Inhalt

OLG München, Beschluss v. 09.01.2025 – 7 W 1979/24 e
Titel:

Streitwertbeschwerde in einem "Scraping"-Verfahren

Normenketten:
GKG § 39, § 48, § 68
RVG § 23
DSGVO Art. 83, Art. 84
Leitsätze:
1. Der Antrag auf Zahlung immateriellen Schadensersatzes ist mit dem bezifferten Mindestbetrag in Ansatz zu bringen. Bei der Leistungsklage ist der formulierte Antrag wertbestimmend, der hier aber ausweislich der Klageschrift nicht, wie vom Landgericht angenommen, 3.000 EUR sondern lediglich 2.000 EUR beträgt. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Gericht ist bei der Streitwertbemessung nicht an die subjektiven Wertangaben in der Klageschrift gebunden, diesen kommt insbesondere keine indizielle Bedeutung zu, wenn sie – wie hier – das tatsächliche Interesse offensichtlich unzutreffend widerspiegeln. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
3. Als Ausgangspunkt der Bewertung eines Unterlassungsanspruchs wegen des hier gegenständlichen "Scraping"-Vorfalls ist festzuhalten, dass dieser Schaden nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in einer Größenordnung von 100 EUR zu bemessen und damit als notwendiger Ausgleich für den Kontrollverlust ein Ausgleich iHv 100 EUR zu zahlen wäre. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Streitwert, Scraping
Vorinstanz:
LG München I vom -- – 39 O 7755/23
Fundstellen:
NJOZ 2025, 454
BeckRS 2025, 74
LSK 2025, 74

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Streitwert abweichend auf 2.300 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Klagepartei nahm die Beklagte mit Klageschriftsatz vom 22.06.2023 wegen sogenannten „Scraping“ ihrer personenbezogenen Daten aus dem Datenbestand des von der Beklagten betriebenen … auf immaterielle Entschädigung, Feststellung weiterer Schadenersatzpflicht, Unterlassung und Auskunft in Anspruch. Vor dem Landgericht hat sie folgende Anträge angekündigt:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei immateriellen Schadensersatz in angemessener Höhe zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens jedoch 2.000 €, nebst Zinsen seit Rechtshängigkeit in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz.
Die Beklagte wird verurteilt, es zu unterlassen,
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personenbezogene Daten der Klagepartei, namentlich Telefonnummer, …, Familiennamen, Vornamen, Geschlecht, Bundesland, Land, Stadt, Beziehungsstatus unbefugten Dritten über eine Software zum Importieren von Kontakten zugänglich zu machen, ohne die nach dem Stand der Technik möglichen Sicherheitsvorkehrungen vorzusehen, um die Ausnutzung des Systems für andere Zwecke als der Kontaktaufnahme zu verhindern,
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die Telefonnummer der Klagepartei auf Grundlage einer Einwilligung zu verarbeiten, die wegen der unübersichtlichen und unvollständigen Informationen durch die Beklagte erlangt wurde, namentlich ohne eindeutige Informationen darüber, dass die Telefonnummer auch bei Einstellung auf „privat“ noch durch Verwendung des Kontaktimporttools verwendet werden kann, wenn nicht explizit hierfür die Berechtigung erteilt (sic.) wird und, im Falle der Nutzung der …, hier ebenfalls explizit die Berechtigung verweigert wird.
Die Beklagte wird verurteilt, für jeden Fall der der (sic.) zukünftigen schuldhaften Zuwiderhandlung gegen vorstehendes Versprechen (sic.) an die Klagepartei eine Vertragsstrafe in Höhe von 5.100,00 € zu zahlen.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klagepartei Auskunft über die Klagepartei betreffenden (sic.) personenbezogenen (sic.) Daten, welche die Beklagte verarbeitet, zu erteilen, namentlich welche Daten durch welche Empfänger zu welchem Zeitpunkt bei der Beklagten durch Anwendung des Kontaktimporttools erlangt werden konnten.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerseite alle zukünftigen Schäden zu ersetzen, die der Klägerseite durch den unbefugten Zugriff Dritter auf das Datenarchiv der Beklagten der nach Aussage der Beklagten im Jahr 2019 erfolgte, entstanden sind und/oder noch entstehen.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei einen Betrag in Höhe von 280,60 € (Rechtsanwaltskosten außergerichtlich) zu zahlen, nebst Zinsen seit Rechtshängigkeit in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz für die außergerichtliche anwaltliche Rechtsverfolgung.
2
Auf Verfügung des Gerichts vom 27.06.2023 (Bl. 54 eAkte) bezifferte der Klägervertreter den Streitwert durch Schriftsatz vom 30.06.2023 auf mindestens 13.500 Euro (immaterieller Schadensersatz 2.000,00 Euro, Feststellungsinteresse 5.000,00 Euro mindestens, Auskunft 1.500 Euro mindestens, Unterlassung 5.000,00 Euro mindestens). Durch Schriftsatz vom 19.08.2024 (Bl. 256 eAkte) nahm die Klägerin ihre Klage zurück; mit Beschluss vom 25.09.2024 setzte das Landgericht den Streitwert auf 13.500 € fest. Gegen diese Streitwertfestsetzung richtet sich die Streitwertbeschwerde der Klägerin vom 26.09.2024 mit dem Ziel, den Streitwert abweichend auf 5.0001 € festzusetzen.
3
Das Landgericht hat der Streitwertbeschwerde durch Beschluss vom 22.12.2024 nicht abgeholfen. In diesem Beschluss führt das Landgericht aus die Klägerin habe vorliegend auf Aufforderung des Gerichts den Gesamtstreitwert mit mindestens 13.500 € beziffert. Bei der Bestimmung des Streitwerts bildeten die Wertangaben des Klägers ein gewichtiges Indiz. Die Klägerin habe angegeben, dass auf den immateriellen Schadensersatz 3.000 € entfielen und auf die anderen Anträge jeweils mindestens die im Schreiben vom 30.03.2023 genannten Beträge.
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Für weitere Einzelheiten wird auf den Nichtabhilfebeschluss des Landgerichts und die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
II.
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1. Die Streitwertbeschwerde ist gemäß § 68 Abs. 1 GKG zulässig, insbesondere statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt.
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2. Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg, wobei der Streitwert über das Beschwerdeziel hinausgehend von Amts wegen auf lediglich 2.300 € festzusetzen ist. Im Einzelnen:
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a. Zur Festsetzung des Streitwertes sind die einzelnen Klageanträge orientiert am wirtschaftlichen Interesse der Klägerin nach freiem Ermessen des festsetzenden Gerichts gemäß § 48 Abs. 1 S. 1 GKG, § 3 ZPO zu bewerten und nach § 39 GKG sodann deren Einzelwerte aufzuaddieren.
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b. Hierbei bilden, wovon auch das Landgericht im Ausgangspunkt ausgeht, die Parteiangaben ein gewichtiges Indiz. Allerdings besteht weder eine Bindung des Gerichts an die Parteiangaben, noch sind die Parteien selbst an ihre früheren Angaben gebunden, Hüßtege in Thomas/Putzo, 44. Auflage 2023, § 2 ZPO Rn. 24. Es war der Klägerin daher nicht verwehrt, in der Streitwertbeschwerde darzulegen, dass ihre früheren Angaben unzutreffend waren. Hinzu kommt, dass die Klägerin, anders als vom Landgericht ausweislich der Begründung der Nichtabhilfenetscheidung bei seiner Streitwertfestsetzung zugrunde gelegt, den Mindestbetrag des immateriellen Schadens nicht mit 3.000 €, sondern mit 2.000 € angegeben hatte.
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c. Der Streitwert ist auf 2.300 € festzusetzen.
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(1) Der Antrag auf Zahlung immateriellen Schadensersatzes ist mit dem bezifferten Mindestbetrag in Ansatz zu bringen, § 48 Abs. 1 S. 1 GKG, i.V.m. § 3 ZPO. Bei der Leistungsklage ist der formulierte Antrag wertbestimmend (vgl. Zöller/Herget, ZPO, 35. Auflage 2024, zu § 3 Rn. 16.112). Dieser Mindestbetrag beträgt aber ausweislich der Klageschrift nicht, wie vom Landgericht angenommen, 3.000 € sondern lediglich 2.000 €.
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(2) Die beiden Unterlassungsbegehren sind mit je 100 € zusammen 200 € zu bewerten. Der Streitwert der Unterlassungsanträge ist als nichtvermögensrechtlicher Streitgegenstand anhand des betroffenen Interesses der Klägerin zu bestimmen, wobei gemäß § 48 Abs. 2 Satz 1 GKG alle Umstände des Einzelfalls zu beachten sind. Zwar geht der Bundesgerichtshof davon aus, dass in Anlehnung an § 23 Abs. 3 S. 2 RVG bei mangelnden genügenden Anhaltspunkten für ein höheres oder geringeres Interesse von einem Streitwert von 5.000 € auszugehen ist (BGH, Beschluss vom 17.11.2015 – II ZB 8/14 – WM 2016, 96, Rn. 13). Auf diesen Auffangstreitwert ist jedoch nur dann zurückzugreifen, wenn – anders als hier – nicht genügend Anhaltspunkte für eine Streitwertbemessung bestehen (vgl. BGH, Beschluss vom 28.01.2021, III ZR 162/20 Rn. 9; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 05.07.2023 – 10 W 5/23, juris Rn. 16 m.w.N.).
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Heranzuziehen ist daher insbesondere das Interesse der Klägerin und damit ihre aufgrund des zu beanstandenden/gewünschten Verhaltens zu besorgende wirtschaftliche/persönliche Beeinträchtigung (vgl. OLG Hamm GRUR-RS 2013, 20938, juris-Rn. 5 m.w.N.). Zu berücksichtigen sind zudem die Stellung der Beteiligten sowie Art, Umfang und Gefährlichkeit der zu unterlassenden/begehrten Handlung (vgl. BGH GRUR 2023, 1143 Rn. 13 m.w.N.). Das Gericht ist bei der Streitwertbemessung nicht an die subjektiven Wertangaben in der Klageschrift gebunden (so explizit BGH GRUR 2012, 1288 Rn. 4, sogar für übereinstimmende Angaben der Parteien; s. auch BGH GRUR 2012, 959 Rn. 5). Insbesondere kommt ihnen keine indizielle Bedeutung zu, wenn sie – wie hier – das tatsächliche Interesse offensichtlich unzutreffend widerspiegelt (so auch OLG München NJW-RR 2018, 575, Rn 16). Außer Betracht zu lassen ist insbesondere die über die konkret-individuellen Interessen hinausgehende gesamtgesellschaftliche oder general-präventive sowie die abstrakt-generelle Bedeutung für andere potenziell betroffene Personen (vgl. BGH 30.11.2004 – VI ZR 65/04, BeckRS 2004, 12785, juris-Rn. 2; BGH GRUR 2016, 1275 Rn. 42). Die Verfolgung der insoweit bestehenden Interessen obliegt gem. Art. 83, 84 DSGVO allein der zuständigen Datenschutzbehörde.
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Als Ausgangspunkt der Bewertung der Unterlassungsansprüche ist daher festzuhalten, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Fällen, in denen durch Scraping auf der Plattform der Beklagten für deren Nutzer ein immaterieller Schaden durch einen Kontrollverlust an personenbezogenen Daten eingetreten ist, dieser Schaden in einer Größenordnung von 100 € zu bemessen und damit als notwendiger Ausgleich für den Kontrollverlust ein Ausgleich in Höhe von 100 € zu zahlen wäre, BGH Urteil vom 18.11.2024 – VI ZR 10/24, juris Rn. 100.
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Ausgehend hiervon ist das Interesse der Klägerin an den mit der Klage begehrten Unterlassungen, die darauf zielen, einen entsprechenden Kontrollverlust für die Zukunft zu verhindern, mit nicht mehr als jeweils 100 € zu bewerten. Zwar ist insoweit im nicht zu verkennen, dass das Unterlassungsbegehren auf die dauerhafte Abwehr einer unbestimmten Vielzahl künftiger Wiederholungen des klägerseits beanstandeten Verhaltens der Beklagten gerichtet ist. Bei der Bewertung der wirtschaftlichen Bedeutung dieser Unterlassung für die Klägerin kann indes die Wiederholungswahrscheinlichkeit nicht außer Betracht bleiben. Vorliegend ist von einer sehr geringen Wiederholungswahrscheinlichkeit und damit von einem geringen Wert der Unterlassungsansprüche auszugehen. Der streitgegenständliche scraping-Vorfall ist bereits 2019 eingetreten. Seither sind weitere, die Klägerin betreffende Datenschutzverstöße nicht bekannt geworden. Hinzu kommt, dass die Durchsetzung des Datenschutzes nicht nur durch private Schadensersatz und Unterlassungsklagen, sondern daneben öffentlich-rechtlich durch die Datenschutzbehörden und die teils bußgeldbewehrten Vorschriften zum Datenschutz erfolgt. Auch das Oberlandesgericht Celle hat seine zuvor bestehende Rechtsprechung, derzufolge für vergleichbare Unterlassungsansprüche im Nachgang zu scraping-Vorfällen von dem Auffangstreitwert in Höhe von 5.000 € auszugehen sei, zwischenzeitlich ausdrücklich aufgegeben (OLG Celle, Urteil v. 04.04.2024 – 5 U 31/23, GRUR-RS 2024, 6435, Rn. 58 ff.).
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(3) Das Auskunftsbegehren ist mit 50 € zu bewerten. Davon ausgehend, dass im Falle eines tatsächlich eingetretenen Kontrollverlustes über entsprechende Daten ein immaterieller Schaden entstehen kann, gegen dessen Bewertung mit 100 € nach der Rechtsprechung des BGH von Rechts wegen nichts zu erinnern ist (BGH a.a.O., Rn. 100), ist das Interesse an einer Auskunft, welche (weiteren) Daten durch entsprechende Vorfälle an mögliche Dritte gelangt sind, mit nicht mehr als der Hälfte dieses Betrages und mithin mit 50 € zu bewerten.
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(4) Der Feststellungsantrag ist ebenfalls mit 50 € zu bewerten. Es ist grundsätzlich unter Anwendung von § 3 Hs. 1 ZPO auf das wirtschaftliche Interesse der Klägerin an der begehrten Feststellung abzustellen. Dabei ist bei positiven Feststellungsklagen der Wert des Gegenstandes oder des Rechtsverhältnisses zugrunde zu legen und regelmäßig ein Abschlag von 20 %, ausnahmsweise von 50 % oder mehr vorzunehmen. Im Übrigen können auch Zweifel an der Durchsetzbarkeit des Anspruchs einen höheren Abschlag rechtfertigen. Bei einem Feststellungsantrag auf alle „künftig noch“ entstehenden Schäden sind bei der Wertfestsetzung nur die ab Klageeinreichung mutmaßlich entstehenden Schäden zu berücksichtigen, vorhergehende Schäden bleiben unberücksichtigt (Musielak/Voit/Heinrich, 20. Aufl. 2023, ZPO § 3 Rn. 27). Vorliegend ist der Feststellungsantrag bezüglich etwaiger künftiger Schadenersatzansprüche angesichts der Tatsache, dass der „Scraping-Vorfall“ aus dem Jahre 2019 bereits längere Zeit zurück liegt, ohne dass bislang ein bezifferbarer materieller Schaden entstanden wäre, das Realisierungsrisiko also eher niedrig zu bewerten ist, und angesichts der Tatsache, dass nach der oben aufgeführten Rechtsprechung des BGH auch der durch den mit entsprechenden Scraping Vorfällen eintretende Kontrollverlust einen immateriellen Schaden nur in der Größenordnung von 100 € besorgen lässt, mit einem Wert von 50,00 € zu bewerten.
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(5) Der Antrag auf Zahlung von vorgerichtlichen Anwaltskosten wirkt sich nicht streitwerterhöhend aus, § 43 Abs. 1 GKG.
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d. Insgesamt war der Streitwert daher auf 2.300 € festzusetzen. Dem steht nicht entgegen, dass die Klägerin mit ihrer Beschwerde beantragt, den vom Landgericht auf 13.500 € festgesetzten Streitwert auf 5.001 € herabzusetzen. Wegen der Möglichkeit, die erstinstanzliche Streitwertfestsetzung von Amts wegen zu ändern (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 GKG), besteht bei Streitwertbeschwerden kein Verschlechterungsverbot, s. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 11.07.2024 – 6 W 36/24 und Nr. 6., OLG Stuttgart, Beschluss vom 09.10.2019 – 6 W 47/19, NJW-RR 2020, 255 Rn. 26 und OLG München, Beschluss vom 14.07.2020 – 25 W 587/20, juris Rn. 5.
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Wurde, wie vorliegend, innerhalb der Frist eine zulässige Beschwerde erhoben, so kann das Gericht daher auch über die Beschwerdeanträge hinausgehen. Dies gilt – ohne dass es vorliegend hierauf ankäme – nach herrschender Meinung sogar in Fällen, in denen die Frist nach § 63 Abs. 3 Satz 2 GKG vor der Entscheidung des Beschwerdegerichts abgelaufen ist, s. BVerwG NVwZ 1988, 1019 zu § 25 Abs. 1 Satz 4 GKG a.F. und Toussaint, KostenR, 54. Auflage 2024, § 68 GkG Rn. 31. AA Laube in BeckOK KostenR, § 68 GKG Rn. 163.
III.
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Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Das Verfahren ist gebührenfrei und Kosten werden nicht erstattet, § 68 Abs. 3 GKG.