Inhalt

VG München, Urteil v. 21.03.2025 – M 30 K 23.30205
Titel:

Erfolgloser Asylantrag eines Staatsangehörigen aus Sierra Leone, der über Polen auf dem Landweg eingereist ist

Normenketten:
GG Art. 16a Abs. 2
AsylG § 3 Abs. 1, § 3c, § 3d, § 3e, § 4 Abs. 1, Abs. 3, § 34, § 38 Abs. 1, § 77 Abs. 1 S. 1
AufenthG § 11, § 60 Abs. 5, Abs. 7
VwGO § 102 Abs. 2, § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 1
EMRK Art. 3
RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4
Leitsätze:
1. Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an die in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die wegen ihrer Intensität den Betroffenen dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Zumutbarkeit der Niederlassung im Rahmen des § 3e iVm § 4 Abs. 3 S. 1 AsylG ist stets zu verneinen, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG festzustellen wäre. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein Schutzsuchender, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, kann nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Herkunftsland: Sierra Leone, Verfolgung durch Anhänger einer politischen Partei (APC), Verfolgung nicht beachtlich wahrscheinlich, Vortrag unglaubhaft, inländische Fluchtalternative (bejaht), Anerkennung als Asylberechtigter, Einreise über sicheren Drittstaat, Flüchtlingseigenschaft, Sierra Leone, gezielte Rechtsverletzung, Verfolgung, subsidiärer Schutz, Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, widersprüchlicher Vortrag, gesteigerter Vortrag, unglaubhaft, inländische Fluchtalternative, fehlende herausragende politische Rolle, Existenzminimum, Lebensunterhalt, Abschiebungshindernis, Gefahrenprognose
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 06.05.2025 – 9 ZB 25.30375
Fundstelle:
BeckRS 2025, 9210

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung ode Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleiche Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein nach eigenen Angaben sierra-leonischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrags durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt).
2
Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 23. Dezember 2022 gab der Kläger an, nach dem Besuch der primary school, der secondary school und der highschool für ein Semester Wirtschaft am F. College (FBC) in F. studiert zu haben. Dieses habe die heutige first lady vor den Wahlen 2018 besucht, um Wahlkampf zu machen. Der Kläger habe ein selfie mit ihr gemacht und dieses auf F. veröffentlicht. Er habe bei der Wahl Wahlurnen kontrolliert. Nachdem der Präsidentschaftskandidat der Sierra Leone People's Party (SLPP) die Stichwahl gewonnen habe, habe der Kläger das Foto erneut auf F. veröffentlicht und dem Kandidaten der SLPP und der first lady zum Sieg der Präsidentschaftswahl gratuliert. Die Partei All People's Congress (APC), die die Stadt Freetown kontrolliere, habe ihm nach der Veröffentlichung des Fotos unterstellt, den Siegern in dem Wahlbezirk, in dem er tätig war, geholfen und Wahlbetrug begangen zu haben. An dem Tag, an dem er das Foto nochmals auf F. veröffentlicht habe, hätten Anhänger der APC Steine auf das Haus geworfen, in dem der Kläger mit seinen beiden Brüdern, seinen beiden Schwestern und seinem Onkel zur Miete gelebt habe und hätten gedroht, ihn zu töten. Das sei eine Woche nach den Stichwahlen gewesen. Als die Polizei auf ihren Anruf hin gekommen sei, seien die Anhänger der APC weggelaufen. Am nächsten Tag habe der Kläger gedacht, dass alles in Ordnung sei. So sei er zur Universität gegangen. Auf dem Weg dorthin sei der Kläger angegriffen und mit einem großen Messer an Bein und Brustkorb verletzt worden. Der Kläger habe sich zur Wehr gesetzt, schließlich sei die Polizei gekommen und habe ihn in ein Krankenhaus gebracht. Dort sei er für zwei Wochen gewesen. Bevor sie weggerannt seien, hätten die Angreifer gesagt, dass sie den Kläger beim nächsten Mal töten würden. Den repost auf F. habe er gelöscht, nachdem er auf dem Weg zur Universität angegriffen worden sei. Danach gefragt, wie häufig der Kläger angegriffen oder bedroht worden sei, gab der Kläger an, dass es außer diesen beiden Vorkommnissen keine weiteren Angriffe auf ihn gegeben habe. Seine Eltern und sein Onkel seien Mitglied der SLPP, der Kläger selbst jedoch nicht. Sein Onkel habe einen Regierungsbeamten wegen der beiden Angriffe angesprochen. Dieser habe gesagt, dass er den Kläger nicht die ganze Zeit beschützen könne, ihm jedoch ein Vollstipendium geben könne, damit er das Land verlassen könne. Danach gefragt, wieviel Zeit zwischen dem Angriff mit dem Messer und der Ausreise vergangen sei (drei bis vier Monate) und wie lange der Kläger nach dem Messerangriff im Krankenhaus gewesen sei (zwei Wochen), ergänzte der Kläger, dass der Regierungsbeamte ihm eine Wohnung in der Nähe einer Polizeistation verschafft habe. Nachts hätten 20 bis 30 Menschen versucht, das Haus anzugreifen. Zu dieser Zeit seien nur noch zwei bis drei Polizisten anwesend gewesen. Ein Polizist habe sein Gewehr gezeigt und gedroht, zu schießen. Dann seien die Leute wieder gegangen. Danach gefragt, woher die Angreifer den Aufenthaltsort des Klägers gekannt hätten, gab dieser an, tagsüber aus dem Haus gegangen zu sein, um frische Luft zu atmen. Vielleicht habe ihn jemand gesehen. Das Interview mit der türkischen Universität habe er bestanden. Die Polizei habe ihn zum Flughafen eskortiert. Er habe eine Maske bekommen, sodass ihn niemand erkenne. Es sei eine Maske gewesen, wie man sie im Krankenhaus benutze. Er habe zudem seine Kapuze über dem Kopf gehabt. Ihm sei gesagt worden, dass er die Maske aufbehalten solle, bis er in Istanbul sei. In der T. habe er an der … Universität Landwirtschaft studiert. Mit dem Studium auf T. habe sich der Kläger sehr schwer getan. Im zweiten Studienjahr habe er das Stipendium verloren, da er in zu vielen Modulen durchgefallen sei. Normalerweise hätte er innerhalb von sechs Monaten nach S. L. zurückkehren müssen. Er habe angegeben, in P. ab 6. Dezember 2021 eine mehrtägige Konferenz besuchen zu wollen, habe ein Visum erhalten und sei nach P. geflogen. Dort sei er etwa zwei bis drei Wochen geblieben und dann mit dem Zug nach Deutschland eingereist. Danach gefragt, was er bei einer Rückkehr nach S. L. befürchte, gab der Kläger an, dass die aktuelle wirtschaftliche Lage sehr schwierig sei. Die Menschen würden jedem die Schuld geben, der die SLPP unterstützt habe. Wenn er jetzt zurückkehre, würde er angegriffen werden, weil er die SLPP unterstützt habe. Selbst wenn er dies verneinen würde, würde ihm nicht geglaubt, da es Fotos von ihm mit der first lady gebe. Er sei nirgends in S. L. sicher, da die Unterstützer der APC das Foto des Klägers hätten und es über ihre W. Gruppen überall verbreiten könnten. Alle Bildungseinrichtungen seien in F. Der Kläger müsse in F. leben, um sich weiterzubilden. Dort hätten die Anhänger der APC noch leichter Zugriff auf ihn. Im nächsten Jahr gebe es wieder Präsidentschaftswahlen. Der Kläger gab an, nicht an der Wahlkampagne beteiligt gewesen zu sein oder diese unterstützt zu haben. Er sei nur bei der Veranstaltung der Universität gewesen, bei der das Foto gemacht worden sei und an der Wahlfeier nach den gewonnenen Präsidentschaftswahlen beteiligt gewesen. Diese Feier habe zwei bis drei Tage nach der Stichwahl stattgefunden. Er selbst habe sich politisch lediglich in der Universitätspolitik engagiert und dort die SLPP unterstützt. Zur Unterstützung bzw. Kontrolle des Wahlvorgangs hätten sich Abiturienten und Studenten melden können. Der Kläger habe Hämorrhoiden. Ihm sei gesagt worden, dass eine Operation notwendig sei. Er habe eine Creme bekommen, die aber nicht funktioniere. Nachweise hierfür habe er nicht. Wer jetzt in dem Haus lebe, in dem er mit seinem Onkel und seinen Geschwistern gelebt habe, wisse er nicht. Er habe zu seinen Geschwistern keinen Kontakt und wisse nicht, wo diese seien. Seine Eltern lebten aktuell in … er habe aber auch zu ihnen keinen Kontakt mehr, da die Person, über die er sie telefonisch erreichen habe können, nicht mehr in … lebe. Mit seinem Onkel habe er nicht mehr gesprochen, seit er F. verlassen habe.
3
Gegenüber dem Bundesamt legte der Kläger ein Foto eines Posts auf F. vom 31. Januar 2018 vor. Zu sehen sind mehrere Aufnahmen, die den Kläger mit anderen Personen, unter anderem einer Frau, zeigen. Die Aufnahmen sind mit einem Text versehen, wonach es dem Kläger eine Freude sei, einen namentlich genannten Geschichtsprofessor und seinen „mentor“ F … J … … zu treffen. Es sei der beste Moment des Klägers an der FBC. Zudem legte der Kläger mehrere Fotos von Verletzungen u.a. oberhalb des Knies vor, ein Schreiben vom 7. September 2018, in dem dem Kläger mitgeteilt wird, dass er ein Stipendium für ein Studium an der … Universität in der T. erhalten habe, sowie ein scholarship agreement.
4
Mit Bescheid vom 17. Januar 2023 (Gesch.-Z.: …  …), ausweislich Postzustellungsurkunde zugestellt am 24. Januar 2023, wurden die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Anerkennung als Asylberechtigter (Nr. 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) abgelehnt. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Nr. 4). Die Abschiebung wurde mit einer Ausreisefrist von 30 Tagen angedroht (Nr. 5) und das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung führt das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass es nicht beachtlich wahrscheinlich sei, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach S. L. einer ernsthaften Verfolgung durch die Anhänger der APC ausgesetzt sein werde. Der Kläger habe vorgetragen, selbst kein Mitglied der SLPP zu sein. Er habe die SLPP bei der Wahlkampagne nicht unterstützt und sei auch nicht hieran beteiligt gewesen. Der Kläger sei folglich nicht politisch aktiv in S. L. gewesen und habe erst recht weder in der SLPP noch in einem sonstigen politischen Bereich in S. L. bzw. F. eine bedeutende politische Rolle gehabt. Dass er lediglich Universitätspolitik betrieben habe, bestätige die unpolitische Haltung des Klägers. Um Wahlen durchzuführen, würde eine Vielzahl an Helfern benötigt. Die Stichwahl zum Präsidenten sei am 27. März 2018 gewesen. Da seitdem nunmehr fast fünf Jahre vergangen seien und die Neuwahlen unmittelbar bevorstünden, sei nicht mit einem erneuten Angriff auf den Kläger zu rechnen. Ein gesteigertes politisches Interesse der APC an dem Kläger sei nicht erkennbar. Überdies habe die APC in einem Land ohne Meldewesen auch keine Mittel, jemanden jahrelang und landesweit zu suchen. Zudem habe die Polizei den Kläger in mehreren Fällen geschützt. Das Haus, das mit Steinen beworfen worden sei, sei auch von den Geschwistern und dem Onkel des Klägers bewohnt worden. Ein gezielter Angriff auf den Kläger habe damit nicht stattgefunden. Im Übrigen wird auf die Begründung des Bescheids Bezug genommen (§ 77 Abs. 3 Asylgesetz – AsylG).
5
Der Kläger hat durch anwaltlichen Schriftsatz vom 31. Januar 2023 Klage gegen diesen Bescheid erhoben und beantragt,
1.
Der Bescheid der Beklagten vom 17.1.2023 (Gesch.-Z.: …  …) wird aufgehoben.
2.
Die Beklagte zu verpflichten, der Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen und den Kläger als Flüchtling anzuerkennen.
3.
Hilfsweise: Die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
4.
Hilfsweise: Die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen der § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG bezüglich des Klägers vorliegen.
6
Eine Begründung der Klage ist nicht erfolgt.
7
Die Beklagte beantragt
mit Schriftsatz vom 3. Februar 2023, die Klage abzuweisen.
8
Der Rechtsstreit ist durch Beschluss vom 17. Dezember 2024 auf den Einzelrichter übertragen worden.
9
In der mündlichen Verhandlung am 13. März 2025 antwortete der Kläger auf die Frage, was er im Falle einer Rückkehr nach S. L. befürchte, dass man versucht habe, ihn umzubringen. Sollte er zurückgehen, werde das wieder passieren. Vor allem sei seine Familie wegen der Ereignisse auf der Flucht. Sie sei überall zerstreut. Auf Bitte des Gerichts, dies näher zu erläutern, gab der Kläger an, Mitglied der SLPP gewesen zu sein. Das Ergebnis der Stichwahl sei zwischen 20 und 21 Uhr bekanntgegeben worden. Die SLPP habe gewonnen. Sie seien froh gewesen und hätten auf der Straße den Wahlsieg gefeiert. Mitglieder der APC hätten beobachtet, dass der Kläger bei der Wahl gearbeitet und den Sieg der SLPP gefeiert habe. Sie hätten angefangen, sie anzugreifen und hätten sie zusammengeschlagen. Am nächsten Tag hätten sie den Kläger auf der Straße wiedererkannt und erneut attackiert. Die Partei habe sie an diesem nächsten Tag eingeladen, um den Wahlsieg zu feiern. Der Kläger habe auf der Straße auf ein Taxi gewartet und dabei Kleidung mit dem Schriftzug der Partei getragen. Hierdurch sei er wiedererkannt worden. Sie hätten ihn geschlagen und mit einer Machete verletzt. Seine Rettung sei gewesen, dass eine Polizeistreife vorbeigekommen sei. Er sei erst wieder im Krankenhaus aufgewacht. Danach seien Leute zu ihm nach Hause gegangen, hätten das Haus mit Steinen angegriffen und die Familie des Klägers attackiert. Das habe ihm sein Bruder später erzählt. Sein Vater habe Verbindungen zu Personen in Führungspositionen in der Partei und habe mit diesen gesprochen. Hierdurch habe er das Stipendium erhalten. Sein Vater habe zudem versucht, ihn zu verstecken, weil die Beantragung des Stipendiums noch ein wenig gedauert habe. Der Kläger habe in S. L. neben seines Studiums ab und zu gearbeitet, z. B. habe er auf Baustellen gearbeitet oder Schiffscontainer entladen. In D. sei er als Koch tätig. Der Kläger legte einen Bericht der S. L. Peacekeeping and Law Enforcement Academy vom 6. April 2018 vor, wonach er bewusstlos und u.a. an Schulter und Knie verletzt gewesen sei sowie eine Bescheinigung eines Krankenhauses ebenfalls vom 6. April 2018, wonach er dort an diesem Tag mit u.a. einer zehn Zentimeter langen Wunde eingeliefert worden und zehn Tage lang behandelt worden sei. Zudem legte der Kläger einen Mitgliedsausweis der SLPP sowie eine Beitragskarte vor, aus der sich die vom Kläger gezahlten Mitgliedsbeiträge ergeben.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Über den Rechtsstreit konnte trotz Ausbleibens der Beklagten aufgrund der mündlichen Verhandlung am 13. März 2025 entschieden werden, da in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen wurde, dass auch im Falle des Nichterscheinens eines Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
I.
12
Die zulässige Klage ist unbegründet, da der angegriffene Bescheid rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigter (Art. 16a Grundgesetz – GG), die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) oder des subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) oder auf die Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Auch die Abschiebungsandrohung (§ 34, § 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG) und die Entscheidung des Bundesamtes über die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes (§ 11 AufenthG) sind nicht zu beanstanden (§ 113 Abs. 1 VwGO).
13
Das Gericht folgt den Feststellungen und der Begründung des streitgegenständlichen Bescheids und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 3 AsylG). Es ergänzt lediglich wie folgt:
14
1. Die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter gemäß Art. 16a GG scheitert bereits daran, dass der Kläger über einen sicheren Drittstaat (Polen) eingereist ist (Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a Abs. 1 und 2 AsylG).
15
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 ff. AsylG) oder des subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG).
16
a. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an die genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die wegen ihrer Intensität den Betroffenen dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG Münster, U.v. 28.3.2014 – 13 A 1305/13.A – juris Rn. 21 f. m.w.N.). Eine Verfolgung kann dabei gemäß § 3c AsylG ausgehen von einem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Weiter darf für den Ausländer keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen (§ 3e AsylG), deren Inanspruchnahme zumutbar ist. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
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Subsidiärer Schutz ist einem Ausländer zuzuerkennen, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die §§ 3c bis 3e AsylG gelten entsprechend (§ 4 Abs. 3 AsylG).
18
Für die Prognose, die bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft sowie bei der Prüfung des subsidiären Schutzes anzustellen ist, ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32).
19
Das Gericht muss hinsichtlich einer asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten individuellen Schicksals und der Prognose, dass dieses die Gefahr (politischer) Verfolgung oder eines ernsthaften Schadens begründet, erlangen. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Asylsuchende insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Herkunftsstaat befinden, kommt dabei dem persönlichen Vorbringen des Asylsuchenden und dessen Würdigung für die Überzeugungsbildung eine gesteigerte Bedeutung zu. Demgemäß setzt ein Asylanspruch bzw. die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft voraus, dass der Asylsuchende den Sachverhalt, der seine Verfolgungsfurcht begründen soll, schlüssig darlegt. Dabei obliegt es ihm, unter genauer Angabe von Einzelheiten und gegebenenfalls unter Ausräumen von Widersprüchen und Unstimmigkeiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, der geeignet ist, das Asylbegehren lückenlos zu tragen. Auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es entscheidend an. Seinem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung ist dabei gesteigerte Bedeutung beizumessen. Der Asylbewerber muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen, er muss kohärente und plausible wirklichkeitsnahe Angaben machen (st.Rspr., vgl. nur BVerwG, B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – NVwZ 1990, 171).
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Einem Drittstaatsangehörigen, der bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, kommt die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zugute. Demnach ist die Tatsache, dass ein Kläger bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – NVwZ 2011, 51/53 f.)
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b. In Anwendung dieser Maßstäbe liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß §§ 3 ff. AsylG und des subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) nicht vor, da das Gericht nach dem persönlichen Eindruck, den es in der mündlichen Verhandlung von dem Kläger gewonnen hat, nicht überzeugt ist, dass der Kläger in S. L. bereits verfolgt worden ist und ihm im Falle seiner Rückkehr nach Sierra Leone mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die geltend gemachte Verfolgung droht. Das Vorbringen des überaus gebildet wirkenden Klägers ist trotz der Vorlage eines polizeilichen Berichts und einer Bescheinigung eines Krankenhauses über die vom Kläger erlittenen Verletzungen nicht geeignet, das auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. subsidiären Schutzes gerichtete Begehren des Klägers zu tragen. Die Schilderung des fluchtauslösenden, auch die Verletzungen des Klägers verursachenden Geschehens weist eklatante Widersprüche und Übertreibungen auf, die den Vortrag des Klägers zur Überzeugung des Gerichts unglaubhaft machen.
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Dies betrifft bereits die Art, Zahl und zeitliche Abfolge der vom Kläger geschilderten Angriffe und damit einen Kernbestandteil des fluchtauslösenden Geschehens. Der Kläger hat gegenüber dem Bundesamt angegeben, dass zwei bis drei Tage nach der Stichwahl eine Wahlfeier stattgefunden habe. Der erste Angriff habe sich eine Woche nach den Stichwahlen an dem Tag, an dem er das selfie nochmals veröffentlicht habe, ereignet, indem Steine auf das von ihm bewohnte Haus geworfen worden seien. Am nächsten Tag sei er mit einem großen Messer verletzt und deswegen in ein Krankenhaus gebracht worden. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger dagegen als ersten Übergriff ein Ereignis wohl am Abend der Bekanntgabe des Ergebnisses der Stichwahl geschildert. Er habe den Wahlsieg auf der Straße gefeiert und sei von Anhängern der APC angegriffen und zusammengeschlagen worden. Es erscheint vollkommen unglaubhaft, dass der Kläger diesen Angriff gegenüber dem Bundesamt nicht geschildert hätte, wenn er sich tatsächlich ereignet hätte. Überdies hat der Kläger gegenüber dem Bundesamt ausgeführt, dass er mit einem großen Messer angegriffen worden sei, als er gedacht habe, dass „alles in Ordnung sei“ und deswegen zur Universität gegangen sei. Diese Formulierung suggeriert, dass es sich hierbei um einen für den Kläger als Student üblichen Besuch der Universität gehandelt hat. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger jedoch angegeben, von der Partei eingeladen gewesen zu sein, den Wahlsieg zu feiern und beim Warten auf ein Taxi angegriffen worden zu sein. Den Schilderungen in der mündlichen Verhandlung nach sei das Haus anders als gegenüber dem Bundesamt dargestellt erst danach – also nach dem Messerangriff, der zu einem Krankenhausaufenthalt geführt hat – mit Steinen beworfen worden.
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Hinzu tritt eine Vielzahl von Übertreibungen bzw. nachträglichen Steigerungen des Sachverhalts. So hat der Kläger gegenüber dem Bundesamt zunächst ausdrücklich angegeben, dass er lediglich zweimal angegriffen worden sei – durch das Werfen der Steine auf das Haus und den Messerangriff. An späterer Stelle danach gefragt, wieviel Zeit zwischen dem Messerangriff und seiner Ausreise vergangen sei (drei bis vier Monate) und wie lang er nach dem Messerangriff im Krankenhaus gewesen sei (zwei Wochen), hat der Kläger seine Schilderungen plötzlich um einen weiteren Angriff ergänzt. Der Gesprächsverlauf legt dabei nahe, dass es sich hierbei um einen erfundenen Angriff handelt, der zeigen soll, dass sich der Kläger nicht noch drei oder mehr Monate in S. L. aufhalten konnte, ohne angegriffen zu werden. Dieser dritte geschilderte Angriff ist überdies geprägt von Übertreibungen. So will der Kläger zu seinem Schutz in einer Wohnung in der Nähe einer Polizeistation untergebracht worden sein. Dort soll er gefunden bzw. wiedererkannt worden sein, weil er tagsüber aus dem Haus gegangen sei, um frische Luft zu schnappen. Die Angreifer – 20 bis 30 Personen – sollen bis nach Mitternacht gewartet haben, um den Kläger anzugreifen. Obwohl um diese Uhrzeit nurmehr zwei bis drei Polizisten anwesend gewesen sein sollen, sollen diese den Angriff durch die 20 bis 30 Personen allein dadurch unterbunden haben, dass einer der Polizisten sein Gewehr gezeigt und gedroht habe, zu schießen. Schließlich hat der Kläger angegeben, dass er auf seinem Weg zum Flughafen von Polizisten in Zivil begleitet worden sei und eine Maske habe tragen sollen, um nicht erkannt zu werden. Es erscheint gänzlich unglaubhaft, dass die Polizei diese Maßnahmen ergriffen hätte, um den Kläger zum Flughafen zu bringen. Überdies hat der Kläger gegenüber dem Bundesamt lediglich ausgeführt, keinen Kontakt mehr zu seinen Verwandten in Sierra Leone zu haben und nicht zu wissen, wo sich diese aktuell aufhielten. Von einer Bedrohung seiner Familienangehörigen hat der Kläger nichts erzählt. In der mündlichen Verhandlung hat er dagegen angegeben, dass seine Familie wegen der Ereignisse auf der Flucht und daher überall zerstreut sei, ohne Gründe anzugeben, warum seine Familienangehörigen auch etwa sieben Jahre nach den geschilderten Ereignissen noch bedroht werden sollten. Zudem hat der Kläger erstmals in der mündlichen Verhandlung geschildert, dass der Angriff mit dem Messer erfolgt sei, weil er Kleidung mit dem Schriftzug der SLPP getragen habe und hierdurch erkannt worden sei. Auch ließ der Kläger gegenüber dem Bundesamt noch unerwähnt, dass seine Familie attackiert worden sei, als das Haus mit Steinen beworfen wurde. Es vermag schließlich auch nicht zu überzeugen, warum der Kläger den Beitrag, mit dem er das selfie nach dem Wahlsieg nochmals verbreitet habe, zu seinem Schutz gelöscht haben sollte, den ursprünglichen Beitrag, den er dem Bundesamt vorlegte, jedoch nicht gelöscht haben sollte.
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Da bereits die Vielzahl an Widersprüchen, Ungereimtheiten und Übertreibungen bzw. Steigerungen das Vorbringen des Klägers zu dem fluchtauslösenden Geschehen gänzlich unglaubhaft machen und das Gericht der Überzeugung ist, dass nicht eine Verfolgung bzw. Bedrohung des Klägers ursächlich für dessen Aufnahme eines Studiums in der T. und die anschließende Einreise nach D. war, kommt es nicht entscheidend darauf an, dass weitere Ungereimtheiten bestehen: Der Kläger hat gegenüber dem Bundesamt noch ausdrücklich angegeben, nicht Mitglied der SLPP zu sein, worauf das Bundesamt seine Entscheidung auch stützte, konnte in der mündlichen Verhandlung jedoch einen Mitgliedsausweis der SLPP sowie eine Übersicht über gezahlte Mitgliedsbeiträge vorlegen. Überdies soll nach den Schilderungen gegenüber dem Bundesamt der Onkel des Klägers, nach den Ausführungen in der mündlichen Verhandlung dagegen der Vater des Klägers dafür gesorgt habe, dass dieser versteckt worden sei und ihm ein Stipendium verschafft worden sei.
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c. Aus den vom Kläger vorgetragenen, seine Flucht auslösenden Geschehnissen folgt unabhängig von der fehlenden Glaubhaftmachung des fluchtauslösenden Geschehens (siehe hierzu soeben) selbst bei Wahrunterstellung kein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§§ 3 ff. AsylG) oder des subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG), da dem Kläger das Ausweichen auf eine inländische Fluchtalternative i.S.v. § 3e AsylG (i.V.m. § § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG) möglich und zumutbar ist.
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Gemäß § 3e Abs. 1 AsylG, der für den subsidiären Schutz entsprechend gilt (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG), wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
27
Aus den Erkenntnismitteln ergibt sich, dass es am 10. August 2022 Demonstrationen gegen die hohen Lebenshaltungskosten in S. L. gab, die zu einem Aufruhr in der Hauptstadt F. führten, bei dem Demonstrierende den Rücktritt von Präsident J. M. B. (SLPP) forderten (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 15.8.2022, S. 9). Bei der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste sollen Berichten zufolge Zivilpersonen und Sicherheitskräfte getötet worden sein (BAMF, Briefing Notes v. 3.7.2023, S. 7; v. 7.8.2023, S. 10). Präsident B. steht u.a. wegen der Verengung des bürgerlichen und politischen Freiraums seit 2018 und seinem harten Vorgehen gegen die politische Gegnerschaft in der Kritik (BAMF, Briefing Notes v. 3.7.2023, S. 7). Auch ergibt sich aus den Erkenntnismitteln, dass die APC Fälschungen bei den Präsidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen am 24. Juni 2023 befürchtete (BAMF, Briefing Notes v. 19.6.2023, S. 10; v. 26.6.2023, S. 10) und der Wahlkampf lange weitestgehend friedlich verlief, jedoch in der Schlussphase mancherorts von Einschüchterungen, Auseinandersetzungen und auch gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Anhängern der APC und der SLPP in ihren jeweiligen Hochburgen überschattet worden ist (BAMF, Briefing Notes v. 26.6.2023, S. 10; v. 3.7.2023, S. 7). Die APC erkannte die Ergebnisse der Wahlen, bei denen J. M. B. (SLPP) zum Präsident wiedergewählt wurde, zunächst nicht an, erklärte sich jedoch am 18. Oktober 2023 im Rahmen eines mit der Regierung geschlossenen Abkommens bereit, ihren mehrmonatigen Boykott der Parlaments- und kommunalen Ratsarbeit zu beenden. Beschlossen wurde u.a. die Freilassung aller Personen, die bei zivilen und Wahlprotesten festgenommen wurden sowie die Einstellung aller politisch motivierter Gerichtsverfahren gegen Mitglieder der APC oder anderer Parteien sowie deren Anhängerschaft. Zudem wurde die geordnete Rückkehr der aufgrund von politischer Einschüchterung, Gewalt und Schikanen intern vertriebenen oder außer Landes geflohenen Parteianhängerinnen und -anhänger beschlossen. Dies wurde als erstes Zeichen für eine Entspannung der politischen Krise angesehen. Die Leiterin der EU- Wahlbeobachtungsmissionen in Sierra Leone erwähnte bei der Vorstellung eines EUBerichtes zur Wahl abermals registrierte Fälle von unverhältnismäßigen Gewalteinsatz durch staatliche Sicherheitskräfte und politische Gewalt in acht (von insgesamt 14) Distrikten. Ein Medium berichtete unter Berufung auf den EU-Bericht, dass eine zivile Wahlbeobachtungsgruppe, die Bedenken zur Wahl geäußert hatte, bedroht wurde.“ Ihre Anführenden hätten sich gezwungen gesehen, außer Landes zu fliehen (BAMF, Briefing Notes v. 23.10.2023, S. 11 f.; v. 4.12.2023, S. 8 f.). Seit dem 1. Dezember 2023 wiederholen sich Berichte der APC, wonach die Regierung eine Verhaftungswelle gegen ihre Mitglieder, darunter hohe Parteifunktionäre, und ihre Anhängerschaft durchführt – vor allem im Norden Sierra Leones. Unbestätigten Berichten zufolge seien auch mehrere APC-Mitglieder und -Anhänger von den Sicherheitskräften getötet worden. Die APC sprach von einer Hexenjagd und dem Versuch der Regierung, sie zum Schweigen zu bringen. Die Situation in Freetown wurde als oberflächlich ruhig, aber angespannt beschrieben (BAMF, Briefing Notes v. 4.12.2023, S. 8 f.). Laut Agentur- und Medienberichten griffen mehrere Bewaffnete in den frühen Morgenstunden des 26. November 2023 in Freetown die Hauptkaserne und das dazugehörige Waffenlager unweit der Präsidentenresidenz, mehrere Gefängnisse und Standorte der Streit- und Polizeikräfte an (BAMF, Briefing Notes v. 4.12.2023, S. 8 f.), was zu tödlichen Gewaltausbrüchen führte und regierungsseitig als versuchter Staatsstreich eingeordnet wurde, für den insbesondere vormalige Polizei-, Justiz- und Militärangehörige sowie Altpräsident Ernest Bai Koroma (APC), der wegen verschiedener Hochverratsdelikte angeklagt wurde, verantwortlich gemacht werden (BAMF, Briefing Notes v. 18.12.2023, S. 9; v. 8.1.2024, S. 12; v. 15.1.2024, S. 8).
28
Obwohl die Erkenntnismittel damit Spannungen zwischen Anhängern der SLPP und der APC deutlich machen, die mitunter auch zur Anwendung von Gewalt – zuletzt jedoch insbesondere gegenüber Anhängern der APC und nicht gegenüber Anhängern der SLPP – führen, ist davon auszugehen, dass der Kläger in einer anderen Region bzw. größeren Stadt S. L., die nicht von Anhängern der APC dominiert wird, vor einer etwaigen Verfolgung geschützt ist. Das Gericht ist der Überzeugung, dass das Veröffentlichen des Fotos mit der Präsidentengattin vor fünf Jahren nicht dazu führt, dass der Kläger jetzt noch von Anhängern der APC gesucht wird, selbst wenn das Foto damals in W. Gruppen verbreitet worden sein sollte. Der Kläger hat zu keiner Zeit eine herausragende politische Rolle eingenommen. Er ist lediglich als einer von vielen Helfern bei der mittlerweile vorletzten Wahl tätig gewesen, hat ein Foto mit der Präsidentengattin veröffentlicht und der SLPP zur Wahl gratuliert. Auch wenn man aufgrund des in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Mitgliedsausweises und des Nachweises über die Zahlung von Mitgliedsbeiträgen davon ausgeht, dass der Kläger – anders als gegenüber dem Bundesamt angegeben – Mitglied der SLPP war, ist bei einem „einfachen“ Parteimitglied nicht davon auszugehen, dass die Anhänger der APC insbesondere nach der Vielzahl der zwischenzeitlichen Geschehnisse (insbesondere den Demonstrationen am 10. August 2022 und den Ereignissen am 26. November 2023) jetzt noch landesweit ein Verfolgungsinteresse hätten. Zudem ist angesichts der in S. L. bestehenden infrastrukturellen Mängel – insbesondere besteht kein funktionsfähiges Meldewesen (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an VG Freiburg vom 17.10.2017) – auch gar nicht ersichtlich, wie Personen nach einer Rückkehr nach S. L. und einem Umzug in eine größere Stadt des Landes bemerkt bzw. gesucht und aufgefunden werden könnten. Nach der Auskunftslage können nicht einmal die staatlichen Behörden solche überörtlichen Fahndungen effektiv durchführen (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an VG Regensburg vom 4.11.2019).
29
Von dem Kläger kann nach seinen persönlichen Verhältnissen auch erwartet werden, sich am Ort des internen Schutzes niederzulassen.
30
Die Frage der Zumutbarkeit der Niederlassung erfordert eine umfassende wertende Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen Verhältnisse unter Berücksichtigung der in § 3e Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG genannten Dimensionen. Erforderliche, aber auch hinreichende Voraussetzung für die Niederlassung ist die Gewährleistung des wirtschaftlichen Existenzminimums auf einem Niveau, welches eine Verletzung von Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt; darüberhinausgehende Anforderungen sind nicht notwendige Voraussetzungen der Zumutbarkeit der Niederlassung. Der Kläger soll wegen der allgemeinen Verhältnisse nicht gezwungen sein, die Verfolgungssicherheit aufzugeben und in das ursprüngliche Verfolgungsgebiet zurückzukehren oder sich in andere Landesteile zu begeben, in welchen ihm möglicherweise Verfolgung oder andere Formen von schwerem Schaden drohen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – juris Rn. 27 ff.). Maßstab für die Zumutbarkeit sind weder eine „(hypothetische) vernünftige Person“ noch eine von individuellen Besonderheiten abstrahierende Betrachtungsweise; vielmehr sind – im Rahmen einer konkret-individuellen Betrachtungsweise – der Kläger und seine konkreten Möglichkeiten, am Ort des internen Schutzes zu (über) leben, in den Blick zu nehmen (BVerfG, U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – juris Rn. 31). Ferner schließen auch materielle Existenzbedingungen am Ort des internen Schutzes, welche die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausfüllen, die Zumutbarkeit aus (BVerwG, U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – juris Rn. 67). Dies bedeutet, dass die Zumutbarkeit der Niederlassung im Rahmen des § 3e i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG stets zu verneinen ist, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen wäre (Wittmann in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 17. Edition Stand 15.10.2023, § 3e Rn. 40). Dies ist jedoch nicht der Fall.
31
Dem Kläger kann zugemutet werden, sich in S. L. erforderlichenfalls außerhalb seiner Heimatregion an einem neuen Wohnort niederzulassen und dort das Existenzminimum für seine Familie und sich selbst zu verdienen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG). Das Gericht berücksichtigt dabei, dass es angesichts der Wirtschaftslage und der Bedeutung großfamiliärer Bindungen nicht leicht sein dürfte, in Sierra Leone an einem neuen Wohnort ohne soziales Netzwerk erfolgreich Fuß zu fassen. Hieraus folgt jedoch nur in Ausnahmefällen die Unzumutbarkeit des internen Schutzes, wenn zu erwarten ist, dass dem Betroffenen am Zielort das durch Art. 3 EMRK gewährleistete elementare wirtschaftliche Existenzminimum nicht zur Verfügung stehen würde oder eine anderweitige schwerwiegende Verletzung grundlegender Rechte oder eine sonstige unerträgliche Härte droht (vgl. BVerwG, U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – NVwZ 2021, 878 Ls. 1).
32
Einen solchen, eng zu handhabenden Ausnahmefall kann der Kläger nicht in Anspruch nehmen. Das Bundesamt hat die schlechten humanitären und wirtschaftlichen Verhältnisse in Sierra Leone nachvollziehbar und zutreffend gewürdigt. Hierzu wird lediglich ergänzend ausgeführt:
33
S. L. gehört zu den an wenigsten entwickelten Ländern Welt und ist von harten wirtschaftlichen Lebensumständen geprägt (vgl. FCDO, Foreign, Commonwealth & Development Office, Economic Factsheet, Stand Oktober 2021; Bertelsmann Stiftung, Transformation Index (BTI) 2020 – S. L. Country Report; Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), LIPortal, S. L., Stand Dezember 2020). Nach den Jahren des Bürgerkriegs erholt sich das Land wirtschaftlich nur langsam. S. L. ist eines der am wenigsten entwickelten Länder der Welt. Die Wirtschaft S. L. ist geprägt von der Landwirtschaft (überwiegend kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft) und der Rohstoffgewinnung. Das Land ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von ca. 4,2 Milliarden US-Dollar und einem Pro-Kopf-Einkommen von ca. 539,1 US-Dollar (FCDO, Foreign, Commonwealth & Development Office, Economic Factsheet, Stand Oktober 2020) eines der ärmsten Länder der Welt und belegt nach dem Human Development Index von 2019 Rang 181 der 189 untersuchten Länder. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 70%) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 1,25 bis 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung; die Arbeitslosenrate im Land ist sehr hoch, wobei die Jugendarbeitslosigkeit ein besonderes Problem darstellt (Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Stiftung’s Transformation Index (BTI) 2020 – S. L. Country Report, Gütersloh, Bertelsmann Stiftung, 2020; Westphal in LIPortal, S. L., Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), Stand Dezember 2020). Staatliche oder nichtstaatliche finanzielle Fördermöglichkeiten wie Sozial- oder Arbeitslosenhilfe existieren nicht. Erwerbslose, Kranke, Behinderte und ältere Menschen sind ganz besonders auf die Unterstützung der traditionellen Großfamilie angewiesen. Auch nichtstaatliche oder internationale Hilfsorganisationen bieten in der Regel keine konkreten Hilfen zum Lebensunterhalt. Die Wirtschaft wird mit etwa 57,4% am Bruttoinlandsprodukt vom landwirtschaftlichen Sektor dominiert; der Dienstleistungssektor trägt mit 32,8% und der Industriesektor mit 5,6% zum Bruttoinlandsprodukt bei (FCDO ebd.). Die Mehrheit versucht, mit Gelegenheitsjobs oder als Händler ein Auskommen zu erwirtschaften. Die Subsistenzwirtschaft wird in Familien oft parallel oder alternativ genutzt, um den Lebensunterhalt zu sichern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, S. L., Wien am 4.7.2018). Ungelernten Arbeitslosen gelingt es nur durch Hilfstätigkeiten, Gelegenheitsarbeiten (z.B. im Transportwesen), Kleinhandel (z.B. Verkauf von Obst, Süßigkeiten, Zigaretten) und ähnliche Tätigkeiten etwas Geld zu verdienen und in bescheidenem Umfang ihren Lebensunterhalt sicher zu stellen (vgl. zu damals noch prekäreren Verhältnissen: OVG NRW, B.v. 6.9.2007 – 11 A 633/05.A – juris Rn 28).
34
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 21.4.2022 – 1 C 10.21 – juris Ls. 1) ist Maßstab für die nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist.
35
Trotz der dargestellten, als äußerst schwierig zu bezeichnenden Lebensumstände in S. L. ist davon auszugehen, dass der Kläger sein Existenzminimum – wenn auch womöglich nur durch Gelegenheitsjobs – erwirtschaften kann (vgl. die st.Rspr. des Gerichts; vgl. auch VG Regensburg, U.v. 11.02.2019 – RN 14 K 17.3514 – juris). Ob er sich an dem Ort des internen Schutzes auch weiterbilden kann, ist nicht entscheidend. Der Kläger ist jung, gesund (siehe hierzu noch unten) und erwerbsfähig. Er ist mit den Gepflogenheiten und der Sprache des Landes vertraut, verfügt über ein hohes Bildungsniveau und konnte zudem in S. L. sowie in D. Berufserfahrung in verschiedenen Bereichen sammeln (auf Baustellen, beim Eintalden von Containern und als Koch). Überdies muss sich der Kläger auch auf die Rückkehrhilfen im Rahmen der Rückkehrprogramme REAG/GARP verweisen lassen (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris Rn. 27). Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Schutzsuchender, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris Rn. 27).
36
d. Aufgrund der vorstehenden Ausführungen kommt dem Kläger kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu.
37
3. Bei einer Rückkehr nach S. L. würde der Kläger von keiner derartigen landesweiten Gefahr bedroht, dass eine Abschiebung gegen Art. 3 EMRK i.V.m. § 60 Abs. 5 AufenthG verstieße (siehe hierzu bereits oben). Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor. Der Kläger hat bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt zwar vorgetragen, unter Hämorrhoiden zu leiden. Es ist jedoch bereits nicht erkennbar, dass es sich hierbei um eine lebensbedrohliche oder zumindest schwerwiegende Erkrankung i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG handeln würde. Überdies hat der Kläger die Erkrankung nicht durch eine ärztliche Bescheinigung glaubhaft gemacht (§ 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Sätze 2 und 3 AufenthG).
38
5. Die vom Bundesamt nach Maßgabe der §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung sowie die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1, 2 AufenthG begegnen keinen rechtlichen Bedenken.
II.
39
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
III.
40
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i. V.m. § 708 Nr. 11, § 711 Zivilprozessordnung.