Titel:
(un) begleitete minderjährige Flüchtlinge, Kostenerstattung
Normenkette:
SGB VIII §§ 42a, 89d
Leitsätze:
1. Reist ein minderjähriger Flüchtling mit einem Erziehungsberechtigten in das Bundesgebiet ein, ist der Minderjährige im Rechtssinne begleitet, nicht unbegleitet (im Anschluss an BayVGH, U.v. 21.10.2022 – 12 BV 20.2079 – juris, Rn. 35; U.v. 14.10.2022 – 12 BV 20.2080 – juris, Rn. 39).
2. Im Falle eines lediglich „nachträglichen Unbegleitetwerdens“, mit anderen Worten dann, wenn der zunächst begleitet in das Bundesgebiet eingereiste Minderjährige von seinen Personensorge- oder Erziehungsberechtigten im Bundesgebiet allein zurückgelassen wird, ist (deshalb) für einen bundesrechtlichen Kostenerstattungsanspruch aus § 89d SGB VIII kein Raum (in Fortführung von BayVGH, U.v. 21.10.2022 – 12 BV 20.2079 – juris, Rn. 43 u. 47; U.v. 14.10.2022 – 12 BV 20.2080 – juris, Rn. 52 u. 56; U.v. 22.06.2022 – 12 BV 20.1934 – juris, Rn. 45 u. 49).
3. Ziel und Zweck der Regelung des § 89d SGB VIII ist es ausschließlich, eine überörtliche Kostenerstattung in denjenigen Fällen zuzulassen, in welchen kein Anknüpfungspunkt im Inland über einen (zumindest vorübergehenden) gewöhnlichen Aufenthalt (der einreisenden Person oder deren Eltern (-teile)) besteht (vgl. BT-Drucks. 13/10330, S. 20).
4. In allen anderen Fällen handelt sich um reguläre Jugendhilfe, für die § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nicht gilt und die der jeweils zuständige örtliche Träger in finanzieller Eigenverantwortung zu erbringen hat (so zutreffend VG Augsburg, U.v. 16.06.2020 – Au 3 K 18.1530 – juris, Rn. 27).
Schlagworte:
(un) begleitete minderjährige Flüchtlinge, Kostenerstattung
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 20.11.2024 – AN 6 K 22.2669
Fundstelle:
BeckRS 2025, 7337
Tenor
I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
IV. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 42.770,78 € festgesetzt.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
1
Mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter, vom beklagten Bezirk Erstattung der Kosten für bestimmte Jugendhilfeleistungen zu erwirken, die er dem minderjährigen Ausländer R. gewährt hat.
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1. R., geboren am ... 2001, reiste am 22. Juli 2018 zusammen mit seinem Vater in die Bundesrepublik ein, um Verwandte zu besuchen. Nach einem Streit trennte sich R. von seinem Vater und wurde am 25. Juli 2018 vom Stadtjugendamt M. vorläufig in Obhut genommen. Dort gab R. an, dass sein Vater vermutlich nach Albanien zurückgekehrt sei.
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2. Durch Bescheid der Landesstelle des Freistaats Bayern für die Verteilung von unbegleiteten ausländischen Kindern und Jugendlichen (Landesstelle) vom 6. August 2018 wurde R. dem Kläger zugewiesen. Mit Bescheid des Klägers vom 27. November 2018 wurde R. Jugendhilfe in Form der Inobhutnahme (14. August 2018 bis 11. September 2018) sowie in Gestalt von Hilfe zur Erziehung in einer Heimeinrichtung gewährt. Diese wurde mit Ablauf des 1. Juni 2019 eingestellt, da R. nach Albanien zurückkehrte.
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3. Mit Schreiben vom 28. September 2018 meldete der Kläger den Jugendhilfefall erstmals zur Kostenerstattung nach § 89d Abs. 1 SGB VIII an. Unter dem 13. November 2019 machte der Kläger Kostenerstattung für die gewährte Jugendhilfe in Höhe von insgesamt 42.506,11 € geltend. Mit weiteren Schreiben vom 12. März 2021 und 26. August 2022 wurden zudem Kosten für Krankenhilfe in Höhe von 37,07 € und 227,60 € geltend gemacht.
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4. Unter dem 11. Februar 2020 teilte der Beklagte dem Kläger mit, eine Kostenerstattung sei nicht möglich, da R. mit seinem Vater in die Bundesrepublik eingereist sei und demzufolge kein unbegleiteter ausländischer Minderjähriger gewesen sei. Eine Inobhutnahme habe daher durch die Stadt M. erfolgen müssen. Der Kläger sei örtlich nicht zuständig gewesen.
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5. Mit Schriftsatz vom 19. Dezember 2022 erhob der Kläger Klage auf Erstattung der Kosten für die gewährte Jugendhilfe. R. sei als unbegleiteter minderjähriger Ausländer im Sinne von § 42a SGB VIII anzusehen, da er zum Zeitpunkt, als das Stadtjugendamt M. erstmals Kenntnis von dem Hilfefall erlangt habe, alleine in Deutschland zurückgelassen worden sei. Nach Nr. 2.2 der Handlungsempfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen werde unter Bezugnahme auf Art. 2 Buchstabe e) der EU-Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates) ausgeführt, dass auch Minderjährige als unbegleitet anzusehen seien, die nach der Einreise in das Bundesgebiet von den Personenberechtigten oder Erziehungsberechtigten dort ohne Begleitung zurückgelassen würden, sofern davon auszugehen sei, dass die Trennung von Dauer sei und die Personen- und Erziehungsberechtigten aufgrund der räumlichen Trennung nicht in der Lage seien, sich um den Minderjährigen weiterhin zu kümmern. Die örtliche Zuständigkeit ergebe sich infolgedessen aus § 88a Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 SGB VIII sowie der Zuweisungsentscheidung aus § 42b Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, die für den Kläger bindend sei.
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6. Der Beklagte trat dem entgegen. Die Jugendhilfe sei nicht rechtmäßig geleistet worden, weil R. nicht unbegleitet, sondern nachweislich mit seinem Vater eingereist sei. Infolgedessen sei die Verteilung unrechtmäßig erfolgt und die Stadt M. nach § 87 SGB VIII für die Inobhutnahme zuständig gewesen. Entsprechend der Auslegungshilfe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 14. April 2016 zur Umsetzung des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher könnten ausländische Minderjährige nur dann unbegleitet sein, wenn diese ohne Personensorge- oder Erziehungsberechtigte nach Deutschland einreisten.
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7. Mit Urteil vom 20. November 2024 wies das Verwaltungsgericht München die Klage als unbegründet ab. Dem Kläger komme aus § 89d Abs. 1 SGB VIII kein Anspruch auf Erstattung der Kosten für die gewährte Jugendhilfe zu (§ 113 Abs. 5 VwGO). § 89d Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII setze eine rechtmäßige Zuweisungsentscheidung voraus, weil sich nur in diesem Fall die örtliche Zuständigkeit nach der Zuweisungsentscheidung „richtet“. Für den örtlichen Träger, dem der unbegleitete minderjährige Ausländer zugewiesen werde, bestehe jederzeit die Möglichkeit, hiergegen im Klagewege vorzugehen. Aus dem Gesamtzusammenhang der Vorschriften des SGB VIII zur Inobhutnahme und Verteilung unbegleiteter minderjähriger Ausländer ergebe sich, dass ein minderjähriger Ausländer nur dann „unbegleitet“ im Sinne des SGB VIII sei, wenn er tatsächlich unbegleitet in die Bundesrepublik eingereist sei. Eine Verteilung mittels einer Zuweisungsentscheidung nach § 42b Abs. 3 SGB VIII setze eine vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII voraus. § 42a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII wiederum lege fest, dass ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher grundsätzlich nur dann als unbegleitet zu betrachten sei, wenn die Einreise nicht in Begleitung eines Personensorgeberechtigten oder Erziehungsberechtigten erfolge. Auch aus der Überschrift und dem Wortlaut des § 42a Abs. 1 SGB VIII ergebe sich, dass diese Vorschrift nur für Kinder und Jugendliche gelte, die tatsächlich unbegleitet in die Bundesrepublik eingereist seien („nach unbegleiteter Einreise“; „sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird“). Da R. zusammen mit seinem Vater und damit einem Personensorgeberechtigten in die Bundesrepublik eingereist sei, seien die Voraussetzungen des § 89d Abs. 1 SGB VIII nicht gegeben.
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8. Mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. R. sei entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts als unbegleiteter minderjähriger Ausländer anzusehen, da er nach der Einreise durch das Verlassen seines Vaters faktisch unbegleitet in Deutschland verblieben sei. Das Verwaltungsgericht habe die Auslegung des Begriffs der „unbegleiteten Einreise“ zu eng gefasst und völker- und europarechtliche Vorgaben nicht ausreichend berücksichtigt. Die Zuweisungsentscheidung sei deshalb rechtmäßig ergangen und der Beklagte daher zur Kostenerstattung verpflichtet.
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 20. November 2024 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die Kosten der Jugendhilfe für R. im Zeitraum vom 14. August 2018 bis 1. Juni 2019 in Höhe von 42.770,78 € zu erstatten.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er verteidigt die Entscheidung des Verwaltungsgerichts. R. sei gemeinsam mit seinem Vater und damit nicht unbegleitet im Sinne von § 42a SGB VIII eingereist. Infolgedessen hätte er nach § 42 SGB VIII, nicht aber nach § 42a SGB VIII in Obhut genommen werden müssen. Die Verteilung durch die Landesstelle sei daher zu Unrecht erfolgt. Eine analoge Anwendung von § 42a SGB VIII auf nachträglich unbegleitet werdende Minderjährige komme mangels planwidriger Regelungslücke nicht in Betracht. Vielmehr habe das Jugendamt M. aufgrund der „fehlenden Unbegleitetheit“ des R. von Anfang an nach § 42 SGB VIII tätig werden müssen und sei insoweit nach § 87 SGB VIII auch örtlich allein zuständig gewesen.
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Mit Schreiben vom 20. März 2025 hat der Senat die Verfahrensbeteiligten unter Fristsetzung bis zum 3. April 2025 zu einer Entscheidung nach § 130a VwGO angehört. Weder bis zum Ablauf der gesetzten Frist noch bis zur Entscheidung des Senats gingen Stellungnahmen hierzu ein.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
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Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
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Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass dem Kläger ein Anspruch auf Erstattung der Kosten für gewährte Jugendhilfe aus § 89d Abs. 1 SGB VIII (i.V.m. Art. 52 Satz 1 AGSG) gegen den Beklagten nicht zukommt (§ 113 Abs. 5 VwGO).
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1. Der Senat kann über die Berufung des Klägers nach Anhörung der Beteiligten gem. § 130a Satz 1 VwGO in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens durch Beschluss entscheiden, da er diese einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich erachtet. Die Rechtssache weist weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht außergewöhnliche Schwierigkeiten auf (vgl. zu diesem Erfordernis BVerwG, U.v. 30.6.2004 – 6 C 28.03 –, BVerwGE 121, 211 [212]; U.v. 9.12.2010 – 10 C 13.09 –, BVerwGE 138, 289 [297 f.]). Die aufgeworfenen Rechtsfragen sind in der Rechtsprechung des Senats bereits hinreichend geklärt (vgl. BayVGH, U.v. 21.10.2022 – 12 BV 20.2079 – juris, Rn. 35, 43 u. 47; U.v. 14.10.2022 – 12 BV 20.2080 – juris, Rn. 39, 52 u. 56; U.v. 22.06.2022 – 12 BV 20.1934 – juris, Rn. 45 u. 49).
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Die Beteiligten hatten im Berufungsverfahren ausreichend Gelegenheit, sich zu den maßgeblichen Fragen zu äußern. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, welche auf der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK gründet (vgl. hierzu U.v. 29.10.1991 – Nr. 22/1990/213/275 –, NJW 1992, 1813 f.), muss in Fällen einer erstinstanzlichen öffentlichen mündlichen Verhandlung nicht stets und unabhängig von der Art der zu entscheidenden Fragen in der folgenden zweiten Instanz eine weitere mündliche Verhandlung stattfinden (vgl. BVerwG, B.v. 25.9.2007 – 5 B 53/07 – juris, Rn. 18). Dies gilt namentlich dann, wenn – wie im vorliegenden Fall – nur über Rechtsfragen zu entscheiden ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.9.2003 – 4 B 68/03 –, NVwZ 2004, 108 [110]; B.v. 7.9.2011 – 9 B 61/11 –, NVwZ 2012, 379 [380] Rn. 6 f.; s.a. Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: 7/2019, § 130a Rn. 3 a.E.). Tatsachenfragen, die eine (weitere) Beweiserhebung erfordert hätten, haben sich entscheidungserheblich nicht gestellt. Die aufgeworfenen Fragen lassen sich alleine aufgrund der Aktenlage und der bereits vorliegenden Rechtsprechung des Senats (vgl. BayVGH, U.v. 21.10.2022 – 12 BV 20.2079 – juris, Rn. 35, 43 u. 47; U.v. 14.10.2022 – 12 BV 20.2080 – juris, Rn. 39, 52 u. 56; U.v. 22.06.2022 – 12 BV 20.1934 – juris, Rn. 45 u. 49) angemessen beurteilen (siehe hierzu BVerwG, B.v. 25.9.2007 – 5 B 53/07 – juris, Rn. 18; s.a. Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: 7/2019, § 130a Rn. 3 a.E.).
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Mit Anhörungsschreiben vom 20. März 2025 hat der Senat die Verfahrensbeteiligten über das Ergebnis seiner rechtlichen Prüfung im Berufungsverfahren unter Hinweis auf seine Entscheidungen vom 21.10.2022 – 12 BV 20.2079 –, 14.10.2022 – 12 BV 20.2080 – und 22.06.2022 – 12 BV 20.1934 – jeweils juris in Kenntnis gesetzt. Ein diskursiver Prozess zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten (vgl. BVerwG, B.v. 20.5.2015 – 2 B 4/15 –, NVwZ 2015, 1299 Rn. 5; s.a. Anm. Heusch, NVwZ 2015, 1301) konnte daher stattfinden. Zu einem weitergehenden „Rechtsgespräch“ ist der Senat – selbst im Rahmen einer mündlichen Verhandlung – nicht verpflichtet (vgl. BVerfGE 86, 133 [144 f.] m.w.N.). Mithin kann der Senat in Ausübung des nach § 130a Satz 1 VwGO eingeräumten Ermessens durch Beschluss entscheiden. Einer weiteren Anhörungsmitteilung bedurfte es nicht (vgl. BVerwG, B.v. 17.5.1993 – 4 B 73/93 – juris, Rn. 3; B.v. 2.3.2010 – 6 B 72/09 –, NVwZ-RR 2010, 845 [846] Rn. 8; B.v. 22.6.2007 – 10 B 56/07 – juris, Rn. 9; B.v. 25.8.1999 – 8 C 12/98 – juris, Rn. 16).
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2. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass aus dem Zusammenspiel der jugendhilferechtlichen Vorschriften § 42a SGB VIII, § 42b SGB VIII,§ 88a SGB VIII und § 89d SGB VIII zu entnehmen ist, dass ein Kostenerstattungsanspruch des örtlichen Trägers der Jugendhilfe aus § 89d Abs. 1 SGB VIII dann nicht in Betracht kommt, wenn das ausländische Kind oder der ausländische Jugendliche bei seiner Einreise in die Bundesrepublik von dem Personensorgeberechtigten begleitet wird und erst nach der Einreise von dem Erziehungsberechtigten zurückgelassen oder sonst getrennt wird.
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Reist ein minderjähriger Flüchtling mit einem Erziehungsberechtigten in das Bundesgebiet ein, ist der Minderjährige im Rechtssinne begleitet, nicht unbegleitet (vgl. BayVGH, U.v. 21.10.2022 – 12 BV 20.2079 – juris, Rn. 35; U.v. 14.10.2022 – 12 BV 20.2080 – juris, Rn. 39). Entsprechende Personen sind gegebenenfalls auf der Grundlage des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII, nicht aber nach § 42a Abs. 1 SGB VIII in Obhut zu nehmen (vgl. Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek [Hrsg.], SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 42a Rn. 6 a.E.). Der eindeutige Wortlaut des § 42a Abs. 1 SGB VIII – „unbegleitete Einreise“ – steht dem entgegen. Auch aus europäischem Recht folgt insoweit nichts anderes, da der Schutz des entsprechenden Personenkreises auf der Grundlage von § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII hinreichend gewährleistet ist. Eine erweiternde Auslegung des § 42a Abs. 1 SGB VIII über dessen eindeutigen Wortlaut hinaus ist daher nach zutreffender Ansicht nicht geboten (vgl. hierzu Lange, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, Stand 24.05.2024, § 88a Rn. 20-22 auch in Auseinandersetzung mit abweichenden Auffassungen).
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Dementsprechend ist zugleich auch für einen bundesrechtlichen Kostenerstattungsanspruch im Falle des lediglich „nachträglichen Unbegleitetwerdens“, mit anderen Worten dann, wenn der zunächst begleitet in das Bundesgebiet eingereiste Minderjährige – etwa nach einer Urlaubsreise oder einem Verwandtenbesuch – von seinen Personensorge- oder Erziehungsberechtigten im Bundesgebiet allein zurückgelassen wird, kein Raum (vgl. BayVGH, U.v. 21.10.2022 – 12 BV 20.2079 – juris, Rn. 43 u. 47; U.v. 14.10.2022 – 12 BV 20.2080 – juris, Rn. 52 u. 56; U.v. 22.06.2022 – 12 BV 20.1934 – juris, Rn. 45 u. 49). In einem solchen Fall besteht wertungsmäßig kein Unterschied zu einem inländischen Jugendlichen, dessen Eltern die Erziehungsverantwortung nicht mehr übernehmen können oder wollen (vgl. VG Augsburg, U.v. 16.06.2020 – Au 3 K 18.1530 – juris, Rn. 27), oder der – etwa als Urlauber oder Besuchsreisender –, seinen gewöhnlichen Aufenthalt (wenn auch nur vorübergehend) bereits im Inland hat (vgl. BT-Drucks. 13/10330, S. 20).
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Zum Zwecke eines solchen „Verwandtenbesuchs“ ist R. gemeinsam mit seinem Vater eingereist. Erst anlässlich dieses Besuchs und des Streits mit dem Vater hat sich der Bedarf für eine Inobhutnahme des R. ergeben. In derartigen Fällen ist eine Kostenerstattung nach § 89d SGB VIII der ratio legis der Regelung entsprechend, (lediglich) die grenznahen Einreiseorte zu schützen, regelmäßig ausgeschlossen (vgl. Streichsbier, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, Stand: 12.12.2024, § 89d Rn. 10; Reisch, in: Jans/Happe/Saurbier/Maas, Jugendhilferecht, 3. Aufl., 55. Lfg., 1/2017, Rn. 9 zu § 89d SGB VIII; Eschelbach, in: Münder/Meysen/Trenczek [Hrsg.], SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 89d Rn. 4). Ziel und Zweck der Regelung des § 89d SGB VIII ist es ausschließlich, eine überörtliche Kostenerstattung in denjenigen Fällen zuzulassen, in welchen kein Anknüpfungspunkt im Inland über einen (zumindest vorübergehenden) gewöhnlichen Aufenthalt (der einreisenden Person oder deren Eltern (-teile)) besteht (vgl. BT-Drucks. 13/10330, S. 20). In allen anderen Fällen handelt sich insoweit vielmehr um reguläre Jugendhilfe, für die § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gerade nicht gilt und die der jeweils zuständige örtliche Träger in finanzieller Eigenverantwortung zu erbringen hat (vgl. VG Augsburg, U.v. 16.06.2020 – Au 3 K 18.1530 – juris, Rn. 27). Abweichende behördliche Handlungsempfehlungen binden den Senat nicht (vgl. BVerfGE 103, 142 [156]).
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Die Einbeziehung derartiger Fälle in das „Verteilungsverfahren“ ist – wie der vorliegende Fall zeigt – geradezu kontraproduktiv und jugendhilferechtlich verfehlt, weil der betroffene Minderjährige dadurch den überaus wichtigen Kontakt zu seinen bereits im Inland ansässigen Verwandten verliert (verkannt von Steinbüchel, in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42a Rn. 7, die den eindeutigen Wortlaut des Gesetzes mittels allg. Erwägungen korrigieren möchte, um auch diesen Personenkreis [widerrechtlich] in das „Verteilungsverfahren“ mit einbeziehen zu können). Statt in M. in der Nähe seiner Verwandten Aufenthalt zu finden, musste sich der Hilfeempfänger – letztlich aus rein fiskalischen Erwägungen – an das andere Ende Bayerns in den Landkreis N. begeben – ein nachgerade groteskes Ergebnis.
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Etwas anderes folgt schließlich auch nicht daraus, dass der Hilfeempfänger dem Kläger mit Bescheid der Landesstelle des Freistaats Bayern vom 6. August 2018 ausdrücklich zugewiesen wurde. Dieser Umstand allein vermag einen Kostenerstattungsanspruch nach § 89d Abs. 1 SGB VIII nicht zu begründen, sofern der Hilfeempfänger nicht der ratio legis der Regelung entsprechend (vgl. hierzu Streichsbier, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, Stand: 12.12.2024, § 89d Rn. 5), tatsächlich unbegleitet eingereist ist. Vielmehr obliegt es dem Zuweisungsadressaten, seine Zuständigkeit in eigener Verantwortung zu prüfen, sich gegen eine gegebenenfalls unrechtmäßige Zuweisungsentscheidung zur Wehr zu setzen (vgl. hierzu SächsOVG, U.v. 19.12.2019 – 3 A 719/18 –, juris Rn. 13) und die richtige Zuständigkeitsregelung zur Geltung zu bringen. Dies hat der Kläger offensichtlich unterlassen. § 89d SGB VIII setzt stets voraus, dass es sich um eine (formell und materiell) rechtmäßige Gewährung von Jugendhilfe handelt (vgl. Eschelbach, in: Münder/Meysen/Trenczek [Hrsg.], SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 89d Rn. 2). Vorliegend war das Jugendamt M. am gewöhnlichen und damals auch tatsächlichen (Besuchs-) Aufenthaltsort des Leistungsempfängers und nicht der Kläger formell zuständig.
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Der Berufung kann deshalb kein Erfolg beschieden sein.
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Unberührt bleibt – sofern (wie im vorliegenden Fall) Ansprüche auf Erstattung gegen den an sich zuständigen Rechtsträger (hier die Stadt M.) aufgrund des Verstreichens der Jahresfrist des § 111 Satz 1 SGB X ausgeschlossen sind – lediglich die (allerdings nur in den Grenzen anspruchsausschließenden Mitverschuldens bestehende) Möglichkeit, den Freistaat Bayern wegen der Rechtswidrigkeit der Zuweisungsentscheidung aus Amtshaftung (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) in Anspruch zu nehmen (vgl. hierzu BGHZ 116, 312 – juris, Rn. 11; siehe auch Wöstmann, in: Staudinger, BGB, § 839 Rn. 187).
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 ff. ZPO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 3 GKG.
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4. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor, da sich die Beantwortung der aufgeworfenen Rechtsfragen unmittelbar aus den gesetzlichen Bestimmungen selbst ergibt.