Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 28.03.2025 – W 7 K 25.18
Titel:

Duldung für Personen mit ungeklärter Identität, Nebenbestimmung, Anfechtung, Kausalität

Normenketten:
AufenthG § 60b Abs. 1 S. 1
AufenthG § 60b Abs. 5 S. 1
Schlagworte:
Duldung für Personen mit ungeklärter Identität, Nebenbestimmung, Anfechtung, Kausalität
Fundstelle:
BeckRS 2025, 9355

Tenor

I. Der Zusatz „für Personen mit ungeklärter Identität“ auf den Duldungsbescheinigungen der Kläger wird rückwirkend zum 18. November 2024 aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
...

Tatbestand

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Die Kläger begehren die Aufhebung des Zusatzes „für Personen mit ungeklärter Identität“ in ihrer Duldungsbescheinigung.
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1. Kläger zu 1) ist ein am … … … geborener pakistanischer Staatsangehöriger, Klägerin zu 2) ist seine am … … … geborene Ehefrau, Klägerin zu 3) die am … … … geborene gemeinsame Tochter. Beide sind ebenfalls pakistanische Staatsangehörige. Sie reisten am 29. Januar 2022 in die Bundesrepublik ein und beantragten Asyl. Der Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 16. August 2022 abgelehnt und die Abschiebung nach Pakistan angedroht (Az. 8664407 – 461). Eine dagegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht Würzburg mit rechtskräftigem Urteil vom 12. Oktober 2023 überwiegend ab (W 9 K 22.30641), hob allerdings das Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie die Abschiebungsandrohung des Bundesamtsbescheids auf (Ziffern 5 und 6), weil bei zwei vor der restlichen Familie eingereisten minderjährigen Kindern der Kläger zu 1) und zu 2) ein Abschiebungsverbot festgestellt worden war.
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Die den Klägern in dieser Zeit erteilten Aufenthaltsgestattungen enthielten den Zusatz „Die Angaben zur Person beruhen auf den eigenen Angaben der Inhaberin/des Inhabers. Ein Identifikationsnachweis durch Originaldokumente wurde nicht erbracht.“
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Den Klägern wurden erstmals am 20. März 2024 Duldungsbescheinigungen nach § 60a AufenthG erteilt. Mit Schreiben vom 19. Juli 2024 wurden die Kläger zu 1) und zu 2) zur beabsichtigten Erteilung einer Duldung für Personen mit ungeklärter Identität wegen verletzter Passpflicht angehört. Erstmals am 19. November 2024 wurde auf den Duldungen der Zusatz „für Personen mit ungeklärter Identität“ angebracht, wobei eine Rechtsbehelfsbelehrungnach Aktenlage nicht beigefügt wurde.
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Mit Schreiben vom 9. Dezember 2024 forderte der Klägerbevollmächtigte die damals zuständige Zentrale Ausländerbehörde Unterfranken zur Streichung der Nebenbestimmung auf, weil die Kläger unabhängig von der Passbeschaffung angesichts der aufgehobenen Abschiebungsandrohung nicht abgeschoben werden könnten. Nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung sei eine Duldungserteilung nach § 60b AufenthG nur zulässig, wenn die Nichtmitwirkung des Betroffenen kausal für den unterbliebenen Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen sei.
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Mit E-Mail vom 12. Dezember 2024 teilte die Zentrale Ausländerbehörde Unterfranken dem Klägerbevollmächtigten mit, die Zuständigkeit werde an die Beklagte abgegeben.
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Die Beklagte teilte den Klägern mit E-Mail vom 16. Dezember 2024 mit, die Streichung der Nebenbestimmungen werde nicht erfolgen, weil die Kläger nicht um die Passbeschaffung bemüht seien. Insbesondere wies sie auf Nr. 1.9 der Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Inneren, für Bau und Heimat zu § 60b des Aufenthaltsgesetzes hin.
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2. Am 3. Januar 2025 ließen die Kläger Klage erheben und beantragen,
Die Beklagte wird verpflichtet, die in der Duldungsbescheinigung aufgenommene Nebenbestimmung „Für Personen mit ungeklärter Identität“ ersatzlos rückwirkend zum 18. November 2024 zu streichen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, die Voraussetzungen des § 60b AufenthG seien nicht gegeben, weil die fehlende Mitwirkung der Kläger bei der Passbeschaffung nicht kausal für unterbliebene aufenthaltsbeendende Maßnahmen sei. Die Kläger seien angesichts der aufgehobenen Abschiebungsandrohung überhaupt nicht vollziehbar ausreisepflichtig.
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Zudem ließen die Kläger einen Antrag auf Prozesskostenhilfe und Rechtsanwaltsbeiordnung stellen.
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3. Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen angegeben, die Duldung nach § 60b AufenthG solle den Inhaber dazu anhalten, seiner Passpflicht nachzukommen und seine Identität zu klären. Trotz mehrfacher Aufforderung seien die Kläger ihrer Mitwirkungspflicht nach § 48 Abs. 3 AufenthG nicht nachgekommen. Bzgl. der weiteren Töchter habe das Bundesamt zwar ein Abschiebungsverbot festgestellt, gleichzeitig aber darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit eines Widerrufsverfahrens bestehe. Denn bei Wiederherstellung der Familieneinheit und gemeinsamer Rückreise nach Pakistan seien die Gründe für die Abschiebungsverbote (die fehlende Lebensunterhaltssicherung in Pakistan) nach Einschätzung der Beklagten nicht mehr gegeben. Deshalb habe sie am 23. Januar 2025 auch Widerrufsverfahren bzgl. der Töchter veranlasst. Prognostisch sei von einer Ausreisepflicht der Gesamtfamilie auszugehen. Daher erscheine die Aufrechterhaltung einer Duldung nach § 60b AufenthG gerechtfertigt. Es wurde auf Nr. 1.9 der Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat zu § 60b des Aufenthaltsgesetzes hingewiesen. Zudem wurde gebeten zu berücksichtigen, dass die Beklagte erst am 12. Dezember 2024 und damit kurz vor Klageerhebung die ausländerrechtliche Zuständigkeit für die Kläger übernommen habe.
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4. Nach Klageerhebung teilte der Klägerbevollmächtigte schriftsätzlich mit, bereits am 9. September 2024 hätten die Kläger pakistanische Reisepässe beantragt, dies sei für das vorliegende Verfahren aber unerheblich. Nachweise dazu wurden weder im gerichtlichen Verfahren vorgelegt noch finden sie sich bei den Behördenakten. Die Beklagte trug daraufhin vor, gegen Übermittlung einer entsprechenden Bescheinigung sei sie zur Aufhebung der Nebenbestimmung bereit.
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5. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Behördenakten verwiesen. Mit Schreiben vom 11. März 2025 wurden die Beteiligten zur Frage nach einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung oder durch Gerichtsbescheid und zur Einzelrichterübertragung angehört. Sie erklärten ihr Einverständnis mit diesem Vorgehen. Mit Beschluss vom 25. März 2025 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage, über die der Einzelrichter mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet, ist begründet. Die belastende Nebenbestimmung ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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1. Die Klage ist zulässig.
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Insbesondere ist sie als Anfechtungsklage auf Aufhebung des Zusatzes zur Duldung statthaft.
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Bei dem Zusatz „für Personen mit ungeklärter Identität“ handelt es sich um eine isoliert anfechtbare Nebenbestimmung zur Duldung, weshalb die Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO der statthafte Rechtsbefehl ist (m.w.N. OVG MV, B.v. 25.6.2024 – 2 O 202/24 OVG – juris Rn. 8). Das Ziel der Kläger, die negative Wirkung des § 60b Abs. 5 Satz 1 AufenthG zu vermeiden, kann angesichts von §§ 60b Abs. 6 i.V.m. § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG nur durch rückwirkende Aufhebung der Nebenbestimmung beseitigt werden.
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Die Kläger sind im Hinblick auf § 60b Abs. 5 Satz 1 AufenthG auch bzgl. einer Aufhebung für die Vergangenheit rechtsschutzbedürftig. Denn bei einer denkbaren künftigen Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis dürfte der streitgegenständliche Zeitraum nicht als Vorduldungszeit angerechnet werden.
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Ungeachtet des aus der Akte nicht ersichtlichen genauen Bekanntgabedatums der Duldung mit dem Zusatz „für Personen mit ungeklärter Identität“ war außerdem jedenfalls die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO zum Zeitpunkt der Klageerhebung noch nicht verstrichen. Eine Rechtsbehelfsbelehrungwar dem belastenden Zusatz zur Duldung nach Aktenlage nicht beigefügt, sodass die Jahresfrist zur Anwendung kommt. Diese war am 3. Januar 2025 selbst dann noch nicht vorüber, wenn man auf den 19. November 2024 als frühesten denkbaren Bekanntgabezeitpunkt abstellt.
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2. Die Klage ist auch begründet.
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Der Zusatz „für Personen mit ungeklärter Identität“ ist seit seiner erstmaligen Bekanntgabe gegenüber den Klägern rechtswidrig und verletzt die Kläger folglich in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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a) Zunächst richtet sich die Klage gegen die richtige Beklagte i.S.d. § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Zwar wurde die beanstandete Nebenbestimmung ursprünglich von der Zentralen Ausländerbehörde Unterfranken erlassen, deren Rechtsträger der Freistaat Bayern ist. Durch die Zuständigkeitsübertragung nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 ZustVAuslR auf die Beklagte ist allerdings inzwischen von deren Passivlegitimation auszugehen. Wenn es nach dem Erlass der behördlichen Sachentscheidung, aber noch vor Klageerhebung zu einem vollständigen Zuständigkeitswechsel kommt, ist auch eine Anfechtungsklage gegen die nunmehr zuständige Behörde zu richten. Denn die bisher zuständige Behörde ist dann von dem Zuständigkeitswechsel an nicht mehr in der Lage, den Bescheid zu ändern oder aufzuheben und kann daher auch dem im Prozess geltend gemachten Aufhebungsanspruch im Wege einer Abhilfeentscheidung nicht mehr entsprechen (std. Rspr., z.B. NdsOVG, B.v. 1.7.2024 – 4 ME 120/24 – juris Rn. 15). Dies muss umso mehr bei der Duldung für Personen mit ungeklärter Identität nach § 60b AufenthG als Dauerverwaltungsakt gelten, für deren fortlaufende Rechtmäßigkeit nun die Beklagte verantwortlich zeichnet.
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b) Eine Duldung mit dem beanstandeten Zusatz wird einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer gemäß § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG erteilt, wenn die Abschiebung aus von ihm selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden kann, weil er das Abschiebungshindernis durch eigene Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch eigene falsche Angaben selbst herbeiführt oder er zumutbare Handlungen zur Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht nach Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 nicht vornimmt.
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Die Kläger sind vollziehbar ausreisepflichtig in diesem Sinne. Zwar wurde die Abschiebungsandrohung aus dem Bundesamtsbescheid vom 16. August 2022 durch das Urteil vom 12. Oktober 2023 (W 9 K 22.30641) aufgehoben. Dies hindert allerdings nicht die Annahme einer vollziehbaren Ausreisepflicht i.S.d. AufenthG. § 58 Abs. 2 AufenthG enthält eine Legaldefinition der vollziehbaren Ausreisepflicht, die gerade nicht auf die Vollstreckbarkeit einer Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung im unionsrechtlichen Sinne abstellt. Auch § 59 Abs. 1 Satz 6 AufenthG differenziert zwischen Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht (= eine die Ausreisepflicht begründende Entscheidung ist bestandskräftig) und Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung (= diese Entscheidung kann im Wege der Zwangsvollstreckung umgesetzt werden). Gleichzeitig umfasst das AsylG keine Regelungen zur Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nach bestandskräftiger Ablehnung des Asylantrags. Nach § 67 Abs. 1 Nr. 6 AsylG erlischt die Aufenthaltsgestattung mit Unanfechtbarkeit der Entscheidung des Bundesamts. Anschließend wird der abgelehnte Asylbewerber nach § 50 Abs. 1 AsylG ausreisepflichtig. Ausweislich von § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist die Ausreisepflicht sodann vollziehbar, wenn der sonstige Verwaltungsakt, durch den der Ausländer nach § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig wird, vollziehbar ist. Damit genügt die Vollziehbarkeit des Bundesamtsbescheids vom 16. August 2022, der ungeachtet der aufgehobenen Abschiebungsandrohung das Ende des Asylverfahrens markiert und damit gemäß § 67 Abs. 1 Nr. 6 AsylG die Aufenthaltsgestattung zum Erlöschen bringt, um eine vollziehbare Ausreisepflicht i.S.d. AufenthG anzunehmen (vgl. insgesamt Kluth in BeckOK AuslR, Stand: 1.10.2024, § 58 AufenthG Rn. 24). Dies stellt der Klägerbevollmächtigte, der eine Duldung nach § 60a AufenthG ohne einschränkende Nebenbestimmung begehrt, letztlich auch nicht in Frage, indem auch eine solche Duldung nach § 60a Abs. 3 AufenthG eine (vollziehbare) Ausreisepflicht voraussetzt und unberührt lässt (Kluth/Breidenbach in BeckOK AuslR, Stand: 1.10.2024, § 60a AufenthG Rn. 45; Dollinger in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 60a AufenthG Rn. 4, 6 zur Übersetzung in Kategorien der Rückführungsrichtlinie).
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Die weitere Voraussetzung für die Erteilung einer Duldung für Personen mit ungeklärter Identität, wonach die „Abschiebung aus von ihm selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden kann, weil er das Abschiebungshindernis durch eigene Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch eigene falsche Angaben selbst herbeiführt oder er zumutbare Handlungen zur Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht nach Absatz 2 Satz 1 und Absatz 3 Satz 1 nicht vornimmt“, ist in der Person der Kläger allerdings nicht erfüllt.
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Im Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung ist davon auszugehen, dass die Kläger nicht i.S.d. § 48 Abs. 3 AufenthG bei der Passbeschaffung mitwirken. Ihr Bevollmächtigter hat zwar zuletzt mitgeteilt, am 9. September 2024 hätten sie pakistanische Reisepässe beantragt. Nachweise hierzu wurden aber nicht übermittelt und befinden sich auch nicht bei den Behördenakten, sodass auch auf dieser Grundlage nicht von einer Mitwirkung ausgegangen werden kann. Denn die Vornahme der von § 60b Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 AufenthG verlangten Mitwirkungshandlungen haben die Kläger nicht nach § 60b Abs. 3 Satz 3 AufenthG glaubhaft gemacht.
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Dessen ungeachtet ergibt sich aus § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG, dass ein Kausalzusammenhang zwischen dem angesprochenen Verhalten und der Unmöglichkeit der Abschiebung bestehen muss. Dieser Zusammenhang besteht für die Kläger, gegen die keine Abschiebungsandrohung in Kraft ist, gerade nicht. Vielmehr begründet die fehlende Abschiebungsandrohung eine weitere Ursache dafür, dass die Abschiebung nicht durchgeführt werden kann, die auch bei Vorlage gültiger Reisepässe nicht entfiele.
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Zwar wird teilweise vertreten, eine Reserveursache für die unterbliebene Abschiebung, die neben die verletzte Passpflicht tritt, sei unschädlich (aa). Dies widerspricht allerdings der ganz überwiegenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung (bb), der sich der Einzelrichter vor allem wegen des klaren Wortlauts des § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG anschließt (cc).
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aa) § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG wird teilweise dahingehend interpretiert, dass eine Mitursächlichkeit des sanktionierten Verhaltens für die unterbliebene Abschiebung genügt, um die belastende Nebenbestimmung zu verfügen (Thym, ZAR 2019, 353/355). Im Lichte der juristischen Kausalitätslehren sei es ausreichend, wenn eine Mitwirkung die Abschiebung zumindest erleichtert, wobei auch hier Ausnahmen für Mitwirkungshandlungen gemacht werden, die von vornherein aussichtslos sind (ders., Innenausschuss, Wortprotokoll-Nr. 19/57 v. 3.6.2019, S. 49). Die Prüfung der Aussichtslosigkeit der Mitwirkungshandlung wird dieser Rechtsauffassung zufolge ausschließlich auf das Verhältnis zwischen der geforderten Mitwirkungshandlung und der Beseitigung eines der Abschiebungshindernisse bezogen. Weitere, davon unabhängige Abschiebungshindernisse stehen einer Duldung für Personen mit ungeklärter Identität demzufolge nicht entgegen (Zeitler, HTK-AuslR, Stand: 1.8.2024, § 60b AufenthG Rn. 30 ff., der in Rn. 11 allerdings der Gegenansicht folgt). Die zur Stützung dieser Ansicht zitierte Rechtsprechung setzt sich mit der Frage nach einem weiteren, unselbstständigen Ausreisehindernis allerdings überwiegend nicht auseinander, sondern betrifft die Unerheblichkeit etwaiger (hypothetischer) Folgeprobleme bei der Passbeschaffung trotz erfolgter Mitwirkung in Fällen, in denen die Ausreise einzig an fehlenden Reisedokumenten scheiterte (BVerwG Urt. v. 10.11.2009 – 1 C 19.08 – juris Rn. 11; OVG Berlin-Bbg U.v. 16.10.2018 – OVG 3 B 4.18 – juris Rn. 19 f.). Eine Kausalität trotz eines weiteren selbstständigen Ausreisehindernisses wird dennoch auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung vereinzelt angenommen. Wesentliches Argument dieser Position ist es, die Unerheblichkeit von Reserveursachen hätte der Gesetzgeber im Gesetzeswortlaut deutlich machen müssen, für die Gegenposition gebe es dort keine Anhaltspunkte (OVG RhPf, B.v. 20.11.2019 – 7 A 11161/19.OVG – juris Rn. 27 zu § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG).
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Dieser Rechtsansicht folgt auch Nr. 1.9 der Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat zu § 60b des Aufenthaltsgesetzes v. 14.4.2020, worauf die Beklagte hinweist. Diese normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift kann zwar im Rahmen der Gesetzesauslegung auch vom Gericht herangezogen werden, entfaltet als behördliches Innenrecht aber keine Bindungswirkung.
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bb) Die ganz überwiegende Ansicht weist jedoch in die Gegenrichtung, wonach § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG unanwendbar ist, wenn neben der verletzten Passpflicht eine weitere selbstständige Ursache der unterbliebenen Abschiebung festgestellt werden kann, die auch bei Vorlage gültiger Reisedokumente nicht beseitigt worden wäre.
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So weichen bereits einige Anwendungshinweise der Bundesländer von der Verwaltungsvorschrift des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat ab. Das Rundschreiben des Ministeriums für Inneres, ländliche Räume, Integration und Gleichstellung Schleswig-Holstein v. 19.11.2020 führt etwa aus, aufgrund des eindeutigen Wortlauts von § 60b AufenthG werde die Ansicht des BMI nicht geteilt und von einem echten Kausalitätserfordernis ausgegangen. Ein weiteres selbstständiges Abschiebungshindernis schließe die Erteilung einer Duldung für Personen mit ungeklärter Identität aus. Auch Thüringen formuliert eine entsprechende Abweichung von der Verwaltungsvorschrift des Bundes (Ergänzungen für den Freistaat Thüringen v. 23.7.2021, S. 4).
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Dem entspricht die weit überwiegende Auffassung in der juristischen Literatur. So wird beispielsweise ausgeführt, eine Sanktion sei nur verhältnismäßig, wenn der verfolgte Zweck erreicht werden könne. Dies sei nicht der Fall, wenn der Abschiebung noch ein weiteres Hindernis entgegenstehe, auf das der Betroffene keinen Einfluss habe (Kluth in BeckOK AuslR, Stand: 1.10.2024, § 60b Rn. 16; Bruns/Hocks in Hofmann AuslR, 3. Aufl 2023, § 60b AufenthG Rn. 22; Eichler/Mantel/Weiser in Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 4. Aufl. 2025, § 60b AufenthG Rn. 7; Welte, AufenthG Onlinekommentar, Stand: 1.1.2024, § 60b Rn. 10; Funke-Kaiser in Berlit, GK-AufenthG, Stand: 132. Lfg., § 60b Rn. 31). Die Vorschrift sei wie § 60a Abs. 6 S. 1 Nr. 2 AufenthG auszulegen, der ein echtes Kausalitätserfordernis begründe. Der von der Gegenansicht angeführten Rechtsprechung sei eine widerlegliche Vermutung der Ursächlichkeit zwischen verletzten Mitwirkungspflichten und der Erfolglosigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen zu entnehmen. Dieser Nachweis könne bei einem weiteren Abschiebungshindernis ohne Weiteres geführt werden. Zur Begründung wird insbesondere auf den im Gesetz verwendeten bestimmten Artikel („das“ Abschiebungshindernis) hingewiesen, der deutlich für die Monokausalität spreche (Wittmann in BeckOK MigR, Stand: 1.7.2024, § 60b AufenthG Rn. 28 ff.; Funke-Kaiser in Berlit, GK-AufenthG, Stand: 132. Lfg., § 60b Rn. 32).
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Auch die Rechtsprechung geht ganz überwiegend davon aus, eine zusätzliche Reserveursache der unterbliebenen Abschiebung schließe die Duldung für Personen mit ungeklärter Identität aus. Hier wird insbesondere auf den Wortlaut der Norm abgestellt und darauf hingewiesen, die Vorschrift sei an § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG angelehnt, der von der herrschenden obergerichtlichen Rechtsprechung schon seit langer Zeit in diese Richtung interpretiert werde (VGH BW, B.v. 16.8.2023 – 11 S 2717.22 – juris Rn. 14; OVG Bremen, B.v. 13.6.2023 – 2 LA 8/23 – juris Rn. 9 m.w.N.). In der Tat weist die damit angesprochene Rechtsprechungslinie zu Parallelkonstellationen in eine Zeit vor Erlass des § 60b AufenthG mit Gesetz vom 15. August 2019 zurück (etwa VGH BW, B.v. 12.10.2005 – 11 S 1011/05 – juris Rn. 19 oder BayVGH, B.v. 9.7.2019 – 10 C 18.1082 – juris Rn. 8).
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cc) Im Anschluss an diese weit überwiegende Gesetzesinterpretation geht auch der Einzelrichter davon aus, dass § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG unanwendbar ist, wenn – wie hier mit der aufgehobenen Abschiebungsandrohung – ein weiteres Abschiebungshindernis vorliegt, das durch Erfüllung der verletzten Mitwirkungspflicht nicht beeinflusst werden würde.
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Zwar überzeugt es, im Rahmen des § 60b AufenthG keine Prüfung hypothetischer Reserveursachen vorzunehmen. Beispielsweise liegt es fern, die Kausalität deshalb abzulehnen, weil nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass die Heimatbehörden Reisedokumente auch bei ordnungsgemäßer Mitwirkung nicht erteilt hätten (vgl. OVG Berlin-Bbg U.v. 16.10.2018 – OVG 3 B 4.18 – juris Rn. 19 f.).
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Die Lage ist aber eine andere, wenn – wie hier – eine weitere, von der verletzten Passpflicht unabhängige Ursache der unterbliebenen Abschiebung sicher feststeht. Dies folgt bereits aus dem klaren Wortlaut des § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG, wonach die Pflichtverletzung „das Abschiebungshindernis“ und gerade nicht eines von ggf. mehreren Abschiebungshindernissen verursacht haben muss. Damit wurde der Wortlaut gegenüber der offener formulierten Parallelbestimmung in § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG, wonach „aufenthaltsbeendende Maßnahmen bei ihm aus Gründen, die er selbst zu vertreten hat, nicht vollzogen werden können“, nochmals enger gefasst. § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG hat der Gesetzgeber im Bewusstsein der herrschenden Rechtsprechung zu § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG verabschiedet. Auch wenn sich die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 19/10047, S. 37 ff.) nicht zu dieser Frage verhält, drängt sich auf, dass mit der deutlicher auf ein Erfordernis der Monokausalität hinweisenden Formulierung kein gegenteiliger Effekt erzielt werden sollte. Eine gegenteilige Auslegung der deutlich in diese Richtung weisenden Bestimmung verbietet sich auch in Anbetracht der einschneidenden Rechtsfolgen des § 60b Abs. 5 AufenthG (keine Anrechnung als Vorduldungszeit und Erwerbstätigkeitsverbot).
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dd) Die fortbestehende Wirkung des Zusatzes im streitgegenständlichen Zeitraum ist in der Folge rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten. Auf die vom Klägerbevollmächtigten unter Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH aufgeworfene Frage, inwieweit die Duldung nach § 60b AufenthG angesichts der aufgehobenen Rückkehrentscheidung mit dem Recht auf Arbeitsmarktzugang aus Art. 15 der Aufnahmerichtlinie (2013/33/EU) in Konflikt steht, kommt es vor diesem Hintergrund nicht an.
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Der Klage war dabei im tenorierten Umfang, ab dem 18. November 2024, stattzugeben. Denn wann die Duldung nach § 60b AufenthG erstmals i.S.d. Art. 43 Abs. 1 BayVwVfG bekanntgegeben und damit wirksam geworden ist, ist nicht aktenkundig. Aus den Behördenakten der Kläger zu 1) und zu 2) ergibt sich, dass die Duldung für Personen mit ungeklärter Identität auf eine Verfügung vom 18. November 2024 zurückgeht und die Dokumentenausfertigung am 19. November 2024 zur Post gegeben wurde (Bl. 321 d.A. des Klägers zu 1, Bl. 298 d.A. der Klägerin zu 2). Zudem findet sich in der Akte des Klägers zu 1) ein Empfangsbekenntnis für „1 Schreiben“, das auf den 25. November 2024 datiert (Bl. 486). Ob gleichzeitig auch die Duldung ausgehändigt wurde, ist unklar. Dagegen spricht, dass sich für die Klägerinnen zu 2) und zu 3) ein gesondertes Aushändigungsschreiben „2 Duldungen“ bei den Akten befindet, das allerdings kein datiertes Empfangsbekenntnis umfasst (Bl. 299 d.A.). Gleichzeitig finden sich in der Behördenakte Hinweise, wonach die Zentrale Ausländerbehörde Unterfranken andere Behörden über eine Erteilung der Duldung für Personen mit ungeklärter Identität am 18. November 2024, dem Tag der Verfügungserstellung, informiert hat (z.B. Bl. 390 d.A. der Klägerin zu 2). Wegen dieser unterschiedlichen Informationen wurde aus Klarstellungsgründen und zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes eine Aufhebung zum 18. November 2024, dem frühesten vorgebrachten Zeitraum, tenoriert, obwohl eine Bekanntgabe vor dem 19. November 2024 nach Aktenlage ausgeschlossen ist.
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3. Der Klage ist mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus §§ 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.