Inhalt

FG Nürnberg, Gerichtsbescheid v. 13.01.2025 – 2 K 208/21
Titel:

Umsätze aus dem Verkauf von levitiertem Wasser dem ermäßigten Steuersatz

Normenketten:
MessEG § 42 Abs. 1
UStG § 12 Abs. 1
EichG § 1, § 6 Abs. 1, § 7 Abs. 1
RL 76/211/EWG Art. 2 Abs. 2
FGO § 52a, § 52d, § 135,
Leitsatz:
Das Eichrecht will verlässliche Angaben sicherstellen (vgl. BVerwG-Urteil vom 13.09.2007 – 3 C 12.06, BeckRS 2007, 27648; ähnlich Erwägungsgrund 2 der RL 76/211/EWG: „korrekte Verbraucherinformation“).  (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Umsatzsteuersonderprüfung, Finanzamt, Lieferung, Mehrwertsteuersystemrichtlinie, Offene Packung, Regelsteuersatz, Telefaxanschluß, Umsatzsteuer, Verkauf, Verbraucherschutz, Vorbehalt der Nachprüfung, Verkaufslokal, Abfüllung, Wasserwerk, Trinkwasser, Erheblichkeitsgrenze
Fundstelle:
BeckRS 2025, 8431

Tenor

1. Die Umsatzsteuerbescheide 2010 bis 2012 vom 11.12.2017 und die Einspruchsentscheidung vom 18.01.2021 werden aufgehoben.
2. Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1
Streitig ist, ob die Umsätze aus dem Verkauf von levitiertem Wasser dem ermäßigten Steuersatz unterliegen.
2
Der Kläger produzierte und verkaufte in den Streitjahren (2010 bis 2012) levitiertes Wasser, Essig und Öle. Er ermittelte seine Umsatzsteuer nach vereinbarten Entgelten. Für die Herstellung von levitiertem Wasser erwarb er Trinkwasser von einem Wasserwerk und bereitete dieses physikalisch auf. Das aufbereitete Wasser füllte er teilweise in Gegenwart der Kunden in seinem Verkaufslokal ab, teilweise auf Vorrat oder auf telefonische Vorbestellungen. Für die Vorratsabfüllungen und Vorbestellungen nutzte er Glasflaschen mit fünf Litern Fassungsvermögen, Schraubverschluss und Plastikdeckeln. Um Keimbildung zu vermeiden, befüllte der Kläger die Flaschen bis kurz unter den Rand. Gleichwohl war das Wasser nur beschränkt lagerfähig; es verfärbte sich nach einigen Wochen grün. Im Zeitpunkt der Abfüllung waren die Flaschen aufgrund der unmittelbar vorangegangenen Reinigung, das Wasser von der Aufbereitung noch warm. Um zu verhindern, dass infolge des Abkühlens die Deckel angesaugt würden, befand sich in diesen jeweils ein kleines Loch. Beim Kippen oder Umdrehen der Flasche entwich dadurch jeweils nur einmalig eine geringe Menge Wasser. Bei mehrmaligem Hin- und Herbewegen trat allerdings weiteres Wasser aus. Der Kläger verkaufte das levitierte Wasser für 0,50 €/Liter brutto.
3
In den am 04.02.2014 abgegebenen Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre ging der Kläger davon aus, dass die Lieferung von levitiertem Wasser dem ermäßigten Steuersatz unterliege und ermittelte für 2010 Umsatzsteuer von … €, für 2011 Umsatzsteuer von … € und für 2012 Umsatzsteuer von … €. Das Finanzamt stimmte den Erklärungen am 20.03.2014 zu.
4
Im Jahr 2017 führte der Beklagte (das Finanzamt) bei dem Kläger eine Umsatzsteuersonderprüfung durch. Aufgrund der Prüfung nahm das Finanzamt an, der Kläger habe in den Streitjahren monatlich dreißig vorabgefüllte Fünfliterflaschen levitiertes Wasser verkauft, und vertrat in rechtlicher Hinsicht die Auffassung, die Verkäufe unterlägen dem Regelsteuersatz. Am 11.12.2017 erließ es daher geänderte Umsatzsteuerbescheide, in denen es die Ausgangsumsätze zum ermäßigten Steuersatz in den Streitjahren jeweils um … € niedriger und die Ausgangsumsätze zum Regelsteuersatz jeweils um … € höher feststellte als erklärt und die Steuer entsprechend jeweils um … € heraufsetzte. Der Vorbehalt der Nachprüfung blieb jeweils bestehen.
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Dagegen legte der Kläger Einspruch ein. Zur Begründung führte er aus, die Lieferung des levitierten Wassers unterliege nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Anlage 2 Nr. 34 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) dem ermäßigten Steuersatz. Aufgrund des Loches im Deckel seien die von ihm verwendeten Flaschen keine Fertigverpackungen im Sinne der dortigen Rückausnahme. Dazu bezog er sich auf eine Stellungnahme des Bayerischen Landesamts für Maß und Gewicht vom 18.07.2017, wonach die Flaschen keine Fertigpackungen im Sinne von § 42 Abs. 1 des Mess- und Eichgesetzes (MessEG), sondern offene Packungen im Sinne von § 42 Abs. 2 Nr. 1 MessEG seien. Das Finanzamt holte daraufhin eine unverbindliche Zolltarifauskunft vom 03.09.2020 ein, wonach die Flaschen Fertigpackungen im vorgenannten Sinne seien, weil die Füllmenge ohne Öffnen des Verschlusses nicht sinnvoll verändert werden könne.
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Mit Einspruchsentscheidung vom 18.01.2021 wies das Finanzamt den Einspruch als unbegründet zurück. Der Sachverhalt unterscheide sich nicht wesentlich von dem Sachverhalt, der dem Urteil des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts vom 18.12.2013 – 4 K 91/11 (EFG 2014, 1439) zugrunde liege. Aus den dort genannten Gründen unterliege daher auch die Lieferung vorabgefüllten levitierten Wassers in den vom Kläger verwendeten Flaschen dem Regelsteuersatz. Die Einschätzung des Bayerischen Landesamts für Maß und Gewicht sei für die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung nicht bindend.
7
Mit der Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Zur Begründung verweist er im Wesentlichen zum einen auf sein Vorbringen im Einspruchsverfahren. Darüber hinaus macht er geltend, der Wortlaut des § 42 Abs. 1 MessEG sei mehrdeutig. Das „oder“ könne sowohl im Sinne des Finanzamts als „inklusives oder“ verstanden werden als auch als „exklusives oder“. Dem Schutz des Verbrauchers als Zweck des Gesetzes entspreche es, eine Fertigverpackung nicht mehr anzunehmen, sobald eines der beiden negativen Tatbestandsmerkmale vorliege, mithin von einem „exklusiven oder“ auszugehen.
8
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Umsatzsteuerbescheide 2010 bis 2012 vom 11.12.2017 und die Einspruchsentscheidung vom 18.01.2021 aufzuheben.
9
Das Finanzamt beantragt,
die Klage abzuweisen.
10
Zur Begründung verweist es insbesondere auf das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts in EFG 2014, 1439 und auf die unverbindliche Zolltarifauskunft. Entgegen der Auffassung der Kläger sei es für eine Fertigpackung nicht erforderlich, dass der Verbraucher erkennen könne, ob sie nach der Befüllung geöffnet worden sei.

Entscheidungsgründe

11
Die Klage ist begründet. Die angefochtenen Umsatzsteuerbescheide sind unrechtmäßig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung – FGO), soweit das Finanzamt die Lieferung des levitierten Wassers dem Regelsteuersatz nach § 12 Abs. 1 UStG unterworfen hat.
12
1. Die Umsatzsteuer beträgt nach § 12 Abs. 1 UStG für jeden steuerpflichtigen Umsatz 19% der Bemessungsgrundlage. Nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Nr. 34 der Anlage 2 zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG ermäßigt sich die Steuer auf 7% für die Lieferung von Wasser, ausgenommen Trinkwasser, einschließlich Quellwasser und Tafelwasser, das in zur Abgabe an den Verbraucher bestimmten Fertigpackungen in den Verkehr gebracht wird. Unionsrechtliche Grundlage dafür ist Anhang III Nr. 2 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL), wonach auf die Lieferung von Wasser ermäßigte Mehrwertsteuersätze angewandt werden können.
13
a) Der Begriff der Fertigpackung bestimmt sich für die Streitjahre nach § 6 Abs. 1 des Eichgesetzes (EichG; BFH-Urteil vom 24.08.2006 – V R 17/04, BFHE 215, 307, BStBl. II 2007, 146, unter II.b.). Fertigpackungen im Sinne dieses Gesetzes sind danach Erzeugnisse in Verpackungen beliebiger Art, die in Abwesenheit des Käufers abgepackt und verschlossen werden, wobei die Menge des darin enthaltenen Erzeugnisses ohne Öffnen oder merkliche Änderung der Verpackung nicht verändert werden kann. Die Nachfolgeregelung in § 42 Abs. 1 MessEG gilt erst ab 01.01.2015; aus ihr ergäbe sich aber keine Änderung in der Sache (Hollinger in Hollinger/Schade, MessEG, 1. Auflage 2015, § 42 Rn. 3; siehe auch BT-Drs. 17/12727, S. 48). Sowohl § 6 EichG als auch § 42 Abs. 1 MessEG beruhen unionsrechtlich auf Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie (RL) 76/211/EWG vom 21.02.1976 (ABl. L 46, 1). Als fertigverpackt gelten danach Erzeugnisse in Umschließungen beliebiger Art, die in Abwesenheit des Käufers abgefüllt und verschlossen werden, wobei die Menge des darin enthaltenen Erzeugnisses einen vorausbestimmten Wert besitzt und ohne Öffnen oder merkliche Änderung der Packung nicht verändert werden kann.
14
b) Veränderung der Menge im vorgenannten Sinne ist jede Veränderung, auch wenn sie nur geringfügig ist oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand bewirkt werden kann. Eine Erheblichkeitsgrenze oder ein Praktikabilitätsvorbehalt lassen sich dem Wortlaut des § 6 Abs. 1 EichG und des Art. 2 Abs. 2 .RL 76/211/EWG nicht entnehmen. Auch der Zusammenhang mit § 7 Abs. 1 EichG legt nahe, dass auch geringfügige Veränderungen ausreichen. § 7 Abs. 1 EichG geht ersichtlich davon aus, dass die Füllmenge nach der Herstellung, der Verbringung in den Geltungsbereich oder dem Inverkehrbringen grundsätzlich – ausgenommen das Öffnen und die merkliche Änderung der Verpackung – unverändert bleibt. Dies ist nicht gewährleistet, wenn auch ohne Öffnen oder merkliche Änderung der Verpackung allein durch unsachgemäße Behandlung oder aus reinem Zufall Flüssigkeit gegebenenfalls auch wiederholt entweichen kann. Geringfügige Veränderungen auszunehmen, widerspräche auch dem Zweck des Eichrechts (§ 1 EichG). Das Eichrecht will verlässliche Angaben sicherstellen (BVerwG-Urteil vom 13.09.2007 – 3 C 12.06, Rn. 16; ähnlich Erwägungsgrund 2 der RL 76/211/EWG: „korrekte Verbraucherinformation“). Diese Verlässlichkeit wäre nicht mehr gegeben, wenn auch auf anderen als den im Gesetz genannten Wegen Veränderungen möglich wären, zumal mehrere für sich genommen geringfügige Veränderung insgesamt zu einer nicht mehr geringfügigen Veränderung führen können, unabhängig davon, wo genau die Grenze der Geringfügigkeit liegt. Der Senat folgt daher nicht der Auffassung des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts in seinem Urteil in EFG 2014, 1439, wonach das Austreten von „einzelnen Wassertropfen“ der Einstufung als Fertigpackung nicht entgegensteht, solange keine nicht näher konkretisierte „größere Wassermenge“ entweicht.
15
c) Allein die Abpackung in Abwesenheit des Käufers begründet noch nicht die Eigenschaft als Fertigpackung. Zwar waren offene Packungen, die in Abwesenheit des Käufers abgefüllt werden, im EichG selbst nicht ausdrücklich erwähnt, anders als in § 42 Abs. 2 Nr. 1 MessEG. Sie waren aber namentlich in § 31a der Verordnung über Fertigpackungen alter Fassung vorausgesetzt.
16
2. Die vom Kläger verwendeten Flaschen sind nach diesen Grundsätzen auch bei Abfüllung in Abwesenheit des Käufers keine Fertigpackungen, sondern offene Packungen, weil die Menge des darin enthaltenen Wassers auch ohne Öffnen oder merkliche Veränderung der Flaschen verändert werden kann. Dass beim Kippen oder Umdrehen der Flaschen sichtbar Wasser austritt und auch mehrfach austreten kann, ist zwischen den Beteiligten unstrittig und wird zudem durch die Aktenvermerke über die Betriebsbesichtigung bestätigt. Welche Menge bei einmaligem Kippen oder Drehen genau austritt oder ob eine Wasserentnahme auf diese Weise für Verbrauchszwecke praktikabel ist, kann aus den vorgenannten Gründen dahingestellt bleiben. Es bedurfte daher insbesondere keiner Inaugenscheinnahme durch den Senat. Ob auch eine nicht ohne weiteres sichtbare Veränderung, z.B. durch Verdunstung, der Einordung als Fertigpackung entgegenstünde, muss der Senat nicht entscheiden.
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3. Der Senat lässt die Revision zu, weil er von dem Urteil des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts in EFG 2014, 1439 abweicht (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO).
18
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 FGO.