Titel:
Asyl, Türkei, Kurdin, Zwangsehe, Meldewesen
Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 1
AsylG § 3d
Schlagworte:
Asyl, Türkei, Kurdin, Zwangsehe, Meldewesen
Fundstelle:
BeckRS 2025, 8094
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
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Die Klägerin zu 1) ist eine am … … 1997 in H. geborene türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Kläger zu 2) ist ihr am … … 2015 in G. geborener Sohn, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger ist. Sie reisten am 23. Juni 2023 auf dem Landweg ins Bundesgebiet ein, nachdem sie die Türkei per Flugzeug verlassen hatten, und beantragten Asyl. Nach den Angaben der Klägerin zu 1) befinden sich auch mehrere ihrer Geschwister im Bundesgebiet.
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1. Bei ihrer Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 20. November 2023 gab die Klägerin zu 1) im Wesentlichen an, sie sei seit 2022 geschieden und habe das Sorgerecht für den Kläger zu 2). Ihr Ex-Mann sei in der Türkei wegen Diebstahls und Mordes für 28 Jahre im Gefängnis. Sie sei mit 15 Jahren zwangsverheiratet worden. Ihr Ehemann sei damals schon in illegale Sachen verwickelt gewesen. Nach zwei Jahren sei er verhaftet worden. Ihr Vater habe sie immer wieder gezwungen, ihn zu besuchen. Ihr Mann und ihr Vater hätten sie bedroht, als sie die Scheidung gewollt habe. Sie habe dann heimlich die Scheidung eingereicht und sei danach von den Brüdern ihres Ex-Mannes bedroht worden. Sie hätten auch gedroht, ihr den Sohn wegzunehmen. Sie habe auf der Straße schlafen müssen, der Vater habe sie erneut zwangsverheiraten wollen. In der Türkei gebe es keine Frauenrechte und sie sei Kurdin. Sie habe Angst um ihr Leben gehabt und mehrmals Suizid versucht. Ihr Bruder in Deutschland habe sie zur Flucht ermutigt. Ihr Sohn solle eine Chance auf Bildung haben. In der Türkei würde sie entweder zwangsverheiratet oder umgebracht werden. Ihr Vater und ihr Ex-Mann seien eine Gefahr für ihr Leben. Derzeit sei sie nicht suizidgefährdet und auch nicht in gesundheitlicher Behandlung. An einen Umzug in eine andere Großstadt in der Türkei habe sie nicht gedacht. Ihr Ex-Mann, dessen Brüder und ihr Vater würden sie überall finden und sie würde überall als Kurdin diskriminiert werden. Deswegen sei sie auch nie zur Polizei gegangen.
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Im Scheidungsurteil des Familiengerichts H. vom … … 2022 (streitige Scheidung aufgrund der Erschütterung der Grundlagen der ehelichen Lebensgemeinschaft) wird darauf hingewiesen, der Ex-Mann der Klägerin zu 1) sei 2015 aufgrund eines Terrorverbrechens inhaftiert worden. Ihre Eltern hätten sie gezwungen, ihn weiterhin zu besuchen, er habe ihr im Fall der Trennung mit dem Tod gedroht. Die Klägerin zu 1) habe zuletzt bei ihren Eltern gelebt, Sozialleistungen bezogen und Hilfstätigkeiten ausgeübt.
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Laut Bestätigung einer sozialpädagogischen Fachberatungsstelle für Betroffene von Gewalt im Namen der „Ehre“ vom … … 2025 über die Beratung der Klägerin zu 1) zeige diese viele traumaspezifische Symptome. Sie habe große Angst und sei bei Schilderung ihrer Erlebnisse mehrmals von Tränen überwältigt worden. Sie sei erstmals mit 15 Jahren in eine Ehe mit einem 11 Jahre älteren Mann gezwungen worden. Von diesem Mann sei sie als Minderjährige sexuell missbraucht und mit 17 Jahren schwanger geworden. Als dieser wegen Machenschaften beim IS inhaftiert worden sei, sei sie zu den Eltern gezogen. Der Vater habe sie geschlagen und gezwungen, sich weiter um ihren inhaftierten Zwangsmann zu kümmern. Sie habe dann heimlich die Scheidung bewirkt. Ihr Vater habe darauf gewalttätig reagiert und sie zu einer erneuten Heirat zwingen wollen. Der Bruder habe ihr dann die Flucht ermöglicht. Auch in Deutschland werde die Klägerin zu 1) unter Druck gesetzt, die Gesamtfamilie würde sich dem Willen des Vaters beugen. Dies sei in traditionell patriarchalen Familiensystemen verbreitet. Die Schilderungen seien glaubhaft und deckten sich mit den Erfahrungen aus der Beratungspraxis. Bei Rückkehr in die Türkei bestünde die massive Gefahr erneuter Zwangsheirat oder eines Ehrenmordes. Eine inländische Fluchtalternative scheitere an fehlenden Schutzstrukturen in der Türkei. In Deutschland gebe es hingegen angemessene Schutzstrukturen. Eine psychosoziale Stabilisierung der Klägerin zu 1) in Deutschland sei unerlässlich.
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Laut Schreiben vom 24. März 2025 leben die Kläger seit … … 2025 in einer Frauenschutz-Unterkunft.
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2. Mit Bescheid vom 5. November 2024, als Einschreiben am 7. November 2024 zur Post gegeben, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), auf Asylanerkennung (Ziffer 2) und auf subsidiären Schutz (Ziffer 3) ab. Ziffer 4 stellte fest, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen. Das Bundesamt forderte die Kläger unter Androhung der Abschiebung in die Türkei oder einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist, zur Ausreise binnen 30 Tagen nach Unanfechtbarkeit des Bescheids auf (Ziffer 5). Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 30 Monate befristet (Ziffer 6).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen angeführt, die Volksgruppe der Kurden sei in der Türkei keiner landesweiten Gruppenverfolgung ausgesetzt. Bzgl. einer Bedrohung durch den Ex-Mann und den Vater stehe staatlicher Schutz zur Verfügung. Ob die Gefahr überhaupt bestehe und unter welche Vorschrift sie zu subsumieren sei, könne daher offen bleiben. Ob der staatliche Schutz für Frauen in der Türkei zureichend sei, könne auf Basis der Erkenntnismittel nicht pauschal beantwortet werden. Es komme auf den Einzelfall an. Der Klägerin zu 1) habe bis zur 7. Klasse die Schule besucht, sich gegen den Willen ihres Vaters scheiden lassen und für ihren Sohn staatliche Sozialleistungen in der Türkei erwirkt. Es sei anzunehmen, dass sie solche Hilfe auch künftig in Anspruch nehmen könne. Bzgl. polizeilicher Hilfe sei die Lage der kurdischen Minderheit in der West-Türkei, insbesondere in Metropolen, außerdem besser als in ländlichen Regionen in der Ost-Türkei. Auch ein Abschiebungsverbot bestehe nicht. Die Kläger könnten sich durch Erwerbstätigkeit der Klägerin zu 1), Sozialleistungen und Unterstützung durch die Geschwister in Deutschland und in der Türkei ein hinreichendes Existenzminimum sichern und zudem Rückkehrprogramme in Anspruch nehmen. Zu ihrer psychischen Situation habe die Klägerin zu 1) keine Unterlagen übermittelt, obwohl sie auf die Möglichkeit hingewiesen worden sei. Die Abschiebungsandrohung stütze sich auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Es gebe insbesondere keine familiären Bindungen, die einer Abschiebung entgegenstünden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot sei auf 30 Monate befristet worden, nachdem es keine Anhaltspunkte gebe, die eine andere Fristlänge rechtfertigen würden.
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3. Dagegen ließen die Kläger am 22. November 2024 Klage erheben und sinngemäß beantragen,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 5. November 2024 zu verpflichten,
- 1.
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den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
- 2.
-
hilfsweise subsidiären Schutz zu gewähren,
- 3.
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hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote eingreifen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen darauf hingewiesen, die Klägerin zu 1) sei wegen der Bedrohung durch die Angehörigen ihres Ehemannes ausgereist, der wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 28 Jahren verurteilt wurde. Der türkische Staat sei offensichtlich nicht in der Lage, hiergegen Schutz zu gewähren. Die Klägerin zu 1) bräuchte ständigen Begleitschutz, den es nicht geben werde. Die Frage, ob die prinzipielle Schutzbereitschaft bestehe, könne daher dahinstehen. Auch die Beklagte habe betont, dass die Frage nach wirksamem staatlichem Schutz je nach Einzelfall beantwortet werden müsse. Hierzu sei zu ergänzen, dass der Ex-Mann der Klägerin zu 1) derselben Ideologie wie der Islamische Staat angehöre. Die Klägerin zu 1) sei sehr um ihren Sohn besorgt und psychisch belastet. In der Türkei müsste sie von äußerst schmalen, nicht ausreichenden Sozialleistungen leben. Es sei außerdem offen, ob die Klägerin zu 1) an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide.
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4. Die Beklagte beantragt,
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Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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5. Mit Beschluss vom 26. November 2024 hat die Kammer den Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte, die beigezogene Bundesamtsakte und das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage, über die der Einzelrichter gemäß § 102 Abs. 2 VwGO auch in Abwesenheit der ordnungsgemäß geladenen Beklagten verhandeln und entscheiden konnte, hat in der Sache keinen Erfolg. Der Bescheid erweist sich als rechtmäßig und verletzt die Kläger in der Folge nicht in ihren Rechten, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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1. Die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz bzw. grundgesetzliches Asyl sowie die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen, erweisen sich als rechtmäßig. Das Gericht folgt insoweit den Feststellungen und der Begründung im angefochtenen Bescheid und macht sich diese zu eigen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird von einer nochmaligen vollständigen Darstellung abgesehen (§ 77 Abs. 3 AsylG).
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Die Fluchtgründe, die die Klägerin im Verwaltungsverfahren und sodann vor Gericht geschildert hat, beziehen sich zum einen auf drohende Gewalt, bis hin zur Todesgefahr, und einen erneuten Zwang zur Heirat durch ihren Vater und ihren geschiedenen Mann bzw. die Familien (a), zum anderen auf Diskriminierungen wegen ihrer kurdischen Ethnie (b). Im Verwaltungsverfahren wurde zudem zu einer möglichen Posttraumatischen Belastungsstörung und einem einhergehenden Abschiebungsverbot vorgetragen (c).
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Gründe für die Zuerkennung internationalen Schutzes, eine Asylanerkennung oder ein Abschiebungsverbot (Ziffern 1-4 des Bescheids) ergeben sich daraus nicht. Dazu wird ergänzend das Folgende ausgeführt:
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a) Begründete Furcht vor Verfolgung bzw. ein ernsthafter Schaden folgen zunächst nicht aus dem Vortrag der Klägerin zu 1) zur drohenden Gewalt durch ihren Ex-Mann und ihren Vater bzw. die beiden Familien.
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Zwar hat die Klägerin zu 1) im Verwaltungsverfahren, gegenüber der sozialpädagogischen Beratungsstelle und im gerichtlichen Verfahren schlüssig und glaubhaft eine Bedrohungslage in Ş. geschildert, die sich aus einer drohenden erneuten Zwangsheirat bzw. aus Gewalt durch ihren Vater oder ihren geschiedenen Ehemann und die Familien ergibt.
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Auch bei einer angenommenen Vorverfolgung der Klägerin zu 1) i.S.d. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) infolge der inzwischen geschiedenen Zwangsehe sprechen hier aber stichhaltige Gründe dagegen, dass sie erneut von einem solchen Schaden bedroht werden wird.
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Zum einen steht den Klägern interner Schutz in der Türkei zur Verfügung (aa), zum anderen können türkische Behörden Schutz bieten (bb).
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aa) Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über die Zuerkennung internationalen Schutzes steht den Klägern interner Schutz nach §§ 3e Abs. 1 AsylG (i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG) zur Verfügung (vgl. BVerwG U. v. 19.1.2009 – 10 C 52.07 – juris Rn. 29). Eine landesweite, für die Zuerkennung internationalen Schutzes relevante Notlage, die den Klägern ein Leben in der Türkei unmöglich macht, ergibt sich aus dem Vortrag der Klägerin zu 1) nicht.
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Es ist schon fernliegend, dass der geschiedene Ehemann, der Vater bzw. die restlichen Familien nahezu zwei Jahre nach ihrer Ausreise erfahren werden, dass die Kläger in die Türkei zurückgekehrt sind, wenn sie nicht an ihren früheren Wohnsitz zurückkehren, sondern in eine andere Stadt ziehen. Ein Auffinden ist insbesondere deshalb nicht anzunehmen, weil zu erwarten ist, dass die Klägerin zu 1) ihr Umfeld bitten wird, ihren Aufenthaltsort innerhalb der Türkei zu verheimlichen bzw. diesen aus Vorsicht auch ihrem früheren Umfeld nicht bekanntgeben wird. Es kann daher bereits nicht angenommen werden, dass sich die in der mündlichen Verhandlung geäußerte Befürchtung der Klägerin zu 1) bewahrheiten wird, der Schulbesuch des Klägers zu 2) und eine einhergehende Anmeldung bei den türkischen Meldebehörden werde zu Versuchen der Adressabfrage durch ihre Familie oder den Ex-Mann und seine Familie führen.
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Selbst wenn diese solche Versuche unternehmen sollten, ist aber nicht ersichtlich, wie diese zum Erfolg führen könnten. Zwar gibt es in der Türkei das „Zentrale Melderegistersystem“ – MERNIS (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Türkei vom 18.10.2024, S. 311). Auf regulärem Weg können sich der Ex-Mann oder die Familie der Klägerin zu 1) aber keinen Zugriff zum türkischen Meldewesen verschaffen. Denn selbst die entsprechenden Behörden erhalten nur eingeschränkten Zugriff (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand: Januar 2024, S. 23; Bericht der Kommission vom 20.10.2014, COM(2014) 646 final, S. 5). Die Erteilung von Auskünften aus der türkischen landesweiten Adressdatenbank bzgl. Wohnort und weiteren Adressdaten hängt außerdem von der Zustimmung der eingetragenen Person ab (https://tuerkei.diplo.de/tr-de/service/1513872-1513872, abgerufen am 11.4.2025). Dies ergibt sich aus Art. 44 Abs. 3 des türkischen Gesetzes Nr. 5490 vom 25.04.2006 (deutsche Übersetzung unter https://av-saimincekas.com/de/kanunlar/5490-sayili-nufus-hizmetleri-kanunu/, abgerufen am 11.4.2025), der das Auskunftsrecht von Ehegatten und Eltern nach Art. 44 Abs. 1 Buchst. g dieses Gesetzes bzgl. Adressinformationen einschränkt. Selbiges gilt für den Kläger zu 2). Denn mit Scheidungsurteil vom 8. Dezember 2022 wurde der Klägerin zu 1) das alleinige Sorgerecht übertragen, sodass diese ihren Sohn allein vertritt. Mit dem türkischen Online-Adressregister-System kann eine Adresse außerdem nur verifiziert werden, wenn man diese bereits kennt. Eine isolierte Adressabfrage mit dem Namen der gesuchten Person scheidet auf dieser Grundlage aus (vgl. SFH, Länderanalyse v. 23.11.2021, S. 7).
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Weiter sieht Art. 4 des türkischen Gesetzes zum Schutz der Familie und zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen (Gesetz Nr. 6284, deutsche Übersetzung abrufbar unter https://av-saimincekas.com/de/kanunlar/6284-sayili-ailenin-korunmasi-ve-kadina-karsi-siddetin-onlenmesine-dair-kanun/) im Fall einer lebensbedrohlichen Gefahr die Möglichkeit zur Identitätsänderung durch richterliche Verfügung vor. Niedrigschwelliger ermöglicht Art. 8 Abs. 6 dieses Gesetzes, auf Antrag oder von Amts wegen den Eintrag von Vertraulichkeitsvermerken über Identitätsdaten der geschützten Personen inkl. Adressen in allen amtlichen Aufzeichnungen. Dies entspricht im Wesentlichen der Möglichkeit zur Eintragung von Sperrvermerken nach § 64 des deutschen Personenstandsgesetzes. Auch diese weiteren Vorsichtsmaßnahmen könnte die Klägerin zu 1) ergreifen und so die Möglichkeit, nach einem Umzug von ihrem Ex-Mann oder der Familie gefunden zu werden, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen.
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Die Kläger haben auch die Möglichkeit, sicher und legal in einen anderen Landesteil – etwa eine Stadt in der Westtürkei – zu reisen. Nach ihren persönlichen Verhältnissen kann vernünftigerweise erwartet werden, dass sie sich dort niederlassen. Die Klägerin zu 1) ist gesund und arbeitsfähig. Sie hat gegenüber dem Bundesamt angegeben, sie habe in der Vergangenheit Garten- und Putzarbeiten als Gelegenheitsarbeiten ausgeübt. In der mündlichen Verhandlung hat sie angegeben, sie habe für die Familie Arbeiten in der Landwirtschaft übernommen. Zudem hat sie gegenüber dem Bundesamt angegeben, sie habe bereits in der Vergangenheit für den Kläger zu 2) Sozialleistungen in der Türkei bezogen. Im Übrigen ist die Grundversorgung für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert. In der Türkei gibt es zwar keine mit dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. Sozialleistungen für Bedürftige werden jedoch über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität gewährt und von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardmlama ve Dayanima Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand: Januar 2024, S. 21; insgesamt hierzu BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 7.3.2024, S. 256 ff.). Ergänzend besteht für Rückkehrende aus Deutschland die Möglichkeit, Rückkehrhilfen in Anspruch zu nehmen (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand: Januar 2024, S. 21).
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bb) Selbst wenn man aber in einem nächsten Schritt – entgegen der Einschätzung des Einzelrichters – davon ausgehen sollte, dass es dem Ex-Mann und seiner Familie oder der Familie der Klägerin zu 1) gelingen könnte, eine illegale Meldeauskunft einzuholen oder den Aufenthaltsort der Kläger auf andere Weise zu ermitteln, stünde ihnen staatlicher Schutz in der Türkei nach § 3d Abs. 1 Nr. 1 AsylG (i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG) zur Verfügung.
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Trotz des Austritts der Türkei aus der Istanbul-Konvention ist nicht davon auszugehen, dass der türkische Staat generell nicht willens oder in der Lage wäre, von geschlechtsbezogener Gewalt betroffenen Frauen Schutz zu bieten (vgl. insgesamt: AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand: Januar 2024, S. 14 ff.; BFA, Länderinformationen v. 18.10.2024, S. 238 ff.). Nach § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG ist zum Ausschluss eines Schutzstatus schon die Einleitung geeigneter Schritte zur Verhinderung von Verfolgung ausreichend, wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat. Das Gesetz zum Schutz der Familie und zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen (Gesetz Nr. 6284) aus dem Jahr 2012 übernahm viele Aspekte der Istanbul-Konvention in das innerstaatliche Recht und bleibt trotz des Austritts der Türkei aus der Konvention in Kraft. Darüber hinaus ist die Türkei an andere internationale Menschenrechtsvorschriften gebunden, die sie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verpflichten. Nach dem Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention legten die türkischen Behörden ihren eigenen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vor. Auch wurden in den letzten 15 Jahren zahlreiche neue Gesetze und politische Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen verabschiedet. Das Gesetz verpflichtet die Polizei und die lokalen Behörden, Überlebenden von Gewalt oder von Gewalt bedrohten Personen verschiedene Schutz- und Unterstützungsleistungen zu gewähren. Zwar bestehen in fast allen Bereichen der Sozialpolitik, die mit Frauenrechten zu tun haben, noch erhebliche Umsetzungslücken, die weiterhin eine große Herausforderung darstellen. Es kommt immer wieder zu sog. „Ehrenmorden“ (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand: Januar 2024, S. 14). Das widerlegt aber nicht die Tatsache, dass der türkische Staat – trotz aller Umsetzungsdefizite und Herausforderungen – generell fähig und in der Lage ist, Frauen, die von Gewalt bedroht sind, wirksam zu schützen. Der Einzelrichter verkennt nicht, dass es sich dabei um keinen absoluten Schutz handelt. Jedoch erfüllt der aktuelle staatliche Rahmen das Mindestmaß, das zu einer Verweisung auf internen Schutz i.S.v. § 3d AsylG notwendig ist. Entgegen dem Vortrag des Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung geht der Einzelrichter auch nicht davon aus, dass die Bedrohungslage im Fall der Kläger derart gravierend ist, dass staatlicher Schutz in ihrem Einzelfall nicht in Betracht kommt, sodass § 3d AsylG ausnahmsweise nicht anwendbar wäre. Vielmehr sind die geschilderten Maßnahmen des türkischen Staates gerade auf stark gefährdete Personen ausgerichtet. Bzgl. der Gefährlichkeit des Ex-Mannes ist zudem einzustellen, dass sich dieser ausweislich des Vorbringens der Klägerin zu 1) auf absehbare Zeit weiterhin in Haft befinden wird. Umstände, die der Familie eine Suche nach den Klägern erleichtern könnten und die die Gefährdungslage derart erhöhen würden, dass staatlicher Schutz unzureichend wäre, sind nicht ersichtlich.
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Sowohl die staatliche Schutzmöglichkeit (§ 3d Abs. 1 Nr. 1 AsylG) als auch die interne Fluchtalternative (§ 3e Abs. 1 AsylG) stehen jeweils selbstständig der Gewährung internationalen Schutzes (ggf. i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG) entgegen.
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b) Auch aus ihrer kurdischen Ethnie folgt kein Schutzstatus der Kläger. Insofern ist festzuhalten, dass Diskriminierungen im Alltag, denen kurdische Volkszugehörige in der Türkei ausweislich der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ausgesetzt sein können, nicht das Maß einer Gruppenverfolgung i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG erreichen (SächsOVG, U.v. 6.3.2024 – 5 A 3/20.A – juris Ls. 1 und Rn. 41 ff. m.w.N.; AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand: Januar 2024, S. 10). Kurdische Volkszugehörige in der Türkei sind zwar mitunter diskriminierendem Verhalten im Alltag ausgesetzt. Daraus folgt derzeit und in überschaubarer Zukunft jedoch keine an ihre Volkszugehörigkeit anknüpfende gruppengerichtete Verfolgung. Es fehlt insoweit – auch wenn vereinzelt durchaus von schweren Gewalttaten i.S.v. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG berichtet wird – unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnismittel an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 – BVerfGE 83, 216 m.w.N.; BVerwG, B.v. 24.2.2015 – 1 B 31/14 – juris). Selbst wenn man in der Türkei beobachtete diskriminierende Verhaltensweisen gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG kumuliert betrachtet, ergibt sich daraus nicht, dass jedem kurdischen Volkszugehörigen in der Türkei einzig aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht.
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Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Angaben der Klägerin zu 1) zu ihrem individuellen Verfolgungsschicksal. Sie hat lediglich pauschal ausgeführt, das Leben in einer anderen Stadt in der Türkei als Kurdin sei ihr nicht möglich.
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c) Aus dem Gesundheitszustand der Klägerin zu 1) folgt außerdem kein Anspruch auf Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots hinsichtlich der Türkei gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG. Ärztliche Atteste bzgl. des Gesundheitszustands wurden nie vorgelegt, die Klägerin zu 1) hat im Verwaltungsverfahren angegeben, sie sei nicht in ärztlicher Behandlung. Eine Erkrankung, die einer Abschiebung entgegenstehen könnte, ist demzufolge nicht ersichtlich.
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2. Des Weiteren sind auch die Regelungen des Bescheids zur Abschiebungsandrohung und der Ausreisefrist (Ziffer 5 des Bescheids) rechtlich nicht zu beanstanden.
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3. Das in Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheids angeordnete und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot findet seine Rechtsgrundlage in § 11 Abs. 1 AufenthG, ist auch im Übrigen rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Ermessensfehler sind diesbezüglich weder vorgetragen noch ersichtlich.
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4. Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.