Titel:
Ausländerrecht, Bosnische Staatsangehörige, Freizügigkeitsrecht, Familienangehörige eines Unionsbürgers, Nahestehende Person, Freizügigkeitsberechtigtes Enkelkind im Bundesgebiet, Faktischer Zwang zum Verlassen des Unionsgebiets, Kernbestand der Unionsbürgerschaft, Praktische Wirksamkeit des Unionsrechts, Aufenthaltskarte
Normenketten:
AEUV Art. 20
AEUV Art. 21 Abs. 1
FreizügG/EU § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. d
FreizügigG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 6
FreizügG/EU § 3a
FreizügG/EU § 5 Abs. 4
Schlagworte:
Ausländerrecht, Bosnische Staatsangehörige, Freizügigkeitsrecht, Familienangehörige eines Unionsbürgers, Nahestehende Person, Freizügigkeitsberechtigtes Enkelkind im Bundesgebiet, Faktischer Zwang zum Verlassen des Unionsgebiets, Kernbestand der Unionsbürgerschaft, Praktische Wirksamkeit des Unionsrechts, Aufenthaltskarte
Fundstelle:
BeckRS 2025, 9432
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleiche Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin, eine bosnische Staatsangehörige, begehrt Rechtsschutz gegen die Feststellung des Nichtbestehens ihres Rechts auf Einreise und Aufenthalt.
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Die im Jahr 1957 geborene Klägerin ist Mutter einer im Jahr 1979 geborenen bosnischen Staatsangehörigen, die seit dem … … … im Bundesgebiet lebt und derzeit im Besitz einer bis zum 25. Januar 2027 gültigen Aufenthaltserlaubnis als Fachkraft mit Berufsausbildung ist. Der im Jahr 2016 geborene Sohn der Tochter und Enkelsohn der Klägerin ist sowohl bosnischer als auch kroatischer Staatsangehöriger und lebt nach Aktenlage seit dem Jahr 2022 im Bundesgebiet.
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Mit E-Mail vom 16. März 2023 zeigte der Bevollmächtigte der Klägerin deren Vertretung an und beantragte beim Landratsamt … (Landratsamt) die Ausstellung einer Aufenthaltskarte als freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige. Am 17. Mai 2023 sprach die Tochter der Klägerin beim Landratsamt vor und legte unter anderem eine kroatische Geburtsurkunde sowie einen kroatischen Reisepass des Enkelsohns vor.
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Auf eine Anhörung vom … … … zu einer beabsichtigten Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt sowie einer Abschiebungsandrohung nahm der Bevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom selben Tag sowie vom 27. Juni 2023 im Wesentlichen dahingehend Stellung, dass es für ein Freizügigkeitsrecht als Familienangehörige ausreichen müsse, dass die Tochter der Klägerin an diese Unterhalt leiste. Zumindest bestehe ein Aufenthaltsrecht als nahestehende Person, da der Enkelsohn vor seinem Zuzug ins Bundesgebiet über zwei Jahre in häuslicher Gemeinschaft mit der Klägerin in Bosnien und Herzegowina gelebt habe. Durch das Zusammenleben sei eine intensive und enge Beziehung aufgebaut worden.
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Mit Bescheid vom 26. Juni 2023, zugestellt am 3. Juli 2023, wurde das Nichtbestehen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt festgestellt (Ziff. I). Der Klägerin wurde eine Ausreisefrist von einem Monat ab Bestandskraft des Bescheids gewährt (Ziff. II) und ihr wurde für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung unter Anderem nach Bosnien und Herzegowina angedroht (Ziff. III). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, bei dem Enkelsohn der Klägerin handele es sich zwar um einen freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger. Die Klägerin könne von diesem aber kein Aufenthaltsrecht ableiten, da sie keine Familienangehörige i.S.d. Freizügigkeitsgesetzes sei. Daher habe sie auch keinen Anspruch auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte. Die Klägerin sei zwar nahestehende Person des Enkelsohns, die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen der Lebensunterhaltssicherung und des Visumsverfahrens lägen jedoch nicht vor. Daher sei nach pflichtgemäßem Ermessen die Feststellung des Rechtsverlustes geboten. Ein Aufenthaltsrecht als Großmutter eines Unionsbürgers aus Art. 21 AEUV bestehe ebensowenig.
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Dagegen hat die Klägerin am 26. Juli 2023 beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage erheben und mit Schriftsatz vom 24. Juli 2023 beantragen lassen,
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1. den Bescheid vom 26. Juni 2023 aufzuheben,
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2. den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin eine Aufenthaltskarte-EU zu erteilen und
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3. den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin für die Dauer des Verfahrens eine Freizügigkeitsbescheinigung zu erteilen.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, der Lebensunterhalt der Klägerin sei durch deren Tochter gesichert. Diese sei auch bereit, eine Verpflichtungserklärung abzugeben. Die Klägerin sei eine pensionierte Frau mit langjähriger Berufserfahrung als Kinderkrankenschwester. Sie wolle sich um ihren Enkelsohn kümmern. Bei diesem sei nach der Geburt ein neurologisches Risiko diagnostiziert worden, was bedeute, dass er insbesondere in den ersten Lebensjahren professionelle Betreuung benötige. Die Tochter der Klägerin sei geschieden und wolle keine andere Betreuung für den Enkelsohn suchen, da dieser an die Klägerin emotional gebunden sei. Seit 2019 würde die Tochter der Klägerin in einem Unternehmen für Intensivpflege sowie ambulante Kinder- und Jugendpflege mit einer monatlichen Arbeitszeit von 240 Stunden arbeiten.
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Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 10. August 2023 die Behördenakten vorgelegt und beantragt,
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Zur Begründung wird im Wesentlichen auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid Bezug genommen.
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Auf Anfrage des Landratsamtes vom … … … teilte der Bevollmächtigte der Klägerin mit E-Mail vom 3. Januar 2025 mit, dass die Klägerin am 2. August 2023 aus dem Bundesgebiet ausgereist, am 4. November 2023 wieder eingereist, am 6. August 2024 ausgereist und am 7. November 2024 erneut eingereist sei. Mit Schriftsatz vom 20. Januar 2025 teilte der Beklagte mit, dass für die Überschreitung des visumsfreien Kurzaufenthalts die Stellung eines Strafantrags geprüft werde.
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Mit Schriftsatz vom 12. Februar 2025 bat der Bevollmächtigte der Klägerin um die Ladung eines Dolmetschers zum Termin.
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Das Gericht hat am 3. April 2025 mündlich zur Sache verhandelt. In dieser Verhandlung erschien die Klägerin nicht persönlich, weshalb der anwesende Dolmetscher entlassen wurde. Der Bevollmächtigte der Klägerin erklärte, er werde dem Gericht bis zum 17. April 2025 mitteilen, ob die Klägerin eine streitige Entscheidung wünsche oder ob die Klage zurückgenommen werde. Bis zum 17. April 2025 ging eine entsprechende Mitteilung der Klagepartei nicht bei Gericht ein.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und auf die vorgelegte Behördenakte sowie die Niederschrift der mündlichen Verhandlung am 3. April 2025 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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1. Die Klage hat keinen Erfolg. Die auf Aufhebung des Bescheids vom 26. Juni 2023 gerichtete Anfechtungsklage sowie die auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte sowie Freizügigkeitsbescheinigung gerichteten allgemeinen Leistungsklagen (vgl. BVerwG, U.v. 23.9.2020 – 1 C 27.19 – juris Rn. 14 m.w.N.) sind statthaft und auch im Übrigen zulässig, jedoch unbegründet.
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1.1 Der streitgegenständliche Bescheid ist nicht rechtswidrig und rechtsverletzend (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2024 – 1 C 5.23 – juris Rn. 13). Der Entscheidung ist daher das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) in der Fassung der Bekanntmachung vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950, 1986), zuletzt geändert durch Art. 4 des Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung vom 21. Februar 2024 (BGBl. I Nr. 54) mit Wirkung vom 27. Februar 2024, zugrunde zu legen.
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1.1.1 Die Feststellung des Nichtbestehens des Rechts auf Einreise und Aufenthalt (Ziff. I) ist rechtmäßig, da die Klägerin weder aus den Vorschriften des FreizügG/EU noch unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV ein Freizügigkeitsrecht ableiten kann.
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Rechtsgrundlage für die Nichtbestehensfeststellung ist § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU. Hiernach kann der Verlust festgestellt werden, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder diese nicht vorliegen.
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1.1.1.1 Die Feststellung des Nichtbestehens eines Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU ist vorliegend möglich. Unabhängig davon, ob das Bestehen der Voraussetzungen für die Ausübung des Freizügigkeitsrechts auch für Familienangehörige von Unionsbürgern vermutet wird (vgl. hierzu: Tewocht in: BeckOK AuslR, 43. Ed. Stand: 1.10.2024, § 1 FreizügG/EU Rn. 27 m.w.N.), ist eine Nichtbestehensfeststellung jedenfalls aus Klarstellungsgründen möglich, wenn das Bestehen eines materiellrechtlichen Freizügigkeitsrechts – wie vorliegend – in Streit steht.
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Ungeachtet der Anwendbarkeit des Fünfjahreszeitraums auf die Variante der Nichtbestehensfeststellung ist zudem die Frist bei erstmaligem Zuzug der Klägerin am 1. November 2020 noch nicht abgelaufen.
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1.1.1.2 Ein Recht auf Freizügigkeit der Klägerin als Familienangehörige nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU besteht nicht.
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Zwar ist der Enkelsohn der Klägerin als kroatischer Staatsangehöriger nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG freizügigkeitsberechtigt, die Klägerin kann von diesem als Großmutter jedoch kein Freizügigkeitsrecht ableiten. Sie ist keine Familienangehörige i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. d FreizügG/EU, da ihr von ihrem Enkelsohn kein Unterhalt gewährt wird. Ein Drittstaatsangehöriger, der von dem Unionsbürger keinen Unterhalt erhält, kann sich nicht auf Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der RL 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, (Freizügigkeitsrichtlinie) und § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. d FreizügG/EU berufen (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2024 – 1 C 5.23 – juris Rn. 18). Es ist auch nicht ausreichend, dass die Tochter der Klägerin an diese Unterhalt leistet, da die Tochter nicht selbst freizügigkeitsberechtigte Unionsbürgerin ist. Sie ist als Mutter eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers zwar ihrerseits freizügigkeitsberechtigt. Gemäß § 3 Abs. 1 FreizügG/EU kann das Freizügigkeitsrecht aber nur vom Unionsbürger selbst, nicht jedoch von dessen freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen abgeleitet werden; die Möglichkeit eines „Kettennachzugsanspruchs“ besteht nicht (vgl. OVG Hamburg, U.v. 25.4.2024 – 6 Bf 133/23 – juris Rn. 39 m.w.N.).
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1.1.1.3 Ferner steht der Klägerin auch nicht in Anwendung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) ein Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV zu.
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Art. 21 Abs. 1 AUEV vermittelt jedem Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Der EuGH hat in besonders gelagerten Fallkonstellationen anerkannt, dass drittstaatsangehörige Familienangehörige eines Unionsbürgers, die zwar aus der Freizügigkeitsrichtlinie kein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat herleiten können, dennoch auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 AEUV die Anerkennung eines Rechts erreichen können. Ein unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV hergeleitetes Aufenthaltsrecht für Familienangehörige eines Unionsbürgers vermittelt nicht nur ein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Wohnsitznahme, sondern ein Freizügigkeitsrecht im Sinne des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU. In Art. 21 Abs. 1 AEUV ist die Freizügigkeit der Unionsbürger primärrechtlich verankert, die auch das Recht umfasst, im Aufnahmemitgliedstaat ein normales Familienleben zu führen. Dieses Aufenthaltsrecht steht auf einer Stufe mit den Freizügigkeitsrechten aus der Freizügigkeitsrichtlinie (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2024 – 1 C 5.23 – juris Rn. 21 m.w.N.).
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Nach der Rechtsprechung des EuGH steht Verwandten in aufsteigender Linie, die mangels Unterhaltsgewährung in aufsteigender Linie nicht Familienangehörige im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. d Freizügigkeitsrichtlinie sind, dennoch aus Art. 21 AEUV und der Freizügigkeitsrichtlinie ein Aufenthaltsrecht als drittstaatsangehöriger Elternteil zu, wenn sie tatsächlich für das Kind sorgen und dieses über ausreichende Existenzmittel im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b Freizügigkeitsrichtlinie verfügt. Begründet hat der EuGH dies damit, dass ansonsten dem Aufenthaltsrecht des Kindes jede praktische Wirksamkeit genommen werde. Denn der Genuss des Aufenthaltsrechts durch ein Kind im Kleinkindalter setze offenkundig voraus, dass sich die für das Kind tatsächlich sorgende Person bei diesem aufhalten dürfe. Im Einzelnen setzt das aus Art. 21 Abs. 1 AEUV folgende Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen voraus, dass sich der minderjährige Unionsbürger, von dem es abgeleitet wird, in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, als demjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, dass der Drittstaatsangehörige tatsächlich die Sorge für diesen Unionsbürger ausübt, und dass der Unionsbürger aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigt ist (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2024 – 1 C 5.23 – juris Rn. 22 f. m.V.a. EuGH, U.v. 10.10.2013 – Alokpa, C-86/12 – juris Rn. 29; U.v. 8.11.2012 – Iida, C-40/11 – juris Rn. 68 f.; U.v. 19.10.2004 – Zhu und Chen, C-200/02 – Rn. 45).
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Hieran gemessen kann sich die Klägerin schon deswegen nicht auf ein primärrechtliches Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV berufen, da sie weder Elternteil ihres freizügigkeitsberechtigten Enkelsohnes ist noch vorgetragen wurde, dass sie die elterliche Sorge für diesen ausübt. Die Anwendung dieser Grundsätze ist zwar nach der zu dem Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht auf Sachverhalte beschränkt, in denen zwischen dem Drittstaatsangehörigen, für den ein Aufenthaltsrecht beantragt wird, und dem Unionsbürger, der ein minderjähriges Kind ist, eine biologische Elternbeziehung besteht (vgl. EuGH, U.v. 6.12.2012 – O. und S., C-356/11 und C-357/11- juris Rn. 55). Aus dieser Rechtsprechung lässt sich aber – ungeachtet der Frage, ob sie auf das Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV zu übertragen ist – nicht folgern, dass der EuGH weder die leibliche noch die rechtliche Elternschaft verlangt und auch das rechtliche Innehaben der elterliche Sorge unerheblich wäre. Dass allein die emotionale Verbundenheit und das häusliche Zusammenleben ausreichen können, lässt sich der Rechtsprechung nicht entnehmen (vgl. VG Bayreuth, B.v. 28.7.2023 – B 6 E 23.444 – juris Rn. 36).
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1.1.1.5 Die Ermessensentscheidung lässt keine Rechtsfehler erkennen und ist im Hinblick auf Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK auch verhältnismäßig. Ermessensfehler, auf die die gerichtliche Überprüfung insoweit beschränkt ist (§ 114 Satz 1 VwGO), sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Insbesondere besteht – unabhängig vom Vorliegen eines entsprechenden klägerischen Antrags – kein im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigendes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht der Klägerin sui generis.
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Einem Drittstaatsangehörigen kann ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht sui generis zustehen, das aus der Unionsbürgerschaft nach Art. 20 AEUV abgeleitet wird. Dieses setzt voraus, dass ein vom Drittstaatsangehörigen abhängiger Unionsbürger ohne den gesicherten Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen „de facto“ gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands seiner Rechte als Unionsbürger verwehrt wird (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 34 m.V.a. EuGH, U.v. 19.10.2004 – Zhu und Chen, C-200/02 – juris Rn. 25 ff.; U.v. 8.3.2011 – Zambrano, C-34/09 – Rn. 41 ff.; U.v. 10.5.2017 (Große Kammer) – Chavez-Vilchez, C-133/15 – juris Rn. 70 ff.).
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Die Gewährung eines solchen Aufenthaltsrechts kann nach der Rechtsprechung des EuGH jedoch nur „ausnahmsweise“ oder bei „Vorliegen ganz besondere(r) Sachverhalte“ erfolgen. Verhindert werden soll dadurch nur eine Situation, in der der Unionsbürger für sich keine andere Wahl sieht als einem Drittstaatsangehörigen, von dem er rechtlich, wirtschaftlich oder affektiv abhängig ist, bei der Ausreise zu folgen oder sich zu ihm ins Ausland zu begeben und deshalb das Unionsgebiet zu verlassen. Gegen eine rechtliche und wirtschaftliche Abhängigkeit spricht etwa die Tatsache, dass ein minderjähriger Unionsbürger mit einem sorgeberechtigten Elternteil zusammenlebt, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt bzw. über ein Daueraufenthaltsrecht verfügt und berechtigt ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Allerdings ist es möglich, dass dessen ungeachtet eine so große affektive Abhängigkeit des Kindes von dem nicht aufenthaltsberechtigten Elternteil besteht, dass sich das Kind zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe, wenn dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht verweigert würde. Einer solchen Feststellung muss die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Kindeswohls zugrunde liegen, insbesondere des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung sowohl zu dem Elternteil, der Unionsbürger ist, als auch zu dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und des Risikos, das mit der Trennung von Letzterem für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre. Dabei ist auch die Dauer einer zu erwartenden Trennung des Kindes vom drittstaatsangehörigen Elternteil zu berücksichtigen. Insoweit spielt eine Rolle, ob der Drittstaatsangehörige das Unionsgebiet – etwa zur Nachholung des Visumverfahrens – für unbestimmte Zeit oder aber nur für einen kurzen, verlässlich zu begrenzenden Zeitraum zu verlassen hat (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 35 m.V.a. EuGH, U.v. 15.11.2011 – Dereci, C-256/11 – juris Rn. 67; U.v. 8.11.2012 – Iida, C-40/11 – juris Rn. 71; U.v. 10.5.2017 (Große Kammer) – Chavez-Vilchez, C-133/15 – juris Rn. 71; U.v. 8.5.2018 – K.A., C-82/16 – juris Rn. 51, 56, 58).
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Hieran gemessen ist vorliegend ein unionsrechtswidriger rechtlicher oder faktischer Zwang für den Enkelsohn der Klägerin zum Verlassen des Unionsgebietes nicht ersichtlich. Eine derart große affektive Abhängigkeit des minderjährigen Enkelsohnes von seiner Großmutter, dass dieser sich ungeachtet der alleinigen Personensorge seiner Mutter zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe, wenn der Klägerin ein Aufenthaltsrecht verweigert würde, ist nicht dargelegt. Die Rechtsprechung des EuGH betrifft die (nicht biologischen) Elternteile eines minderjährigen Unionsbürgers (vgl. 1.1.1.4). Eine Übertragung auf ein Großelternteil ist zwar nicht ausgeschlossen, würde aber jedenfalls ein vergleichbares Abhängigkeitsverhältnis voraussetzen. Vorliegend ist jedoch nicht vorgetragen, dass die Klägerin die elterliche Sorge für ihren Enkelsohn ausübt. Dieser lebt mit seiner allein sorgeberechtigten Mutter im Bundesgebiet, die über einen Aufenthaltstitel verfügt, darüber hinaus auch freizügigkeitsberechtigt wäre und alleine für den Unterhalt des Enkelsohnes aufkommt. Eine bloß emotionale Abhängigkeit von der Klägerin als Großmutter und deren Unterstützung der alleinerziehenden und in Vollzeit berufstätigen Tochter bei der Betreuung des Enkelsohns ist für sich genommen nicht kennzeichnend für eine Ausnahmesituation, wie sie für die Anerkennung eines Aufenthaltsrechtes sui generis des drittstaatsangehörigen, nicht sorgeberechtigten Elternteils aus Art. 20 AEUV erforderlich ist (vgl. BayVGH, B.v. 25.1.2024 – 19 ZB 23.1946 – juris Rn. 36). Dies gilt insbesondere, da der Enkelsohn mittlerweile acht Jahre alt ist und gesundheitliche Einschränkungen nach dem klägerischen Vortrag und den vorgelegten Attesten nur in den ersten Lebensjahren vorgelegen haben, sodass kein besonderer Betreuungsbedarf mehr besteht, der nicht durch Fremdbetreuung gewährleistet werden könnte. Gegenteiliges ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Hinzu kommt, dass die Klägerin ein Visumverfahren durchlaufen und bei Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen ein Aufenthaltsrecht als nahestehende Person nach § 3a FreizügG/EU erhalten kann, zumindest jedoch als bosnische Staatsangehörige 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen visumsfrei zu Besuchszwecken in das Bundesgebiet einreisen darf.
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1.1.2 Auch die Ausreisepflicht und Abschiebungsandrohung (Ziff. II und III) sind weder rechtswidrig noch rechtsverletzend (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen sind nach § 7 Abs. 1 FreizügG/EU ausreisepflichtig und ihnen soll eine Ausreisefrist von grundsätzlich mindestens einem Monat gesetzt und die Abschiebung angedroht werden, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Der Abschiebung der Klägerin stehen nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG aus oben genannten Gründen auch weder das Kindeswohl noch familiäre Belange entgegen.
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1.2 Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach dem FreizügG/EU (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Ein Anspruch auf Ausstellung der deklaratorischen Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU besteht nicht, da die Klägerin keine freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige ist (vgl. 1.1.1). Ein Anspruch auf Ausstellung einer konstitutiven Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 7 Satz 1 FreizügG/EU besteht ebenso wenig, da die Klägerin keinen Anspruch auf ein Aufenthaltsrecht nach § 3a FreizügG/EU hat.
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Einer nahestehenden Person eines Unionsbürgers, die selbst nicht als Unionsbürger und nicht nach den §§ 3, 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt ist, kann auf Antrag das Recht zur Einreise und zum Aufenthalt im Bundesgebiet verliehen werden, unter anderem wenn es sich um eine nahestehende Person im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 4 Buchst. a FreizügG/EU handelt und der Unionsbürger mit ihr in dem Staat, in dem sie vor der Verlegung des Wohnsitzes in das Bundesgebiet gelebt hat oder lebt, in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat und die häusliche Gemeinschaft zwischen dem Unionsbürger und ihr mindestens zwei Jahre bestanden hat (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b FreizügG/EU). Nach § 11 Abs. 5 FreizüG/EU sind in diesem Fall unter anderem § 5 Abs. 1, 2 und 4 AufenthG entsprechend anzuwenden. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist, kein Ausweisungsinteresse besteht und dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist.
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Hiernach kann dahinstehen, ob die Klägerin nahestehende Person i.S.v. § 1 Abs. 2 Nr. 4 Buchst. a FreizügG/EU ihres Enkelsohns ist, ob die allgemeine Erteilungsvoraussetzung der Lebensunterhaltssicherung nach § 11 Abs. 5 FreizügG/EU i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt ist und ob der Erteilung eines Aufenthaltsrechts ein Ausweisungsinteresse nach § 11 Abs. 5 FreizügG/EU i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wegen eines Rechtsverstoßes infolge einer Überschreitung des visumsfreien Kurzaufenthalts entgegenstünde, da jedenfalls die allgemeine Erteilungsvoraussetzung der Einreise mit dem erforderlichen Visum nach § 11 Abs. 5 FreizügG/EU i.V.m. § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht vorliegt. Die Klägerin ist ohne Visum in das Bundesgebiet eingereist, obwohl die Einreise zum Zwecke des dauerhaften Familiennachzugs vorliegend nur mit einem nationalen Visum zum Familiennachzug nach § 3a FreizügG/EU hätte erfolgen dürfen.
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Von der Voraussetzung der Durchführung des Visumverfahrens kann auch nicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG abgesehen werden, da § 3a FreizügG/EU keinen strikten Rechtsanspruch auf Erteilung vorsieht. Auch das Vorliegen besonderer Umstände des Einzelfalles, nach denen es der Klägerin nicht zumutbar wäre, das Visumverfahren nachzuholen (§ 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG), sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Die Klägerin hat sich in den letzten Jahren regelmäßig für nicht unerhebliche Zeiträume in Bosnien und Herzegowina aufgehalten und besitzt dort nach eigenen Angaben eine Wohnung, sodass es ihr zumutbar ist, vom Heimatland aus ein Visumverfahren durchzuführen. Der Trennungszeitraum von ihrem im Bundesgebiet lebenden Enkelsohn wird zusätzlich dadurch verkürzt, dass dieser die Klägerin dort besuchen kann und die Klägerin zu Besuchszwecken weiterhin für 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen visumsfrei in das Bundesgebiet einreisen darf.
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1.3 Soweit die Erteilung einer Freizügigkeitsbescheinigung für die Dauer des Verfahrens beantragt worden ist, ist die Klage ebenfalls unbegründet. Ein entsprechender Anspruch besteht nicht (§ 113 Abs. 5 VwGO). Das Institut der deklaratorischen Bescheinigung über das Freizügigkeitsrecht bei Unionsbürgern existiert nach der aktuellen Rechtslage nicht mehr. Sofern der Antrag als solcher auf Erteilung einer Bescheinigung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU auszulegen wäre, bestünde kein entsprechender Anspruch. Diese sog. Verfahrensbescheinigung dient allein als Nachweis für die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Familienangehörigen im Zeitraum zwischen der meldebehördlichen Anmeldung und der Entscheidung über die Ausstellung der Aufenthaltskarte (vgl. Kurzidem in: BeckOK AuslR, 43. Ed. Stand: 1.10.2024, § 5 FreizügG/EU Rn. 6). Der Antrag ist mit der Entscheidung in der Sache somit hinfällig.
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2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 713 ZPO.