Inhalt

VGH München, Beschluss v. 23.04.2025 – 11 CS 25.283
Titel:

Verpflichtung zur Führung eines Fahrtenbuchs, Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts um 22 km/h, zumutbarer Ermittlungsaufwand bei offenkundig unzutreffender Selbstbezichtigung

Normenkette:
StVZO § 31a
Schlagworte:
Verpflichtung zur Führung eines Fahrtenbuchs, Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts um 22 km/h, zumutbarer Ermittlungsaufwand bei offenkundig unzutreffender Selbstbezichtigung
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 10.10.2024 – M 23 S 24.3122
Fundstelle:
BeckRS 2025, 9153

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.200,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Verpflichtung zur Führung eines Fahrtenbuchs.
2
Am 21. Oktober 2023 wurde mit einem auf den Antragsteller zugelassenen Fahrzeug in F./Neckar die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h innerhalb der geschlossenen Ortschaft um 22 km/h überschritten. Auf dem dabei aufgenommenen Frontfoto ist eine männliche Person mittleren Alters als Fahrer zu erkennen.
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Mit Schreiben vom 13. November 2023 hörte das Landratsamt Ludwigsburg als Bußgeldbehörde den 1937 geborenen Antragsteller als Betroffenen im Bußgeldverfahren an. Dieser erklärte, der verantwortliche Fahrer zu sein. Das Landratsamt forderte bei der Antragsgegnerin (Meldebehörde) ein Vergleichsfoto des Antragstellers an. Unter dem 29. November 2023 schrieb das Landratsamt den Antragsteller nochmals an und bat darum, die Personalien des verantwortlichen Fahrzeugführers zu benennen. Dieser gab wiederum an, der verantwortliche Fahrzeugführer zu sein. Mit Schreiben vom 7. Dezember 2023 teilte das Landratsamt dem Antragsteller mit, bei einem Vergleich seines von der Einwohnermeldebehörde übersandten Lichtbildes mit dem Fahrerfoto sei von Nichtidentität auszugehen, und forderte ihn erneut auf, den Fahrer binnen einer Woche zu benennen. Darauf erfolgte keine Reaktion.
4
Am 22. Dezember 2023 ersuchte das Landratsamt die Antragsgegnerin darum, die für die Tat verantwortliche Person festzustellen. Deren Ermittlungsdienst suchte am 19. Januar 2024 die Wohnanschrift des Antragstellers auf, traf diesen nicht an und bat per Einwurfkarte um Rückmeldung, die ausblieb.
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Am 31. Januar 2024 teilte das Landratsamt der Antragsgegnerin mit, sie habe das Bußgeldverfahren eingestellt, weil der Täter nicht feststellbar sei. Gleichzeitig bat sie um Prüfung einer Fahrtenbuchanordnung.
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Mit Bescheid vom 24. April 2024 verpflichtete die Antragsgegnerin den Antragsteller unter Anordnung des Sofortvollzugs, für das genannte Fahrzeug oder ein Ersatzfahrzeug bis zum 2. Dezember 2024 ein Fahrtenbuch zu führen, dieses bis spätestens 2. Januar 2025 zur Prüfung vorzulegen und bis zum 2. Juni 2025 aufzubewahren. Es sei nicht möglich gewesen, den verantwortlichen Fahrzeugführer zu ermitteln. Der begangene Verkehrsverstoß wiege so schwer, dass er die Auferlegung eines Fahrtenbuchs für sechs Monate rechtfertige.
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Der Antragsteller erhob Anfechtungsklage (M 23 K 24.2738) und stellte zugleich einen Antrag auf Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung, den das Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 10. Oktober 2024 abgelehnt hat.
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Dagegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers, der die Antragsgegnerin entgegentritt.
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Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
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Die zulässige Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern oder aufzuheben wäre.
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1. Gemäß § 31a Abs. 1 Satz 1 der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung vom 26. April 2012 (BGBl I S. 679), zuletzt geändert durch Verordnung vom 25. Juni 2021 (BGBl I S. 2204), in Teilen in Kraft getreten zum 1. Oktober 2024, kann die nach Landesrecht zuständige Behörde gegenüber einem Fahrzeughalter für ein oder mehrere auf ihn zugelassene oder künftig zuzulassende Fahrzeuge die Führung eines Fahrtenbuchs anordnen, wenn die Feststellung eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften nicht möglich war. Sie kann hierfür ein oder mehrere Ersatzfahrzeuge bestimmen (§ 31a Abs. 1 Satz 2 StVZO). Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31a Abs. 1 StVZO erfüllt, liegen der Erlass der Anordnung und die Bestimmung der Dauer im pflichtgemäßen Ermessen der zuständigen Behörde (BVerwG, U.v. 28.5.2015 – 3 C 13.14 – BVerwGE 152, 180 Rn. 16) und müssen sich damit als verhältnismäßig erweisen.
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2. Davon ausgehend ist die angegriffene Fahrtenbuchanordnung – unbeschadet der Frage, ob diese sich nicht mittlerweile weitgehend erledigt hat – nicht zu beanstanden. Die Einwände des Antragstellers, die sich allein gegen Annahme des Verwaltungsgerichts richten, die Feststellung des Fahrzeugführers sei nicht möglich gewesen, greifen nicht durch.
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a) Die Feststellung des Fahrzeugführers ist im Sinn von § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO unmöglich, wenn die Behörde nach den Umständen des Einzelfalls alle angemessenen und zumutbaren Maßnahmen getroffen hat, um ihn zu ermitteln. Art und Ausmaß der gebotenen Ermittlungen hängen insbesondere von der Art des jeweiligen Verkehrsverstoßes und der Bereitschaft des Fahrzeughalters zur Mitwirkung bei der Feststellung des Fahrers ab. Die Behörde hat in sachgemäßem und rationellem Einsatz der ihr zur Verfügung stehenden Mittel nach pflichtgemäßem Ermessen die Maßnahmen zu treffen, die in gleich gelagerten Fällen erfahrungsgemäß zum Erfolg führen. Verweigert der Fahrzeughalter seine Mitwirkung bei der Ermittlung des Fahrzeugführers, sind weitere Ermittlungen in der Regel nicht zumutbar (vgl. BVerwG, U.v. 17.12.1982 – 7 C 3.80 – VRS 64, 466 = juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 22.7.2022 – 11 ZB 22.895 – zfs 2022, 715 = juris Rn. 14).
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b) So liegt es hier. Der Antragsteller hat zunächst sich selbst zwei Mal als Fahrzeugführer benannt, obwohl dies bei einem Vergleich seines von der Einwohnermeldebehörde übersandten Lichtbildes mit dem Fahrerfoto offenkundig unzutreffend ist. Damit hat der Antragsteller zwar formal mitgewirkt, sich jedoch nicht (sachdienlich) geäußert, sondern versucht, den tatsächlichen Fahrzeugführer vor einer Sanktionierung zu schützen. Auf den Hinweis, dass diese Erklärung nicht zutreffen könne, und die Aufforderung zur Angabe des wahren Fahrzeugführers hat er nicht mehr reagiert. Bei einer derartigen Sachlage ist die zuständige Behörde grundsätzlich nicht mehr gehalten, weitere aufwendige und zeitraubende Ermittlungsmaßnahmen vorzunehmen (vgl. SächsOVG, B.v. 3.5.2017 – 3 B 86/17 – juris Rn. 8; s. zu Schweigen auf Anhörungsbogen auch BVerwG, B.v. 1.3.1994 – 11 B 130.93 – VRS 88, 158 = juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 1.4.2019 – 11 CS 19.214 – juris Rn. 14; VGH BW, B.v. 10.8.2015 – 10 S 278/15 – VRS 129 Nr. 13 = juris Rn. 8). Die Benachrichtigung über den mit seinem Fahrzeug begangenen Verkehrsverstoß im Bußgeldverfahren begründet – ungeachtet etwaiger Auskunfts- und Zeugnisverweigerungsrechte – für den Halter eine Obliegenheit, an der Aufklärung so weit mitzuwirken, wie es ihm möglich und zumutbar ist. Dazu gehört es insbesondere, dass er den bekannten oder auf einem vorgelegten Lichtbild der Verkehrsüberwachungsanlage erkannten Fahrer – ggf. auch sich selbst – benennt (vgl. OVG NW, B.v. 30.6.2015 – 8 B 1465/14 – juris Rn. 17). Kommt er dem nicht nach, darf auch ein zulässiges Verhalten im Bußgeldverfahren, etwa zur Vermeidung einer Ahndung, in einem nachfolgenden Verwaltungsverfahren zur Fahrtenbuchanordnung unter gefahrenabwehrrechtlichem Blickwinkel als Obliegenheitsverletzung gewürdigt werden, die den angemessenen Ermittlungsaufwand reduziert hat (vgl. NdsOVG, B.v. 14.1.2019 – 12 ME 170/18 – NJW 2019, 1013 = juris Rn. 17). Ein „doppeltes Recht”, nach einem Verkehrsverstoß im Ordnungswidrigkeitenverfahren die Aussage zu verweigern und zugleich trotz fehlender Mitwirkung bei der Ermittlung des Fahrzeugführers von einer Fahrtenbuchauflage verschont zu bleiben, besteht nicht (vgl. BVerwG, B.v. 22.6.1995 – 11 B 7.95 – DAR 1995, 459 = juris Rn. 3 f.; B.v. 11.8.1999 – 3 B 96.99 – NZV 2000, 385 = juris Rn. 3; BVerfG, B.v. 7.12.1981 – 2 BvR 1172/81 – NJW 1982, 278 = juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 30.11.2022 – 11 CS 22.1813 – juris Rn. 20).
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c) Wenn die Beschwerdebegründung dem erstmals entgegenhält, die Antragsgegnerin hätte ohne Weiteres den Sohn des Antragstellers als Fahrer ermitteln können, verfängt das nicht. Dazu trägt der Antragsteller vor, wenige Monate vor dem hier in Rede stehenden Verstoß habe die Stadt Augsburg nach einer Ordnungswidrigkeit mit einem auf ihn zugelassenen Fahrzeug ermittelt, dass unter seiner Wohnanschrift auch die Daten der Anwaltskanzlei hinterlegt seien, in der er und sein Sohn tätig seien. Daraufhin habe sie ein Lichtbild seines Sohnes angefordert und so diesen als verantwortlichen Fahrer identifizieren können. Diesem einfachen Ermittlungsansatz sei im vorliegenden Fall nicht nachgegangen worden.
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Dieser Einwand ist unberechtigt. Zum einen erschließt sich anhand der Beschwerdebegründung und der vorgelegten Unterlagen nicht, wie genau der Sachverhalt in jenem Bezugsfall gelagert war. Zum anderen hat die Bußgeldbehörde zwar auch bei verweigerter Mitwirkung naheliegenden und mit wenig Aufwand durchführbaren Ansätzen zur Fahrerermittlung nachzugehen und das Ergebnis ihrer Bemühungen zu dokumentieren (vgl. BayVGH, U.v. 18.2.2016 – 11 BV 15.1164 – DAR 2016, 286 = juris Rn. 17; B.v. 1.4.2019 – 11 CS 19.214 – juris Rn. 14). Dies setzt jedoch voraus, dass konkrete Anhaltspunkte auf eine bestimmte Person als Täter hindeuten oder besondere Umstände des Einzelfalls nahelegen, dass der Halter bei Kenntnis bestimmter Ermittlungsergebnisse doch mitwirkungsbereit sein könnte (vgl. BVerwG, U.v. 17.12.1982 – 7 C 3.80 – VRS 64, 466 = juris Rn. 8; BayVGH, B.v. 1.4.2019 – 11 CS 19.214 = juris Rn. 14). Andernfalls ist die Behörde nicht gehalten, den Halter nach seinen Familienangehörigen und seinem näheren Bekanntenkreis zu fragen sowie gegebenenfalls diese Personen anzuhören (vgl. BVerwG a.a.O.; BayVGH a.a.O.). So lag es hier. Insbesondere lagen keine Anhaltspunkte vor, die auf den Sohn des Antragstellers als Fahrer hindeuteten.
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d) Ohne Erfolg rügt der Antragsteller, dass der Ermittlungsdienst der Antragsgegnerin nur unter seiner Wohnanschrift und nicht an dem Sitz seiner Kanzlei versucht hat, ihn persönlich anzuhören. Nach dem Vorgenannten gingen diese Vor-Ort-Ermittlungen bereits über das zwingend gebotene Maß hinaus. Ferner ist in Anbetracht seines Verhaltens bis dahin nicht greifbar, dass der Antragsteller unter seiner Kanzleianschrift für ein persönliches Gespräch zur Verfügung gestanden, dabei sachdienliche Angaben gemacht oder dieses der Bußgeldbehörde sonst weitergehende Erkenntnisse gebracht hätte.
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e) Wenn die Beschwerde ausführt, gegenüber dem tatsächlichen Fahrer sei die Verfolgungsverjährung bereits nach Ablauf der Dreimonatsfrist des § 26 Abs. 3 StVG (also zum 21.1.2024) eingetreten, dringt sie damit nicht durch. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Frist gegenüber dem Antragsteller durch die Anhörung am 13. November 2023 unterbrochen wurde und somit erst am 13. Februar 2024 ablief (vgl. § 31; § 33 Abs. 1, Abs. 3 OWiG). Allerdings macht die Beschwerde – im Ansatz zutreffend – geltend, die Unterbrechung habe keine Wirkung gegenüber dem tatsächlichen Fahrer gehabt (vgl. § 33 Abs. 4 OWiG). Gleichwohl kann die Frage, ob der Versuch der persönlichen Kontaktaufnahme am 19. Januar 2024 nicht von vornherein ungeeignet war, zur Ermittlung des Fahrers vor Eintritt der Verfolgungsverjährung zu führen, dahinstehen. Denn nach dem Vorstehenden war diese Maßnahme, wie ausgeführt, überobligatorisch und daher bereits nicht geboten.
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3. Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG und den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, 46.11 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
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4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).