Titel:
Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Übergang der Verantwortung für die Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge auf die Bundesrepublik, Deutschland (Verantwortungsübergang)
Normenketten:
AufenthG § 25 Abs. 2 S. 1 Alt. 1
AufenthG § 60 Abs. 1 S. 2, 3, Abs. 2 S. 2
AufenthG § 51 Abs. 7
AsylG § 73c
Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge
RL 2011/95/EU Art. 20 ff.
Genfer Flüchtlingskonvention
Schlagworte:
Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Übergang der Verantwortung für die Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge auf die Bundesrepublik, Deutschland (Verantwortungsübergang)
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 13.11.2023 – RO 9 K 22.143
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstelle:
BeckRS 2025, 800
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 13. November 2023 geändert, soweit die Klage im Übrigen abgewiesen worden ist. Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG zu erteilen. Der Bescheid des Landratsamtes Neumarkt i.d. Oberpfalz vom 23. Dezember 2021 wird aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht.
II. Der Beklagte trägt die Verfahrenskosten in beiden Instanzen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
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Der am ... 1995 geborene Kläger, äthiopischer Staatsangehöriger, begehrt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG.
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Er reiste nach eigenen Angaben am 25. Mai 2015 erstmalig in das Bundesgebiet ein. Da ihm in Italien internationaler Schutz gewährt worden war, wurde sein am 7. Juli 2015 im Bundesgebiet gestellter Asylantrag mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 22. Juni 2016 als unzulässig abgelehnt und u.a. die Abschiebung nach Italien angedroht. Die Abschiebungsandrohung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurden durch Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 7. Februar 2020 (Az. RO 2 K 19.31413) aufgehoben und die Klage im Übrigen abgewiesen (die Unzulässigkeitsentscheidung war nicht Gegenstand der Klage und daher bereits unanfechtbar geworden). Mit Bescheid vom 30. Oktober 2020 stellte das Bundesamt zugunsten des Klägers ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Italiens fest.
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Aufgrund dieser Entscheidung wurde dem Kläger, der seit 13. Januar 2021 im Besitz einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG war, auf seinen Antrag am 4. März 2021 eine Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 3 AufenthG mit Gültigkeit bis 12. Januar 2022 erteilt. Diese wurde auf Antrag vom 7. Dezember 2021 mit Gültigkeit bis 12. Januar 2023 verlängert.
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Der Kläger wurde mehrfach zur Erfüllung seiner Passpflicht aufgefordert, hat aber bislang weder einen Pass vorgelegt noch die Beantragung eines solchen bei der Auslandsvertretung seines Heimatstaates nachgewiesen.
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Mit Bescheid vom 23. Dezember 2021 lehnte das Landratsamt Neumarkt i.d. Oberpfalz den am 15. März 2021 und erneut durch den Bevollmächtigten am 19. April 2021 gestellten Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG (Ziffer 1 des Bescheides) sowie den unter dem 13. Januar 2021 gestellten Antrag des Klägers auf Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge (Ziffer 2) ab.
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Auf die hiergegen erhobene Klage wurde mit dem angegriffenen Urteil vom 13. November 2023 der Bescheid vom 23. Dezember 2021 aufgehoben, soweit der Antrag des Klägers auf Erteilung eines Reiseausweises für Flüchtlinge abgelehnt wurde, und der Beklagte verpflichtet, dem Kläger einen Reiseausweis zu erteilen. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe einen Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 Genfer Flüchtlingskonvention. Nachdem dem Kläger am 13. Januar 2021 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt worden sei, die in der Folge verlängert worden und auch derzeit noch gültig sei, sei nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 (EATRR, EÜÜVF) und damit nach Art. 5 Abs. 1 EÜÜVF auch die Zuständigkeit für die Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge (jedenfalls) mit Ablauf des 13. Januar 2023 auf Deutschland übergangen. Daneben ergebe sich die Zuständigkeit des Beklagten für die Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge auch aus Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 EÜÜVF, da unter Zugrundelegung dieser Vorschriften die Zuständigkeit für die Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge bereits mit Ablauf des 15. April 2020 auf Deutschland übergangen sei. Der dem Kläger durch Italien als Erststaat ausgestellte Flüchtlingsausweis sei bis zum 15. Oktober 2019 gültig gewesen. Ein entsprechendes Rückübernahmeersuchen sei innerhalb der erforderlichen Frist nicht gestellt worden, da in der Person des Klägers Abschiebungsverbote hinsichtlich Italien festgestellt worden seien. Es bestehe allerdings kein Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG. Die Voraussetzungen der Norm seien nicht erfüllt. Eine planwidrige Regelungslücke liege nicht vor. Eine dieser Auffassung entgegenstehende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sei nicht ersichtlich.
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Gegen die Klageabweisung im Übrigen wendet sich der Kläger mit seiner vom Senat wegen ernstlicher Zweifel (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zugelassenen Berufung und beantragt sinngemäß:
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Unter entsprechender Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 13. November 2023 in den Ziffern I., III. bis V. sowie der Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 23. Dezember 2021 wird der Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG, hilfsweise gem. § 25 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG analog zu erteilen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.
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Mit Schriftsätzen vom 12. Dezember 2024 und 14. Januar 2025 haben die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Über die Berufung konnte ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten ihr Einverständnis hiermit erklärt haben (§§ 101 Abs. 2, 125 Abs. 1 VwGO).
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Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu Unrecht abgewiesen. Der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG, weshalb die Ablehnung des klägerischen Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit Bescheid des Beklagten vom 23. Dezember 2021 rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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1. Da dem Kläger nicht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, sondern die italienischen Behörden die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt haben, erfüllt der Kläger die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG nicht. Zudem sind auch die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung der Anspruchsnorm nicht gegeben. Es fehlt insoweit an einer planwidrigen Regelungslücke, da der Gesetzgeber die Fälle von sich im Bundesgebiet aufhaltenden und außerhalb des Bundesgebiets als Flüchtling i.S.d. Genfer Flüchtlingskonvention anerkannten Ausländern erkannt und dahingehend geregelt hat, dass diese gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 AufenthG nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden dürfen.
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2. Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG bei unionsrechtskonformer Auslegung der Norm (zur unionsrechtskonformen Auslegung des § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG BVerwG, B.v. 2.8.2017 – 1 C 2.17 – juris Rn. 25; VG Schleswig, U.v. 3.6.2020 – 11 A 45/19 – juris Rn. 30; zur erweiternden Auslegung VG Gießen, U.v. 19.8.2021 – 6 K 5451/18.GI.A – juris Rn. 27; zur analogen Auslegung VG Wiesbaden, U.v. 15.10.2021 – 4 K 810/21.WI – juris Rn. 29; wohl auch OVG RhPf, B.v. 18.8.2022 – 13 A 10044/21.OVG – juris Rn. 20; zur unmittelbaren Anwendung VG Hannover, U.v. 1.3.2022 – 5 A 1392/21 – juris Rn. 26; a.A. Ziffer III.3.3. der Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zum Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge <Nr. 51.7.2 AVV-AufenthG>).
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Wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, müssen ihm die Rechte und Vorteile gewährt werden, die sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention und Art. 20 ff. RL 2011/95/EU ergeben. Die Genfer Flüchtlingskonvention will den Flüchtlingen zu einer neuen Heimat verhelfen und verleiht eine Rechtsstellung, die der Vorbereitung ihrer Eingliederung und Einbürgerung in den aufnehmenden Staatsverband dient. Dem entspricht ihre Ausgestaltung als ein im Wesentlichen nationaler, nicht hingegen in allen Konventionsstaaten wirksamer internationaler Flüchtlingsstatus (BVerwG, U.v. 29.4.1971 – 1 C 42.67 – juris Rn. 15; U.v. 17.6.2014 – 10 C 7.13 – juris Rn. 29; U.v. 30.3.2021 – 1 C 41.20 – juris Rn. 32). Eine völkerrechtliche Bindung eines Vertragsstaats an die Anerkennungsentscheidung eines anderen Konventionsstaates sieht die Genfer Flüchtlingskonvention nicht vor (BVerfG, B.v. 14.11.1979 – 1 BvR 654/79 – juris Rn. 22). Eine solche Bindungswirkung ergibt sich auch nicht aus dem Unionsrecht (BVerwG, U.v. 17.6.2014 – 10 C 7.13 – juris Rn. 29; U.v. 30.3.2021 – 1 C 41.20 – juris Rn. 32; Dörig in Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Ed. 2016, Art. 1 RL 2011/95/EU Rn. 2). Die Bundesrepublik Deutschland hat aber von der nach Völker- und Unionsrecht fortbestehenden Möglichkeit Gebrauch gemacht, durch eine nationale Regelung den Anerkennungsentscheidungen anderer Staaten in begrenztem Umfang Rechtswirkungen auch im eigenen Land beizumessen (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AufenthG; BVerwG, U.v. 17.6.2014 – 10 C 7.13 – juris Rn. 29; U.v. 30.3.2021 – 1 C 41.20 – juris Rn. 32).
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Zwar besteht grundsätzlich kein Anspruch auf eine neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 2 AufenthG) oder eine hieran anknüpfende Erteilung eines Aufenthaltstitels in Deutschland (BVerwG, U.v. 17.6.2014 – 10 C 7.13 – juris Rn. 29). Ein in einem anderen Mitgliedstaat anerkannter Flüchtling kann aber auch ohne Durchführung eines weiteren Asylverfahrens in Deutschland in den vollen Genuss der mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte kommen und verbleibt nicht dauerhaft in dem Status eines nur geduldeten Ausländers unter Ausschluss der einem anerkannten Flüchtling zustehenden Aufenthalts- und Teilhaberechte. Da auf einen in einem anderen Mitgliedstaat anerkannten Flüchtling Art. 2 des – von Deutschland ratifizierten (BGBl. 1994 II 2645) – Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 Anwendung findet, ist dies spätestens dann der Fall, wenn die Verantwortung für einen Flüchtling nach Ablauf von zwei Jahren des tatsächlichen und dauernden Aufenthalts im Bundesgebiet auf Deutschland übergeht (BVerwG, B.v. 2.8.2017 – 1 C 2.17 – juris Rn. 24), wobei dieser Aufenthalt – wie im vorliegenden Fall – von den deutschen Behörden „gestattet“ worden sein muss. Mit dem Übergang der Verantwortung für die Ausstellung des Reiseausweises geht nämlich auch die Verantwortung für den Flüchtling selbst von dem Staat, der diesem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, auf den Staat, in dem sich der Flüchtling rechtmäßig niedergelassen hat, dergestalt über, dass die statusrechtliche Zuerkennungsentscheidung jenes Staates auch in diesem Staat Geltung beansprucht (BT-Drs. 13/4948 S. 11; BVerwG, U.v. 30.3.2021 – 1 C 41.20 – juris Rn. 32).
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Unter „in den vollen Genuss der mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte“ (BVerwG, B.v. 2.8.2017 – 1 C 2.17 – juris Rn. 24) kann nach Auffassung des Senats nur der automatische Zugang zu allen einem anerkannten Flüchtling in Art. 20 ff. RL 2011/95/EU gewährten Rechten, folglich auch die Ausstellung eines Aufenthaltstitels i.S.d. Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2011/95/EU, der mindestens drei Jahre gültig und verlängerbar sein muss, verstanden werden.
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Da ein Verantwortungsübergang (vgl. Legaldefinition des § 73c Abs. 1 Satz 1 AsylG) vorliegend stattgefunden hat (der Beklagte hat die diesbezügliche Auffassung des Verwaltungsgerichts hinsichtlich eines Verantwortungsübergangs nach Art. 2 Abs. 1 beziehungsweise Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge nicht mit einem Rechtsmittel angegriffen), kann dahinstehen, ob ein Flüchtling auch schon vorher, d.h. vor einem Verantwortungsübergang, in den vollen Genuss der mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte kommen kann oder die derzeitige Rechtslage (insbesondere § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) nicht zu beanstanden ist.
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Soweit der Beklagte die Auffassung vertritt, der EuGH habe in seinem Beschluss vom 13. November 2019 (C-540/17 und C-541/17 – juris Rn. 42) die deutsche Rechtslage nicht beanstandet, wonach im Normalfall (keine ernsthafte Gefahr, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Erststaat ausgesetzt zu werden), ein erneutes Asylverfahren unzulässig sei und ohne erneutes Asylverfahren die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung der damit verbundenen Rechte nicht vorgesehen sei, kann dieser nicht gefolgt werden. Eine Aussage für den Fall des Verantwortungsübergangs lässt sich dem Beschluss nicht entnehmen.
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Soweit der Beklagte zudem der Auffassung ist, das Bundesverwaltungsgericht habe in seiner (späteren) Entscheidung vom 30. März 2021 (Az. 1 C 41.20 – juris Rn. 32) ausdrücklich bestätigt, dass auch nach dem Übergang der Verantwortung für den Flüchtling nach dem Europäischen Übereinkommen nur ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung gem. § 60 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AufenthG bestehe, kann der Senat dies der zitierten Textstelle nicht entnehmen. Das Bundesverwaltungsgericht stellt darin vielmehr lediglich fest, dass nach dem Übergang der Verantwortung für die Ausstellung des Reiseausweises gem. § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG kein Anspruch auf neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bestehe, und führt (wie bereits oben dargelegt) aus, dass mit dem Übergang der Verantwortung für die Ausstellung des Reiseausweises auch die Verantwortung für den Flüchtling selbst von dem Staat, der diesem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, auf den Staat, in dem sich der Flüchtling rechtmäßig niedergelassen hat, dergestalt übergeht, dass die statusrechtliche Zuerkennungsentscheidung jenes Staates auch in diesem Staat Geltung beansprucht.
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Dass auch der deutsche Gesetzgeber davon ausgeht, dass nach einem Verantwortungsübergang der Flüchtling in den vollen Genuss der mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte kommt, lässt sich sowohl aus der Gesetzesbegründung zu § 73a AsylG a.F. (nunmehr § 73c AsylG) entnehmen, wonach im Falle des Verantwortungsübergangs die Anerkennungsentscheidung des ausländischen Staates auch in der Bundesrepublik Deutschland „gilt“ (BT-Drs. 13/4948 S. 11 zu § 73a AsylG a.F.; vgl. auch Fränkel in Hofmann, AuslR, 3. Aufl. 2023, AufenthG § 25 Rn. 17), als auch aus der Norm des § 73c Abs. 2 Satz 1 AsylG, durch den eine weitgehende Gleichbehandlung inländischer und ausländischer Entscheidungen über die Flüchtlingsanerkennung erreicht werden sollte (BT-Drs. 16/5065 S. 220 zu § 73a AsylG a.F.), selbst herleiten. Gem. § 73c Abs. 2 Satz 1 AsylG wird dem Ausländer im Falle des Verantwortungsübergangs auf die Bundesrepublik Deutschland durch das Bundesamt die Rechtsstellung als Flüchtling in der Bundesrepublik Deutschland entzogen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht oder nicht mehr vorliegen. Wenn doch die Genfer Flüchtlingskonvention Flüchtlingen einen im Wesentlichen nationalen, nicht hingegen einen in allen Konventionsstaaten wirksamen internationalen Flüchtlingsstatus verleiht und ein Staat an die Zuerkennungsentscheidung eines anderen Staates weder völkerrechtlich noch unionsrechtlich gebunden ist, ergibt die Regelung in § 73c Abs. 2 Satz 1 AsylG nach Auffassung des Senats nur dann Sinn, wenn die Anerkennungsentscheidung mit dem Verantwortungsübergang für die Bundesrepublik umfassende Geltung beansprucht.
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Auch aus dem Erläuternden Bericht zum Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, wonach aus Art. 5 des Übereinkommens, auch wenn sich dieser lediglich auf den Übergang der Verantwortung für die Ausstellung eines Reiseausweises beziehe, „implizit [folgt], dass der Zweitstaat dem Flüchtling nach dem Übergang die Rechte und Vorteile gewähren muss, die sich aus der Genfer Konvention ergeben“ (BT-Drs. 12/6852 S. 21 Rn. 31), ergibt sich dieses Verständnis (vgl. auch VG Düsseldorf, U.v. 26.5.2020 – 22 K 17460/17.A – juris Rn. 158 ff.).
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Auch § 51 Abs. 7 AufenthG, der den umgekehrten Fall eines Verantwortungsüberganges von Deutschland auf einen anderen Konventionsstaat betrifft und insoweit regelt, dass nach Verantwortungsübergang auf einen anderen Staat kein Anspruch auf erneute Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland mehr besteht, deutet in diese Richtung. Der Gesetzgeber ist insoweit offenbar davon ausgegangen, dass der Flüchtling in dem Zweitstaat nach dem Verantwortungsübergang die vollen Rechte als Flüchtling erlangt, die ihm nach der Genfer Flüchtlingskonvention und – im Falle der Weiterwanderung in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union – nach der Qualifikationsrichtlinie zustehen (vgl. VG Wiesbaden, U.v. 15.10.2021 – 4 K 810/21.WI – juris Rn. 34).
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Soweit das Verwaltungsgericht ausführt, die Schlussanträge des Generalanwalts Jean Richard de la Tour vom 19. Oktober 2023 in dem Vorabentscheidungsverfahren C-352/22 sprächen gegen eine Bindung an die Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen Mitgliedstaat mit den entsprechenden aufenthaltsrechtlichen Folgerungen, vermag der Senat aus den Ausführungen des Generalanwalts nichts für hiesigen Fall herzuleiten. Es ist bereits nicht ersichtlich, dass in dem dem Vorabentscheidungsverfahren zugrundeliegenden Fall ein Verantwortungsübergang stattgefunden hätte. Weder ist dargelegt, dass ein Fall des Art. 2 Abs. 1 Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vorliegt, noch sind die Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 3 Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge erfüllt. Vielmehr ist der dortige Flüchtling im Besitz eines von den italienischen Behörden ausgestellten und bis zum 25. Juni 2030 gültigen Flüchtlingsausweises (OLG Hamm, B.v. 19.5.2022 – III-2 Ausl 180/20 – juris Rn. 1). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem mittlerweile ergangenen Urteil des EuGH vom 18. Juni 2024 (C-352/22 – juris).
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Die Passlosigkeit des Klägers steht der Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis gem. § 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht entgegen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.
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4. Die Revision war zuzulassen, weil die Rechtssache hinsichtlich der Frage, ob einem Flüchtling im Falle eines Übergangs der Verantwortung für die Ausstellung des Reiseausweises für Flüchtlinge auf die Bundesrepublik Deutschland ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG zusteht, grundsätzliche Bedeutung hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).