Titel:
Humanitäre Lage in Sierra Leone
Normenketten:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1
EMRK Art. 3
GR-Charta Art. 4
Leitsatz:
Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen ein gewisses Mindestmaß an Schwere ("Minimum level severity") erreichen, um ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK wegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung zu begründen. Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist relativ und hängt von den Umständen des Falls ab. Gleiches gilt für den Schutz nach Art. 4 GR-Charta. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf Zulassung der Berufung, grundsätzliche Bedeutung, Gefahrenlage, Geheimbünde, minimum level severity, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, Sierra Leone, Mindestmaß der Beeinträchtigung, Umstände des Einzelfalles
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 21.03.2025 – M 30 K 23.30205
Fundstelle:
BeckRS 2025, 9209
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Berufung ist nicht wegen der allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (vgl. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) zuzulassen.
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Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung setzt voraus, dass eine konkrete, bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, deren Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und der eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 72). Diesen Anforderungen genügt der Zulassungsantrag nicht.
3
Der Kläger hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam, ob aufgrund der schlechten humanitären Bedingungen in Sierra Leone die Rahmenbedingungen eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK führen kann.
4
Zur Begründung verweist der Kläger auf die in Sierra Leone verbreiteten Geheimbünde und schildert umfangreich deren Gefährlichkeit. Auch die medizinische Versorgung sei in Sierra Leone derzeit weder technisch noch personell ausreichend gewährleistet. Zugang zu sicherem Trinkwasser sei ein weiteres Problem.
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Diese Ausführungen können nicht zur Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung führen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses Mindestmaß an Schwere („Minimum level severity“) erreichen, um ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK wegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung zu begründen. Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist relativ und hängt von den Umständen des Falls ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenden körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen (U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – Rn. 174). In sehr besonderen Ausnahmefällen können andere Umstände wie auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen, sofern diese zwingend („compelling“) gegen eine Abschiebung sprechen (U.v. 27.5.2008 – 26565/05 Rn. 42,43). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union entspricht Art. 4 GR-Charta dem Art. 3 der EMRK und hat gemäß Art. 52 Abs. 3 GR-Charta (bis 1.12.2009: Art. 59 Abs. 2) die gleiche Bedeutung und Reichweite, wie sie ihm in der EMRK verliehen wird. Schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung können daher auch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverwaltungsgerichts in besonderen Ausnahmefällen („wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen“) unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Falles ein Abschiebungsverbot nach Art. 4 GR-Charta und Art. 3 EMRK begründen.
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Die gestellte Frage ist danach einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich, sondern bedarf hinsichtlich der individuell bestehenden Gefahren und der humanitären Verhältnisse einer Würdigung des konkreten Einzelfalls. Eine solche Würdigung hat das Verwaltungsgericht dadurch vorgenommen, dass es auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid der Beklagten vom 17. Januar 2023 verwiesen und ergänzend angemerkt hat, dass der Kläger jung und erwerbsfähig sei, daher sein Existenzminium erwirtschaften könne. Hinsichtlich der geltend gemachten Erkrankung mit Hämorrhoiden sei nicht erkennbar, dass es sich hierbei um eine lebensbedrohliche oder zumindest schwerwiegende Erkrankung handle.
7
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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3. Mit der gemäß § 80 AsylG unanfechtbaren Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).