Titel:
Anderes Luftfahrtunternehmen, Verspätung, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Umbuchung, Berufungsbeklagter, Stundung, Ausgleichsverpflichtung, Anspruch auf Ausgleichszahlung, Kostenentscheidung, Zumutbare Maßnahmen, Streitwert, Berufungsverfahren, Tatsächliche Feststellungen, Zumutbarkeit, gefestigte Rechtsprechung, Unzumutbarkeit, Berufungszurückweisung, Kosten des Rechtsstreits, Basiszinssatz, Außergewöhnliche Umstände
Schlagworte:
Fluggastrechte, Ausgleichszahlung, Verspätung, Zumutbare Maßnahmen, Umbuchungspflicht, Beweislast, Opfergrenze
Vorinstanz:
AG Erding, Endurteil vom 03.07.2024 – 116 C 1642/23
Fundstelle:
BeckRS 2025, 9010
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts Erding vom 03.07.2024, Az. 116 C 1642/23, abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 750,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.11.2022 zu zahlen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leistet.
4. Die Revision zum Bundesgerichtshof wird zugelassen.
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 750,00 € festgesetzt.
Entscheidungsgründe
1
Die Klägerin macht Ansprüche auf Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 a) der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 aus abgetretenem Recht gegen die Beklagte geltend.
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Die Zedenten verfügten über eine bestätigte Buchung für einen Flug bei der Beklagten am 04.06.2022 von München nach Manchester. Der Flug sollte planmäßig um 12.55 Uhr UTC starten und planmäßig um 15.00 Uhr UTC in Manchester landen. Die Zedenten erreichten ihr Ziel mit einer Verspätung von 3 Stunden und 58 Minuten um 19.58 Ortszeit. Die von der Beklagten vorgetragenen Start- und Landezeiten der (Vor) flüge wurden klägerseits nicht bestritten und lauten wie folgt:
Flugnummer
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Strecke
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Geplant (UTC)
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Tatsächlich (UTC)
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1831
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MAN – AMS
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06:15 – 07:35
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06:38 – 10:16
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1832
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AMS – MAN
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08:10 – 09:30
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11:11 – 13:02
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1887
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MAN – MUC
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10:10 – 12:15
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14:24 – 16:13
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1888
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MUC – MAN
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12:55 – 15:00
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16:55 – 18:58
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3
Streitig ist, ob die Beklagte alle ihr zumutbaren Maßnahmen unternommen hat, um die große Verspätung zu vermeiden.
4
Die Klägerin ist der Auffassung, die Beklagte hätte eine Umbuchung auf einen Flug der L. LH 2502 anbieten müssen. Dieser Flug startete um 16.22 Uhr Ortszeit (14.22 Uhr UTC) und erreichte Manchester um 17.28 Uhr Ortszeit.
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Die Beklagte meint, ihr sei die Umbuchung auf diesen Flug nicht zumutbar gewesen, da Flüge der L. um ein „Vielfaches“ teurer seien als Flüge der Beklagten. Außerdem müssten erst ab einer Verspätung von mehr als 5 Stunden Ersatzleistungen wie eine Umbuchung angeboten werden. Für die Beklagte sei zudem erst um 14.23 Uhr UTC absehbar gewesen, dass eine große Verspätung eintreten würde und sie sei deswegen erst ab diesem Zeitpunkt gehalten gewesen, Maßnahmen zu ergreifen. Der Flug LH 2502 sollte bereits um 14 Uhr UTC (16 Uhr Ortszeit) starten. Zu diesem Zeitpunkt sei für die Beklagte noch nicht absehbar gewesen, dass eine große Verspätung eintreten würde.
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Hinsichtlich des weiteren Parteivortrags, der tatsächlichen Feststellungen erster Instanz sowie der Anträge der Parteien in erster Instanz wird gem. § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.
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Das Amtsgericht Erding wies die Klage ab.
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Zur Begründung führt es aus, dass eine Umbuchung für die Beklagte nicht zumutbar gewesen sei, weil im vorliegenden Fall – anders als in den höchstrichterlich entschiedenen Fällen – nur eine Verspätung von insgesamt knapp vier Stunden vorliege. Die Beklagte hätte alle 177 Passagiere umbuchen und den eigenen Flieger leer nach Manchester fliegen müssen. Unter Berücksichtigung der sich aus Art. 6 Abs. 1 Lit. Iii) der VO (EG) 261/2004 ergebenden Wertung, dass über Betreuungsleistungen im Sinne des Art. 9 der VO (EG) 261/2004 hinausgehende Verpflichtungen durch das Luftfahrtunternehmen erst ab einer absehbaren Abflugverspätung von 5 Stunden geschuldet seien, lasse eine Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls hier das Erfordernis der Umbuchung entfallen.
9
Die Klägerin und Berufungsklägerin beantragt unter Abänderung des Urteils vom 04.07.2024 – Az. 116 C 1642/23 – wird die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 750,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.11.2022 zu zahlen.
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Die Beklagte und Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
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Die Kammer hat mit Beschluss vom 10.02.2025 Hinweise erteilt.
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Weitergehender Vortrag auf den Hinweis erfolgte durch die Beklagte und Berufungsbeklagte nicht.
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Die Kammer hat am 30.04.2025 mündlich verhandelt. Eine Beweisaufnahme fand nicht statt.
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1. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch auf Ausgleichszahlungen gem. Art. 7 Abs. 1 S. 1 a), 5 Abs. 1 c) VO (EG) Nr. 261/2004, § 398 BGB zu.
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a) Eine Verspätung von mehr als 3 Stunden ist nach gefestigter Rechtsprechung einer Annulierung im Sinne des Art. 5 der Verordnung gleichzusetzen (EuGH, Urteil vom 19. November 2009 – C-402/07, Slg. 2009, I-10923 = NJW 2010, 43 = RRa 2009, 282 – Sturgeon/Condor; Urteil vom 23. Oktober 2012 – C-581/10, NJW 2013, 671 = RRa 2012, 272 – Nelson/L. ; BGH, Urteil vom 18. Februar 2010 – Xa ZR 95/06, NJW 2010, 2281 = RRa 2010, 93; Urteil vom 7. Mai 2013 -X ZR 127/11, RRa 2013, 237 = NJW-RR 2013, 1065), weshalb grundsätzlich im vorliegenden Fall ein Anspruch nach Art. 7 der Verordnung begründet wird.
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b) Der Anspruch ist nicht gem. Art. 5 Abs. 3 der Verordnung ausgeschlossen.
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aa) Unabhängig davon, ob die Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückging, hat die Beklagte nicht nachgewiesen, dass die Verspätung auch durch zumutbare Maßnahmen nicht zu vermeiden war.
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Das Luftfahrtunternehmen hat konkret und subtantiiert vorzutragen und nachzuweisen, dass die Flugannullierung oder große Verspätung sich auch dann nicht hätte vermeiden lassen, wenn alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen worden wären. Verlangt werden insoweit alle Maßnahmen, die der konkreten Situation angepasst, also für das Luftfahrtunternehmen in persönlicher, technischer oder wirtschaftlicher Hinsicht zuzumuten waren (s. Führich/ Achilles-Pujol in: Führich/ Staudinger, Reiserecht, 9. Auflage 2024, § 40, Rdnr. 36). Zur vom Luftfahrtunternehmen dabei verlangten Sorgfalt gehört die Suche nach anderen direkten oder indirekten Flügen, die gegebenenfalls von anderen Luftfahrtunternehmen durchgeführt werden und mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankommen.
19
Das Luftfahrtunternehmen kann sich von seiner Ausgleichsverpflichtung nur nach Darlegung einer entsprechenden Suche für den konkreten Fall entlasten (EuGH Urteil vom 11.06.2020 – C-74/19).
20
Diese Voraussetzungen hat die Beklagten vorliegend nicht erfüllt.
21
Bei der Prüfung sind die beklagtenseits vorgetragenen und unstrittig gebliebenen Flugzeiten zu Grunde zu legen.
22
Danach ist entscheidend auf die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zum Zeitpunkt des Startes des Fluges U2 1832 abzustellen. Dieser Flug erreichte sein Ziel um 13.02 Uhr UTC und somit mit einer Ankunftsverspätung von 3 Stunden 32 Minuten. Nachdem unstreitig ist, dass dieser Flug um 11.11 Uhr UTC gestartet ist, stand bereits um 11.11 Uhr fest, dass die Verspätung 3 Stunden überschreiten würde. Aufgrund der eingeplanten Turnaroundzeiten stand auch bereits fest, dass die Beklagte diese Verspätung nicht mehr aufholen konnte.
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Spätestens ab diesem Zeitpunkt (11.11 Uhr UTC) hätte die Beklagte daher nach Verbindungen suchen müssen, mit denen die Fluggäste schneller als mit dem streitgegenständlichen Flug am Zielort angekommen wären. Nach dem eigenen Vortrag der Beklagten, hat diese insofern nichts unternommen.
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Dass auch bei gehöriger Suche keine schnellere Beförderung möglich gewesen wäre, hat die Beklagte nicht nachgewiesen. Vielmehr kam unstreitig der L. Flug LH 2502 deutlich eher an. Dass eine Umbuchung auf diesen Flug nicht möglich gewesen wäre, wenn man sich ab 11:11 Uhr UTC darum bemüht hätte, ist weder dargetan noch ersichtlich. Ferner ist unklar, ob und welche sonstigen direkten oder indirekten Verbindungen – auch anderer Anbieter – ggf. mit einer Bewältigung von Teilstrecken mit anderen Verkehrsmitteln bei einer Suche ab 11:11 Uhr UTC ggf. möglich gewesen wären um die Verspätung zu verkürzen.
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bb) Der Einwand, dass unterschiedliche Ticketpreise zur Unzumutbarkeit der Umbuchungsmaßnahme führen können, kann dahinstehen, da dieser Einwand hier von der Beklagten nicht substantiiert vorgetragen wurde. Allein der Vortrag, dass die Beklagte eine „Billigairline“ ist, reicht dafür nicht aus. Die Klagepartei ist im Übrigen diesem Einwand substantiiert entgegengetreten.
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cc) Die Kammer entnimmt dem Art. 6 Abs. 1 lit iii) VO (EG) Nr. 261/2004 nicht eine allgemeine Wertung, dass eine Umbuchung erst bei einer Verspätung von mehr als 5 Stunden geschuldet sei. Gerade der Umstand, dass die Verordnung nicht auf Art. 8 Abs. 1 lit. b) VO (EG) Nr. 261/2004 verweist, zeigt, dass diese Wertung nicht beabsichtigt war. Wäre der Verordnungsgeber von dieser Wertung ausgegangen, hätte er nicht nur auf Art. 8 Abs. 1 lit a) VO (EG) Nr. 261/2004 verwiesen, sondern auch auf Art. 8 Abs. 1 lit b) VO (EG) Nr. 261/2004.
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Es ist vielmehr mittlerweile gefestigte Rechtsprechung, dass eine Verspätung von mehr als 3 Stunden einer Annullierung gleichzustellen ist und den Fluggästen daher die Ansprüche aus Art. 5, 7 VO (EG) Nr. 261/2004 zustehen. Die Grenze liegt mithin bei 3 und nicht bei 5 Stunden.
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Um sich gem. Art. 5 Abs. 3 VO (EG) Nr. 261/2004 zu exkulpieren kommt es darauf an, ob eine Vermeidung der Verspätung bzw. deren Folgen unter Einsatz der zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel des Luftfahrtunternehmens möglich gewesen wäre. Eine Abwägung in welchem Verhältnis die Kosten für das Luftfahrtunternehmen zum Nutzen für die Fluggäste stehen findet nicht statt. Die Opfergrenze wird also nicht danach bestimmt, wie groß die Verspätung am Zielort ist, sondern nach den dem Luftfahrtunternehmen zur Verfügung stehenden Mitteln. Dem Anspruch kann daher nicht entgegengehalten werden, dass die Kosten für eine Verkürzung der Verspätung von nur ca. einer Stunde unverhältnismäßig gewesen wären. Eine derartige Abwägung dürfte in der Praxis auch unpraktikabel sein, weil das Luftfahrtunternehmen in der Regel nicht wissen oder in der Kürze der Zeit in Erfahrung bringen kann, ob und welche womöglich gewichtigen Interessen ggf. zumindest einige Fluggäste an einer möglichst schnellen Beförderung haben (z.B. Erreichen von Anschlüssen zur Weiterreise; Einhalten von wichtigen beruflichen oder privaten Fristen/Terminen).
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Dass eine Umbuchung die Beklagte wirtschaftlich überfordert hätte, ist weder substantiiert dargetan noch ersichtlich.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.
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Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit erging gem. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
32
Der Streitwert für das Berufungsverfahren war gem. § 47 GKG festzusetzen.
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Die Revision zum Bundesgerichtshof wurde gem. § 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zugelassen, da angesichts der unbestimmten Vielzahl vergleichbarer Fälle ein Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Handhabung des Rechts besteht.