Titel:
Zurückweisung, Angabe des Zielstaats der Zurückweisung
Normenkette:
AufenthG § 15
Schlagworte:
Zurückweisung, Angabe des Zielstaats der Zurückweisung
Rechtsmittelinstanzen:
VG München, Beschluss vom 23.01.2025 – M 12 V 25.440
VGH München, Beschluss vom 24.01.2025 – 10 CE 25.105, 10 C 25.160, 10 C 25.161
Fundstelle:
BeckRS 2025, 787
Tenor
I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, die Überstellung der Antragstellerin in einen anderen Staat bis zu einer vollziehbaren Bestimmung des Zielstaats der Zurückweisung auszusetzen. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 1.250 € festgesetzt.
Gründe
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Die am … … 1992 geborene Antragstellerin ist vietnamesische Staatsangehörige und wurde am … November 2024 als Reisende in einem Flixbus am Grenzübergang W* … einer grenzpolizeilichen Einreisekontrolle unterzogen. Dabei wies sich die Antragstellerin mit einem gültigen vietnamesischen Reisepass und einem seit 24. Februar 2017 abgelaufenen französischen Visum der Kategorie C aus. Zur Einreise berechtigende Dokumente konnte die Antragstellerin nicht vorweisen.
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Im Rahmen der Beschuldigtenvernehmung am 13. November 2024 erklärte die Antragstellerin im Wesentlichen, sie habe keinen Wohnsitz. Sie sei bis zur 9. Klasse in die Schule gegangen und arbeite überall als Aushilfe. Sie verdiene zwischen 800 und 1000 EUR monatlich und sei ledig. In Vietnam sei das Leben hart gewesen. Deswegen habe sie hierher kommen wollen, um etwas Geld zu verdienen. Sie sei im Jahr 2017 nach Frankreich eingereist, reise seitdem umher und arbeite, am meisten in Deutschland. Sie sei seit 2017 im Gebiet der Schengenstaaten unerlaubt aufhältig. Sie sei vor zwei Monaten in Hamburg einer polizeilichen Kontrolle unterzogen worden und habe aus Angst, abgeschoben zu werden, angegeben, minderjährig zu sein. Sie habe in Hamburg schwarz als Reinigungskraft gearbeitet. Sie habe keine Familienangehörigen in Deutschland, wolle aber nicht freiwillig nach Vietnam zurückkehren. Dort sei sie sehr unglücklich und arm gewesen.
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Am 13. November 2024 wurde die Antragstellerin zur Einreiseverweigerung angehört; sie solle am 14. November 2024 auf dem Luftweg nach Vietnam zurückgeführt werden. Die Antragstellerin erklärte, sie wolle nicht nach Vietnam zurückkehren, sie habe dort keine Zukunft. Es herrsche Armut und sie könne dort nicht überleben. Sie werde verhungern. In dem Dorf, wo sie gelebt habe, gebe es keine Arbeit. Sie wolle in Deutschland bleiben.
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Mit Bescheid vom 13. November 2024 wurde die Einreiseverweigerung gemäß Art. 14 Schengener Grenzkodex (SGK) i.V.m. § 15 AufenthG verfügt. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Antragstellerin sei ohne gültiges Visum oder gültigen Aufenthaltstitel, habe sich bereits 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen im Gebiet der Schengenstaaten aufgehalten und stelle eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines oder mehrerer Schengenstaaten dar. Die von der Antragstellerin vorgetragenen Gründe für die Reise nach Deutschland machten ein Absehen von der Einreiseverweigerung nicht erforderlich. Sonstige Rückführungshindernisse im Sinne von § 15 Abs. 4 i.V.m. § 60 Abs. 1-3, 5 und 7-9 AufenthG, die einer Zurückweisung entgegenstehen, seien nicht geltend gemacht worden und nicht ersichtlich.
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Mit Schriftsatz vom *. Dezember 2024 hat der Bevollmächtigte der Antragstellerin beim Bayerischen Verwaltungsgericht München beantragt,
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im Wege der einstweiligen Anordnung die Antragsgegnerin zu verpflichten, vorläufig von der Abschiebung der Antragstellerin abzusehen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Antragstellerin stelle nicht infrage, dass sie kraft Gesetzes infolge ihrer unerlaubten Einreise vollziehbar ausreisepflichtig sei. Nur gebe es keine nach Art. 6 Rückführungsrichtlinie nötige Rückkehrentscheidung. Es gebe zwar die Einreiseverweigerung nach Art. 14 SGK, die auch ohne Weiteres vollziehbar sei. Eine Einreiseverweigerung sei aber nie eine Rückkehrentscheidung. Dies liege schon daran, dass eine Einreiseverweigerung bei einer Einreise gegen den Ausländer ausgesprochen werde, also die Einreise erst gar nicht erlaubt werde. Eine Rückkehrentscheidung ergehe aber stets, wie schon der Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie zeige, gegen einen illegal aufhältigen Ausländer.
Es gebe zudem auch keine Befristungsentscheidung.
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Die Antragsgegnerin hat mit Schriftsatz vom 12. Dezember 2024 beantragt,
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Mit Schriftsatz vom … Dezember 2024 hat der Bevollmächtigte der Antragstellerin auf die Entscheidung des EuGH vom 21. September 2024 (C-143/22) verwiesen, wonach auch bei Zurückweisungsentscheidungen die Rückführungsrichtlinie anzuwenden sei, womit es sowohl einer Rückkehrentscheidung als auch vor Abschiebung einer Befristungsentscheidung bedürfe, die beide unstreitig nicht ergangen seien.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
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Vor dem Hintergrund, dass eine Abschiebung der Antragstellerin deren vorherige Einreise in das Bundesgebiet voraussetzen würde, die vorliegend nicht erfolgt ist, legt das Gericht den Antrag gem. §§ 122, 88 VwGO vor dem Hintergrund der Antragsbegründung dahingehend aus, dass die Antragstellerin die Verpflichtung der Antragsgegnerin begehrt, die Überstellung in einen anderen Staat auszusetzen, bis diese eine Rückkehr- und Befristungsentscheidung getroffen hat.
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Der so verstandene Antrag ist zulässig und im tenorierten Umfang begründet.
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden, drohende Gewalt zu verhindern oder wenn andere Gründe vorliegen. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung -ZPO.
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Die Antragstellerin hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, da die Antragsgegnerin ihre Überstellung nach Vietnam betreibt. Sie hat auch einen Anordnungsanspruch insoweit glaubhaft gemacht, als die Überstellung der Antragstellerin in einen anderen Staat bis zur vollziehbaren Bestimmung des Zielstaats der Zurückweisung auszusetzen ist.
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Aufgrund ihres Versuchs, am … November 2024 – ohne im Besitz eines für die Einreise und den Aufenthalt in der Bundesrepublik erforderlichen Aufenthaltstitels zu sein und somit unerlaubt nach § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG – in das Bundesgebiet einzureisen, wurde der Antragstellerin mit dem mittlerweile bestandskräftigen Bescheid vom 13. November 2024 gem. § 15 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 14 SGK die Einreise in das Bundesgebiet verweigert.
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Bestandteil der Zurückweisung nach § 15 AufenthG ist neben der Einreiseverweigerung allerdings auch, das Zurückweisungsziel festzulegen (Dollinger in BeckOK AuslR, Stand: 1.7.2020, § 15 AufenthG, Vorbemerkung; Nr. 15.0.5 AVwVAufenthG). Die Auswahl des Zielstaats der Zurückweisung steht dabei im pflichtgemäßen Ermessen der Grenzpolizei (Dollinger in BeckOK AuslR, Stand: 1.7.2020, § 15 AufenthG Rn. 6). Das Ziel der Zurückweisung ist dem Ausländer bekannt zu machen. Das heißt, dem Ausländer ist der Zielstaat der Zurückweisung konkret zu benennen (Dollinger in BeckOK AuslR, Stand: 1.7.2020, § 15 AufenthG Rn. 35). Die eindeutige Bestimmung des Zielstaats der Zurückweisung ist vor dem Hintergrund, dass gem. § 15 Abs. 4 Satz 1 AufenthG die sich aus § 60 Abs. 1 bis 3, 5 und 7 bis 9 AufenthG ergebenden Abschiebungsverbote entsprechend anzuwenden sind, wesentlich. Diese Zurückweisungshindernisse sind nämlich in Bezug auf den aufnahmebereiten Zielstaat, in den die Zurückweisung erfolgen soll, zu prüfen. Auch gegen die Zielstaatsbestimmung der Zurückweisung steht dem Ausländer der Rechtsweg offen.
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Dass eine derartige Zielsstaatsbestimmung notwendig ist, wird im Übrigen auch durch die Rechtsprechung des EuGH (U.v. 21.9.2023 – C-143/22 – juris) gestützt. Demnach kann ein Mitgliedstaat, der Kontrollen an seinen Binnengrenzen wiedereingeführt hat, gegenüber einem Drittstaatsangehörigen, der ohne gültigen Aufenthaltstitel an einer zugelassenen Grenzübergangsstelle, an der solche Kontrollen durchgeführt werden, abgefangen wurde, zwar Art. 14 SGK sowie Anhang V Teil A Nr. 1 dieses Kodex entsprechend anwenden. Sofern diese Grenzübergangsstelle in seinem Hoheitsgebiet liegt, hat der betreffende Mitgliedstaat aber gleichwohl darauf zu achten, dass die Folgen einer entsprechenden Anwendung nicht zu einem Verstoß gegen die in der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Rückführungsrichtlinie) vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren führen. Zu den einschlägigen Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie weist der EuGH darauf hin, dass nach Art. 6 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie gegenüber jedem illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung ergehen muss, in der unter den in Art. 3 Nr. 3 Rückführungsrichtlinie genannten Drittländern dasjenige anzugeben ist, in das der Drittstaatsangehörige abzuschieben ist.
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Auch wenn es sich entgegen der Auffassung des Bevollmächtigten der Antragstellerin bei der Zurückweisung, die auch eine Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung darstellt, grds. um eine Rückkehrentscheidung i.S.d. Art. 6 Rückführungsrichtlinie handelt, mangelt es dieser im vorliegenden Fall an der erforderlichen konkreten Zielstaatsbestimmung (vgl. EuGH, U.v. 24.2.2021 – C-673/19 – juris Rn. 39). Zwar wurde die Antragstellerin zu einer (möglichen) Zurückweisung nach Vietnam angehört. Eine entsprechende Verfügung, in der Vietnam als Zielstaat der Zurückweisung definitiv bestimmt wird, ist nach Aktenlage bislang jedoch nicht ergangen. Bis zu einer vollstreckbaren Bestimmung des Zielstaats der Zurückweisung ist eine Überstellung der Antragstellerin in einen aufnahmebereiten Staat jedoch nicht zulässig.
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Der Antrag hat daher im tenorierten Umfang Erfolg. Nachdem die Zurückweisung eine Rückkehrentscheidung darstellt, ist nicht auf den Erlass einer Rückkehrentscheidung, sondern auf deren Vervollständigung durch die Bestimmung des Zielstaats der Zurückweisung abzustellen. Auf eine Befristungsentscheidung kommt es entgegen der Auffassung des Bevollmächtigten der Antragstellerin nicht an, da die Zurückweisung – anders als Zurück- und Abschiebung – kein künftiges Einreise- oder Aufenthaltsverbot, das zu befristen wäre, begründet (vgl. § 11 Abs. 1 AufenthG).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, da die Antragstellerin nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.
22
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. dem Streitwertkatalog.