Titel:
Einstweiliger Rechtsschutz gegen Zurückweisung, Vollstreckungsantrag, Regelungsgehalt der Zurückweisung, (kein) Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen Zurückweisung und Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots, Heilung eines Zustellungsmangels durch Übersendung einer Bescheidskopie
Normenketten:
VwGO § 123 Abs. 1, § 167 ff.
AufenthG § 15 Abs. 1 und 3
RL 2008/115/EG – Rückführungsrichtlinie Art. 6, Art. 11 Abs. 1
VwZG § 9
Leitsatz:
Entscheidungen nach § 15 Abs. 1 AufenthG über eine Zurückweisung haben einen doppelten Regelungsgehalt. Sie enthalten zum einen die Einreiseverweigerung im Sinne von Art. 14 VO (EU) 2016/399 (Schengener Grenzkodex) und zum anderen die Bestimmung eines Zielstaats der Zurückweisung als Grundlage für die Vollstreckung der Zurückweisung. In der Zurückweisung liegt damit auch eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4 der RL 2008/115/EG – Rückführungsrichtlinie.
Schlagworte:
Einstweiliger Rechtsschutz gegen Zurückweisung, Vollstreckungsantrag, Regelungsgehalt der Zurückweisung, (kein) Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen Zurückweisung und Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots, Heilung eines Zustellungsmangels durch Übersendung einer Bescheidskopie, Zurückweisung
Vorinstanzen:
VG München, Beschluss vom 23.01.2025 – M 12 V 25.440
VG München, Beschluss vom 13.01.2025 – M 12 E 24.7265
Fundstellen:
LSK 2025, 785
NVwZ 2025, 360
BeckRS 2025, 785
Tenor
I. Die Verfahren 10 CE 25.105, 10 C 25.160 und 10 C 25.161 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
II. Die Beschwerden werden zurückgewiesen.
III. Die Antragstellerin hat die Kosten der Beschwerdeverfahren zu tragen.
IV. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren 10 CE 25.105 wird auf 1.250,-- Euro festgesetzt.
V. Die Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung für die Beschwerdeverfahren 10 CE 25.105 und 10 C 25.160 werden jeweils abgelehnt.
Gründe
1
Mit ihrer Beschwerde im Verfahren 10 CE 25.105 verfolgt die Antragstellerin ihr Eilrechtsschutzbegehren gegen ihre Zurückweisung in die Sozialistische Republik Vietnam weiter, soweit dieses in erster Instanz erfolglos geblieben ist. Weiter wendet sie sich mit ihren Beschwerden in den Verfahren 10 C 25.160 und 10 C 25.161 gegen die Ablehnung eines Vollstreckungsantrags durch das Verwaltungsgericht im Hinblick auf die in erster Instanz im o.g. Eilverfahren erfolgte Teilstattgabe und gegen die Ablehnung eines Prozesskostenhilfeantrags für diesen Vollstreckungsantrag. Gleichzeitig begehrt sie Prozesskostenhilfe für die beiden erstgenannten Beschwerdeverfahren.
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Das Verwaltungsgericht hatte die Antragsgegnerin erstinstanzlich mit Beschluss vom 13. Januar 2025 zunächst verpflichtet, im Rahmen der Zurückweisung eine Abschiebung zu unterlassen, bis gegenüber der Antragstellerin die zunächst unterbliebene Bestimmung eines Zielstaats erfolgt ist, im Übrigen hat es den Eilantrag abgelehnt. Hiergegen wandte sich die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde im Verfahren 10 CE 25.105.
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Nachdem die Antragsgegnerin den bestandskräftigen Zurückweisungsbescheid vom 13. November 2024 mit weiterem Bescheid vom 17. Januar 2025 dahingehend ergänzt hatte, dass die Zurückschiebung nach Vietnam erfolgen solle, hat die Antragstellerin u.a. einen Vollstreckungsantrag beim Verwaltungsgericht gestellt und die wirksame Bekanntgabe des Bescheids bestritten. Mit weiterem Beschluss vom 23. Januar 2025 hat das Verwaltungsgericht u.a. den Vollstreckungsschutzantrag und die insoweit beantragte Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Hiergegen wenden sich die Beschwerden der Antragstellerin in den Verfahren 10 C 25.160 (Vollstreckung) und 10 C 25.161 (Prozesskostenhilfe).
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Zur Begründung ihrer Beschwerden macht die Antragstellerin im Wesentlichen geltend, in der Zurückweisungsentscheidung liege keine rechtmäßige Rückkehrentscheidung. Eine Zurückweisung nach § 15 Abs. 1 AufenthG sei bereits keine Rückkehrentscheidung im Sinn der RL 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie). Die gegenteilige Auffassung des Verwaltungsgerichts finde in der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 24. Februar 2021 (C-673/19) keine Stütze. Im Übrigen fehle es entgegen der Auffassung der Antragstellerin an der nach der Rückführungsrichtlinie erforderlichen Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots. Dies mache auch die Zurückweisung rechtswidrig. Die mittlerweile erfolgte Bestimmung eines Zielstaats der Zurückweisung sei nicht wirksam erfolgt. Der Bescheid sei zunächst nur an die Antragstellerin selbst, nicht aber an ihren zu diesem Zeitpunkt schon gegenüber der Antragsgegnerin bestellten Bevollmächtigten erfolgt.
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Die Antragstellerin beantragt im Verfahren 10 CE 25.105:
Unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 13.1.2025 (M 12 824.7265), soweit darin dem gestellten Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht vollständig entsprochen worden ist, wird im Wege der einstweiligen Anordnung die Antragsgegnerin verpflichtet, vorläufig von der Abschiebung der Antragstellerin abzusehen.
6
Die Antragstellerin beantragt im Verfahren 10 C 25.160 sinngemäß:
Unter Abänderung von Ziffer I. des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 23. Januar 2025 wird der Antragsgegnerin im Verfahren M 12 E 24.7265 für den Fall der Abschiebung der Antragstellerin die Verhängung eines Ordnungsgeldes bis zur Höhe von 250.000,- Euro angedroht und ggf. festgesetzt.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
Die Beschwerden werden zurückgewiesen.
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Sie verteidigt im Wesentlichen die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten beider Instanzen.
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1. Die Verbindung der Verfahren zur gemeinsamen Entscheidung beruht auf § 93 VwGO und ist zweckmäßig.
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2. Die Beschwerden sind unbegründet.
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a) Die Beschwerde im Verfahren 10 CE 25.105 ist unbegründet, weil das Verwaltungsgericht die Verpflichtung der Antragsgegnerin, die Zurückweisung der Antragstellerin zu unterlassen, zu Recht nicht über den Zeitpunkt der Bestimmung eines Zielstaats der Zurückweisung ausgedehnt hat und den Eilantrag der Antragstellerin insofern zu Recht abgelehnt hat. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigt keine andere Entscheidung. Die Antragstellerin hat keinen im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO sicherbaren Anspruch darauf, dass die Antragsgegnerin ihre Zurückweisung unterlässt, denn die Voraussetzungen einer Zurückweisung (nach einer entsprechenden Zielstaatsbestimmung) liegen vor.
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aa) Gegenstand der Beschwerde ist allein der Anspruch der Antragstellerin, auch nach einer Zielstaatsbestimmung durch die Antragsgegnerin nicht zurückgewiesen zu werden.
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bb) Entscheidungen nach § 15 Abs. 1 AufenthG über eine Zurückweisung haben einen doppelten Regelungsgehalt. Sie enthalten zum einen die Einreiseverweigerung im Sinne von Art. 14 VO (EU) 2016/399 (Schengener Grenzkodex) und zum anderen die Bestimmung eines Zielstaats der Zurückweisung als Grundlage für die Vollstreckung der Zurückweisung (vgl. auch Dollinger in Kluth/Heusch, AuslR, Stand: 1.7.2020, § 15 Vorbemerkung; Nr. 15.0.5 AVwVAufenthG). In der Zurückweisung liegt entgegen der Auffassung der Antragstellerin damit auch eine Rückkehrentscheidung im Sinne der RL 2008/115/EG – Rückführungsrichtlinie (BGH, B.v. 15.12.2020 – XIII ZB 133/19 – juris Rn. 9 ff., stRspr).
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cc) Die Voraussetzungen für die Zurückweisung liegen vor, da die Antragstellerin unerlaubt einreisen wollte. Die Antragstellerin hat auch kein Schutzgesuch im Sinne § 15 Abs. 4 Satz 2 AufenthG geäußert. Auch sonstige Zurückweisungshindernisse wurden nicht hinreichend substantiiert geltend gemacht. Der alleinige Hinweis darauf, die Antragstellerin könne in Vietnam nicht überleben, genügt insofern nicht für die Annahme eines Zurückweisungshindernisses im Sinne von § 15 Abs. 4 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Dies wird auch von der Beschwerde nicht in Abrede gestellt.
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dd) Ob die Antragsgegnerin gegenüber der Antragstellerin eine wirksame Zielstaatsbestimmung vorgenommen hat, ist wie bereits ausgeführt, nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens 10 CE 25.105, sondern der Beschwerde im Vollstreckungsverfahren (10 C 25.160, dazu sogleich).
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ee) Schließlich ist die Zurückweisung auch nicht deshalb rechtswidrig, weil sie nicht mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot im Sinne von § 11 Abs. 1 AufenthG verbunden wurde.
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§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG sieht für den Fall der Zurückweisung lediglich dann die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots vor, wenn der Ausländer unter Nutzung falscher oder verfälschter Dokumente einreisen wollte. Dies ist bei der Antragstellerin nicht der Fall. Ob diese nationale Regelung mit Art. 7 Abs. 1 der RL 2008/115/EG, der die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots jedenfalls für solche Fälle vorsieht, in denen – wie hier – keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt oder der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde, in Einklagen steht, kann vorliegend dahinstehen. Denn abgesehen davon, dass die unterlassene Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots die Antragstellerin nicht in ihren Rechten verletzt, ergibt sich aus der Rückführungsrichtlinie kein Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der Rückkehrentscheidung, die hier in der Zurückweisung liegt, und deren Vollzug (Art. 3 Nr. 4 und 5 RL 2008/115/EG) einerseits und dem Einreiseverbot und dessen Befristung (Art. 3 Nr. 6 RL 2008/115/EG) andererseits (vgl. für den Fall der Ausweisung BayVGH, B.v. 12.7.2023 – 10 C 23.1117 – juris Rn. 21 unter Verweis auf BVerwG, U.v. 21.8.2018 – 1 C 21.17 – BVerwGE 162, 382 juris Rn. 22 f. unter Verweis auf BVerwG, U.v. 27.3.2018 – 1 A 4.17 – juris Rn. 87; U.v. 22.8.2017 – 1 A 2.17 – juris Rn. 46; U.v. 22.8.2017 – 1 A 3.17 – BVerwGE 159, 296 – juris Rn. 36). Das Einreiseverbot soll zwar im Zusammenhang mit einer Rückkehrentscheidung angeordnet werden (vgl. Art. 11 Abs. 1 RL 2008/115/EG: „gehen … einher“) Gleichwohl stellen die Rückkehrentscheidung und das befristete Einreiseverbot jeweils eigenständige Entscheidungen dar, die gesondert anfechtbar sind. Eine Rechtswidrigkeit der Entscheidung über das Einreiseverbot „schlägt“ mithin nicht auf die zugrundeliegende Rückführungsentscheidung und deren Vollstreckung „durch“.
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b) Auch die Beschwerde im Vollstreckungsverfahren (10 C 25.160) ist unbegründet.
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Dabei kann dahinstehen, welchen Regelungen die Vollstreckung vorliegend unterläge (§ 172 VwGO oder § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 890 ZPO), denn jedenfalls ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass sein Beschluss vom 13. Januar 2025 die Antragsgegnerin nicht mehr zum Unterlassen der Zurückweisung verpflichtet, weil die Antragsgegnerin mittlerweile mit Bescheid vom 17. Januar 2025 eine wirksame Zielstaatsbestimmung für die Zurückweisung vorgenommen hat.
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Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass im Hinblick auf den Ergänzungsbescheid vom 17. Januar 2025 ein etwaiger Zustellungsmangel mittlerweile geheilt wurde. Insofern verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Erstgerichts und macht sich diese zu Eigen (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Ergänzend und im Hinblick auf das Beschwerdevorbringen weist der Senat lediglich darauf hin, dass eine Heilung auch durch die Übersendung einer Kopie an den Bevollmächtigten erfolgen kann und dass für eine Heilung nicht erforderlich ist, dass auch die nachträgliche Kenntniserlangung durch den Bevollmächtigten vom Willen der Behörde erfasst wird (BVerwG, U.v. 18.4.1997 – 8 C 43/95 – BVerwGE 104, 301 – juris Rn. 29). Von einem entsprechenden generellen Bekanntgabewillen der Antragsgegnerin ist hier ohne weiteres auszugehen, da sie offensichtlich versucht hat, gegenüber der Antragstellerin selbst eine Bekanntgabe vorzunehmen und danach den Bescheid zunächst an das Gericht sowie – wie dieser selbst mittteilt – am heutigen Tage um 10.10 Uhr auch an den Bevollmächtigten der Antragstellerin übersandt hat. Dabei kann es dahinstehen, ob auf der übersandten Kopie handschriftliche Ergänzungen enthalten sind, die auf dem Originalbescheid nicht vorhanden waren, denn es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass deswegen die Zielstaatsbestimmung als alleinige Regelung des Bescheids in irgendeiner Weise inhaltlich betroffen wäre.
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Der Senat sah sich trotz des Schriftsatzes des Bevollmächtigten der Antragstellerin vom heutigen Tag nicht veranlasst, insofern einen entsprechenden Hinweis zu erteilen, denn ein Gericht ist nicht verpflichtet, vorab auf seine Rechtsauffassung hinzuweisen (stRspr, vgl. BVerfG, B.v. 15.2.2017 – 2 BvR 395/16 – Rn. 6 m.w.N.). Dies gilt auch vorliegend, zumal weder dargetan noch sonst ersichtlich ist, was die Antragstellerin bei einem entsprechenden Hinweis noch hätte vortragen wollen.
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Dass die Zielstaatsbestimmung ermessensfehlerhaft erfolgt wäre, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Hierauf kommt es im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens allerdings auch nicht an, weil das Verwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 13. Januar 2025 lediglich ein Unterlassen der Zurückschiebung bis zur wirksamen Bestimmung eines Zielstaats verlangt hat.
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c) Auch die Beschwerde im Verfahren 10 C 25.161 ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Vollstreckungsverfahren zu Recht abgelehnt, weil der Antrag keine hinreichenden Erfolgsaussichten hatte (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m.§ 114 Abs. 1 ZPO). Insofern kann auf die vorstehenden Ausführungen verwiesen werden. Allein der Umstand, dass eine Meinung in der Kommentarliteratur die Möglichkeit der Heilung durch Übersendung einer Bescheidskopie generell verneint, begründet entgegen der Auffassung der Antragstellerin angesichts der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (s.o.) keine hinreichenden Erfolgsaussichten in diesem Sinne.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
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4. Die Streitwertfestsetzung für das Verfahren 10 CE 25.105 folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, und § 52 Abs. 2 GKG. Einer Streitwertfestsetzung für die Beschwerdeverfahren 10 C 25.160 und 10 C 25.161 bedarf es nicht, weil nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) jeweils eine Festgebühr anfällt.
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5. Die Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Beschwerdeverfahren waren in Ermangelung hinreichender Erfolgsaussichten abzulehnen (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 ZPO).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).