bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit durch das Verletzungsgericht entscheidendes Gewicht zu. Es gebe für ein Verletzungsgericht, das keine überlegene pharmazeutische Sachkunde besitze, keinen Anlass, sich vorliegend über diese fachkundig begründete Einschätzung des EPA, die das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit bejahe, hinwegzusetzen.
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Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin habe die Antragstellerin das Verfügungsverfahren mit der notwendigen Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit betrieben. Insbesondere sei die von Antragsgegnerseite angeführte Sicht des Landgerichts Düsseldorf (AZ 4c O 55/20) durch spätere Entscheidungen des OLG Düsseldorf (Az. I-2 W 3/21, GRUR-RS 2021, 2572 sowie Az. I-2 W 4/21, Anlage rop 46) überholt, in denen vergleichbare 90-Tage-Zeiträume zwischen dem Erwerb des Testmusters und der Mitteilung der endgültigen Testergebnisse durch das Testlabor als nicht dringlichkeitsschädlich beurteilt worden seien.
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Die Antragsgegnerin hat mit Schriftsatz vom 19.04.2021, auf den inhaltlich Bezug genommen wird, weitere Ausführungen gemacht. Sie macht in Bezug auf den Vorbescheid des EPA geltend, dass die Einspruchsabteilung sich weder sorgfältig mit der Angelegenheit befasst noch die von den Einsprechenden jeweils vorgebrachten Einwände und Argumente im Hinblick auf die Fragen der unzulässigen Erweiterung, der Priorität und der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigt habe. In Bezug auf die Beurteilung der zeitlichen Dringlichkeit weiche der hier zu beurteilende Sachverhalt in entscheidenden Punkten von den Sachverhaltskonstellationen ab, die den von der Antragstellerin in Bezug genommenen Entscheidungen des OLG Düsseldorf zugrunde lägen.
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Ergänzend wird auf die von den Prozessbevollmächtigten eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Sitzungsprotokoll vom 22.04.2021 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

II.
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Die gemäß § 511 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere gemäß §§ 519 Abs. 1, Abs. 2, 517 ZPO form- und fristgerecht eingelegte und gemäß § 520 Abs. 2, Abs. 3 ZPO begründete Berufung der Antragstellerin hat keinen Erfolg.
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Soweit das Landgericht das Bestehen des geltend gemachten Unterlassungsanspruchs in der Sache bejaht hat, wendet sich die Berufung hiergegen nicht.
46
Es fehlt jedoch an dem für die Zulässigkeit des Verfügungsantrags erforderlichen Verfügungsgrund. Die Antragstellerin hat die zeitliche Dringlichkeit nicht glaubhaft gemacht. Im Übrigen ist das Landgericht im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass kein hinreichend gesicherter Rechtsbestand des Verfügungspatents angenommen werden kann.
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Der Erlass einer einstweiligen Verfügung setzt gem. §§ 935, 940 ZPO eine objektiv begründete Gefahr voraus, dass die Rechtsverwirklichung des Antragstellers mittels eines erst im Hauptsacheprozess erlangten Urteils vereitelt oder erschwert werden könnte. Dies verlangt zum einen eine für die Eilmaßnahme sprechende rein zeitliche Dringlichkeit und daneben eine Abwägung der widerstreitenden Interessen zwischen den dem Schutzrechtsinhaber ohne den Erlass der beantragten Verfügung drohenden Nachteilen, welche gegen die Interessen des als Verletzer in Anspruch genommenen Antragsgegners abgewogen werden müssen. Das Vorliegen eines Verfügungsgrundes ist seitens der Antragstellerin darzulegen und glaubhaft zu machen (§§ 936, 920 Abs. 2 ZPO).
48
1. Die für den Erlass einer einstweiligen Verfügung notwendige Dringlichkeit kann im Streitfall nicht angenommen werden.
49
a) Die erforderliche zeitliche Dringlichkeit ist grundsätzlich zu verneinen, wenn der Antragsteller mit der Rechtsverfolgung ohne sachlichen Grund zu lange zögert, da er in diesen Fällen selbst zu erkennen gibt, dass er nicht derart eilig auf das begehrte Verbot angewiesen ist, dass es ihm nicht zugemutet werden könnte, sein Rechtsschutzziel in einem Hauptsacheverfahren durchzusetzen. Die nach ständiger Rechtsprechung des Senats dabei zu wahrende einmonatige Dringlichkeitsfrist wird in Lauf gesetzt, wenn der Antragsteller Kenntnis von der fraglichen Verletzungshandlung und dem hierfür Verantwortlichen hat und er alle Informationen und Glaubhaftmachungsmittel besitzt, um mit Aussicht auf Erfolg einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung stellen zu können (st. Rspr. des Senats, vgl. die Nachw. bei Retzer in Harte/Henning, UWG, 4. Aufl., Anh. zu § 12 Rn. 957; s.a. Senat, GRUR 2020, 385 Rn. 60 – Elektrische Anschlussklemme). Die erforderlichen Glaubhaftmachungsmittel muss sich der Antragsteller zuvor mit der gebotenen Eile beschaffen (Retzer, a.a.O., § 12 Rn. 317). Sobald der Patentinhaber das mutmaßlich patentverletzende Erzeugnis in den Händen hat, trifft ihn die Obliegenheit, den betreffenden Gegenstand zügig und umfassend auf das Vorliegen einer Schutzrechtsverletzung zu untersuchen, also die notwendigen Untersuchungen alsbald in die Wege zu leiten, diese zielstrebig zum Abschluss zu bringen und, sofern sich ein positiver Befund ergibt, anschließend ohne übermäßiges Zögern die sich daraus ergebenden Verbietungsansprüche zu verfolgen (vgl. Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 13. Auflage, Kap. G Rn. 141). Generell darf er dabei einen sicheren Weg gehen und alle Glaubhaftmachungsmittel beschaffen, die bei einem denkbaren Verteidigungsverhalten des Gegners erforderlich werden können (Kühnen a.a.O.; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2013, 236, 238 – Flupirtin-Maleat). Maßgeblich ist stets, ob der Antragsteller das Seinige getan hat, um seine Verbietungsrechte zügig durchzusetzen, also ob er seine Rechtsverfolgung in einer Weise vorantreibt, die die Ernsthaftigkeit seines Bemühens erkennen lässt und es deswegen objektiv rechtfertigt, ihm Zugang zum einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu gewähren. Dass jede Aufklärungs- und Verfolgungsmaßnahme für sich betrachtet ggf. auch zügiger hätte absolviert werden können, ist nicht von Belang (Kühnen a.a.O. Kap. G Rn. 131; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2013, 236, 238 – Flupirtin-Maleat).
50
b) Im hier zu beurteilenden Streitfall ist unter Berücksichtigung der Gesamtumstände festzustellen, dass die Antragstellerin im Rahmen der Ermittlung des Verletzungssachverhalts nicht die gebotene Eile und Zielstrebigkeit an den Tag gelegt hat, um den Schluss zu rechtfertigen, dass sie auf die Durchsetzung ihres Rechtsschutzziels in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren angewiesen ist (vgl. auch im Parallelverfahren LG Düsseldorf, Urt. vom 15.01.2021, Az. 4c O 55/20, Anlage PBP BE9).
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(1.) Die Antragstellerin hatte ausweislich ihrer Berechtigungsanfrage an die Antragsgegnerin vom 27.02.2020 (Anlage ropl) seit diesem Zeitpunkt von der Existenz der angegriffenen Ausführungsform als solcher Kenntnis. Seit dem 24.04.2020 war der Antragstellerin bekannt, dass die angegriffene Ausführungsform der Antragsgegnerin in Deutschland vertrieben werden würde (vgl. Anlagen rop33, rop35a/35b), die Listung in der Lauer-Taxe erfolgte zum 01.05.2020. Der Erwerb des Testmusters der angegriffenen Ausführungsform erfolgte am 05.05.2020. Dieses wurde – im Hinblick auf die nach US-Recht geltenden Einfuhrbeschränkungen – am 11.05.2020 auf dem einfachen Postweg an die niederländische Tochtergesellschaft des in den USA sitzenden Labors ... übermittelt. Von dort wurde das Muster an das Testlabor in den USA weiterversandt, wo es am 01.06.2020 einging. Die Untersuchung des Testmusters begann am 06.07.2020, das Ergebnis lag am 07.08.2020 vor.
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(2.) Jedenfalls ab Erwerb des Testmusters am 05.05.2020 oblag es der Antragstellerin, im Interesse der Erlangung einstweiligen Rechtsschutzes gegen den Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform in Deutschland alle ihr möglichen und zumutbaren Anstrengungen zu unternehmen, um eine zügige Untersuchung der angegriffenen Ausführungsform durchzuführen. Der Patentinhaber ist in der Wahl des durch ihn mit der Untersuchung der angegriffenen Ausführungsform beauftragten Labors zwar grundsätzlich frei, allerdings darf das betreffende Labor nicht von vornherein ungeeignet erscheinen, um die von ihm geforderten Untersuchungen in einem zeitlich vertretbaren Rahmen durchzuführen (OLG Düsseldorf Beschl. v. 15.2.2021 – 2 W 3/21, GRUR-RS 2021, 2572, LS 2. – Cinacalcet). Im Streitfall stellt sich die Beauftragung des von der Antragstellerin gewählten Labors in den USA vor dem Hintergrund, dass dieses bereits praktische Erfahrung mit der Testung von Cinacalcet-Produkten und sich dabei als sorgfältig und zuverlässig erwiesen hatte, zwar grundsätzlich als nachvollziehbar und sachlich gerechtfertigt dar (s.a. OLG Düsseldorf, a.a.O., Rn. 17 – Cinacalcet). Allerdings waren bereits 9 Wochen ab dem Erwerb des Testmusters am 05.05.2020 und 5 Wochen ab Eingang des Testprodukts bei dem beauftragten Labor verstrichen, bis – am 06.07.2020 – überhaupt mit der Untersuchung einmal begonnen wurde. Dabei ist nach den zugrunde liegenden Feststellungen davon auszugehen, dass der Antragstellerin bekannt war, dass das Labor noch mit einer anderen Testrunde befasst war und eine Untersuchung des streitgegenständlichen Musters erst nach deren Abschluss beginnen würde. Ob vor diesem Hintergrund für die nunmehr anstehende Untersuchung die Beauftragung eines anderen Labors im Interesse einer zügigen Rechtsdurchsetzung angezeigt und sachdienlich gewesen wäre, wie von Antragsgegnerseite geltend gemacht wurde, oder ob die bereits erfolgte Vorbefassung des US-Labors mit Cinacalcet-Produkten aus der objektiven ex-ante Betrachtung in der Lage der Antragstellerin einen gewichtigen und zu berücksichtigen Grund für dessen erneute Beauftragung darstellt, bedarf keiner abschließenden Beurteilung. Denn auch wenn man zugunsten der Antragstellerin unterstellt, dass die Auswahl des Testlabors – insbesondere unter dem Aspekt, dass sich dieses Labor bereits mit den hier relevanten Produkten befasst und diesbezüglich bewährt hatte – unter Dringlichkeitsgesichtspunkten nicht zu beanstanden war, so hat sie im Rahmen ihrer Glaubhaftmachungslast weiterhin darzutun, dass die Durchführung der Untersuchung mit dem nötigen Nachdruck verfolgt wurde und hierbei keine Verzögerungen eingetreten sind, die im Interesse eines eiligen Rechtsschutzes vermeidbar gewesen wären. In diesem Zusammenhang ist insbesondere darzulegen und glaubhaft zu machen, dass seitens der Antragstellerin mit der gebotenen Zielstrebigkeit – auch wenn eine größtmögliche Schnelligkeit nicht zu verlangen ist (vgl. Kühnen a.a.O., Kap. G Rn. 131; OLG Düsseldorf, a.a.O., Rn. 17 – Cinacalcet) – die erforderlichen Schritte unternommen worden sind, um das Testverfahren durch das von ihr beauftragte Testlabor zu einem zügigen Ergebnis zu führen.
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Nach dem Vortrag der Antragstellerin konnte die Untersuchung der hier angegriffenen Ausführungsform erst nach Abschluss der zweiten Testrunde mit Cinacalcet-Produkten anderer Generikahersteller beginnen, da sich anderenfalls die Untersuchungszeit aller Testungen der zweiten und dritten Runde verzögert hätte (vgl. eidesstattliche Versicherung ..., Ziff. 4., Anlage rop34). Allerdings ist nicht nachvollziehbar dargetan, weshalb seit dem 23.06.2020 (Abschluss der zweiten Testrunde) noch einmal knapp zwei Wochen verstrichen sind, bis schließlich am 06.07.2020 die Untersuchung der angegriffenen Ausführungsform durch das Testlabor begonnen wurde. Dass in dieser Zeit Handlungen erfolgt wären, um die Aufklärung des Verletzungssachverhaltes voranzutreiben, was gerade angesichts der bereits verstrichenen langen Zeit im Interesse einer zügigen Rechtsdurchsetzung besonders angezeigt gewesen wäre, wurde weder substantiiert vorgetragen, noch ist dies sonst erkennbar. Soweit die Antragstellerin hierzu vorbringt, es hätten noch „interne Abstimmungen und Genehmigungen“ – deren Inhalt nicht näher dargelegt wird – eingeholt und die Kosten angewiesen werden müssen, fehlt – abgesehen von der Pauschalität dieses Vortrags – eine Erklärung dafür, weshalb dies im Interesse einer zügigen Rechtsdurchsetzung nicht bereits zuvor erfolgt ist, nachdem das Testmuster dem Labor bereits seit mehreren Wochen vorlag. Hierin unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt auch von den vom OLG Düsseldorf entschiedenen Fällen, auf die sich die Antragstellerin beruft (Az. I-2 W 3/21, GRUR-RS 2021, 2572 sowie Az. I-2 W 4/21, Anlage rop46). Dort hatte die Antragstellerin eine zweiwöchige Zeitspanne zwischen dem Eingang des Musters und dem Beginn der Untersuchung nach dem Dafürhalten des OLG Düsseldorf nachvollziehbar erläutert, so dass ein verzögerter Untersuchungsbeginn nicht festgestellt wurde (a.a.O., GRUR-RS 2021, 2572 Rn. 23 – Cinacalcet).
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(3.) Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass aufgrund des lediglich allgemein gehaltenen Vorbringens der Antragstellerin zu generell üblichen Testabläufen (vgl. eidesstattliche Versicherung von ... in Anlage rop34) nicht festgestellt werden kann, weshalb die erforderlichen Arbeitsschritte bei dem beauftragten Labor im Rahmen der hier konkret betroffenen Untersuchung der angegriffenen Ausführungsformen entsprechend lange gedauert haben. Abgesehen von der vorgenannten, nur allgemein gehaltenen eidesstattlichen Versicherung der Frau ... wurde ein Testbericht zu der hier konkret vorgenommenen Untersuchung nicht vorgelegt. Somit wurde nicht dargelegt, welchen Inhalt und Umfang die Untersuchung tatsächlich hatte. Welche Arbeitsschritte zum Testen der angegriffenen Ausführungsform konkret wann und mit welcher Zeitdauer durchgeführt wurden, hat die Antragstellerin nicht schlüssig dargetan. So entfiel bei der Untersuchung des hier streitgegenständlichen Musters der erste in Anhang 1 der Anlage rop34 genannte übliche Arbeitsschritt, nämlich die Beschaffung des Musters bereits vollständig, nachdem dem Labor das streitgegenständliche Muster bereits seit dem 01.06.2020 vorlag. Für diesen im Streitfall nicht mehr auszuführenden Arbeitsschritt wird nach dem Vorbringen der Antragstellerin ein Zeitraum von zwei Tagen bis zu mehr als drei Wochen angesetzt (vgl. eidesstattliche Versicherung von ..., Anlage rop34). Auch der zweite angegebene Arbeitsschritt – das Einloggen der Probe ins System des Labors – hätte jedenfalls mit dem Eingang der Muster am 01.06.2020 bereits vorgenommen werden können. Vor diesem Hintergrund ist das Vorbringen der Antragstellerseite zur erforderlichen Dauer der streitgegenständlichen Untersuchung nicht schlüssig.
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(4.) Demnach hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht, dass sie im Streitfall diejenigen Maßnahmen, die erforderlich waren, um eine Testung der angegriffenen Ausführungsform durchführen zu lassen, mit der notwendigen Zielstrebigkeit durchgeführt hat, um einstweiligen Rechtsschutz zu erlangen. Ihr Verhalten lässt im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung nicht erkennen, dass ihr an einer zügigen Rechtsdurchsetzung gelegen war. Vielmehr hat sie sich nach den zugrunde liegenden Feststellungen im Wesentlichen darauf beschränkt, nach der Übermittlung des zu untersuchenden Musters an das Labor die sich hinziehende Dauer der Untersuchung bis zum Eingang eines Ergebnisses abwartend hinzunehmen.
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(5.) Wenngleich es darauf nicht entscheidungserheblich ankommt, hat die Antragstellerin auch nach Vorliegen der Testergebnisse am 07.08.2020 nicht zu einer beschleunigten Rechtsdurchsetzung beigetragen. So wurde der Verfügungsantrag am letzten Tag der Monatsfrist, den 07.09.2020, bei Gericht eingereicht. Die Antragstellerin beruft sich in diesem Zusammenhang darauf, dass die Testergebnisse für insgesamt vier verschiedene Generika-Unternehmen mitgeteilt worden seien, gegen die parallele Verfügungsanträge aus insgesamt drei parallelen Patenten bei jeweils leicht abweichendem Sachverhalt gleichzeitig hätten vorbereitet und abgestimmt werden müssen, wobei kurz zuvor erst noch die jeweiligen Einspruchserwiderungen in den gegen die Verfügungspatente anhängigen Einspruchsverfahren fertiggestellt worden seien – welche allerdings bereits vom 24.08.2020 datieren (Anlage rop14a/14b). also zwei Wochen vor Stellung des Verfügungsantrags. Die Ausschöpfung der vorgegebenen Fristen setzt sich auch im Berufungsverfahren fort, indem auch hier sowohl die einmonatige Berufungseinlegungsfrist, als auch die zweimonatige Berufungsbegründungsfrist seitens der Antragstellerin jeweils bis zum letztmöglichen Tag ausgenutzt wurden. Zwar hat der Senat ein Ausschöpfen dieser Fristen bislang grundsätzlich nicht als dringlichkeitsschädlich angesehen (offen gelassen mit Urt. v. 30.6.2016 – 6 U 531/16, GRUR-RR 2016, 499 Rn. 77 – Verkaufsaktion für Brillenfassungen), allerdings könnte dies in Zusammenschau mit einem bereits zuvor an den Tag gelegten zögerlichen Verhalten anders zu bewerten sein, insbesondere wenn – wie im Streitfall – die Ermittlung des Verletzungssachverhalts bereits einen überaus langen Zeitraum in Anspruch genommen hat, da in diesen Fällen einem auf Eilrechtsschutz angewiesenen Antragsteller ganz besonders daran gelegen sein müsste, die notwenigen Schriftsätze baldmöglichst bei Gericht einzureichen.
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Im Streitfall bedarf es hierzu allerdings keiner abschließenden Beurteilung, nachdem die Antragstellerin aus den vorstehend genannten Gründen bereits nicht glaubhaft gemacht hat, dass sie im Rahmen der Beschaffung der erforderlichen Glaubhaftmachungsmittel (Untersuchung des Verletzungsgegenstands) mit der gebotenen Zielstrebigkeit vorgegangen ist, die ein ernsthaftes Bemühen um die Erlangung eiligen Rechtsschutzes erwarten lassen würde.
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2. Der erforderliche Verfügungsgrund ist daneben auch mangels hinreichend gesicherten Rechtsbestands des Verfügungspatents zu verneinen, wie auch das Landgericht bereits befunden hat.
59
a) Das Erfordernis des Verfügungsgrundes umfasst in Patentstreitigkeiten auch die Darlegung und Glaubhaftmachung, dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents hinreichend gesichert ist. Das Landgericht stellt diesbezüglich darauf ab, dass „jedenfalls in Fällen, in denen sich die Unwirksamkeit eines Patents geradezu aufdrängt und ein Widerruf im Rahmen eines anhängigen Einspruchsverfahrens mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, die Annahme der für den Erlass einer einstweiligen Verfügung notwendigen Dringlichkeit nicht in Betracht“ komme (vgl. LGU Seite 10 unten). Dabei folgt es im Ansatz nicht der Rechtsprechung des Senats, der sich mit Urteil vom 12.12.2019 (GRUR 2020, 385 Rn. 69 – elektrische Anschlussklemme) der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte Karlsruhe und Düsseldorf angeschlossen hat, wonach im Regelfall eine einstweilige Verfügung nur erlassen werden kann, wenn das Verfügungspatent bereits ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat, wenn also bereits eine die Schutzfähigkeit bestätigende Entscheidung im Einspruchs-/Beschwerdeverfahren vor dem Europäischen Patentamt (EPA) oder des Bundespatentgerichts im Nichtigkeitsverfahren vorliegt (vgl. OLG Düsseldorf GRUR-RR 2008, 329 – Olanzapin; GRUR-RR 2011, 81 – Harnkatheterset; GRUR-RS 2021, 4420 Rn. 14 ff – Cinacalcet II; OLG Karlsruhe GRUR-RR 2015, 509 – Ausrüstungssatz).
60
Von dem Erfordernis einer dem Antragsteller günstigen streitigen Rechtsbestandsentscheidung kann allerdings in Sonderfällen abgesehen werden (vgl. Senat a.a.O. Rn. 62, 69 – Elektrische Anschlussklemme; OLG Düsseldorf, BeckRS 2010, 15862 – Harnkatheterset; GRUR-RR 2013, 236, 240 – Flupirtin-Maleat; GRUR-RS 2021, 4420 Rn. 21 ff.; Kühnen a.a.O., Kap. G Rn. 55 ff.). Dies gilt insbesondere, wenn außergewöhnliche Umstände gegeben sind, die es für den Antragsteller wegen der ihm aus einer Fortsetzung der Verletzungshandlungen drohenden Nachteile unzumutbar machen, den Ausgang eines Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens abzuwarten. Bei einer Patentverletzung durch ein Generikaunternehmen – wie sie im Streitfall vorliegt – ist der hierdurch entstehende Schaden im Falle einer späteren Aufrechterhaltung des Patents vielfach sehr hoch und – mit Rücksicht auf den durch eine entsprechende Festsetzung von Festbeträgen verursachten Preisverfall – nicht wieder gut zu machen, wohingegen eine (wegen späterer Vernichtung des Patents) unberechtigte Verfügung lediglich zur Folge hat, dass das Generikaunternehmen vorübergehend zu Unrecht vom Markt ferngehalten wird. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass das Generikaunternehmen für seine Marktpräsenz im Allgemeinen keine eigenen wirtschaftlichen Risiken eingeht, weil das Präparat dank des Patentinhabers medizinisch hinreichend erprobt und am Markt etabliert ist. Daher kann in diesen Fällen eine Verbotsverfügung auch dann ergehen, wenn für das Verletzungsgericht keine endgültige Sicherheit über den Rechtsbestand gewonnen werden kann, wenn aber die besseren Argumente für die Patentfähigkeit sprechen, so dass sie sich positiv bejahen lässt, oder wenn (mit Rücksicht auf die im Rechtsbestandsverfahren geltende Beweislastverteilung) die Frage der Patentfähigkeit mindestens ungeklärt bleibt (Kühnen a.a.O. Rn. 60, 61; OLG Düsseldorf, a.a.O. – Flupirtin-Maleat; OLG Düsseldorf. a.a.O. Rn 22 – Cinacalcet II) Soweit die Antragsgegnerseite eingewandt hat, die Interessenlage weiche im hier vorliegenden Fall von der typischen Konstellation einer Verletzungshandlung durch ein Generikaunternehmen ab, weil zahlreiche andere Generikahersteller vergleichbare Cinacalcet-Produkte am Markt vertrieben, die seitens des Antragstellerin – weil sie nicht unter deren Patente fielen – nicht angegriffen werden könnten, so dass ein Preisverfall auch bei Unterbindung des Vertriebs der hier angegriffenen Ausführungsform nicht mehr zu verhindern sei, kann dahinstehen, ob dies eine strengere Rechtsbestandsprüfung gebieten könnte, nachdem – wie nachfolgend ausgeführt wird – eine hinreichende Sicherung des Rechtsbestands auch auf der Grundlage des oben dargestellten Maßstabs nicht angenommen werden kann.
61
b) Im Streitfall geht die Einspruchsabteilung des EPA in ihrer vorläufigen Stellungnahme vom 05.03.2021 (Anlage rop39a) von einer Aufrechterhaltung des Verfügungspatents aus. Die vorläufige Auffassung der Einspruchsabteilung ist allerdings nicht bindend und sie nimmt die spätere Entscheidung auch nicht vorweg. Andererseits ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der vorläufigen Stellungnahme der Einspruchsabteilung als technisch fachkundige Stelle regelmäßig bereits eine umfassende Prüfung zugrunde liegt. Vor diesem Hintergrund kann bei einer deutlich geäußerten und sorgfältig begründeten vorläufigen Auffassung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, dass die bescheidsmäßig dokumentierte Auffassung ihren Niederschlag in der späteren Entscheidung finden wird (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O., Rn. 23 – Cinacalcet II).
62
c) Vorliegend hat die Antragsgegnerseite allerdings beachtliche Einwände gegen die seitens des EPA geäußerte vorläufige Beurteilung vorgebracht, die in der Stellungnahme des EPA nicht behandelt werden. Aufgrund dessen kann der vorläufigen Stellungnahme des EPA eine hinreichende Indizwirkung für den Rechtsbestand des Verfügungspatents nicht beigemessen werden:
(1.) Unzulässige Erweiterung
63
(a) Gem. Art. 100 lit. c) EPÜ kann der Einspruch gegen das Verfügungspatent darauf gestützt werden, dass der Gegenstand des europäischen Patents über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung oder, wenn das Patent auf einer Teilanmeldung beruht, über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Nach Art. 76 Abs. 1 S. 2 HS 1 EPÜ kann eine europäische Teilanmeldung nur für einen Gegenstand eingereicht werden, der nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Dabei sind nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern die zu Art. 123 Abs. 2 und Art. 100 lit. c) EPÜ entwickelten Grundsätze auch auf die Beziehung zwischen Teilanmeldung und Stammanmeldung zu übertragen, insbesondere, wenn es zu bestimmen gilt, was über den Inhalt der früheren Anmeldung i.S.v. Art. 76 Abs. 1 EPÜ hinausgeht (vgl. Benkard/Dobrucki/Bacchin, EPÜ, 3. Aufl. 2019, Art. 76 Rn. 9 m.w.N.; BeckOK PatR/Gleiter/Fischer, 19. Ed. 15.1.2021, EPÜ Art. 76 Rn. 34). Danach muss der Gegenstand der Teilanmeldung für den Fachmann unmittelbar und eindeutig aus der Stammanmeldung ableitbar sein (Benkard/Dobrucki/Bacchin, a.a.O., m.w.N.). Art. 76 Abs. 1 S. 2 und Art. 123 Abs. 2 EPÜ erfüllen denselben Zweck, nämlich zum einen Rechtssicherheit für Dritte zu gewährleisten, die sich auf den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung verlassen, und zum anderen einen angemessenen Interessenausgleich zwischen den Patentanmeldern und Dritten herzustellen, indem die Belange Dritter dadurch geschützt werden, dass es verboten ist, den Inhalt der Anmeldung durch Änderungen über die ursprüngliche Offenbarung hinaus zu erweitern (Benkard/Dobrucki/Bacchin, a.a.O., m.w.N.). Dabei ist unter „Inhalt“ i.S.v. Art. 76 Abs. 1 EPÜ der gesamte technische Inhalt der früheren Anmeldung, also ihre gesamte in den Ansprüchen und der Beschreibung enthaltene Offenbarung zu verstehen (Benkard EPÜ/Dobrucki/Bacchin, a.a.O., Art. 76 Rn. 7). Zur Feststellung einer unzulässigen Erweiterung ist der zur Prüfung gestellte Anspruch mit dem Inhalt der ursprünglichen Unterlagen zu vergleichen. Der Anspruch darf nicht auf einen Gegenstand gerichtet sein, den die Anmeldeunterlagen in der ursprünglich eingereichten Fassung aus der Sicht des Fachmanns nicht als zur Erfindung gehörend erkennen lassen (BGH GRUR 2017, 1105 Rn. 21 – Phosphatidylcholin; BGH GRUR 2011, 1109 Rn. 36 – Reifenabdichtmittel). Eine Änderung darf nach dem sog. „Goldstandard“ nur im Rahmen dessen erfolgen, was der Durchschnittsfachmann im Prioritätszeitpunkt unter Heranziehen des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig – d.h. ohne weiteres Nachdenken und ohne nähere Überlegung – aus dem Offenbarungsgehalt der ursprünglichen Fassung in ihrer Gesamtheit entnimmt (vgl. EPA v. 8.7.2020 – T 437/17, GRUR-RS 2020, 16273 Rn. 21 – Schaufelartiger Backenbrecher). Alle in der Teilanmeldung beanspruchten Merkmale müssen entweder in der Beschreibung oder den Ansprüchen oder in Zeichnungen der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung eine Entsprechung finden (Benkard EPÜ/Schäfers/Sendrowski, a.a.O., 123 Rn. 177).
64
(b) Bei dem Verfügungspatent handelt es sich um eine Teilanmeldung, die auf die Stammanmeldung WO ’928 (Anlage HW7) zurückgeht. Das Verfügungspatent muss daher – wie unter (a) dargelegt – nicht nur die Voraussetzungen des Art. 123 Abs. 2 EPÜ erfüllen, sondern auch die des Art. 76 Abs. 1 S. 2 EPÜ.
65
(aa) Das Verfügungspatent betrifft eine Schnellauflösungsformulierung enthaltend den Wirkstoff Cinacalcet-HCI. Gemäß Abs. [0002] der Patentschrift sind calciumrezeptoraktive Verbindungen wie beispielsweise Cinacalcet-HCI im Stand der Technik bekannt. Solche calciumrezeptoraktiven Verbindungen können unlöslich oder kaum löslich sein in Wasser, speziell in ihrem nicht-ionisiertem Zustand. Beispielsweise hat Cinacalcet eine Löslichkeit in Wasser von weniger als ungefähr 1 µg/ml bei neutralem pH. Die Löslichkeit von Cinacalcet kann ungefähr 1,6 mg/ml erreichen, wenn der pH im Bereich zwischen ungefähr 3 bis ungefähr 5 liegt. Liegt der pH jedoch ungefähr bei dem Wert 1, sinkt die Löslichkeit auf ungefähr 0,1 mg/ml. Eine solche begrenzte Löslichkeit kann die Anzahl der Formulierungen und Darreichungsformen begrenzen, welche für diese calciumrezeptoraktiven Verbindungen verfügbar sind. Begrenzte Wasserlöslichkeit kann zudem in einer niedrigen Bioverfügbarkeit der Verbindungen resultieren (Abs. [0002]).
66
Ausgehend von diesem Stand der Technik stellt sich das Verfügungspatent die Aufgabe, die Auflösbarkeit der calciumrezeptoraktiven Verbindung aus einer Dosierungsform – möglichst während der in vivo-Exposition – zu verbessern (Abs. [0003]). Ferner besteht dem Verfügungspatent zu Folge das Bedürfnis, die Bioverfügbarkeit der calciumrezeptoraktiven Verbindung während der in vivo-Exposition zu verbessern (s.a. EPA, vorl. Stellungnahme vom 05.03.2021, Rn. 6.18).
67
Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt das Verfügungspatent gemäß seines Patentanspruchs 1 folgende Zusammensetzung vor:
1. Eine pharmazeutische Zusammensetzung umfassend
2. a) Cinacalcet-HCI;
3. b) einen pharmazeutisch akzeptablen Arzneistoffträger, umfassend
3.1 mikrokristalline Cellulose in einer Menge im Bereich von 25–85 % und
3.2 Stärke in einer Menge im Bereich von 5–35 % und
3.3 wobei das Gewichtsverhältnis von mikrokristalliner Cellulose und Stärke in einem im Bereich von 1:1–15:1 liegt,
3.4 wobei der Prozentsatz nach Gewicht auf das Gesamtgewicht der Zusammensetzung bezogen ist.
68
Die Stammanmeldung WO ’928 (Anlage HW7) betrifft eine Schnellauflösungsformulierung einer calciumrezeptoraktiven Verbindung. Die Ausführungen zum Stand der Technik in Abs. [0002] der Stammanmeldung und zur patentgemäßen Aufgabe in Abs. [0003] der Stammanmeldung entsprechen den Ausführungen in Abs. [0002] und [0003] des Verfügungspatents.
69
Die Stammanmeldung umfasst vier verschiedene Erfindungskomplexe, nämlich eine pharmazeutische Zusammensetzung, die eine calciumrezeptoraktive Verbindung enthält und sich durch ein ganz bestimmtes Auflösungsprofil auszeichnet (Ansprüche 1 bis 60), ein Herstellungsverfahren für eine pharmazeutische Zusammensetzung (Ansprüche 61 bis 77), eine pharmazeutische Formulierung bestimmter stofflicher Zusammensetzungen ohne Rücksicht auf ein spezielles Auflösungsprofil (Ansprüche 78 bis 112) sowie ein Verfahren zur Steuerung der Auflösungsgeschwindigkeit (Ansprüche 113 bis 118). Sie lehrt also zum einen Stoffansprüche, die maßgeblich über ihr Auflösungsprofil gekennzeichnet werden (vgl. Ansprüche 1 bis 60, Beschreibung Abs. [0006], [0007]) und zum anderen solche, die ausschließlich über ihre stoffliche Konstitution definiert sind (vgl. Ansprüche 78 bis 112, Beschreibung Abs. [0033] bis [0040]).
70
(bb) Die Antragstellerin macht geltend, die maßgebliche Offenbarung des Anspruchs 1 des Verfügungspatents ergebe sich aus den Absätzen [0004], [0013], [0034] und [0035] der Stammanmeldung.
71
Abs. [0004] der Stammanmeldung beschreibt eine allgemeine und aus dem Stand der Technik bekannte Zielsetzung, einen bestimmten (calciumrezeptoraktiven) Wirkstoff in Kombination mit einem geeigneten Arzneimittelträger zur Verfügung zu stellen, wobei ein bestimmtes Auflösungsprofil erforderlich ist. Eine Arzneimittel-Verbindung des Wirkstoffs Cinacalcet-HCI mit bestimmten Anteilen an mikrokristalliner Cellulose und Stärke in einem spezifischen Gewichtsverhältnis wird in diesem Absatz nicht beschrieben. Der weiter von Antragstellerseite herangezogene Abs. [0013] der Stammanmeldung beschreibt die Verwendung des aus dem Stand der Technik im Prioritätszeitpunkt bekannten Wirkstoffs Cinacalcet-HCI als einen möglichen calciumrezeptoraktiven Arzneimittelbestandteil. Dazu wird näher erläutert, dass der Wirkstoff Cinacalcet-HCI in verschiedenen Formen bereitgestellt werden kann (etwa amorphe Pulver, kristalline Pulver und Gemische entsprechender Pulver). Die Ausführungen in Absätzen [0004] und [0013] offenbaren demnach die allgemeinen Merkmale 1., 2. und 3. von Anspruch 1 des Verfügungspatents („Eine pharmazeutische Zusammensetzung umfassend a) Cinacalcet-HCI, b) einen pharmazeutisch akzeptablen Arzneistoffträger“), sie geben dem angesprochenen Fachmann – einem Team aus einem Mediziner und einem Pharmazeuten mit jeweils mehrjähriger Berufserfahrung in der Entwicklung von pharmazeutischen Zusammensetzungen – aber keine näheren Hinweise in Bezug auf die in den Merkmalen 3.1 bis 3.4 enthaltenen konkreten Anforderungen an einen anspruchsgemäßen Arzneistoffträger.
72
Die Darlegungen in den Absätzen [0034] und [0035] beinhalten – wie das Landgericht zutreffend festgestellt hat – jeweils einzelne Merkmale des Anspruchs 1, nämlich Abs. [0034] das Merkmal 3.3 („wobei das Gewichtsverhältnis von mikrokristalliner Cellulose und Stärke in einem Bereich von 1:1–15:1 liegt“) und Abs. [0035] die Merkmale 3.1 („mikrokristalline Cellulose in einer Menge im Bereich von 25–85 %“), 3.2. („Stärke in einer Menge im Bereich von 5–35 %“) und 3.4. („wobei der Prozentsatz nach Gewicht auf das Gesamtgewicht der Zusammensetzung bezogen ist“). Zwar genügt die Verbindung von Merkmalen, welche in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen einzeln, aber nicht in einer Kombination miteinander unmittelbar und eindeutig offenbart sind, den Anforderungen des Art. 123 Abs. 2 EPÜ grundsätzlich nicht, denn der Inhalt der ursprünglichen Unterlagen darf nicht als „Reservoir“ betrachtet werden, aus dem Merkmale aus verschiedenen Ausführungsformen beliebig miteinander kombiniert werden dürfen. Dies hätte nämlich zur Folge, dass künstlich eine völlig neue Ausführungsform mit einer neuen Merkmalskombination kreiert werden könnte (BeckOK PatR/Böhm, 19. Ed. 15.1.2020, EPÜ Art. 123 Rn. 144, 145 m.w.N.). Vorliegend ist der Antragstellerin jedoch insoweit zuzustimmen, als die Absätze [0034] und [0035] als zusammengehörig und aufeinander bezogen zu lesen sind. So wird in Abs. [0035] durch die Verwendung des bestimmten Artikels „The“ (The microcrystalline cellulose ...“ und The starch ...“). unmittelbar und eindeutig auf die zuvor genannte Ausführungsform gemäß Abs. [0034] Bezug genommen. Soweit die Absätze [0034] und [0035] verschiedene Varianten möglicher Gewichts- und Mengenverhältnisse beschreiben, handelt es sich jeweils um beispielhafte Konkretisierungen in Bezug auf die zuvor allgemein angegebenen Bereiche, wie sie in Anspruch 1 des Verfügungspatents Niederschlag gefunden haben. So wird in Abs. [0034] das vorgeschlagene Gewichtsverhältnis von mikrokristalliner Cellulose und Stärke in einem allgemeinen Bereich von ca. 1:1 bis ca. 15:1 angegeben und werden anschließend lediglich beispielhaft Gewichtsverhältnisse im Rahmen dieses allgemeinen Bereichs genannt. In Abs. [0035] werden allgemeine Mengenbereiche von ca. 25 % bis ca. 85 % an mikrokristalliner Cellulose und von ca. 5 % bis ca. 35 % an Stärke beschrieben und anschließend jeweils beispielhaft in diesen Bereichen liegende Mengen genannt. Der Fachmann kann diesen Beschreibungsstellen folglich entnehmen, dass die prinzipiell angegebenen Bereiche (Gewichtsverhältnis von 1:1 zu 15:1 von mikrokristalliner Cellulose und Stärke; Mengenbereiche von ca. 25 % bis ca. 85 % an mikrokristalliner Cellulose und von ca. 5 % bis ca. 35 % an Stärke) beispielhaft („for example“) verengt werden können.
73
Vor diesem Hintergrund hat die Einspruchsabteilung in ihrer vorläufigen Stellungnahme vom 05.03.2021 unter Ziff. 2.6. Folgendes ausgeführt:
„Die Einspruchsabteilung ist der vorläufigen, nicht bindenden Meinung, dass der Gegenstand von Anspruch 1 wie erteilt die Erfordernisse der Artikel 76 und 123(2) EPÜ erfüllt. Die Absätze [0034] und [0035] geben das Verhältnis von MCC zu Stärke und die Menge an MCC und Stärke an, und alle Werte beziehen sich auf den breitest möglichen Bereich. Die Verwendung von HCI als Salz wird nicht als Auswahl betrachtet, da abgeleitet werden kann, dass dies die bevorzugte Form von Cinacalcet ist (siehe z.B. Beispiele). Daher ist die Einspruchsabteilung der vorläufigen Meinung, dass die Kombination dieser Merkmale aus diesen Passagen abgeleitet werden kann und Anspruch 1 in der erteilten Fassung die Erfordernisse des Artikels 100(c) EPÜ erfüllt. Auch die abhängigen Ansprüche erscheinen gewährbar.“
74
(cc) Der hiergegen von der Antragsgegnerin angeführte Einwand, wonach das Bindemittel mit einem bestimmten Gesichtsanteil in der Stammanmeldung als wesentliches Merkmal anzusehen sei, das nicht weggelassen werden könne, ohne dass eine unzulässige Erweiterung vorliege, wird zwar in Rn. 2.5 der vorläufigen Stellungnahme erwähnt, aber in der Begründung nicht behandelt. Ebenso wenig ist die Einspruchsabteilung auf die ihr vorliegenden eingehenden Ausführungen des Landgerichts zu dieser Frage im angegriffenen Ersturteil eingegangen. Wie vom Landgericht im Ersturteil zutreffend dargelegt, kann im Rahmen der Prüfung – ausgehend vom sog. Goldstandard, der darauf abstellt, was der Fachmann der Gesamtheit der Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unmittelbar und eindeutig entnehmen kann (s.a. LGU Seite 12, letzter Abs.) – der sog. dreistufige Wesentlichkeitstest mit herangezogen werden. Danach darf das ersetzte oder gestrichene Merkmal in der ursprünglich eingereichten Offenbarung nicht als wesentlich dargestellt werden. Zudem muss der Fachmann unmittelbar und eindeutig erkennen, dass das Merkmal als solches für die Funktion der Erfindung unter Berücksichtigung der technischen Aufgabe, die sie lösen soll, nicht unerlässlich ist und dass das Ersetzen oder Streichen keine Angleichung eines oder mehrerer Merkmale erfordert. Die Antragstellerin wendet sich unter Berufung auf die Entscheidung des EPA vom 08.07.2020 – T 0437/17 (GRUR-RS 2020, 16273 – Schaufelartiger Backenbrecher) gegen die Anwendung des Wesentlichkeitstest. Hierzu ist festzustellen, dass das EPA in dieser Entscheidung ausgeführt hat, dass aus der Tatsache, dass sich bei Anwendung des dreistufigen Wesentlichkeitstests keine unzulässige Erweiterung des Anmeldegegenstandes ergebe, nicht automatisch gefolgert werden könne, dass keine unzulässige Erweiterung vorliege, insoweit also der Wesentlichkeitstest den sog. Goldstandard nicht ersetzen könne (EPA, a.a.O., Rn. 41 – Schaufelartiger Backenbrecher). Wenn festgestellt werden könne, ob eine Änderung im Rahmen dessen vorgenommen werde, was dem Fachmann unter Verwendung des allgemeinen Fachwissens, objektiv und relativ zum Anmeldetag, aus dem Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Schrift dargelegt sei, d. h ob die Änderung den Goldstandard erfülle, sei – so die Kammer des EPA – die sog. „Drei-Punkte-Wesentlichkeitsprüfung“ als „überflüssig, unnötig und irreführend“ anzusehen (EPA, a.a.O., Rn. 42). Andererseits weist die Beschwerdekammer aber darauf hin, dass die Erfüllung der Kriterien des Wesentlichkeitstests eine notwendige – wenn auch keine ausreichende – Voraussetzung für die Einhaltung des Artikels 123 Abs. 2 EPÜ sei (EPA, a.a.O., Rn. 39 – Schaufelartiger Backenbrecher: „The Board, in line with several decisions such as T 1472/15, point 2.3 of the reasons, and T 1852/13. point 2.2.3 of the reasons (none of them published in the OJ EPO), holds that the criteria (i)–(iii) listed above are to be seen as condiciones sine quibus non. which means that fulfilment of these criteria is a necessary requirement but not a sufficient one for the compliance of Article 123(2) EPC.“).
75
Im Rahmen der Prüfung, ob das ersetzte oder gestrichene Merkmal – hier die Verwendung eines Bindemittels mit einem bestimmten Gewichtanteil – in der ursprünglich eingereichten Offenbarung als wesentlich dargestellt wird, ist wiederum die Stammanmeldung in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Die Stammanmeldung lehrt dem Fachmann – wie oben dargelegt – in Ansprüchen 1 bis 60 (Beschreibung Abs. [0006], [0007]) Stoffzusammensetzungen, die über ihr Auflösungsprofil gekennzeichnet werden und in Ansprüchen 78 bis 112 (Beschreibung Abs. [0033] bis [0040]) Stoffzusammensetzungen, die ohne Benennung einer Auflösungsrate allein über ihre stoffliche Konstitution definiert sind. Bei dem hier geltend gemachten Anspruch 1 des Verfügungspatents handelt es sich um einen Stoffanspruch im Sinne der zweiten Gruppe, da dieser eine stoffliche Zusammensetzung ohne Angabe eines Auflösungsprofils beinhaltet. Die in Ansprüchen 78 bis 112 der Stammanmeldung offenbarten Stoffzusammensetzungen – insbesondere auch soweit sie Stärke in Verbindung mit mikrokristalliner Cellulose offenbaren (vgl. Ansprüche 98, 99, 106 bis 110) – enthalten sämtlich als Füllstoffe noch ein Sprengmittel und höchstens 5 Gew.-% eines Bindemittels (vgl. Rückbezug auf Anspruch 78). Dazu, weshalb sich die Verwendung eines Bindemittels mit einem bestimmten Gewichtsanteil im Zusammenhang mit der Beschreibung in Absätzen [0034] und [0035] der Stammanmeldung aus der Sicht des Fachmanns im maßgeblichen Prioritätszeitpunkt nicht als wesentlich und für die Lehre der Erfindung unerlässlich darstellt, verhält sich das EPA in dem Vorbescheid jedoch nicht. Die Argumentation der Antragsgegnerseite, wonach die in der Stammanmeldung offenbarte Lehre nur in der Zurverfügungstellung einer pharmazeutischen Zusammensetzung gesehen werden könne, die neben mikrokristalliner Cellulose und Stärke als Füllstoffe noch ein Sprengmittel und höchstens 5 Gew.-% eines Bindemittels enthalte, ist insoweit nicht von der Hand zu weisen, als eine schnell freisetzende Zusammensetzung, die ein Bindemittel in höheren Konzentrationen enthält – wie sie der offene Wortlaut des Anspruchs 1 des Verfügungspatents mitumfasst – in der Stammanmeldung nicht offenbart ist.
(2.) Neuheit
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Die erforderliche Neuheit (Art. 100 (a) i.V.m. 52 EPÜ) steht im Hinblick auf das seit dem 04.04.2004 von der Antragstellerin in den USA auf den Markt gebrachte Produkt Sensipar® in Frage. Dass dem Verfügungspatent im weiteren Verlauf des Einspruchsverfahrens eine wirksame Inanspruchnahme der Priorität der US-Patentanmeldung US ’219 vom 12.09.2003 über die PCT-Anmeldung WO ’928 zuerkannt wird, stellt sich – auch unter Berücksichtigung der Ausführungen der Einspruchsabteilung in ihrer vorläufigen Stellungnahme – als unsicher dar.
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(a) Nach Art. 87 Abs. 1 EPÜ genießt jeder, der in bestimmten Ländern ordnungsgemäß eine Patentanmeldung eingereicht hat, oder sein Rechtsnachfolger, für die Anmeldung derselben Erfindung zum Europäischen Patent während einer Frist von zwölf Monaten nach dem Anmeldetag der Erstanmeldung ein Prioritätsrecht, welches es ihm erlaubt, für die spätere Nachanmeldung den früheren Zeitrang der Erstanmeldung so in Anspruch zu nehmen, als wäre die Nachanmeldung selbst bereits am Tage der Erstanmeldung eingereicht worden. Im Streitfall erfolgte die Anmeldung des Prioritätsdokuments US ’219 am 12.09.2003 in den USA durch die drei – am 18.06.2004 nachbenannten – Erfinder Die internationale Anmeldung WO ’928 wurde – unter Beanspruchung des Zeitrangs der Erstanmeldung – am 10.09.2004 beim Europäischen Patentamt eingereicht. Sie benennt als Anmelder für die USA die drei oben genannten Erfinder sowie einen weiteren Erfinder namens ... und als Anmelder für alle übrigen PCT-Vertragsstaaten die Antragstellerin.
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(b) Die Einspruchsabteilung des EPA hat in ihrer vorläufigen Stellungnahme vom 05.03.2021 (Ziff. 4.3 bis 4.6) vertreten, dass dem Verfügungspatent der Zeitrang der Erstanmeldung vom 12.09.2003 zuzusprechen sei. Dem stehe weder die Beteiligung weiterer Anmelder (Herr und die Antragstellerin) an der Nachanmeldung noch die territoriale Aufspaltung der Nachanmeldung nach geografischen Schutzgebieten entgegen. Sie hat hierzu Folgendes ausgeführt:
„Nach Rücksprache mit der Rechtsabteilung und unter Berücksichtigung der Einwendungen und Argumente der Patentinhaberin vertritt die Einspruchsabteilung die vorläufige Auffassung, dass dem Streitpatent die beanspruchte Priorität aus folgendem Grund formell zusteht:
4.4 Im Hinblick auf Artikel 76(1) EPÜ ist die Situation am Anmeldetag (10. September 2004) der frühesten Anmeldung (“Stammanmeldung“; PCT/US04/26732 = EP04781429) entscheidend für die Beurteilung der formalen Wirksamkeit der in Anspruch genommenen Priorität. Wie von der Patentinhaberin geklärt wurde und aus dem USPTO-Register in Bezug auf 60/502.219 ableitbar ist, wurde die US-Prioritätsanmeldung im Namen der Erfinder-Anmelder ... und ... eingereicht. ... wurden auch als Anmelder (nur für die USA) in PCT/US04/26732 genannt.
4.5 Nach Artikel 87(1) EPÜ genießt jede Person, die eine Patentanmeldung ordnungsgemäß eingereicht hat, oder ihr Rechtsnachfolger zum Zwecke der Einreichung einer europäischen Patentanmeldung für dieselbe Erfindung ein Prioritätsrecht. Bei gemeinsamen Anmeldern, die die spätere EP-Anmeldung einreichen, genügt es, wenn einer der Anmelder der späteren Anmeldung der Anmelder (oder Rechtsnachfolger) der früheren Anmeldung ist. Eine besondere Übertragung des Prioritätsrechts auf die anderen Anmelder ist nicht erforderlich, da die spätere Anmeldung gemeinsam eingereicht wurde. Dasselbe gilt für den Fall, dass die frühere Anmeldung selbst von gemeinsamen Anmeldern eingereicht wurde, vorausgesetzt, dass alle diese Anmelder (oder ihre Rechtsnachfolger) zu den gemeinsamen Anmeldern der späteren EP-Anmeldung gehören (siehe RiLi A-III, 6.1). Für PCT-Anmeldungen gelten dieselben Grundsätze auch dann, wenn die prioritätsbegründenden gemeinsamen Anmelder ausschließlich US-Anmelder sind und daher nicht Teil der europäischen Phase sind. Daher kann der/können die prioritätsberechtigte(n) Anmelder, selbst wenn es sich nur um Anmelder für bestimmte Bestimmungen handelt, das Prioritätsrecht in die PCT-Anmeldung mit voller Wirkung für die PCT-Anmeldung als Ganzes einführen. Diese Wirkung kann nicht allein dadurch als verloren gelten, dass die Anmeldung beim Eintritt in die europäische Phase als europäische Anmeldung bearbeitet wird und die prioritätsberechtigten Anmelder keinen Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents haben, weil sie nicht als Anmelder für die Bestimmung EP benannt wurden.
4.6 Auf dieser Grundlage ist die Einspruchsabteilung der vorläufigen Auffassung, dass Alvarez, Lawrence und Lin als Mitanmelder (nur für die USA) das Recht auf Inanspruchnahme der Priorität von US60/502,219 in PCT/US04/26732 als Ganzes eingeführt haben, so dass Amgen Inc. berechtigt war, es auch in Bezug auf die europäische Bestimmung wirksam zu beanspruchen, ohne dass es einer gesonderten Übertragung bedurfte. Die spätere Übertragung der Prioritätsanmeldung/des Prioritätsrechts von den Erfinder-Anmeldern auf Amgen Inc., auf die sich einige der Einsprechenden bezogen und die am 21. April 2006 vollzogen wurde, wird in diesem Zusammenhang nicht als relevant erachtet, sondern bestätigt vielmehr die Annahme, dass ... zum Zeitpunkt der Anmeldung von PCT/US04/26732 noch im Besitz des Prioritätsrechts waren. Darüber hinaus werden solche späteren Abtretungen oft zu formellen Aufzeichnungszwecken vorgenommen. Für die Einspruchsabteilung erscheint es auch nicht entscheidend, dass in der PCT-Anmeldung eine vierte Person (...) als Erfinder-Anmelder (nur für die USA) angegeben wurde, da es entscheidend und ausreichend ist, dass die Anmelder von US60/502,219 zu den Anmeldern von PCT/US04/26732 gehörten.
79
(c) Hiergegen verweist die Antragsgegnerin auf die Rechtsprechung der technischen Beschwerdekammern des EPA, die die Beurteilung der Einspruchsabteilung im Vorbescheid nicht trage, weil das Prinzip der gemeinsamen Anmelder bei Sachverhalten, die mit der hiesigen Fallkonstellation identisch oder jedenfalls weitgehend vergleichbar seien, von den Beschwerdekammern nicht angewandt, sondern und stattdessen eine gesonderte Übertragung des Prioritätsrechts gefordert werde. Soweit die Antragstellerin ihrerseits auf eine Reihe von Entscheidungen von Einspruchsabteilungen Bezug nimmt, die die gleiche Rechtsauffassung wie das EPA vertreten würden, legt sie keine Entscheidung einer Beschwerdekammer vor, die diese Auffassung bestätigt. Soweit sie außerdem Entscheidungen der Beschwerdekammern heranzieht, führt sie selbst aus, dass in keiner dieser Entscheidungen die Frage geprüft worden sei, ob sich das Prioritätsrecht auch aus der gemeinsam eingereichten PCT-Anmeldung ableiten lasse.
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Unter Berücksichtigung der eingehenden Argumentation der Antragsgegnerseite, mit der diese der Annahme einer wirksamen Inanspruchnahme der Priorität der US-Anmeldung durch das Verfügungspatent entgegentritt, ist nicht prognostizierbar, dass die Beurteilung dieser Streitfrage durch die Einspruchsabteilung des EPA in ihrer vorläufigen Stellungnahme im weiteren Verlauf des Verfahrens Bestand haben wird.
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Entsprechendes gilt für die von Antragstellerseite in ihrer Replik erstmals behauptete vorherige Übertragung des Prioritätsrechts seitens der Erfinder als Angestellte der Antragstellerin auf diese (vgl. Anlage rop 42/rop 42a, Ziff. 13–19), nämlich im Jahr 1996 von ..., im Jahr 1999 von ..., im Jahr 1999 von ... und im Jahr 2002 von ... Diesbezüglich hat die Antragsgegnerseite in Abrede gestellt, dass diese behaupteten Vorausabtretungen das Prioritätsrecht an der streitgegenständlichen Erfindung erfassen würden. Eine derartige Vorausabtretung würde im Übrigen der vorzitierten Argumentation des EPA unter Ziff. 4.6. die Grundlage entziehen, wonach die spätere Übertragung der Prioritätsanmeldung/des Prioritätsrechts von den Erfinder-Anmeldern auf die Antragstellerin die Annahme bestätigen würde, dass ... und ... zum Zeitpunkt der Anmeldung von PCT/US04/26732 noch im Besitz des Prioritätsrechts gewesen seien. Auch soweit das OLG Düsseldorf in seiner Entscheidung vom 04.03.2021 (2 U 25/20 GRUR-RS 2021, 4420 Rn. 31 ff.) zu einem Parallelpatent eine formlose konkludente Übertragung des Prioritätsrechts vor der PCT-Anmeldung auf die Antragstellerin angenommen hat (a.a.O. Rn. 34 ff.), ist nicht ersichtlich, dass dies in der Rechtsprechung der technischen Beschwerdekammern des EPA, auf die es im Einspruchsverfahren ankommt, bislang vertreten worden wäre. Im Übrigen hat die Antragsgegnerseite im Termin vor dem Senat in Frage gestellt, dass eine derartige konkludente Übertragung die Einhaltung den nach dem einschlägigen US-amerikanischen Recht geltenden formellen Anforderungen gerecht wird.
(3.) Erfinderische Tätigkeit
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Gegen die vorläufige Annahme der Einspruchsabteilung des EPA vom 05.03.2021, wonach Anspruch 1 des Verfügungspatents auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (Art. 100 (a) i.V.m. Art. 56 EPÜ), hat die Antragsgegnerseite ebenfalls gewichtige Einwendungen vorgebracht, die in dem Vorbescheid des EPA keine Berücksichtigung gefunden haben.
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(a) Die Einspruchsabteilung ist der vorläufigen Ansicht, dass die experimentellen Daten bestätigen, dass durch die mit dem Verfügungspatent beanspruchten Zusammensetzungen eine schnelle Auflösung erreicht wird (vgl. Rn. 6.20). Sie führt in diesem Zusammenhang aus (Rn. 6.21):
„Das zu lösende Problem scheint daher darin zu bestehen, eine Zusammensetzung, die Cinacalcet umfasst, bereitzustellen, die eine sofortige, schnelle Freisetzung von Cinacalcet-HCI zeigt. Da D1 sich über eine Zusammensetzung völlig ausschweigt, stimmt die Einspruchsabteilung mit der Patentinhaberin darin überein, dass das Problem nicht als Bereitstellung einer alternativen Zusammensetzung von Cinacalcet-HCI angesehen werden sollte. Außerdem haben die Beispiele des Patents und die Versuchsberichte glaubhaft belegt, dass die beanspruchten Zusammensetzungen eine schnelle Auflösung erreichen.“
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Die Einspruchsabteilung ist in ihrer vorläufigen Stellungnahme von der Entgegenhaltung D 1 (Franceschini et al., „Cinacalcet-HCL: a calcimimetic agent for the management of primary and secondary hyperparathyroidism“, 2003. Expert Opin Investig. Drugs, 12, Seiten 1413–1421, Anlage rop 23 a/b;25a/b) als nächstliegender Stand der Technik ausgegangen. In diesem Dokument werden orale Darreichungsformen des Wirkstoffs Cinacalcet offenbart, ohne sich jedoch zur spezifischen pharmazeutischen Zusammensetzung der Darreichungsform zu verhalten. Wenngleich die Einspruchsabteilung des EPA in der in Bezug auf das Verfügungspatents vorliegenden Stellungnahme (Rn. 6.24) berücksichtigt hat, dass Stärke und mikrokristalliner Cellulose aus der Sicht des maßgeblichen Fachmanns allgemein gebräuchliche Hilfsstoffe sind, konnte sie ausgehend von der D1 oder einem der anderen Dokumente keinen Anreiz für den Fachmann feststellen, genau die beanspruchten Hilfsstoffe in dem beanspruchten Verhältnis zu verwenden. Keines der im Einspruchsverfahren zitierten Dokumente zum Stand der Technik offenbart Einzelheiten einer pharmazeutischen Zusammensetzung enthaltend Cinacalcet-HCI, geschweige denn einer solchen, die eine vorteilhafte Auflösungsrate mit sich bringt. Entsprechendes hat auch bereits die technische Beschwerdekammer des EPA im Einspruchsverfahren gegen das Stammpatent EP ’182 zum Stand der Technik festgestellt (vgl. Beschluss vom 12.04.2018, Az. T 1063/15, Anlage rop 24a/b. Seiten 12, 13), und zwar ebenfalls unter Anerkennung des Arguments, dass es sich bei Stärke und mikrokristalliner Cellulose um allgemein gebräuchliche Hilfsstoffe handelte (vgl. Beschluss vom 12.04.2018, Az. T 1063/15, Anlage rop 24a/b/rop26a/b, Seiten 13, 2. Abs.).
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Vor diesem Hintergrund führt das EPA in seiner vorläufigen Stellungnahme unter Rn. 6.24 aus:
„Die Einspruchsabteilung ist derzeit der vorläufigen, nicht bindenden Auffassung, dass eine erfinderische Tätigkeit anzuerkennen ist. Hilfsstoffe wie Stärke und MCC sind ausweislich des Lehrbuchwissens allgemein gebräuchliche Hilfsstoffe. Ausgehend von D1 oder einem der anderen Dokumente gibt es jedoch keinen Anreiz für den Fachmann, genau die beanspruchten Hilfsstoffe und insbesondere in dem beanspruchten Verhältnis zu verwenden. Dies kann aus dem zitierten Stand der Technik nicht abgeleitet werden, insbesondere da D1 über jede mögliche Zusammensetzung schweigt. Dieselbe Schlussfolgerung ergibt sich, wenn man von irgendeinem der zitierten Dokumente des Standes der Technik ausgeht. Daher scheint der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ zu erfüllen.“
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Den Einwand, dass der Fachmann nur routinemäßige Formulierungsstudien durchführen müsse und die Verwendung der beanspruchten Hilfsstoffe zum allgemeinen Fachwissen gehöre, hat das EPA in seinem Vorbescheid berücksichtigt (Rn. 6.13), ist dem aber nicht beigetreten, sondern ist davon ausgegangen, dass das spezifische Verhältnis von mikrokristalliner Cellulose zu Stärke von Anspruch 1 nicht ohne erfinderischen Aufwand aus dem Stand der Technik abgeleitet werden habe können.
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(b) Die Antragsgegnerseite wendet hiergegen ein, es sei nicht belegt, dass die Merkmale des Anspruchs 1 des Verfügungspatents das Problem einer schnellen Freisetzung lösen würden, vielmehr sei das konkret gelehrte Verhältnis der genannten Hilfsstoffe willkürlich gewählt. Das beanspruchte Gewichtsverhältnis von mikrokristalliner Cellulose zu Stärke habe keinerlei Einfluss auf das Freisetzungsverhalten des Wirkstoffs Cinacalcet. Nachdem also diese Maßnahme keinen Effekt in Bezug auf das zu lösende Problem habe, könne auch keine erfinderische Leistung gegeben sein. Auch sei der Anspruch weder durch eine bestimmte Maßnahme (stoffliche Zusammensetzung), noch durch einen zu erzielenden Zweck (Angabe eines bestimmten Auflösungsprofils) auf eine schnelle Freisetzung des Cinacalcet-HCI beschränkt, sondern könne etwa auch Zusammensetzungen mit erheblichem Bindemittelgehalt erfassen, die nicht mehr schnell freisetzend seien. Dass sich die Einspruchsabteilung mit diesen Fragen im Rahmen ihrer vorläufigen Stellungnahme auseinandergesetzt hätte, ist deren Begründung nicht zu entnehmen.
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(4.) Im Ergebnis ist eine Prognose darüber, dass das Verfügungspatent im weiteren Verlauf des Einspruchsverfahrens Bestand haben wird, nicht zu treffen. Vielmehr stehen dem die angeführten, von Antragsgegnerseite erhobenen Einwendungen entgegen, die mit der vorläufigen Stellungnahme des EPA nicht ausgeräumt werden.
III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.