Titel:
Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtbeibringung eines Gutachtens eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers für den Kraftfahrzeugverkehr (Fahrprobe), Befähigung zum Führen von Kraftfahrzeugen, kein hinreichender Anfangsverdacht aufgrund eines einmaligen Vorfalls
Normenketten:
StVG § 2 Abs. 5, Abs. 8 S. 1, § 3 Abs. 1 S. 1, Abs. 4
FeV § 11 Abs. 8, § 46 Abs. 4
Schlagworte:
Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtbeibringung eines Gutachtens eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers für den Kraftfahrzeugverkehr (Fahrprobe), Befähigung zum Führen von Kraftfahrzeugen, kein hinreichender Anfangsverdacht aufgrund eines einmaligen Vorfalls
Vorinstanz:
VG Ansbach, Beschluss vom 13.02.2025 – AN 10 S 24.2713
Fundstelle:
BeckRS 2025, 7333
Tenor
I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 13. Februar 2025 wird abgeändert.
II. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 15. August 2024 wird wiederhergestellt. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller einen Ersatzführerschein und bis dahin einen vorläufigen Nachweis der Fahrerlaubnis (VNF) auszustellen.
III. Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen trägt die Antragsgegnerin.
IV. Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 8.750,- Euro festgesetzt.
Gründe
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Gegenstand des Rechtsstreits ist die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers.
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Der Antragsteller war Inhaber der Fahrerlaubnis der Klassen A, A1, B, BE, C1, C1E, M, L und T (erteilt am 7.1.1958 bzw. 13.3.1959). Am 12. Oktober 2023 befuhr er mit seinem Fahrzeug, einem Toyota Supra älteren Baujahrs, eine zweispurige Straße und hielt an einer roten Ampel an. Beim Wiederanfahren brach ihm auf nasser Fahrbahn das Fahrzeugheck nach links aus. Hierdurch drehte sich das Fahrzeug, geriet auf den Gehweg und touchierte mit der Fahrzeugfront ein Gebäude, wodurch (auch) am Gebäude ein Sachschaden entstand. Der Antragsteller entfernte sich vom Unfallort und wurde deswegen mit Urteil des Amtsgerichts Fürth vom 6. Februar 2024 zu einer Geldstrafe und einem sechsmonatigen Fahrverbot verurteilt. Nach den Urteilsgründen hat das Gericht von einer Entziehung der Fahrerlaubnis abgesehen, weil der Antragsteller nicht als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen sei. Dem polizeilichen Unfallbericht zufolge war der Antragsteller „augenscheinlich verkehrstüchtig“. Es sei nicht davon auszugehen, dass er schnell gefahren sei, sondern dass er vielmehr die Leistung des Fahrzeugs unterschätzt habe.
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Mit Schreiben vom 5. März 2024 forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller zur Beibringung eines Gutachtens einer Prüfstelle (Fahrprobe) auf. Ursächlich für den Unfall dürfte ein Bedienungsfehler beim Führen des Fahrzeugs gewesen sein. Es bestünden daher Zweifel an seiner Fahrbefähigung. Nach Anhörung entzog die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit Bescheid vom 15. August 2024 unter Anordnung des Sofortvollzugs die Fahrerlaubnis. Da er das zu Recht geforderte Gutachten nicht fristgerecht beigebracht habe, habe er sich als nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen.
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Über die hiergegen erhobene Klage des Antragstellers hat das Verwaltungsgericht Ansbach noch nicht entschieden. Seinen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 13. Februar 2025 abgelehnt. Die Entziehung der Fahrerlaubnis sei rechtmäßig. Die Antragsgegnerin habe die Beibringung eines Gutachtens über eine Fahrprobe zu Recht angeordnet. Die Bindungswirkung des Strafurteils stehe dem nicht entgegen, da es sich nicht zur Frage der Befähigung verhalte, auf die die Antragsgegnerin ihre Bedenken gestützt habe. Der Vorfall am 12. Oktober 2023 begründe in Anbetracht der Gesamtumstände tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller nicht hinreichend zum Führen von Fahrzeugen befähigt sei. Es sei anzunehmen, dass er beim Anfahren trotz ungünstiger Witterungsverhältnissen in viel zu starkem Maße Gas gegeben habe, obwohl er das Fahrzeug nur selten bewege und es ihm nicht vertraut sei. Die Fragestellung und die Ausübung des Ermessens seien ebenfalls nicht zu beanstanden.
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Zur Begründung der hiergegen eingereichten Beschwerde, der die Antragsgegnerin entgegentritt, lässt der Antragsteller ausführen, aus der Beibringungsanordnung vom 5. März 2024 gehe nicht klar hervor, ob die Antragsgegnerin Eignungs- oder Befähigungszweifel hege. Außerdem sei das Ermessen nicht auf den konkreten Einzelfall bezogen ausgeübt worden. Der Antragsteller verfüge seit Jahrzehnten über die Fahrerlaubnis und habe jahrelang als Taxifahrer die Erlaubnis zur Personenbeförderung gehabt. Er sei auch in der jüngeren Vergangenheit mit Ausnahme des Vorfalls vom 12. Oktober 2023 nicht verkehrsrechtlich auffällig geworden. Bei dem Unfallfahrzeug habe es sich um einen Oldtimer gehandelt, den er nur selten fahre. Das Missgeschick reiche für Zweifel an der Befähigung zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht aus. Mit seinem Alltagsfahrzeug habe der Antragsteller ohne Auffälligkeit am Straßenverkehr teilgenommen. Das Risiko einer Gefährdung der Verkehrssicherheit sei daher nicht signifikant erhöht. Weder die Antragsgegnerin noch das Verwaltungsgericht hätten sich ein persönliches Bild vom Antragsteller gemacht. Da der ursprünglich erteilte Führerschein vernichtet worden sei, obwohl nur ein Fahrverbot ausgesprochen worden sei, müsse ihm zur Legitimation im Falle einer Verkehrskontrolle wenigstens ein Führerschein der Klasse B im Wege der einstweiligen Anordnung ausgestellt werden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Behörden- und Gerichtsakten Bezug genommen.
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Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Aufforderung der Antragsgegnerin zur Beibringung eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers für den Kraftfahrzeugverkehr (Fahrprobe) und die Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtbeibringung des Gutachtens sind rechtswidrig. Aus dem Vorfall vom 12. Oktober 2023 ergeben sich keine hinreichenden Anhaltspunkte für Zweifel an der Befähigung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen.
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1. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), vor Erlass des angefochtenen Bescheids zuletzt geändert durch Gesetz vom 12. Juli 2024 (BGBl I Nr. 233), und § 46 Abs. 4 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), vor Erlass des Bescheids zuletzt geändert durch Gesetz vom 27. März 2024 (BGBl I Nr. 109), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Rechtfertigen Tatsachen eine solche Annahme, kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung der Entscheidung über die Entziehung die Beibringung eines Gutachtens eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers für den Kraftfahrzeugverkehr (Fahrprobe) anordnen (§ 2 Abs. 8 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 4 Satz 2 FeV). § 11 Abs. 6 bis 8 FeV ist entsprechend anzuwenden (§ 46 Abs. 4 Satz 3 FeV).
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Die Befähigung setzt nach § 2 Abs. 5 Nr. 1 bis 4 StVG voraus, dass der Fahrerlaubnisbewerber oder -inhaber ausreichende Kenntnisse der für das Führen von Kraftfahrzeugen maßgebenden gesetzlichen Vorschriften hat, mit den Gefahren des Straßenverkehrs und den zu ihrer Abwehr erforderlichen Verhaltensweisen vertraut ist, die zum sicheren Führen eines Kraftfahrzeugs, gegebenenfalls mit Anhänger, erforderlichen technischen Kenntnisse besitzt und zu ihrer praktischen Anwendung in der Lage ist und über ausreichende Kenntnisse einer umweltbewussten und energiesparenden Fahrweise verfügt und zu ihrer praktischen Anwendung in der Lage ist. Zweifel an der Befähigung und an der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen, die ebenfalls Voraussetzung für die Fahrerlaubnis ist (§ 2 Abs. 4 StVG, § 11 Abs. 1 und Anlage 4 zur FeV), können sich überlappen (BayVGH, B.v. 17.3.2025 – 11 CS 25.68 – juris Rn. 12, B.v. 24.1.2022 – 11 CS 21.1897 – juris Rn. 14). Praktische Fahrfertigkeiten stellen einerseits einen wichtigen Teilbereich der Eignung dar (vgl. BVerwG, U.v. 17.9.1987 – 7 C 79.86 – NJW 1988, 925 = juris Rn. 12), erscheinen andererseits aber auch als Teil der Fähigkeit, die zum sicheren Führen von Kraftfahrzeugen erforderlichen Kenntnisse praktisch anzuwenden, und damit der in § 2 Abs. 5 StVG umschriebenen Befähigung (vgl. auch BayVGH, B.v. 23.6.2016 – 11 CS 16.907 – juris Rn. 20 f.). Zugleich liegt auf der Hand, dass mangelnde Befähigung ihre Ursache in einer Erkrankung haben kann, die (auch) zur körperlichen oder geistigen Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen führt. Beides ist auf den aktuellen Zeitpunkt bezogen zu beurteilen und kann im Laufe des Lebens eines Fahrerlaubnisinhabers auch starken Veränderungen unterliegen. Dass der Antragsteller nicht ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, hat das Amtsgericht Fürth allerdings in seinem Urteil vom 6. Februar 2024 mit bindender Wirkung (§ 3 Abs. 4 Satz 1 StVG) ausdrücklich festgestellt. Allenfalls Zweifel an seiner Befähigung, die von der Bindungswirkung des § 3 Abs. 4 StVG nicht erfasst werden, könnten weitere Aufklärungsmaßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde rechtfertigen.
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Ob die der Behörde vorliegenden Tatsachen für eine Beibringungsanordnung ausreichen, ist nach den gesamten Umständen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen (BayVGH, U.v. 17.12.2024 – 11 B 24.1026 – juris Rn. 18). Es genügt ein „Anfangsverdacht“ im Sinne zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte (vgl. BVerwG, U.v. 5.7.2001 – 3 C 13.01 – juris Rn. 22; U.v. 14.11.2013 – 3 C 32.12 – juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 30.1.2019 – 11 C 18.1532 – juris Rn. 15). Nicht erforderlich ist, dass ein Mangel – hier die fehlende Befähigung – bereits feststeht. Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf diese bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen (§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV), wenn die Anordnung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig war (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 Rn. 19 m.w.N.) und für die Nichtbeibringung des angeforderten Gutachtens nicht ausnahmsweise ein ausreichender Grund besteht (vgl. BayVGH, B.v. 25.6.2020 – 11 CS 20.791 – Blutalkohol 58, 300 = juris Rn. 20; B.v. 25.5.2010 – 11 CS 10.291 – ZfSch 2010, 594 = juris Rn. 34).
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2. Gemessen daran ergibt sich aus dem Vorfall vom 12. Oktober 2023 kein ausreichender Anfangsverdacht für Zweifel an der Befähigung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen. Ihm ist beim Anfahren mit dem Fahrzeug an der Ampel das Heck ausgebrochen. Offenbar war er mit diesem nach eigenem Vorbringen wenig genutzten, älteren Fahrzeug mit Heckantrieb nicht hinreichend vertraut und hat beim Anfahren auf regennasser Fahrbahn zu stark beschleunigt. Es handelt sich dabei zwar um einen nicht unerheblichen Fahrfehler. Abgesehen davon ist jedoch nichts ersichtlich, was Zweifel an seiner Befähigung zum Führen von Kraftfahrzeugen rechtfertigen könnte. Vielmehr hat bereits die Polizei in ihrem Bericht über den Unfall und die anschließende Vernehmung des Antragstellers als Beschuldigten ausdrücklich festgehalten, dieser sei „augenscheinlich verkehrstüchtig“. Auch der Unfallhergang lässt nicht auf einen Befähigungsmangel im Sinne von § 2 Abs. 5 StVG schließen. Insbesondere ergeben sich daraus keine hinreichenden Zweifel daran, dass er die zum sicheren Führen eines Kraftfahrzeugs erforderlichen technischen Kenntnisse nicht (mehr) besitzt und zu ihrer praktischen Anwendung nicht (mehr) in der Lage ist (§ 2 Abs. 5 Nr. 3 StVG). Vielmehr spricht alles dafür, dass es sich um ein bisher einmaliges Augenblicksversagen auch aufgrund der besonderen Fahreigenschaften des älteren Fahrzeugs handelt. Allenfalls im Wiederholungsfall oder bei Bekanntwerden weiterer erheblicher Fahrfehler ließe sich daraus ein Anfangsverdacht für nicht mehr hinreichende praktische Fahrfähigkeiten des Antragstellers und damit ausreichende Anhaltspunkte für die Anordnung einer Fahrprobe herleiten.
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Der Antragsteller durfte daher die Beibringung des Gutachtens ablehnen und die Antragsgegnerin daraus nicht auf seine fehlende Befähigung zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen.
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3. Da der Führerschein des Antragstellers ungültig gemacht wurde, hat die Antragsgegnerin ihm zur Folgenbeseitigung einen Ersatzführerschein und bis dahin in entsprechender Anwendung von § 22 Abs. 4 Satz 6 FeV i.V.m. Anlage 8a ersatzweise einen vorläufigen Nachweis der Fahrerlaubnis (VNF) auszustellen, ohne dafür Kosten zu erheben.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, Nr. 46.1, 46.3, 46.5 und 46.9 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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5. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).