Titel:
Masern, Betretungsverbot, Impfnachweis, ärztliches Zeugnis, Ermessensentscheidung
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
IfSG § 20 Abs. 12
Schlagworte:
Masern, Betretungsverbot, Impfnachweis, ärztliches Zeugnis, Ermessensentscheidung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 27.03.2025 – 20 CS 25.387
Fundstelle:
BeckRS 2025, 7343
Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 2.500 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragstellerin wendet sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegen eine Anordnung nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) im Zusammenhang mit der Masern-Impfpflicht.
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Die am … 2020 geborene Antragstellerin besucht das … jedenfalls seit spätestens 2023 regelmäßig. Sie ist nicht gegen Masern geimpft und hatte dem … eine ärztliche Bescheinigung der … aus … vom 9. Februar 2022 vorgelegt, in der das dauerhafte Bestehen einer medizinischen Kontraindikation gegen eine Impfung angegeben worden war.
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Mit Schreiben vom 14. September 2022 forderte der Antragsgegner die Eltern der Antragstellerin erstmals u.a. auf, einen Nachweis zu erbringen, dass die Antragstellerin über einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern verfügt, oder ein ärztliches Zeugnis vorzulegen, dass eine Immunität gegen Masern oder eine medizinische Kontraindikation gegen eine solche besteht. Es folgte weiterer Schriftverkehr, Telefonate, ein Beratungsgespräch zwischen dem Staatlichem Gesundheitsamt und den Eltern und dem Großvater der Antragstellerin sowie der Erlass von Bußgeldbescheiden gegenüber den Eltern der Antragstellerin.
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Mit Schreiben vom 6. Mai 2024 räumte das Gesundheitsamt den Eltern der Antragstellerin – ohne Rechtsbehelfsbelehrung- nochmals die Gelegenheit ein, einen gültigen Nachweis im Sinne von § 20 Abs. 9 IfSG bis spätestens zum 7. Juni 2024 vorzulegen. Die Behörde wies darauf hin, dass bei Verstreichen der Frist mit weitergehenden Maßnahmen gerechnet werden müsse. Aufgrund eines Fristverlängerungsgesuchs des Vaters der Antragstellerin wurde die Frist zur Vorlage eines geeigneten Nachweises mit Schreiben vom 22. Juli 2024 auf den 5. August 2024 festgesetzt.
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In der Folgezeit wurde ein Attest der Ärztin … aus … vom 29. Juli 2024 vorgelegt. Danach sei die Antragstellerin bei der Ärztin bereits seit mehreren Monaten in ärztlicher Behandlung und könne aufgrund ihrer eigenen sowie familiären Vorgeschichte mit Risikofaktoren aus dem allergologischen, immunologischen und psychischen Formenkreis, die in den Fachinformationen der Impfstoffe als medizinische Kontraindikation aufgeführt seien, dauerhaft nicht geimpft werden. Der Antragsgegner wies mit Schreiben vom 4. November 2024 darauf hin, dass dieses Attest nicht ausreichend sei und bat diesbezüglich um eine Nachbesserung sowie außerdem um eine Erklärung zur Entbindung von der Schweigepflicht für Frau … Mit Schreiben vom 16. Dezember 2024 wurde den Eltern der Antragstellerin unter Fristsetzung bis 13. Januar 2025 die Gelegenheit gegeben, sich zum beabsichtigten Erlass eines Betretungsverbotes zu äußern.
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Mit an die Eltern der Antragstellerin adressiertem Bescheid vom 22. Januar 2025 untersagte der Antragsgegner den Eltern der Antragstellerin, diese ab dem 15. Februar 2025 insbesondere die Kindertageseinrichtung … betreten zu lassen (Ziffer 1.), bis ein Masernschutznachweis i.S.d. § 20 Abs. 9 Satz 1 Nrn. 1 und 2 IfSG vorgelegt wurde und das Gesundheitsamt die Plausibilität des vorgelegten Nachweises bestätigt hat (Ziffer 2.). Zur Begründung wurde auf die Pflicht zur Vorlage eines Nachweises einer Masernschutzimpfung beim Besuch von Gemeinschaftseinrichtungen nach § 20 Abs. 8 bis 14 IfSG hingewiesen. Ein solcher Nachweis sei bislang nicht vorgelegt worden. Die Bescheinigung vom 9. Februar 2022 von Frau … enthalte auf einem Formblatt lediglich eine angekreuzte vorformulierte Begründung, die von sämtlichen Impfungen aufgrund Vorliegens einer „dauerhaften medizinischen Kontraindikation“ befreien solle. Auch das seitens Frau … am 29. Juli 2024 ausgestellte Attest könne nicht als Nachweis i.S.d. § 20 Abs. 12 IfSG dienen. Dieses sei ebenfalls pauschal formuliert und besitze keine Aussagekraft im vorliegenden Fall. Eine Erklärung zur Entbindung von der Schweigepflicht sei nicht unterschrieben worden, so dass dem Gesundheitsamt eine weitere Ermittlungstätigkeit durch Einholung weiterführender Auskünfte verwehrt sei. Die Anordnung des Betretungsverbotes sei angesichts des Ansteckungsrisikos in Gemeinschaftseinrichtungen und der Schwere einer Erkrankung im pflichtgemäß ausgeübten Ermessen ergangen und verhältnismäßig.
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Mit bei Gericht am 29. Januar 2025 eingegangenem Schreiben ihrer Bevollmächtigten vom 28. Januar 2025 hat die Antragstellerin gegen den Bescheid Klage erhoben (AN 18 K 25.243) sowie zugleich einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Zur Begründung ließ sie im Wesentlichen ausführen, der an ihre Eltern gerichtete Bescheid sei rechtswidrig.
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Der Antragsgegner verkenne schon, dass eine Impfung der Antragstellerin aus medizinischen Gründen ausscheide. Diesbezüglich werde auf die mit der Klageschrift vorgelegten drei ärztlichen Atteste bzw. Bescheinigungen verwiesen.
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Nur wenn Eltern kein Attest vorlegen würden, habe die Kita diesen Umstand an das Gesundheitsamt zu übermitteln. Die Eltern der Antragstellerin hätten hier aber ein Attest vorgelegt, welches die Kitaleitung auch akzeptiert habe. Insofern erschließe sich nicht, warum das Gesundheitsamt hier überhaupt tätig werde. Das Infektionsschutzgesetz fordere nicht, die Attestvorlage bis ein – aus Sicht des Gesundheitsamtes – passendes Attest vorgelegt werde. Vielmehr sei nach dem Gesetzeswortlaut nur ein Attest vorzulegen; es existiere weder ein Nachforderungsrecht noch ein gesetzliches Ablehnungsrecht (Verwerfungskompetenz). Die Prüfung des Gesundheitsamtes sei vielmehr auf eine Plausibilitätskontrolle zu beschränken, d.h. werde im Attest eine Diagnose und der pauschale Grund für eine Kontraindikation der Impfung angegeben, sei dies ausreichend. Bei Zweifeln obliege es dem Gesundheitsamt, diese durch seine behördlichen Untersuchungs- und Amtsermittlungsmöglichkeiten durch Untersuchung der Antragstellerin und Anforderung der ärztlichen Unterlagen auszuräumen. Eine Erklärung zur Entbindung von der Schweigepflicht bedarf es hierzu nicht. Eine solche sei aber vom Vater der Antragstellerin gegenüber dem Gesundheitsamt sogar (mündlich) erklärt worden. Auch verkenne das Gesundheitsamt, dass es hinsichtlich möglicher Kontraindikationen nicht pauschal auf das Robert Koch Institut (RKI) verweisen könne, da dieses keine abschließende Regelung über solche veröffentlicht habe. Es gäbe nämlich Kontraindikationen, die in den statistischen Erfassungsdarstellungen des RKI eben gerade nicht aufgeführt seien. Für den Arzt hingegen seien die §§ 630 ff. BGB zu beachten.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seien Maßnahmen für kleine Kinder mit durchaus verheerenden Folgen gerade nur dann rechtens, wenn eine konkrete Gefahrenlage bestehe und die Eltern überhaupt keinen Nachweis vorlegten, keine Beratung akzeptierten, keine Untersuchungsangebote durchführen liessen und konsequent Impfungen ohne nachvollziehbare sachliche Begründung verweigern würden. Das Bundesverfassungsgericht erwarte gerade keine diagnostischen Nachweise im Attest, sondern eine dem Arzt überlassene Einschätzung über das Feld der Kontraindikationen. Zumindest das neue Attest vom Januar 2025 entspreche den seitens des Bundesverfassungsgerichts dargestellten ärztlichen Möglichkeiten.
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Auch habe vor Bescheiderlass keine richtige Impfberatung stattgefunden. Es habe zwar im November 2022 ein als Beratungsgespräch angedachtes Gespräch mit der damaligen Amtsärztin gegeben. Dies sei aber keine Impfberatung mit Aufklärung und Eingehen auf die Ängste der Eltern gewesen, sondern lediglich eine Art Auflistung der Kritikpunkte die bis dato insbesondere von den Eltern der Antragstellerin vorgebracht worden seien. Auf den Beratungsbedarf der Eltern sei überhaupt nicht eingegangen worden.
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Des Weiteren habe das Gesundheitsamt auch kein Ermessen ausgeübt, so dass ein Ermessensfehlgebrauch vorliege. Ein öffentliches Interesse an einer Masernimpfung sei nicht gegeben. Die Masern seien seit 2022 durch einen WHO-Beschluss faktisch statistisch epidemiologisch pandemisch und endemisch eliminiert. Bei einer Impfquote von 95% spreche alles für einen Verbleib der Antragstellerin in der Kita, zumal die Antragstellerin auf diesen Kita Platz emotional und förderungsmäßig angewiesen sei. Es bestünden aktuell erhebliche familiäre Probleme. Im Februar 2024 sei ein Geschwisterkind geboren; ein klassisches Schreikind. Diese Situation, insbesondere der Schlafmangel und die Eifersucht der Antragstellerin auf ihre kleine Schwester, würden die Mutter der Antragstellerin an ihre Grenzen bringen. Da der Vater der Antragstellerin durch seine Vollzeittätigkeit die Mutter bei der Kinderbetreuung kaum unterstützen könne, falle es dieser schwer, den Anforderungen beider Kinder gerecht zu werden. Durch die Kita werde die Antragstellerin nicht nur in ihrer emotionalen Entwicklung gefördert, sondern diese stelle letztlich auch einen wichtigen Gegenpart zur häuslichen Situation dar und biete Abstand zur familiären Belastung. Auch seitens des Kindergartens werde ein Verbleib der Antragstellerin in der Einrichtung befürwortet.
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Des Weiteren sei auch das Verwaltungsverfahren nicht ordnungsgemäß abgelaufen. So sei beispielsweise die Aufforderung zur Attestvorlage nicht durch einen förmlichen Verwaltungsakt erfolgt, sondern durch ein einfaches Schreiben mit kurzen Fristsetzungen. Die vor Bescheiderlass beantragte Akteneinsicht habe die Bevollmächtigte der Antragstellerin nicht erhalten. Auch sei die Aktenführung fragmentarisch und unvollständig erfolgt.
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Die Antragstellerin beantragt,
die aufschiebende Wirkung der gleichzeitig erhobenen Klage gegen den Bescheid des Landratsamtes … vom 22. Januar 2025 anzuordnen.
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Der Antragsgegner beantragt
mit Schriftsatz vom 7. Februar 2025, den Antrag abzulehnen.
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Der Bescheid sei rechtmäßig. Soweit auf eine mangelnde Akteneinsicht verwiesen werde, so sei diese daran gescheitert, dass die Bevollmächtigte diese am 13. Januar 2025 lediglich per E-Mail an die allgemeine Adresse des Gesundheitsamtes ohne Angabe von Aktenzeichen oder Ansprechpartner beantragt habe und dies insofern keinem Verfahren zugeordnet werden habe können. Das Gesundheitsamt habe in seinem Merkblatt, anders als die Antragstellerin meint, nicht auf eine beschränkte Anzahl von Kontraindikationen des RKI hingewiesen, sondern auf die entsprechende Internetseite des RKI mit sämtlichen Ausführungen zu den Kontraindikationen. Eine mündliche Erklärung zur Entbindung von der Schweigepflicht sei dem Gesundheitsamt nicht bekannt, würde aber im Übrigen auch nicht ausreichen, da diese gegenüber der Ärztin erklärt werden müsse und nicht gegenüber dem Gesundheitsamt.
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Letztlich habe zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses weder ein Nachweis über das Bestehen eines ausreichenden Masernschutzes vorgelegen noch ein plausibler Nachweis über das Vorliegen einer Kontraindikation. Das neuerliche Attest vom 7. Januar 2025 sei beim Landratsamt … erst mit E-Mail vom 24. Januar 2025 und damit nach Bescheiderlass eingegangen und habe insofern im Bescheid nicht berücksichtigt werden können. Derzeit werde das Attest noch auf Plausibilität geprüft. Das Betretungsverbot sei entgegen des gegnerischen Vortrags nach pflichtgemäßem Ermessen ausgeübt und im Bescheid entsprechend begründet worden. Auch die antragstellerseits vorgetragenen Argumente enthielten keine Gesichtspunkte, die für eine andere Entscheidung zu Gunsten der Antragstellerin sprechen würden. In der Klageschrift sei zwar erstmals ausführlich vorgetragen worden, dass die familiäre Situation sehr angespannt sei, so dass zur Entlastung der Mutter die Betreuung im Kindergarten notwendig wäre. Auch wenn nicht bestritten werde, dass durch eine Betreuung der Antragstellerin im Kindergarten die Mutter entlastet werden könnte und insbesondere die sozialen Kontakte und feste Strukturen im Kindergarten für die Antragstellerin von Vorteil wären, könne man hierin keine außergewöhnlichen Umstände dergestalt sehen, dass die Antragstellerin zwingend in einer Kindertageseinrichtung betreut werden müsse. Auch bei einer Erkrankung der Antragstellerin oder während der Schließzeiten des Kindergartens müsse die Betreuung von den Eltern übernommen werden. Auch wenn der Vater und der Großvater der Antragstellerin berufstätig seien, so könnten sie die Mutter zumindest außerhalb der Arbeitszeiten unterstützen. Auch gebe es etliche Mütter mit sogenannten Schreibabys bzw. solche, die stillten und die ebenfalls noch Geschwisterkinder betreuen müssten. Das öffentliche Interesse, die Weiterverbreitung der Masern einzudämmen, überwiege letztlich das Interesse an der Weiterbetreuung der Antragstellerin im Kindergarten. Die Anzahl der Masernerkrankungen steige entgegen des gegnerischen Vortrags momentan stark an. Lediglich aufgrund der Maßnahmen während der Corona-Pandemie sei die Anzahl der Masernerkrankungen vorübergehend gesunken. Nachdem derzeit von keinem ausreichenden Masernschutz ausgegangen werden müsse, könne die weitere Betreuung der Antragstellerin in der Kindertageseinrichtung nicht verantwortet werden.
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Mit Schriftsatz vom 7. Februar 2025 hat die Antragstellerin hierauf repliziert und ihren Vortrag ergänzt. Aus dem Schriftsatz des Antragsgegners ans Gericht werde deutlich, dass der Bescheid an erheblichen Ermessensfehlern leide. Dies betreffe beispielsweise das konkrete Impfrisiko mit aktuellem allergischen Zustand, relevante Eingriffskonsequenzen für die Familie, familienanamnestische Konkretisierung der Immunschwächen und Erkrankungen, die Unterlagen, die jetzt dem Gericht übermittelt wurden etc. Gänzlich fehle in der Behördenakte die Telefonnotiz der Mitteilung der Frau … über das ohne Begründung ergangene Kita-Betretungsverbot aus dem Jahr 2022. Auch gehe der Antragsgegner in seinem Schriftsatz nicht darauf ein, warum das neueste Attest der Ärztin … vom 7. Januar 2025 nicht ausreichen solle. Der Amtsarzt … habe der Antragstellerseite auf deren Bitte, das aktuelle Attest einer Prüfung zu unterziehen, am 4. Februar 2025 mitgeteilt, dass er dies ablehnen müsse, da eine Zuständigkeit des Gesundheitsamtes aufgrund des zwischenzeitlich anhängigem Klageverfahrens nicht mehr gegeben sei. Unzutreffend sei auch, dass der Antragsgegner erst durch den Eilantrag von der angespannten familiären Situation erfahren haben wolle. Die Situation sei bereits beim Beratungsgespräch thematisiert worden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die Behördenakte des Antragsgegners Bezug genommen.
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Der auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage (AN 18 K 25.243) gerichtete Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO gegen das gemäß § 20 Abs. 12 Satz 7 IfSG sofort vollziehbare Betretungsverbot in Ziffer 1 des Bescheids der Landratsamtes … vom 22. Januar 2025 bleibt ohne Erfolg.
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1. Der Antrag ist zwar zulässig. Insbesondere ist die Antragstellerin auch antragsbefugt analog § 42 Abs. 2 VwGO, obwohl der angefochtene Bescheid lediglich an beide Elternteile der Antragstellerin adressiert worden ist. Die Antragstellerin ist Inhaberin des Anspruchs aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VII, wonach ein Kind nach Vollendung des dritten Lebensjahres bis zum Schuleintritt Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung hat. Das gegen ihre Eltern gerichtete Handlungsgebot, ein Betreten der Einrichtung zu verhindern, wirkt sich über die elterliche Sorge unmittelbar auf diesen Anspruch aus und vereitelt diesen letztlich; die Antragstellerin kann das … nicht mehr betreten. Insofern kann sie geltend machen, in diesem Anspruch möglicherweise verletzt zu sein.
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2. Der Antrag ist indes unbegründet.
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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht in den Fällen, in denen gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO die aufschiebende Wirkung einer Anfechtungsklage – wie vorliegend nach § 20 Abs. 12 Satz 7 IfSG – kraft Gesetzes entfällt, diese ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO eine eigene, originäre Ermessensentscheidung, der die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung der Klage zugrunde liegt. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache wesentliches, aber nicht alleiniges Kriterium (vgl. BVerwG, B.v. 6.7.1994 – 1 VR 10.93 – juris Rn. 4). Wird dieser voraussichtlich keinen Erfolg haben, ist dies ein starkes Indiz für die Ablehnung des Antrags (BayVGH, B.v. 26.07.2011 – 14 CS 11.535). Aufgrund des summarischen Charakters des Eilverfahrens und seiner nur begrenzten Erkenntnismöglichkeiten können im Rahmen des Eilrechtsschutzes allerdings weder schwierige Rechtsfragen vertieft oder abschließend geklärt, noch komplizierte Tatsachenfeststellungen getroffen werden; solches muss dem Verfahren der Hauptsache überlassen bleiben. Auch können vordringlich nur die Einwände berücksichtigt werden, die von dem Rechtsschutzsuchenden selbst vorgebracht werden, es sei denn, ein Fehler drängt sich evident auf (vgl. zum Ganzen OVG NRW, B.v. 26.1.1999 – 3 B 2861/97 – juris Rn. 4).
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Die Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Vollziehungsinteresse und dem Interesse der Antragstellerin, vorläufig von der Vollziehung des Betretungsverbotes verschont zu bleiben, fällt zulasten der Antragstellerin aus. Die in der Hauptsache erhobene Klage hat voraussichtlich keinen Erfolg. Das Betretungsverbot ist bei summarischer Prüfung rechtmäßig. Gründe – gleichwohl und entgegen der gesetzgeberischen Grundentscheidung für den Sofortvollzug – dem Aussetzungsinteresse der Antragstellerin ausnahmsweise den Vorrang einzuräumen, sind nicht gegeben.
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Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist dabei der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Denn bei dem angeordneten Betretungsverbot handelt es sich um einen Dauerverwaltungsakt.
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Rechtsgrundlage des angegriffenen Betretungsverbotes ist § 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG i.V.m. § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG. Danach kann das Gesundheitsamt einer Person, die trotz der Anforderung nach § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG keinen Nachweis innerhalb einer angemessenen Frist vorlegt, untersagen, dass sie die dem Betrieb einer in § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG genannten Einrichtung dienenden Räume betritt.
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Wenn – wie vorliegend – die eigentlich zu verpflichtende Person minderjährig ist, so hat derjenige für die Einhaltung der diese Person nach den Absätzen 9 bis 12 treffenden Verpflichtungen zu sorgen, dem die Sorge für diese Person zusteht, § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG. Der Gesetzgeber hat mit § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG nicht nur eine Vertretung des Kindes durch den Personensorgeberechtigten, sondern eine Übertragung der Verpflichtung auf den Sorgeberechtigten statuiert (BayVGH, B.v. 6.10.2021 – 25 CE 21.2383 – juris Rn. 8).
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An der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen hegt das Gericht keine Zweifel. Das Bundesverfassungsgericht hat § 20 Abs. 8, 9, 12 und 13 IfSG bereits mit Beschluss vom 21. Juli 2022 (1 BvR 469/20) für verfassungsgemäß erklärt, soweit – wie vorliegend – Kinder betroffen sind, die in einer Kindertageseinrichtung oder in einer nach § 43 Abs. 1 SGB VIII erlaubnispflichtigen Kindertagespflege betreut werden.
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Das Betretungsverbot hält sich auch in dem durch die Regelungen vorgegebenen Rahmen. So sind die Tatbestandsvoraussetzungen vorliegend erfüllt (dazu 2.1). Auch ist die getroffene Anordnung auf Rechtsfolgenseite nicht zu beanstanden (2.2).
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2.1 Das Landratsamt, Gesundheitsamt, ist die für die Anordnung zuständige Behörde nach § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG, § 65 Satz 4 ZustV, Art. 1 Abs. 1 Nr. 3 Gesundheitsdienstgesetz. Die Antragstellerin unterfällt auch der Nachweispflicht nach § 20 Abs. 1 Satz 1 IfSG, weil sie die Kindertageseinrichtungen „…“ besucht und damit in einer Gemeinschaftseinrichtung nach § 33 Nr. 1 IfSG betreut wird.
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Insofern ist das Gesundheitsamt grundsätzlich befugt, einen Nachweis nach § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG anzufordern, der – zusammengefasst – bestehen kann, entweder (i) in einer Impfdokumentation oder einem ärztlichen Zeugnis, dass ein ausreichender Impfschutz gegen Masern vorliegt (§ 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 IfSG) oder (ii) in einem ärztlichen Zeugnis darüber, dass eine Immunität gegen Masern gegeben ist oder die betroffene Person aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden kann (§ 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 IfSG) oder (iii) in der Bestätigung einer staatlichen Stelle oder der Leitung etwa einer Gemeinschaftseinrichtung darüber, dass ein Nachweis nach Nr. 1 oder Nr. 2 bereits vorgelegen hat (§ 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 3 IfSG).
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Die Befugnis wäre nur dann nicht mehr eröffnet, wenn die Nachweispflicht nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG bereits erfüllt worden wäre. Dies ist aber nicht der Fall. Ein tauglicher Masernschutznachweis wurde bislang noch nicht erbracht. Insbesondere wurde weder eine medizinische Kontraindikation gegenüber dem Gesundheitsamt nachgewiesen noch wurde eine Bestätigung der Leitung der Kindertagesstätte vorgelegt, dass der Nachweis einer Kontraindikation in der Vergangenheit bereits erbracht worden wäre.
33
Als eine Kontraindikation – auf eine solche beruft sich die Antragstellerin – sind Gegenanzeigen, Befunde oder Merkmale zu verstehen, die eine bestimmte Anwendung wegen zu erwartender Nachteile ausschließen oder als nicht geeignet erscheinen lassen (vgl. Robert Koch-Institut, Infektionsschutz und Infektionsepidemiologie, Fachwörter – Definitionen – Interpretationen, S. 82, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Institut/Service-und-Besucherinformation/Broschueren/Fachwoerterbuch_Infektionsschutz.pdf? blob=publicationFile& v=3 zuletzt abgerufen am 11.02.2025). Es müssen demnach bei der betroffenen Person konkrete Umstände vorliegen, die dazu führen, dass eine Masernimpfung für sie erhebliche Nachteile erwarten lässt.
34
Dabei ist der Nachweis einer medizinischen Kontraindikation nur dann geführt, wenn die Angaben im ärztlichen Zeugnis plausibel sind und der Beweiswert des Nachweises auch sonst nicht erschüttert ist. Das ärztliche Zeugnis darf sich dabei nicht damit begnügen, lediglich das Bestehen einer medizinischen Kontraindikation zu behaupten. Vielmehr muss es nähere Angaben zur Art der medizinischen Kontraindikation enthalten, die das Gesundheitsamt und im Streitfall das Gericht in die Lage versetzen, deren Vorliegen selbstständig nachzuvollziehen (BayVGH, B.v. 7.7.2021 – 25 CS 21.1651 – juris Rn. 14; OVG NRW, B.v. 20.12.2024 – 13 B 179/24 – juris Rn. 55). Gegen diese Anforderungen spricht auch nicht die Formulierung in § 20 Abs. 12 Satz 2 IfSG, der das Gesundheitsamt u. a. ermächtigt, eine ärztliche Untersuchung dazu anzuordnen, ob die betroffene Person auf Grund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen Masern geimpft werden kann, wenn Zweifel an der Echtheit oder inhaltlichen Richtigkeit des „vorgelegten“ Nachweises bestehen. Hieraus ist nicht zu schließen, dass die Vorlage jeglichen Nachweises unabhängig von dessen Inhalt oder Aussagekraft zur Erfüllung der Nachweispflicht ausreichend ist. Die Verwendung des Begriffs „vorgelegt“ beschreibt den tatsächlichen Vorgang, dass das entsprechende Dokument beim Gesundheitsamt eingereicht wurde, enthält aber – worauf wohl die Antragstellerin abstellt – gerade nicht die Wertung, dass mit der bloßen Vorlage unabhängig von Anforderungen an den Inhalt des Nachweises den Pflichten nach § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG bereits genügt wäre. Eine derartige Auslegung des Wortlautes würde den Sinn und Zweck der Regelung in unzulässiger Weise außer Acht lassen (OVG NRW, B.v. 20.12.2024 – 13 B 179/24 – juris Rn. 59; SächsOVG, B.v. 17.1.2025 – 3 B 203/24 – juris Rn. 23.). Insofern darf das Gesundheitsamt damit, anders als die Antragstellerseite meint, einen Nachweis auf der Grundlage von § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG auch erneut anfordern, wenn ein bereits vorgelegter Nachweis nicht plausibel ist bzw. dessen Beweiswert erschüttert ist.
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Die bislang vorgelegten Atteste genügen ersichtlich nicht den vorstehend dargestellten Anforderungen.
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Die ärztliche Bescheinigung der … vom 9. Februar 2022 wird diesen Anforderungen nicht ansatzweise gerecht. Sie beschränkt sich vielmehr auf die pauschale Feststellung, es liege eine dauerhafte, medizinische Kontraindikation vor, aufgrund derer nicht gegen Masern geimpft werden könne. Dem ärztlichen Zeugnis ist weder eine Begründung noch die Spezifizierung einer Kontraindikation zu entnehmen. Die Bescheinigung wiederholt lediglich sinngemäß den Gesetzeswortlaut und ist einer Plausibilitätskontrolle nicht zugänglich.
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Ähnliches gilt für das ärztliche Attest der Ärztin … vom 29. Juli 2024. Auch dieses stellt lediglich ein Ergebnis in den Raum, ohne die erforderliche Begründung zu liefern, die zu diesem Ergebnis geführt hat und dieses trägt. So wird beispielsweise schlagwortartig auf eine „familiäre Vorgeschichte“ hingewiesen, ohne jedoch auszuführen, worin diese bestehe. Das Attest ist mithin nicht geeignet, ein Mindestmaß an Schlüssigkeitsprüfung zu gewährleisten.
38
Auch das weitere Zeugnis der Ärztin … vom 7. Januar 2025 legt eine Kontraindikation nicht plausibel dar. Hinsichtlich der allergischen Hautreaktionen der Antragstellerin (Milchschorf seit früher Kindheit, Reaktion auf bisher noch nicht weiter untersuchte Lebensmittel) ist für das Gericht derzeit eine medizinische Kontraindikation – selbst in Zusammenschau mit dem nicht näher substantiierten Vorbringen, dass auch die Eltern allergische Vorerkrankungen aufweisen würden – nicht erkennbar. Bei Allergien handelt es sich grundsätzlich nur dann um eine medizinische Kontraindikation, wenn es sich um schwere Allergien gegen einen Bestandteil des Impfstoffs handelt (vgl. Robert Koch-Institut: Faktenblatt zum Impfen: Falsche und richtige Kontraindikationen bei Impfungen, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Themen/Infektionskrankheiten/Impfen/Informationsmaterialien/Faktenblaetter-zum-Impfen/Kontraindikationen.html zuletzt abgerufen am 11.2.25). Dass bei der Antragstellerin oder ihren Eltern eine Allergie gegen einen Inhaltsstoff der Impfung vorliegt, ergibt sich weder aus den Angaben in der ärztlichen Bescheinigung noch aus dem sonstigen Vortrag. Wie die Ärztin zu der Erkenntnis kommt, dass die allergische Diathese bei der Antragstellerin zu einem 90-prozentigen Risiko führe, dass sie ebenfalls auf Inhaltsstoffe eines MasernMumsRöteln-Impfstoffes (MMR-Impfstoffes) allergisch reagieren könne, ist mangels Angaben hierzu nicht nachvollziehbar.
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Soweit das Attest für ein erhöhtes Risiko der Antragstellerin den Umstand anführt, dass insbesondere bei ihren beiden Elternteilen sowie beim Zwillingsbruder ihres Vaters nach (MMR-)Impfungen schwere (neurologische) Nebenwirkungen aufgetreten seien, so entbehrt dieser Vortrag – abgesehen davon, dass gänzlich offenbleibt, ob und inwieweit sich die Anfälligkeit für solche Nebenwirkungen auf die Antragstellerin vererben könnten – ebenfalls jeglicher Plausibilität. Hinsichtlich der beim Vater und Onkel der Antragstellerin aufgetretenen Impfkomplikationen wird seitens der Ärztin lediglich auf die beiden Verdachtsmeldungen des Vaters an das Paul-Ehrlich-Institut vom 30. und 31. Oktober 2022 verwiesen. Insofern ist schon fraglich, ob der Vater der Antragstellerin überhaupt die erforderliche Sach- und Fachkunde für die Feststellung, dass es sich tatsächlich um Impfkomplikationen handelt – andere Nachweise wurden hierzu jedenfalls nicht vorgelegt – besitzt. Darüber hinaus stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage die entsprechenden Feststellungen getroffen worden sind und ob diese erst nach etwa 30 Jahren nach der Impfung vorgenommenen Verdachtsmeldungen überhaupt glaubhaft sind. Außerdem bezieht sich die den Vater der Antragstellerin betreffende Verdachtsmeldung – entgegen der Ausführungen im ärztlichen Attest – nicht auf einen MMR-Impfstoff sondern auf den Impfstoff „TicoVac Baxter“, einem FSME-Impfstoff, so dass dies aus Sicht des Gerichtes hinsichtlich möglicher Impfreaktionen der Antragstellerin gegen ein Masernimpfung (MMR-Impfstoff) schon nicht hinreichend aussagekräftig ist. Ob sich die Ärztin von den vorgetragenen Impfschäden selbst ein Bild gemacht hat bzw. zumindest frühere ärztliche Unterlagen eingesehen hat, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Soweit die Ärztin ausführt, dass bei der Mutter der Antragstellerin nach Impfungen beispielsweise Fieberkrämpfe aufgetreten seien, so sind derartige Krämpfe bei Kleinkindern nach Einschätzung des RKI unabhängig von Impfungen häufig. Im Alter zwischen 6 Monaten und 4 Jahren erleiden 2-5% der Kinder mindestens einen Fieberkrampf. Fieberkrämpfe nach Impfungen unterscheiden sich dabei nicht von Fieberkrämpfen anderer Ursachen (Robert Koch-Institut zur Frage Welche Bedeutung haben Fieberkrämpfe nach Impfungen? abrufbar unter: https://www.rki.de/SharedDocs/FAQs/DE/Impfen/Fieberkrampf/FAQ-Liste_Fieberkrampf.html#entry_16870748 zuletzt abgerufen am 11.2.2025). Fieberkrämpfe in der Anamnese des Impflings oder die Neigung zu Krampfanfällen in der Familie sind damit nicht als Kontraindikationen anzusehen und stehen einer Masernimpfung letztlich nicht entgegen (Robert Koch-Institut zu Kontraindikationen zur Durchführung von Impfungen: Häufig gestellte Fragen und Antworten, Sollten Impfungen trotz bestehender anderer Erkrankungen durchgeführt werden? abrufbar unter https://www.rki.de/SharedDocs/FAQs/DE/Impfen/AllgFr_Kontraindi/faq_impfen_Kontraindi_ges.html#entry_16821954 zuletzt abgerufen am 13.2.2025).
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Auch hinsichtlich der Ausführungen im Attest, dass weitere immunologische Faktoren wie die häufige Infektanfälligkeit der Antragstellerin mit Entzündungen des Mittelohres derzeit dauerhaft gegen Impfungen sprechen würden, erschließt sich dem Gericht nicht, warum dies eine Kontraindikation für eine Masernimpfung darstellen soll. Chronische Grunderkrankungen begründen – selbst wenn es sich z. B. um solche des Herzens handelt – nicht per se eine Kontraindikation. Nur wenn durch die Erkrankung oder die notwendige medikamentöse Therapie die Immunfunktion der Patientin in bestimmter Weise beeinträchtigt ist, dürfen keine Lebendimpfstoffe, also auch nicht die Masernimpfung (als MMR-Kombinationsimpfstoff), verabreicht werden (vgl. Robert Koch-Institut, Antworten auf häufig gestellte Fragen zur Schutzimpfung gegen Masern, Kann ich trotz einer chronischen Grunderkrankung gegen Masern geimpft werden? abrufbar unter https://www.rki.de/SharedDocs/FAQs/DE/Impfen/MMR/FAQ_Uebersicht_MSG.html#entry_16871000 zuletzt abgerufen am 11.2.2025). Dass ein solcher Fall vorliegt, ergibt sich aber weder aus dem Attest, noch liegt dies bei häufigen Infekten auch mit Entzündungen des Mittelohres nahe. Eine Kontraindikation würde nach den Angaben des Robert-Koch-Instituts regelmäßig bei akutem Fieber über 38,5°C oder einer akuten schweren Erkrankung vorliegen, bei Schwangerschaft, bestimmten schweren Einschränkungen des Immunsystems und bekannten Allergien gegen Bestandteile des Impfstoffs (siehe bereits oben sowie s.o. Robert Koch-Institut: Faktenblatt zum Impfen: Falsche und richtige Kontraindikationen bei Impfungen, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Themen/Infektionskrankheiten/Impfen/Informationsmaterialien/Faktenblaetter-zum-Impfen/Kontraindikationen.html zuletzt abgerufen am 11.2.25).
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Der Antragstellerin ist zwar darin zuzustimmen, dass es sich bei der Auflistung des Robert Koch-Instituts nicht um eine abschließende Aufzählung handelt und die Frage nach dem Vorliegen einer medizinischen Kontraindikation letztlich wie jede ärztliche Maßnahme im Einzelfall nach dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft zu beurteilen ist, dennoch unterliegt der Nachweis einer Kontraindikation aus hiervon abweichenden Gründen jedenfalls besonderen Anforderungen an seine Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit. Dem genügen die hier von Frau …, einer Ärztin für Homöopathie, erstellten Atteste bzw. die von der Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin … erstellte bloße Bescheinigung nicht.
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Der Vollständigkeit halber ist noch anzumerken, dass auch das vom Montessori Kinderhaus Altdorf unterschriebene und abgestempelte Formblatt „Nachweis über einen ausreichenden Masernschutz […] in Gemeinschaftseinrichtungen“ vom 14. September 2022 (Seite 3 der Behördenakte) die Anforderungen des § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 3 IfSG nicht erfüllt. Bei einem solchen Nachweis handelt es sich um eine Bestätigung einer staatlichen Stelle oder der Leitung einer anderen in § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG genannten Einrichtung darüber, dass ein Nachweis nach § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 oder Nr. 2 IfSG bereits vorgelegen hat. Auch diese Bestätigung darf sich dabei nicht auf die bloße Wiederholung des Gesetzeswortlautes beschränken. Ähnlich wie ärztliche Atteste muss auch eine solche Bestätigung wenigstens derartige Angaben zum Nachweis enthalten, die das Gesundheitsamt im Rahmen seiner aus § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG resultierenden Kontrollbefugnis in die Lage versetzen, die Bestätigung auf Plausibilität hin zu überprüfen. (vgl. ThüriOVG, B.v. 30.4.2024 – 3 EO 75/24 – juris Rn. 24f.). Das Formblatt genügt diesen Anforderungen ersichtlich nicht, da es sich im Wesentlichen um eine pauschale Wiedergabe des Gesetzestextes handelt („Für o.g. Person sind die Anforderungen gemäß § 20 Absatz 9 IfSG zum Masernschutz formal erfüllt durch: […] Ärztliche Bescheinigung über eine dauerhafte oder vorübergehende medizinische Kontraindikation, aufgrund derer eine Masernschutzimpfung (derzeit) nicht gegeben werden darf.“).
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Bis heute wurde damit von Seiten der Antragstellerin kein geeigneter Masernschutznachweis vorgelegt, obwohl der Antragsgegner ihr bzw. ihren Eltern hierfür eine angemessene Frist eingeräumt hat.
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Zwar war die gesetzte Frist zur Vorlage der geforderten Nachweise im letzten Aufforderungsschreiben vom 6. Mai 2024 von etwa 4 Wochen im Hinblick darauf, dass ein plausibler Masernschutznachweis gerade auch durch den Nachweis einer Impfung erfolgen kann und die Antragstellerin, da diese älter als ein Jahr ist, für einen ausreichenden Impfschutz zwei geeignete Schutzimpfungen gegen Masern aufweisen müsste (§ 20 Abs. 8 Satz 2 IfSG), zunächst zu kurz bemessen (vgl. die Empfehlungen zum vierwöchigen Mindestabstand zwischen beiden Impfungen unter RKI – Masern – Antworten auf häufig gestellte Fragen zur Schutzimpfung gegen Masern, abrufbar unter https://www.rki.de/SharedDocs/FAQs/DE/Impfen/MMR/FAQ_Uebersicht_MSG.html#entry_16871022 zuletzt abgerufen am 12.2.2025). Die Frist wurde jedoch – wenn auch erst aufgrund eines Fristverlängerungsgesuchs des Vaters der Antragstellerin – bis zum 5. August 2024 verlängert. Vor diesem Hintergrund und mit Blick darauf, dass das Landratsamt … bezüglich eines vorzulegenden Masernschutznachweises bereits seit Ende 2022 mit den Eltern in Kontakt stand sowie aus den vorgelegten Behördenakten und auch aus den Stellungnahmen der Beteiligten im Gerichtsverfahren hervorgeht, dass der Antragsgegner die Eltern der Antragstellerin in Gesprächen oder auch schriftlichen Mitteilungen mehrfach darauf hingewiesen hat, dass das vorgelegte Attest vom Februar 2022 nicht ausreiche, und wie Zweifel an einer bestehenden Kontraindikation beseitigt werden könnten, ist die Frist hier als angemessen zu bewerten.
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Entgegen der Ansicht der Antragstellerin hat der Antragsgegner die Eltern der Antragstellerin auch mit Regelungswirkung, mithin durch Verwaltungsakt, unter Fristsetzung zur Vorlage der Nachweise aufgefordert. Dem Aufforderungsschreiben vom 6. Mai 2024 kann die Qualifizierung als Verwaltungsakt nicht abgesprochen werden. Ein solcher ist gemäß der Legaldefinition in Art. 35 Satz 1 BayVwVfG jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Mit dem genannten Schreiben forderte das Landratsamt die Eltern der Antragstellerin unter Fristsetzung zur Vorlage der Nachweise auf („Wir fordern Sie daher nochmals ausdrücklich auf, die gesetzlich vorgeschriebenen Masernschutznachweise […] vorzulegen“) und stellte bei Nichterfüllung der Verpflichtung den Erlass weiterer Maßnahmen in Aussicht. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass das Schreiben nicht förmlich als Bescheid bezeichnet und nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrungversehen war. Entscheidend ist nur, dass das Schreiben unmissverständlich eine Handlungsaufforderung zum Ausdruck brachte.
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Unabhängig davon ist entgegen dem Vortrag der Antragstellerin die Aufforderung zur Vorlage eines Nachweises binnen ausreichender Frist nicht als Formalvoraussetzung zu verstehen, sondern im Lichte des dahinterstehenden Grundgedankens als Voraussetzung zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit. Das einschneidende Betretungsverbot soll eben erst dann ausgesprochen werden, wenn ein Nachweis trotz Kenntnis dieser Möglichkeit nicht innerhalb eines Zeitraums, der für dessen Erbringung angemessen ist, vorgelegt wurde. Hierfür reicht es aber bereits aus, wenn von dem Antragsteller (rechtzeitig) vor dem Ausspruch eines Betretungsverbotes als milderes Mittel die Vorlage eines Nachweises verlangt wird, der das Betretungsverbot obsolet macht, und zwar unabhängig davon, wie dieses Verlangen einzuordnen ist.
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2.2 Die Anordnung des Betretungsverbotes ist auch auf Rechtsfolgenseite nicht zu beanstanden. Die Ermessensausübung ist im Rahmen des gerichtlichen Prüfungsumfangs (vgl. § 114 Satz 1 VwGO) ordnungsgemäß erfolgt. Der Antragsgegner hat das ihm bei der Entscheidung zukommende Ermessen erkannt, es im Sinne von Art. 40 BayVwVfG entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausgeübt und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten. Entgegen des Vortrags der Antragstellerseite lassen die Ausführungen des Landratsamts im streitgegenständlichen Bescheid die angestellten Erwägungen zweifelsfrei erkennen. Zudem hat das Landratsamt seine Ermessensausübung im gerichtlichen Verfahren in nicht zu beanstandender Weise – insbesondere hinsichtlich des im Gerichtsverfahren erfolgten Vortrags der Antragstellerin – nach § 114 Satz 2 VwGO ergänzt.
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Das Betretungsverbot verfolgt das legitime öffentliche Ziel des Schutzes vulnerabler Personen vor einer für sie gefährlichen Masernerkrankung (BVerfG, B.v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 – BVerfGE 162, 378-454, Rn. 105 ff.). Entgegen des Vorbringens der Antragstellerin kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Masern in Deutschland zwischenzeitlich eliminiert wurden. Zwar verweist die Antragstellerin richtigerweise darauf, dass Deutschland von der WHO erstmals für das Jahr 2022 den Status der Unterbrechung der endemischen Transmission der Masern erhalten hat (RKI, Epidemiologisches Bulletin Nr. 15/2024, S. 3, 6, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Aktuelles/Publikationen/Epidemiologisches-Bulletin/2024/15_24.pdf? blob=publicationFile& v=1; %20s.%20auch%20WHO,%20Twelfth%20meeting%20of%20the%20Euro-pean%20Regional%20Verification%20Commission%20for%20Measles%20and%20Rubella%20Elimination zuletzt abgerufen am 12.2.2025). Dies reicht aber für die Annahme, die Masern seien in Deutschland eliminiert, nicht aus. Hierfür wäre der Nachweis erforderlich, dass die endemische Transmission der Viren über drei Jahre unterbrochen ist (vgl. RKI, Standardvorgehensweise (SOP) der Nationalen Verifizierungskommission Masern/Röteln beim Robert Koch-Institut, Version 4.0., S. 5, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Themen/Infektionskrankheiten/Impfen/Eliminationsprogramme/Nationale-Verifizierungskommission-Masern-Roeteln/Methodik/Methodik-Download.pdf? blob=publicationFile& v=1 zuletzt abgerufen am 12.2.2025). Seit 2023 steigen die Fallzahlen wieder an, liegen jedoch noch auf einem niedrigeren Niveau als in den Jahren vor der COVID-19-Pandemie. In anderen Ländern der europäischen WHO-Region werden teilweise deutlich höhere Fallzahlen gemeldet. Ein hoher Anteil der gegenwärtig in Deutschland beobachteten Fälle wurde aus dem Ausland importiert. Die kurzen Infektionsketten deuten auf eine hohe Immunität in der Bevölkerung hin, die die Masernausbreitung mittlerweile deutlich erschwert. Deutschland hat somit zwar einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Masernelimination getan. Um dieses Ziel aber tatsächlich zu erreichen (und auch aufrechtzuerhalten), müssen Maßnahmen ergriffen werden, um die bestehenden Immunitätslücken so schnell wie möglich zu schließen. Dies gilt insbesondere für die Altersgruppe der 2- bis 4-jährigen Kinder (BayVGH, U.v. 5.12.2024 – 20 BV 24.1343 – juris Rn. 27).
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Der Antragsgegner durfte das Betretungsverbot auch als erforderlich ansehen. Ein milderes, gleich effektives Mittel ist nicht ersichtlich. Der Antragsgegner suchte mehrfach den Kontakt mit den Eltern der Antragstellerin und erläuterte wiederholt, die Anforderungen an einen Nachweis einer Kontraindikation. Das Betretungsverbot ist auch nicht deshalb ermessensfehlerhaft, weil das Gesundheitsamt als milderes Mittel keine ärztliche Untersuchung der Antragstellerin angeordnet hat (vgl. § 20 Abs. 12 Satz 2, HS 1 IfSG). Eine solche Untersuchung wäre hier schon nicht geeignet. Eine andere Maßnahme kommt als milderes Mittel gerade nur dann in Betracht, wenn mit ihrer Hilfe der gewünschte Erfolg, d.h. der Nachweis der Masernimpfung bzw. der Kontraindikation, gefördert werden kann. Das ist hier jedoch nicht erkennbar. Das Landratsamt hat nie bestritten, dass die von der Antragstellerin ins Feld geführten Krankheiten und Allergien (z.B. Milchschorf im Babyalter, allergische Hautreaktionen auf bestimmte Lebensmittel, häufige Infekte) bei ihr tatsächlich vorliegen. Vielmehr verneint das Landratsamt gerade, dass es sich bei diesen Krankheiten bzw. Allergien um solche einer Masernimpfung entgegenstehende Kontraindikationen handelt. Aus diesem Grund hätte auch die Einholung weiterer Auskünfte bei der Ärztin der Antragstellerin zu deren Gesundheitszustand keinen Mehrwert gehabt. Insofern kommt es auf die Frage, ob eine Entbindung von der Schweigepflicht hier zumindest mündlich angeboten wurde, ob diese schriftlich hätte niedergelegt werden können oder müssen bzw. ob man eine solche überhaupt benötigt, schon nicht an.
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Das Betretungsverbot ist schließlich auch angemessen. Bei der Abwägung der Interessen der Antragstellerin und ihrer Eltern mit dem öffentlichen Interesse an einem flächendeckenden Masern-Impfschutz in Deutschland hat der Antragsgegner insbesondere auch die familiäre Situation sowie die für die Antragstellerin positive Förderung im Kindergarten beachtet. Mit Blick auf die – verfassungsmäßige – Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers, dass öffentliche Gemeinschaftseinrichtungen nur, sofern medizinisch möglich, mit Masern-Impfschutz betreten werden sollen, ist beim Abwägungsergebnis des Antragsgegners letztlich kein Ermessenfehler zu erkennen, zumal die Antragstellerin durch das Kita-Betretungsverbot nicht in einen betreuungslosen Zustand gerät, sondern – wenn auch hinsichtlich der Fördermöglichkeiten ggf. nicht gleichwertig – jedenfalls zu Hause durch die Mutter betreut werden kann. Wie bereits ausgeführt, ist es dem Gericht versagt, die behördlichen Ermessenserwägungen durch eigene zu ersetzen.
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Im Übrigen ist das Betretungsverbot nach § 20 Abs. 12 Satz 8 IfSG aufzuheben, sobald ein gültiger Nachweis vorgelegt wird. Dem hat der Antragsgegner bereist dadurch entsprochen, dass er durch Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids das unter Ziffer 1 ausgesprochene Betretungsverbot unter eine entsprechend auflösende Bedingung im Sinne des Art. 36 Abs. 2 Nr. 2 BayVwVfG gestellt hat.
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Nach alledem ist bei summarischer Prüfung das Betretungsverbot nicht zu beanstanden; der Antrag mithin abzulehnen.
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Auf den weiteren Vortrag der Antragstellerseite zu (vermeintlichen) Fehlern im Verwaltungsverfahren war hier mangels Entscheidungsrelevanz nicht näher einzugehen. So würde beispielsweise selbst die Verweigerung einer ordnungsgemäß beantragten Akteneinsicht als behördliche Verfahrenshandlung i.S.d. § 44a VwGO zu keinem derartigen rechtlichen Nachteil der Antragstellerin führen, welcher sich in einem die abschließende Entscheidung betreffenden Gerichtsverfahren nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr vollständig beheben lassen würde. Auch hat das Gericht keine Anhaltspunkte dafür, dass die vom Antragsgegner übersandte Behördenakte nur fragmentarisch geführt sein könnte. Eine Pflicht, sämtliche formlose Erklärungen aktenkundig aufzubewahren, besteht jedenfalls nicht. Soweit die Antragstellerin kritisiert, eine richtige Impfberatung i.S.v. § 20 Abs. 12 Satz 3 IfSG mit Aufklärung und Eingehen auf die Ängste der Eltern, habe nicht stattgefunden, so greift dies ebenfalls nicht durch. Zweck einer im Ermessen der Behörde stehenden Ladung zu einer Beratung und der Aufforderung zur Vervollständigung des Impfschutzes ist es, durch Aufklärung auf einen vollständigen Impfschutz hinwirken zu können. Mit Blick auf die zahlreichen Gespräche zwischen den Beteiligten und die zwischen ihnen geführte Korrespondenz, ist der Mehrwert einer nochmaligen „förmlichen“ Impfberatung nicht erkennbar.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG. Das Gericht orientiert sich dabei am Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Nach dessen Nr. 1.5 beträgt in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes der Streitwert in der Regel ½.