Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 25.03.2025 – AN 18 K 21.30228
Titel:

Erfolgreiche Anfechtungsklage gegen den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft, Keine List im Sinne des § 60 Abs. 8b Nr. 2 AufenthG bei Verurteilung wegen Diebstahls, § 60 Abs. 8b Nr. 2 AufenthG setzt die Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten voraus. Hierfür genügt nicht die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als einem Jahr, wenn nicht mindestens eine Einzelstrafe mindestens ein Jahr beträgt (Anschluss an VG München, U.v. 8.3.2022 – M 4 K 20.32787 – juris Rn. 18 ff.)

Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 4
AsylG § 73 Abs. 5
AsylG § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1
AufenthG § 60 Abs. 8b Nr. 2
RL 2011/95/EU Art. 14 Abs. 4
GFK Art. 33 Abs. 2
Schlagworte:
Erfolgreiche Anfechtungsklage gegen den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft, Keine List im Sinne des § 60 Abs. 8b Nr. 2 AufenthG bei Verurteilung wegen Diebstahls, § 60 Abs. 8b Nr. 2 AufenthG setzt die Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten voraus. Hierfür genügt nicht die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als einem Jahr, wenn nicht mindestens eine Einzelstrafe mindestens ein Jahr beträgt (Anschluss an VG München, U.v. 8.3.2022 – M 4 K 20.32787 – juris Rn. 18 ff.)
Fundstelle:
BeckRS 2025, 8969

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. Juli 2020 wird in seinen Ziffern 1. und 2. aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar.
3. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), durch seine vormals zuerkannte Flüchtlingseigenschaft widerrufen wurde.
2
Der Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger und dem Volk der Hazara zugehörig. Er hat am 7. April 2015 einen Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland gestellt.
3
Dem Kläger wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. Juli 2016 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Die Entscheidung beruhte im Wesentlichen auf der Hinwendung des Klägers zum Christentum. Der Bescheid ist am 27. Juli 2016 bestandskräftig geworden.
4
Der Bundeszentralregisterauszug des Klägers vom 30. Oktober 2024 weist folgende Eintragungen auf: 1) Amtsgericht … vom 5. Dezember 2017 (...), Vorsätzliches unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, Datum der Tat: 13. Juni 2017, verhängte Strafe: 8 Monate Freiheitsstrafe, zur Bewährung ausgesetzt, Bewährungszeit 2 Jahre.
5
2) Amtsgericht … vom 16. Mai 2019 (...), Vorsätzlicher unerlaubter Erwerb von Betäubungsmitteln, Datum der Tat: 14. März 2019, verhängte Strafe: 60 Tagessätze zu je 13,00 EUR Geldstrafe.
6
3) Amtsgericht … vom 9. Januar 2020 (* …*), rechtskräftig seit 17. Januar 2020, Diebstahl in acht Fällen, unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln, Datum der Tat: 20. August 2019, verhängte Strafe: 1 Jahr und 7 Monate Freiheitsstrafe, Anmerkung zur Gesamtstrafenbildung: Wegen Diebstahls in sieben Fällen und unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln wurde eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr 7 Monaten ausgesprochen. Auf die Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Monaten wurde erkannt wegen Diebstahls unter Einbeziehung der Einzelstrafe aus der Entscheidung vom 16. Mai 2019.
7
Durch Urteil des Amtsgerichts … vom 9. Januar 2020 (* …*) wurde der Kläger zum einen wegen Diebstahls unter Einbeziehung der Strafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts … vom 16. Mai 2019 (* …*) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten, zum anderen wegen Diebstahls in sieben tatmehrheitlichen Fällen sowie unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sieben Monaten verurteilt. Die Einziehung von Wertersatz wurde angeordnet. Zur Strafzumessung führte das Amtsgericht … aus, dass es hinsichtlich der Taten vom 29. März 2019 und vom 1. Juli 2019 jeweils eine Freiheitsstrafe von vier Monaten für tat- und schuldangemessen hält. Für die Tat vom 16. August 2019 wurde auf eine Freiheitsstrafe von fünf Monaten erkannt. Hinsichtlich der Taten vom 31. Mai 2019 und 2. August 2019 hielt das Gericht eine Freiheitsstrafe von je fünf Monaten für angemessen. Die Tat vom 3. August 2019 und die beiden Taten vom 10. August 2019 wurden je mit sieben Monaten Freiheitsstrafe bewertet. Der Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz vom 20. August 2019 wurde mit drei Monaten Freiheitsstrafe bewertet. Aus der Strafe für die Tat vom 29. März 2019 war eine nachträgliche Gesamtstrafe zu bilden mit der Strafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts …, durch den der Kläger zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt worden war. Hinsichtlich der weitere Einzelheiten wird auf das Urteil des Amtsgerichts … vom 9. Januar 2020, …, Bezug genommen (S. 38 ff. Bundesamtsakte …*).
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4) Amtsgericht … vom 30. Juni 2020 (* …*), Gewerbsmäßiger Diebstahl in neun Fällen, Datum der Tat: 27. Februar 2019, verhängte Strafe: 2 Jahre 3 Monate Freiheitsstrafe. Einbezogen wurde die Entscheidung vom 16. Mai 2019 (* …*). Einbezogen wurde die Entscheidung vom 09. Januar 2020 (* …*) Anmerkung: Aus der Entscheidung vom 17. Januar 2020 wurde nur die Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Monaten einbezogen.
9
Durch das Urteil des Amtsgerichts … vom 30. Juni 2020 wurde der Kläger wegen gewerbsmäßigen Diebstahls in neun tatmehrheitlichen Fällen unter Einbeziehung der durch Strafbefehl des Amtsgerichts … vom 16. Mai 2019 (* …*) verhängten Strafe und unter Einbeziehung der durch Urteil des Amtsgerichts … vom 09. Januar 2020 (* …*) verhängten Strafe für die Tat vom 29. März 2019, unter Auflösung der im Urteil des Amtsgerichts … vom 09. Januar 2020 gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Zur Strafzumessung führte das Amtsgericht …, dass für die Tat vom 17. Oktober 2018 eine Freiheitsstrafe von vier Monaten, für die Tat vom 22. Oktober 2018 eine Freiheitsstrafe von vier Monaten, für die Tat vom 22. November 2018 eine Freiheitsstrafe von drei Monaten, für die Tat vom 21. Januar 2019 eine Freiheitsstrafe von drei Monaten, für die Tat vom 16. Februar 2019, 19:30 Uhr, eine Freiheitsstrafe von acht Monaten, für die Tat vom 16. Februar 2019, 21:10 Uhr, eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten, für die Tat vom 18. Februar 2019 eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten, für die Tat vom 22. Februar 2019 eine Freiheitsstrafe von fünf Monaten und für die Tat vom 27. Februar 2019 eine Freiheitsstrafe von fünf Monaten tat- und schuldangemessen seien. Da die Taten vor dem 16. Mai 2019 begangen worden seien, sei gemäß § 55 StGB aus den hier verhängten Strafen, der Geldstrafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts … vom 16. Mai 2019 sowie der Strafe, die das Amtsgericht … im Urteil vom 09. Januar 2020 für die Tat vom 29.März 2019 verhängt habe, eine Gesamtstrafe zu bilden. Dabei sei die im Urteil des Amtsgerichts … insoweit gebildete Gesamtstrafe aufzulösen. Unter nochmaliger Würdigung der genannten Strafzumessungskriterien, unter Berücksichtigung der Strafzumessungskriterien aus dem Urteil des Amtsgerichts … vom 09. Januar 2020 sowie unter Berücksichtigung des örtlichen, zeitlichen und situativen Zusammenhangs habe das Gericht aus den gemäß § 54 StGB zu Grunde zu legenden Strafrahmen eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten als erforderliche, aber auch ausreichende Strafe festgesetzt.
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Mit Schreiben des Bundesamtes vom 17. Februar 2020 wurde der Kläger zu einem möglichen Widerruf seiner Flüchtlingseigenschaft sowie der Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes und von Abschiebungsverboten angehört. Mit Schreiben vom 26. Mai 2020 wurde der Kläger gebeten, bis zum 26. Juni 2020 aktuelle ärztliche Unterlagen betreffend eine Erkrankung an Hepatitis B und C vorzulegen. Weiter wurde er aufgefordert darzulegen, wie sein christlicher Glaube auf seinen Alltag Einfluss nehme, wie er seinen Glauben im Alltag auslebe und welche Rolle dieser in seinem Leben spiele. Hierzu hat der Kläger eine Erklärung in persischer Sprache vorgelegt, die durch das Bundesamt ins Deutsche übersetzt wurde.
11
Mit Bescheid vom 24. Juli 2020 widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 8. Juli 2016 zuerkannte Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1.). Subsidiärer Schutz wurde nicht zuerkannt (Ziffer 2.). Schließlich wurde festgestellt, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt (Ziffer 3.). Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 73 Abs. 1 AsylG zu widerrufen sei, da der Ausländer gemäß § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Flüchtlingszuerkennung ausgeschlossen sei. Danach entfalle der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Anerkennung der Asylberechtigung, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches (StGB) ist. Dabei komme es nicht darauf an, ob die Freiheits- oder Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Allerdings finde nach der Vorschrift kein automatischer Ausschluss statt. Vielmehr sei eine Ermessensentscheidung vorzunehmen. Die nach dem Gesetzeswortlaut erforderliche Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr liege hier vor, da der Ausländer durch Urteil des Amtsgerichts … (Az.: …*), rechtskräftig seit 17. Januar 2020, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sieben Monaten verurteilt wurde. Die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe tue dem weiterhin keinen Abbruch, da ausdrücklich eine Verurteilung wegen einer oder mehrerer Straftaten im Gesetzestext des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG aufgeführt sei. Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass neben der Verurteilung wegen Diebstahls in sieben tatmehrheitlichen Fällen die Zuwiderhandlung des Ausländers gegen das Betäubungsmittelgesetz abgeurteilt wurde. Zwar erfülle die hier begangene Straftat gegen das Betäubungsmittelgesetz nicht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG, jedoch handele es sich bei den übrigen durch den Ausländer begangenen Straftaten um Diebstahl im Sinne der §§ 242 Abs. 1 und 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StGB, wobei das geschützte Rechtsgut hier das Eigentum darstelle. Die Einzelstrafe für den begangenen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz betrage laut des Gerichts lediglich drei Monate und sei damit nicht als essentieller Bestandteil der Gesamtstrafenbildung von einem Jahr und sieben Monaten. Wie sich der Urteilsbegründung ferner entnehmen lasse, wurde die Straftat unter Verwirklichung der in der Vorschrift genannten Tatmodalitäten (hier: List) sowie vorsätzlich ausgeführt, weshalb auch die notwendigen Merkmale der Tatbegehung erfüllt seien. List beschreibe dabei ein Verhalten, mit dem der Täter darauf abziele, unter geflissentlichem und geschicktem Verbergen der wahren Absicht oder der zu deren Realisierung dienenden Mittel, seine Ziele durchzusetzen. Dies sei hier eindeutig gegeben, da der Ausländer die Waren stets in einer mitgeführten Tasche verborgen aus den Geschäftsräumen entwendet habe, beziehungsweise entwenden habe wollen. Er habe durch das Verbergen der Gegenstände darüber hinweggetäuscht, dass er diese ohne zu bezahlen für sich behalten habe wollen. Dieser Tathergang zeige eindeutig, dass der Ausländer darauf abgezielt habe, seine wahre Absicht, das unentgeltliche Aneignen der Ware, geschickt zu verbergen, indem er die Gegenstände in seinen Rucksack gepackt und die Geschäfte mit dem verborgenen Diebesgut verlassen habe. Das Tatbestandsmerkmal der List sei demnach offensichtlich erfüllt.
12
Die Verurteilung zu einer mindestens einjährigen Jugend- oder Freiheitsstrafe führe allerdings nicht automatisch zu einem Ausschluss von der Flüchtlings- und Asylanerkennung. Vielmehr müsse darüber hinaus zum Zeitpunkt der Entscheidung im Einzelfall weiterhin eine Gefährdung der Allgemeinheit durch den Ausländer zu besorgen sein, mithin eine konkrete Wiederholungsgefahr bestehen. Dies erfordere eine Prognose, dass der Ausländer seine die Allgemeinheit gefährdende Betätigung in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit fortsetzen werde. Die lediglich entfernte Möglichkeit weiterer Straftaten genüge dagegen nicht. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten ernsthaft drohe, seien die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftaten, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts ebenso wie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zu dem maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Beim Kläger sei eine konkret drohende Wiederholungsgefahr zu bejahen. Er sei strafrechtlich wiederholt in Erscheinung getreten. Dies belege, dass ihn selbst Verurteilungen zu Freiheitsstrafen in keiner Weise beeindrucken könnten. Die Stellungnahme der JVA … vom 30. März 2020 stütze diesen Befund. Das bisherige Verhalten des Klägers im Vollzug sei nicht gänzlich ohne Beanstandungen gewesen, so sei er am 30. Oktober 2019 unerlaubt im Besitz eines Handys gewesen. Der wiederholt gezeigte bisherige problematische Umgang des Ausländers mit der hier geltenden Rechtsordnung habe durch sein vom Amtsgericht … zuletzt abgeurteiltes Verhalten seine Fortsetzung erfahren. Die hierbei erneut zum Ausdruck gekommene kriminelle Energie und das Gewicht der bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgüter rechtfertigten für sich bereits die Annahme, dass beim Ausländer von einer hinreichend konkreten Wiederholungsgefahr auszugehen sei. Auch sei zu berücksichtigen, dass der Ausländer die verfahrensgegenständlichen Taten unter laufender Bewährung begangen habe. Weiter sei der Kläger nach den Feststellungen des Gerichts betäubungsmittelabhängig und sei ohne eine erfolgreiche Drogenentwöhnungstherapie nicht in der Lage, sich straffrei zu führen. Selbst eine absolvierte Therapie würde aber nicht besagen, dass der Suchtkranke als auf Dauer geheilt anzusehen wäre. Die Rückfallquote sei erfahrungsgemäß hoch. Dies sehe auch das OVG … in seinem Urteil vom 29. Juli 2008 (* …*) so. Auch die soziale und wirtschaftliche Situation des Klägers sei bei der Bewertung einer Wiederholungsgefahr zu berücksichtigen. Er verfüge laut Urteil des Amtsgerichts über keinen Wohnsitz, keine Arbeit und habe keine Familienangehörigen im näheren Umfeld. Die finanzielle Situation des Klägers sei prekär. Schließlich überwiege das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr das Bleibeinteresse des Ausländers.
13
Der Kläger sei auch von der Zuerkennung subsidiären Schutzes ausgeschlossen, da schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigten, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Alt. 1 AsylG darstelle. Hier begründe jedoch nicht eine Straftat, sondern die vom Ausländer ausgehende Gefahr die Anwendung der Ausschlussklausel. Es müsse festgestellt werden, dass von dem Antragsteller in Zukunft eine Gefahr ausgehe. Der Kläger sei bereits vielfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Um Wiederholungen zu vermeiden, werde auf die Ausführungen zum Widerruf der Flüchtlingseigenschaft verwiesen.
14
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 7. August 2020 Klage zunächst zum Verwaltungsgericht … erhoben. Dieses hat sich mit Beschluss vom 3. März 2021 für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Ansbach verwiesen. Zur Begründung führt der mittlerweile mandatierte Bevollmächtigte des Klägers im Wesentlichen aus, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG nicht vorliegen würden. Die ausgeurteilten Straftaten seien bereits nicht mit List begangen worden. Zwar sei die durch die Beklagte angeführte Definition von List zutreffend, jedoch habe der Kläger durch das Verbergen der Gegenstände niemanden getäuscht. Insofern sei der Diebstahl vom Betrug abzugrenzen. Der Diebstahl sei durch die Wegnahme, der Betrug durch die mit Verfügungsbewusstsein getätigte Vermögensverfügung des Geschädigten gekennzeichnet. Die Annahme eines generellen Verfügungswillens auf alle, auch versteckte Waren, käme einer Fiktion gleich und vermöge daher nicht zu überzeugen. Stecke der Täter die Waren im Ladengeschäft in seine Tasche oder Rucksack, sei der Diebstahl bereits vor Passieren der Ladenkasse vollendet. Ein Kassierer, der keine Kenntnis von der versteckten Ware habe, könne über diese auch nicht bewusst verfügen. Demnach habe der Kläger niemanden getäuscht oder einen bestehenden Willensmangel ausgenutzt. Davon abgesehen sei es erforderlich, dass das Merkmal der List schon im Tatbestand der abgeurteilten Norm enthalten sein und nicht nur in der Tatausführung zum Ausdruck kommen müsse. Im Rahmen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG sei weiter erforderlich, dass die Verurteilung zu einer Freiheitsoder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr auf einer einzigen Tat beruhen müsse. Bei einer Gesamtfreiheitsstrafe müsse eine der einbezogenen Einzelstrafen eine mindestens einjährige Freiheitsstrafe sein. Das sei weder beim Urteil des Amtsgerichts … vom 9. Januar 2020 noch beim Urteil des Amtsgerichts … vom 30. Juni 2020 der Fall. Schließlich lägen auch die Voraussetzungen für einen Ausschluss der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Alt. 1 AsylG nicht vor. Der Kläger stelle keine Gefahr für die Allgemeinheit dar.
15
Der Kläger beantragt,
1.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. Juli 2020 wird in seinen Ziffern 1 und 2 aufgehoben.
2.
Hilfsweise wird beantragt, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG zuzuerkennen.
16
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
17
Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
18
Auf Anfrage des Gerichts vom 18. Oktober 2024 an die Beklagte, ob nach wie vor von einer Gefahr für die Allgemeinheit durch den Kläger ausgegangen werde und die Bitte hierzu mitzuteilen, ob der Kläger nach Kenntnis der Beklagten zwischenzeitlich weitere Straftaten begangen habe, führte das Bundesamt mit Schriftsatz vom 19. November 2024 aus: Seit 2020 sei laut Bundeszentralregisterauszug kein strafrechtliches Verfahren gegen den Kläger abgeschlossen worden. Ob aktuelle Ermittlungen gegen den Kläger liefen, könne das Bundesamt nicht sagen. Jedoch hätten die bisher begangenen Straftaten in Zusammenhang mit der bestehenden bzw. bestandenen Drogenabhängigkeit eine Intensität erreicht, die zu einer Schutzaberkennung geführt habe. Auch wenn die Betreuerin behaupte, der Kläger sei aktuell abstinent, so sei die Rückfallquote unglücklicherweise als sehr hoch einzuschätzen. Eine erneute Abhängigkeit und die damit verbundene Wiederholungsgefahr sei daher nicht auszuschließen. Darüber hinaus seien der Beklagten keine Unterlagen vorgelegt worden, die eine Abstinenz bestätigen, z.B. therapeutische Zwischen- oder Abschlussberichte. Die im Bescheid getroffene Prognose, dass der Kläger seine die Allgemeinheit gefährdende Betätigung in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit fortsetzen werde, werde daher aufrechterhalten.
19
In der mündlichen Verhandlung am 25. März 2025 hat der Klägerbevollmächtigte noch folgende Unterlagen betreffend die soziale und berufliche Situation des Klägers vorgelegt, um darzulegen, dass dieser aktuell keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit bedeute: Zum einen einen Entwicklungsbericht Betreutes Wohnen des Fachverbandes für Prävention und Rehabilitation in der Erzdiözese … vom 4. Januar 2023. Sodann einen Entwicklungsbericht für den Kläger vom 10. März 2025 des Integrationszentrums … Sodann ein Bericht der Bewährungshilfe … vom 11. März 2025. Weiterhin eine Therapiebescheinigung des Fachverbandes für Prävention und Rehabilitation in der Erzdiözese … vom 22. Februar 2022. Sodann einen Schweißer-Pass sowie die Schweißer-Prüfungsbescheinigung der … vom 23. März 2023. Weiter eine Meldebestätigung der Stadt … vom 9. Januar 2025. Weiter eine Verdienstabrechnung vom Monat Januar 2025 sowie eine Vertragsänderung eines Arbeitsvertrags als Schweißer zwischen der … und dem Kläger vom 20. Februar 2024. Darin ist eine Befristungsverlängerung bis zum 31. März 2025 enthalten. Die Vertragsänderung beginnt am 1. April 2024. Auf den Inhalt der Unterlagen wird verwiesen.
20
Im Übrigen wird hinsichtlich Inhalt und Verlauf der mündlichen Verhandlung am 25. März 2025 auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
21
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakten sowie die dem Gericht übersandten Behördenakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

22
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann, § 102 Abs. 2 VwGO.
23
Die Klage ist zulässig und begründet.
24
1. Der Bescheid des Bundesamts vom 24. Juli 2020 ist in seinen Ziffern 1. und 2. rechtswidrig, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist daher insoweit aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
25
a) Der in Ziffer 1. des Bescheides des Bundesamtes vom 24. Juli 2020 ausgesprochene Widerruf der dem Kläger mit Bescheid vom 8. Juli 2016 zugesprochenen Flüchtlingseigenschaft ist rechtswidrig.
26
Die im streitgegenständlichen Bescheid seitens des Bundesamtes herangezogene Rechtsgrundlage des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG existiert zum gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht mehr. Zu diesem Zeitpunkt hätte das Bundesamt allenfalls auf den vergleichbaren § 60 Abs. 8b Nr. 2 AufenthG zurückgreifen können.
27
Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8b Nr. 2 AufenthG wären jedoch nicht erfüllt, ließe man die Problematik beiseite, dass es sich um eine Ermessensvorschrift handelt und das Bundesamt seine Ermessenserwägungen wegen § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG angesichts der in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Unterlagen der Klägerseite für eine ordnungsgemäße Ermessensausübung nochmals hätte anpassen müssen.
28
Nach dem über § 73 Abs. 5, § 3 Abs. 4 AsylG anwendbaren § 60 Abs. 8b Nr. 2 AufenthG in der hier alleine in Betracht kommenden Variante kann die Flüchtlingseigenschaft widerrufen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit List begangen worden ist.
29
aa) Es mangelt bereits daran, dass die zu Lasten des Klägers vorliegenden Verurteilungen wegen Diebstahls in sieben Fällen und unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln sowie wegen Diebstahls durch das Amtsgericht … vom 9. Januar 2020 (* …*) und wegen gewerbsmäßigen Diebstahls in neun Fällen durch das Amtsgericht … vom 30. Juni 2020 (* …*) allesamt nicht unter Anwendung von List im Sinne des § 60 Abs. 8b Nr. 2 AufenthG begangen worden sind. List meint jedes Verhalten, das darauf abzielt, unter geflissentlichem oder geschicktem Verbergen der wahren Absichten und Umstände die Ziele des Täters durchzusetzen (Renzikowski in Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2021, § 232 StGB Rn. 88 f. m.w.N.). List kann sowohl durch Täuschung, d.h. Irrtumserregung, als auch durch bloßes Ausnutzen eines bereits bestehenden Irrtums oder Ausnutzen der Unkenntnis der wahren Sachlage geschehen (Wieck-Noodt in Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2021, § 234 StGB Rn. 38 m.w.N.). Die Diebstähle, wegen derer der Kläger verurteilt wurde, hat er jedoch nicht unter geflissentlichem oder geschicktem Verbergen seiner wahren Absichten und Umstände begangen, sondern schlicht deren objektiven und subjektiven Tatbestand vollendet. Bei den jeweils geschädigten Ladeninhabern bzw. deren Personal hat er weder einen Irrtum erregt noch einen solchen oder die Unkenntnis der wahren Sachlage ausgenutzt; würde man das bejahen, befände man sich überdies wohl im Tatbestand des vom Diebstahl als Fremdschädigungsdelikt abzugrenzenden Betrugs nach § 263 StGB als Selbstschädigungsdelikt (zur Abgrenzung Strauß, JuS 2024, 308). Auch das Verbringen des Diebesguts in den mitgeführten Rucksack oder in eine Tasche und das anschließende (versuchte) Passieren des Kassenbereiches bzw. des Eingangs oder das Verlassen des Ladens durch den Lieferanteneingang (außer Taten vom 30.6.2019, Urteil AG … v. 9.1.2020 und vom 22.10.2018, Urteil AG … vom 30.6.2020: jeweils nur von entwenden die Rede) begründet keine listige Tatausübung. Mit dem Einstecken in einen Rucksack oder eine Tasche in einem fremden Gewahrsamsbereich wie einem Super-, Drogerie- oder Baumarkt hat der Kläger, zumindest bei Diebesgut, das sich wie hier leicht einstecken lässt, bereits neuen Gewahrsam begründet (sog. Gewahrsamsenklave) und somit den Diebstahl vollendet, ohne dass es hier auf das Vorstellungsbild des geschädigten Ladeninhabers oder seiner Angestellten ankommt (hierzu Wittig in v.Heintschel-Heinegg/ Kudlich, BeckOK StGB, 64. Ed. 1.2.2025, § 242 StGB Rn. 25 ff., 26.1, 26.2). Der Diebstahl ist kein heimliches Delikt. Selbst eine Beobachtung der Wegnahme, etwa wie hier teils durch Ladendetektive, hindert grundsätzlich nicht die Vollendung des Diebstahls (schon BGH, B.v. 6.10.1961 – 2 StR 289/61 – NJW 1961, 2266: Heimlichkeit ist kein Wesensmerkmal des Diebstahls; Schmitz in Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2021, § 242 StGB Rn. 85). Es lässt sich auch kein allgemeines Bewusstsein des Ladeninhabers oder seines Personals dergestalt konstruieren, dass sie davon ausgehen, dass jeder Kunde mit Rucksack oder Tasche darin kein Diebesgut versteckt hält und welches der Kläger dann ausgenutzt hätte. Anders könnte man dies nur für den hier nicht gegebenen Fall eines sog. Trickdiebstahls sehen, bei dem der Täter durch „listige Sachentziehung“ mittels Täuschung eine Gewahrsamslockerung herbeiführt, die ihm erst die Möglichkeit zur späteren Wegnahme bietet (Saliger in Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl. 2020, § 263 StGB Rn. 119, der als Beispiel u.a. anführt: Der Täter veranlasst durch Vortäuschen eines Kaufinteresses die Aushändigung der Sache, nimmt diese dann an sich und entfernt sich ohne Bezahlung).
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Nach dem Vorstehenden kann die vom Klägerbevollmächtigten zusätzlich aufgeworfene Rechtsfrage, ob das Tatbestandsmerkmal der List schon im Tatbestand des abgeurteilten Delikts – was beim Diebstahl nicht der Fall wäre – oder lediglich bei der Tatausführung zum Ausdruck kommen muss, dahinstehen (im Sinne des Klägerbevollmächtigten argumentiert etwa das OVG Hamburg, U.v. 8.11.2021 – 2 Bf 539/19.A – juris Ls. 1, Rn. 40 ff.).
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bb) Davon abgesehen ist die Voraussetzung des § 60 Abs. 8b Nr. 2 AufenthG nicht erfüllt, dass der Kläger wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist. Bei den hier vorliegenden Verurteilungen des Amtsgerichts Leipzig vom 9. Januar 2020 (* …*) und des Amtsgerichts … vom 30. Juni 2020 (* …*) handelt es sich jeweils um Verurteilungen zu (nachträglichen) Gesamtstrafen i.S.d. §§ 53 ff. StGB, einmal zur einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten sowie von einem Jahr und sieben Monaten (AG …*), zum anderen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten unter Einbezug der Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts … (AG …*). Die Einzelstrafen, aus denen die Gesamtstrafen gemäß § 54 StGB gebildet wurden, befanden sich jeweils unter der Grenze von einem Jahr. Es ist umstritten, ob in diesen Fällen der Tatbestand des § 60 Abs. 8b AufenthG erfüllt sein kann. Zwar scheint der Wortlaut der Norm dafür zu sprechen, dass die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von über einem Jahr genügt, auch wenn die Einzelstrafen darunter liegen. § 60 Abs. 8b AufenthG spricht nämlich von der Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr „wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten“. Auch lässt sich argumentieren, dass bei vielfachen Verurteilungen zu für sich genommen geringen Einzelstrafen, die sodann in eine Gesamtfreiheitsstrafe von (weit) mehr als einem Jahr münden, der Sinn und Zweck des § 60 Abs. 8b AufenthG, nämlich der Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren vor durch anerkannte Schutzberechtigte begangene Straftaten, erfüllt ist. Jedoch schließt sich der Einzelrichter der herrschenden Meinung in der Rechtsprechung und Literatur sowie der Ansicht des Klägerbevollmächtigten an, dass für § 60 Abs. 8b AufenthG nicht schon die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als einem Jahr ausreicht, sondern mindestens auch eine der Einzelstrafen mindestens ein Jahr betragen muss (noch zu § 60 Abs. 8 AufenthG a.F.: BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 17/12 – NVwZ-RR 2013, 571 Rn. 12 ff.; VG München, U.v. 8.3.2022 – M 4 K 20.32787 – juris Rn. 18 ff.; Koch in Kluth/ Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 43. Ed. 31.10.2024, § 60 AufenthG Rn. 54, 56). § 60 Abs. 8b AufenthG ist nämlich schon im Ausgangspunkt restriktiv auszulegen, da die Norm die einschneidende Rechtsfolge des Widerrufs eines festgestellten Flüchtlings- oder subsidiären Schutzstatus rechtfertigen kann. Der Widerruf kann auch bei kriminellen Flüchtlingen nur als ultima ratio in Betracht kommen, was eine besondere Schwere der Strafbarkeit voraussetzt, die wiederum Anhaltspunkt für die Gefährdung der Allgemeinheit im Sinne des § 60 Abs. 8b AufenthG ist. Zudem ist die europa- und völkerrechtliche Überformung des § 60 Abs. 8b AufenthG durch Art. 14 Abs. 4 RL 2011/95/EU und Art. 33 Abs. 2 GFK zu beachten und die Norm entsprechend auszulegen. Art. 14 Abs. 4 RL 2011/95/EU spricht von einer Gefahr für die Allgemeinheit durch die Verurteilung wegen einer „besonders schweren Straftat“, Art. 33 Abs. 2 GFK von einem Verbrechen oder besonders schweren Vergehen. Beide Vorschriften fordern also eine qualifizierte Schwere der Strafbarkeit, bringen hierdurch erneut den ultima ratio-Charakter eines Widerrufs der internationalen Schutzberechtigung zum Ausdruck und streiten für eine restriktive Auslegung des Tatbestandes des § 60 Abs. 8b AufenthG (ausf. VG München, U.v. 8.3.2022 – M 4 K 20.32787 – juris Rn. 18 ff.). Wenn der Gesetzgeber auch Verurteilungen lediglich zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr ausreichen lassen will, wäre zunächst eine entsprechende Klarstellung im Gesetzestext vonnöten.
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cc) Schließlich hätte das Bundesamt, wollte man die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 8b Nr. 2 AufenthG entgegen des oben Gesagten als erfüllt betrachten, das ihm zustehende Ermessen im Rahmen des § 60 Abs. 8b Nr. 2 AufenthG, § 40 VwVfG („kann“) nicht korrekt ausgeübt. Es hat nämlich die wegen § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung zu berücksichtigenden positiven Entwicklungen im beruflichen und sozialen Verhalten des Klägers nicht berücksichtigt. Angesichts dessen, dass dieser mittlerweile in einem, wenn auch befristeten Arbeitsverhältnis steht, den Schweißer-Pass erworben hat, sich in der Bewährungszeit gut geführt hat, sich in der betreuten Wohngruppe gut integriert und dort beanstandungsfrei gelebt hat und nunmehr, nach Ende des betreuten Wohnens, eine eigene Wohnung in … bewohnt, hätte sich die Beklagte hiermit auseinandersetzen und im Einzelnen begründen müssen, weshalb sie den Kläger gleichwohl und nach wie vor für eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne des § 60 Abs. 8b Nr. 2 AufenthG hält.
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b) Mit der Rechtswidrigkeit von Ziffer 1. des Bescheides des Bundesamtes vom 24. Juli 2020 ist auch die Anfechtungsklage gegen Ziffer 2. erfolgreich, da bei einer Aufhebung der Ziffer 1. des Bescheides der durch den Bescheid des Bundesamtes vom 8. Juli 2016 in Ziffer 1. zuerkannte Flüchtlingsstatus wiederauflebt. Damit besteht für eine Entscheidung über den subsidiären Schutz kein Anlass mehr (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 1 AsylG: „oder“; VG Würzburg, U.v. 5.9.2022 – W 8 K 22.30383 – juris Rn. 43).
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
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Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.