Titel:
Keine Wiedereinsetzung trotz unterbliebener gerichtlicher Weiterleitung eines Begründungsschriftsatzes
Normenketten:
VwGO § 60, § 146 Abs. 4 S. 1, § 173 S. 1
ZPO § 85 Abs. 2
BGB § 276 Abs. 2
Leitsatz:
Eine Wiedereinsetzung ist nicht dargelegt, wenn die Prozessbevollmächtigte die Rechtsmittelschrift absichtlich an das unzuständige Verwaltungsgericht (§ 146 Abs. 4 S. 2 VwGO) gesandt hat. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Wiedereinsetzungsantrag in die Frist zur Begründung der Beschwerde, unterbliebene gerichtliche Weiterleitung eines innerhalb der Frist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO beim Ausgangsgericht eingegangenen Begründungsschriftsatzes, unterbliebene Löschung eines stillgelegten EGVP-Postfachs durch Rechtsanwältin, Obliegenheitsverletzung, Wiedereinsetzung, Rechtsmittelschrift, Unzuständigkeit, EGVP-Postfach, Verschulden, Obliegenheit, Fürsorgepflicht, Abgabenachricht, Eingangsbestätigung
Vorinstanz:
VG Regensburg vom 28.08.2024 – RN 5 S 24.1904
Fundstellen:
BeckRS 2025, 803
NVwZ 2025, 693
LSK 2025, 803
NJW 2025, 911
Tenor
I. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Beschwerde (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Wiedereinsetzungsverfahrens.
Gründe
1
Mit Schriftsatz vom 12. August 2024 beantragten die Antragsteller im Wege vorläufigen Rechtsschutzes die aufschiebende Wirkung ihrer Klage vom selben Tag gegen eine Anordnung des Beklagten vom 18. März 2024, mit dem sie zur Vorlage eines Nachweises für eine Masernschutzimpfung für ihren Sohn, geb. 1. Oktober 2017, bis zum 21. April 2024 aufgefordert wurden. Die Anordnung des Beklagten enthielt keine Rechtsbehelfsbelehrung.
2
Mit Beschluss vom 28. August 2024, den Prozessbevollmächtigten der Antragsteller gegen Empfangsbekenntnis zugestellt am 29. August 2024, lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ab, weil es sich bei dem Schreiben nicht um einen Verwaltungsakt handele. Ihm fehle jedwede Regelungswirkung, eine Beeinträchtigung rechtlich geschützter Interessen der Antragsteller ergebe sich hieraus nicht.
3
Gegen den Beschluss ließen die Antragsteller mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten, der am 11. September 2024 beim Verwaltungsgericht einging, Beschwerde erheben, welche mit Post vom selben Tag dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vorgelegt wurde. Dort wurde das Verfahren am 16. September 2024 erfasst. Am 17. September 2024 erfolgte die Benachrichtigung der Beteiligten und des Ausgangsgerichts über den Eingang der Beschwerdeschrift unter Mitteilung des Aktenzeichens. Mit Schreiben vom 7. Oktober 2024 wies die Berichterstatterin die Prozessbevollmächtigte schriftlich darauf hin, dass die Frist zur Begründung der Beschwerde am 30. September 2024 abgelaufen sei und räumte Frist zur Rücknahme bis zum 14. Oktober 2024 ein. Am 16. Oktober 2024 verwarf der Senat die Beschwerde als unzulässig und stellte den Beschluss den Beteiligten gegen Empfangsbekenntnis zu.
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Mit Schreiben vom 20. November 2024 wurde dem Verwaltungsgerichtshof ein vom Verwaltungsgericht Regensburg weitergeleiteter Schriftsatz der Prozessbevollmächtigen vom 19. November 2024 vorgelegt, mit dem die Beschwerdebegründung ergänzt wurde. Auf telefonische Rückfrage der Berichterstatterin erklärte die Prozessbevollmächtigte, sie habe bislang keinerlei Nachricht über den Ein- oder Fortgang des Beschwerdeverfahrens beim Verwaltungsgerichtshof erhalten und habe deshalb den weiteren Schriftsatz vom 19. November 2024 ebenso wie schon den Schriftsatz mit der Beschwerdebegründung vom 19. September 2024 an das Verwaltungsgericht Regensburg zu dem dort bekannten Aktenzeichen gesandt.
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Die Geschäftsstelle des Verwaltungsgerichtshofs hat den Schriftverkehr in dem Beschwerdeverfahren an das im zentralen System hinterlegte Postfach der Prozessbevollmächtigten (govello-1216970128299-000110692) gesandt. Ein Empfangsbekenntnis zur Bestätigung der Zustellung des Beschlusses vom 14. Oktober 2024 liegt nicht vor.
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Auf Veranlassung der Berichterstatterin übersandte das VG Regensburg am 20. November 2024 die Beschwerdebegründung vom 19. September 2024, dort eingegangen am 23. September 2024, an den Verwaltungsgerichtshof. Dies wurde der Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom 21. November 2024 unter Übermittlung des Beschlusses vom 16. Oktober 2024 an das nunmehr bekannte BRAK-Postfach mitgeteilt.
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Mit Schreiben vom 22. November 2024 beantragte die Prozessbevollmächtigte Akteneinsicht und Wiedereinsetzung in die Beschwerdebegründungsfrist. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen seien weder das Schreiben des Verwaltungsgerichtshofs vom 7. Oktober 2024 noch eine Abgabenachricht des VG Regensburg der Prozessbevollmächtigten zur Kenntnis gelangt. Die Weiterleitung der Beschwerdebegründung an den Verwaltungsgerichtshof hätte zum Zugang der Beschwerdebegründung innerhalb offener Frist geführt.
8
Das Postfach „govello-1216970128299-000110692“ wurde mittlerweile gelöscht.
9
Mit Schriftsatz vom 19. Dezember 2024 teilte die Prozessbevollmächtigte mit, ihr sei vom Support-Team SAFE-JUSTIZ unter dem 20. Dezember mitgeteilt worden, dass das genannte Postfach nicht mehr im Adressbuch sei. Das EGVP-Postfach sei von ihr vor der Einführung des beA-Postfaches ausschließlich für die Kommunikation mit zwei Mahngerichten genutzt worden. Seit Einführung des beA sei das EGVP-Postfach gekündigt und ausschließlich über das beA-Postfach kommuniziert worden. Ein anlassloses Versenden an ein Postfach aufgrund eines fehlerhaften Datensatzes dürfe nicht zu ihren Lasten gehen. Für einen rechtswirksamen Zugang mangele es jedenfalls an der Möglichkeit zur Kenntnisnahme. Es gebe für das Postfach seit mehreren Jahren keine Zugangskarte mehr.
10
Mit Schriftsatz vom 20. Januar 2025 teilte die Prozessbevollmächtigte mit, dass keine Unterlagen mehr vorhanden seien, welche die Löschung des EGVP-Postfaches dokumentieren könnten. Mangels der Vorlage eines Empfangsbekenntnisses fehle es dem Beschluss vom 16. Oktober 2024 an einer rechtlich wirksamen Zustellung.
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Der zulässige Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Beschwerde (§ 60 VwGO) ist unbegründet und daher abzulehnen.
12
Das Vorliegen von Tatsachen, die den Wiedereinsetzungsgrund begründen, wird mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung schon nicht glaubhaft (§ 294 ZPO) gemacht (1.). Auch lag jedenfalls kein unverschuldetes Hindernis an der Einhaltung der gesetzlichen Frist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO vor (2.).
13
1.) Zur Glaubhaftmachung des Vorliegens eines Wiedereinsetzungsgrundes ist nach den Umständen des Einzelfalls nicht ausreichend, dass sich die Prozessbevollmächtigte der Antragsteller ohne nähere Schilderung des dem Fristversäumnis zugrundeliegenden Lebenssachverhalts ausschließlich darauf beruft, dass eine Weiterleitung der Beschwerdebegründung durch das Verwaltungsgericht pflichtwidrig unterblieben sei, diese aber im ordnungsgemäßen Geschäftsgang innerhalb offener Begründungsfrist beim Verwaltungsgerichtshof eingegangen wäre.
14
Zwar hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, B.v. 20.6.1995 – 1 BvR 166/93 – NJW 1995, 3173; B.v. 3.1.2001 – 1 BvR 2147/00 – NJW 2001, 1343) entschieden, dass der Rechtsmittelführer, der aufgrund eines auf die Zuständigkeit des Gerichts bezogenen Fehlers (Verwechslung, fehlende Kenntnis vom Adressaten des Rechtsmittelschriftsatzes) den Rechtsmittelschriftsatz beim unzuständigen Gericht einlegt, in der Regel insbesondere dann auf eine Weiterleitung im ordnungsgemäßen Geschäftsgang an das zuständige Gericht vertrauen darf, wenn es sich bei dem angegangen Gericht um das der ersten Instanz handelt, welches mit der Sache bereits befasst war und welchem deshalb die Weiterleitung einen überschaubaren Aufwand verursacht. Dem lag die Überlegung zugrunde, einen angemessenen Ausgleich zwischen der den Rechtsmittelführer treffenden Obliegenheit zur sorgfältigen Prozessführung (wozu auch die Adressierung von fristgebundenen Schriftsätzen an das jeweils zuständige Gericht gehört) und der gerichtlichen Pflicht zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens herzustellen, wobei das Bundesverfassungsgericht nicht davon ausging, dass dem angegangenen Gericht besondere Verpflichtungen obliegen, im Interesse des Rechtsmittelführers die Einhaltung der Rechtsmittelfristen z.B. durch entsprechende Information zu ermöglichen. Habe das unzuständige Gericht jedoch die Weiterleitung im ordnungsgemäßen Geschäftsgang unterlassen, obwohl ein fristwahrender Eingang beim zuständigen Gericht noch möglich gewesen sei und werde so die Frist versäumt, führe dies zu einem Anspruch auf Wiedereinsetzung in die versäumte Rechtsmittelfrist.
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Gemessen an diesen Grundsätzen wird mit dem Wiedereinsetzungsantrag nicht dargelegt, dass die Gewährleistung eines fairen Verfahrens die Weiterleitung der Beschwerdebegründung an den Verwaltungsgerichtshof geboten hätte, weil den Antragstellern bzw. ihrer Prozessbevollmächtigten bei der Auswahl des angegangenen Gerichts ein Fehler passiert wäre. Vielmehr spricht viel dafür, dass die Prozessbevollmächtigte die Rechtsmittelschrift absichtlich an das unzuständige Verwaltungsgericht (§ 146 Abs. 4 Satz 2 VwGO) gesandt hat, weil sie über keinerlei Korrespondenz (Eingangsbestätigung, Mitteilung des Aktenzeichens der Beschwerde) mit dem Verwaltungsgerichtshof zu dem anhängigen Beschwerdeverfahren verfügte und nach eigenem Vorbringen auch keine Abgabenachricht vom Verwaltungsgericht bekommen hatte. Die weitere Beschwerdebegründung reichte sie mit Schriftsatz vom 19. November 2024 wiederum beim Verwaltungsgericht ein. Zu diesem Zeitpunkt – rund zwei Monate nach Einlegung der Beschwerde – verfügte sie nach eigenem Bekunden über keine gerichtliche Benachrichtigung zum Fortgang des Beschwerdeverfahrens.
16
Das Verwaltungsgericht traf keine weitergehende nachwirkende Fürsorgepflicht gegenüber den Verfahrensbeteiligten. Denn mit Schreiben vom 17. September 2024 teilte der Verwaltungsgerichtshof den Beteiligten und dem Verwaltungsgericht mit, dass die Beschwerde eingegangen sei, unter dem Aktenzeichen 20 CS 24.1597 geführt werde und erbat weiteren Schriftverkehr zu diesem Aktenzeichen. Das Verwaltungsgericht durfte ab diesem Zeitpunkt davon ausgehen, dass die Antragsteller Kenntnis von dem Beschwerdeeingang beim Verwaltungsgerichtshof hatten und dass es sich bei der am 23. September 2024 übersandten Beschwerdebegründung um eine Doppelung handelte. Denn es ist nicht unüblich, dass Post im Rechtsmittelverfahren an das Ausgangs- und gleichzeitig an das Beschwerdegericht gesandt wird (vgl. BayVGH, B.v. 22.4.2004 – 26 ZB 03.3283 – BeckRS 2004, 30310). Auch ergab sich aus der zum Aktenzeichen des erstinstanzlichen Eilverfahrens übersandten Beschwerdebegründung keinerlei Hinweis darauf, dass die Antragsteller bislang weder eine Abgabenachricht vom Verwaltungsgericht noch eine Eingangsbestätigung vom Verwaltungsgerichtshof erhalten hatten, so dass sich dem Verwaltungsgericht aus den Gesamtumständen das Erfordernis einer Weiterleitung des Schriftsatzes an den Verwaltungsgerichtshof nicht aufdrängen musste.
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2.) Die Versäumung der gesetzlichen Frist zur Begründung der Beschwerde erfolgte jedenfalls nicht unverschuldet (§ 60 Abs. 1 VwGO), sondern unter Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 Abs. 2 BGB). Die Antragsteller müssen sich das Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigen nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO wie eigenes Verschulden zurechnen lassen.
18
Den gesamten gerichtlichen Schriftverkehr zwischen dem 17. September 2024 und dem 20. November 2024 erhielt die Prozessbevollmächtigte nicht zur Kenntnis, weil er in ein von der Prozessbevollmächtigten weiterbetriebenes, aber nicht mehr von ihr genutztes EGVP-Postfach gesandt wurde (vgl. Der Newsletter zum besonderen elektronischen Anwaltspostfach Ausgabe 43/2017 v. 26.10.2017 – „Hilfe, ich sehe mich im Verzeichnisdienst doppelt!“ https://www.brak.de/fileadmin/05_zur_rechtspolitik/newsletter/bea-newsletter/2017/ausgabe-43-2017-v-26102017.news.). Die Bundesrechtsanwaltskammer wies bereits im Jahr 2017 im Rahmen der Umstellung auf das besondere elektronische Anwaltspostfach darauf hin, dass sie nicht Betreiberin der EGVP-Postfächer sei und die Postfächer daher nicht selbst löschen könne, sondern dass der jeweilige Nutzer dies selbst veranlassen müsse (im Gegensatz zu dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach, § 31a Abs. 4 Satz 2 BRAO). Insoweit dürfte das Vorbringen der Prozessbevollmächtigten, es sei ihr Schriftverkehr „aus nicht nachvollziehbaren Gründen“ nicht zur Kenntnis gelangt, unzutreffend sein. Zum Zeitpunkt der Stellung des Wiedereinsetzungsantrags hatte sie bereits Kenntnis davon, dass gerichtliche Schreiben in ein elektronisches Postfach gelangt waren, auf das sie keinen Zugriff mehr hatte. Da die Prozessbevollmächtigte unter Außerachtlassung der im Rechtsverkehr erforderlichen Sorgfalt die Löschung ihres nicht mehr betriebenen EGVP-Postfaches unterließ und weiterhin Zustellungen im Rechtsverkehr dorthin ermöglichte, muss sie Zustellungen an das nicht mehr benutzte Postfach gegen sich gelten lassen.
19
3.) Ohne dass es für die Frage der Wiedereinsetzung darauf ankommt, ist es zwar zutreffend, dass der ablehnende Beschluss des Senats vom 16. Oktober 2024 der Prozessbevollmächtigten nicht förmlich zugestellt wurde, § 56 Abs. 1, 2 VwGO i.V.m. §§ 175 Abs. 1, 173 Abs. 2 ZPO, weil kein Empfangsbekenntnis beim Gericht einging. Jedoch ist gemäß § 56 Abs. 2 VwGO, § 189 ZPO der Zustellungsmangel geheilt worden, nachdem der Beschluss durch nochmalige formlose Übersendung über das beA-Postfach am 21. November 2024 der zustellungsbevollmächtigten Prozessbevollmächtigten tatsächlich zugegangen ist.
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4.) Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 3 VwGO.
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5.) Die Festsetzung eines Streitwertes ist nicht erforderlich. Für das Verfahren auf Wiedereinsetzung fallen mangels Gebührentatbestandes weder Gerichtsgebühren noch aufgrund des allgemeinen Tätigwerdens der Prozessbevollmächtigten allgemein im Verfahren (§ 15 Abs. 1 RVG) Rechtsanwaltsgebühren nach der Nr. 3100 des Vergütungsverzeichnisses zu § 2 Abs. 2 S. 1 RVG an (Werner Neumann/Nils Schaks in Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Auflage 2018, § 155 Rn. 71).
22
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1, 158 Abs. 1 VwGO).