Titel:
Chancenaufenthaltsrecht, Ausnahmefall, Regelerteilungsvoraussetzung, unvertyptes Ausweisungsinteresse, Spezial- und Generalprävention, wiederholte Androhung der öffentlichen Selbstverbrennung, Wiederholungsgefahr, Aktualität des generalpräventiven Ausweisungsinteresses bei nicht strafbarem Verhalten
Normenkette:
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 S. 2, § 53 Abs. 1, § 104c
Leitsätze:
1. Die ausnahmsweise Versagung eines Chancenaufenthaltsrechts trotz Vorliegens der Voraussetzungen des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG kommt v.a. bei Integrationsdefiziten in Betracht, die im Laufe der 18-monatigen Gültigkeitsdauer offensichtlich nicht mehr beseitigt werden können.
2. Sicherheitsrechtliche Belange sind in den Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (Nichtbestehen eines Ausweisungsinteresses) und § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG abschließend geregelt und können nicht zur Begründung eines Ausnahmefalles im Sinne von § 104c AufenthG herangezogen werden.
Schlagworte:
Chancenaufenthaltsrecht, Ausnahmefall, Regelerteilungsvoraussetzung, unvertyptes Ausweisungsinteresse, Spezial- und Generalprävention, wiederholte Androhung der öffentlichen Selbstverbrennung, Wiederholungsgefahr, Aktualität des generalpräventiven Ausweisungsinteresses bei nicht strafbarem Verhalten
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 26.03.2024 – Au 1 K 23.1891
Fundstelle:
BeckRS 2025, 7326
Tenor
I. Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 26. März 2024 wird in Nr. I. abgeändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheids vom 27. Oktober 2023 verpflichtet, erneut über den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Unter Abänderung von Nr. II. des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 26. März 2024 tragen der Kläger und die Beklagte die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen jeweils zur Hälfte.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten, ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG zu erteilen.
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Der 1982 geborene Kläger ist iranischer Staatsangehöriger und reiste am 29. August 2017 erstmals in das Bundesgebiet ein. Sein Asylantrag und sein Folgeantrag blieben erfolglos, er ist seit dem 26. April 2020 vollziehbar ausreisepflichtig. Aufgrund eines entsprechenden Antrags seiner Bevollmächtigten vom 12. Mai 2020 (wiederholt vom Kläger selbst im Juli 2020) wurde dem damals passlosen Kläger erstmals am 13. August 2020 eine Duldung erteilt, die in der Folge fortlaufend verlängert wurde.
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Der Kläger befand sich mehrfach in stationärer psychiatrischer Behandlung. Einem ersten zweitägigen stationären Aufenthalt wegen eines Suizidversuchs im Juni 2018 folgten längere stationäre Aufenthalte vom 18. August 2021 bis 13. Januar 2022, vom 13. Januar 2022 bis 24. Mai 2022 und vom 24. Mai 2022 bis 31. Dezember 2022, wobei der Kläger jeweils entlassen und noch am selben Tag erneut stationär aufgenommen wurde. Letztmalig befand der Kläger sich vom 24. Mai 2023 bis 16. November 2023 in stationärer Behandlung.
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Zwischen August 2021 und Oktober 2022 kam es zu insgesamt fünf Vorfällen, bei denen der Kläger drohte, sich selbst anzuzünden. Dabei führte er jeweils Behältnisse mit Benzin bei sich. In zwei Fällen hatte er sich bereits mit Benzin übergossen und ein Feuerzeug in der Hand, in einem dieser Fälle das brennende Feuerzeug bereits an seine benzingetränkte Jacke gehalten, bevor anwesende Polizeibeamte eingriffen. Verletzt wurde jeweils niemand. Daneben beging er zwei Sachbeschädigungen. Soweit strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden, wurden sie jeweils nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Kläger im Tatzeitpunkt vermindert schuldfähig oder schuldunfähig gewesen sei und die Bedeutung der Tat eine Begutachtung nicht gebiete. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Strafakteninhalt verwiesen.
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Den am 24. März 2023 und erneut am 29. März 2023 gestellten Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. Oktober 2023 ab. Es liege ein atypischer Fall vor. Insbesondere die zahlreichen Vorfälle, in denen der Kläger angekündigt habe, sich selbst anzuzünden, sprächen gegen eine gelungene Integration des Klägers. Die Intensität und Häufigkeit der Vorfälle hätten sich im Laufe der Zeit massiv gesteigert. Auslöser für die Vorfälle sei die Ablehnung der Wünsche des Klägers gewesen. Er sei von asyl- und aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen getriggert worden und habe teilweise überzogene Ansprüche, etwa auf ein Einzelzimmer, gestellt. Der Kläger habe sich mehrfach sozialschädlich und verstörend gegenüber Dritten verhalten. Die Integrationsleistungen innerhalb einer Kirchengemeinde könnten diese Integrationsdefizite nicht aufwiegen.
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Mit Urteil vom 26. März 2024 verpflichtete das Verwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 27. Oktober 2023, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG zu erteilen. Es liege kein atypischer Fall vor. Dass der Kläger, dessen Verhalten in Zusammenhang mit seiner Erkrankung gestanden habe, nicht in der Lage sein werde, sich in der für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG erforderlichen Weise zu integrieren, sei nicht ersichtlich. Auf die weitere Begründung des Verwaltungsgerichts wird Bezug genommen.
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Ihre vom Senat mit Beschluss vom 2. Juli 2024 wegen besonderer tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zugelassene Berufung begründet die Beklagte im Wesentlichen damit, im Falle des Klägers stünden der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis Ausweisungsinteressen entgegen. Der Kläger habe durch die Androhung der Selbstverbrennung mehrfach den Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB) verwirklicht, was der Verwaltungsgerichtshof trotz der Einstellung der jeweiligen Strafverfahren selbständig feststellen könne und müsse. Im Übrigen liege ein atypischer Fall vor, der eine Ausnahme von der in § 104c Abs. 1 AufenthG normierten Regelerteilung rechtfertige. Da der Aufenthaltstitel nach § 104c AufenthG als „Vorstufe“ für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25a und § 25b AufenthG konzipiert worden sei, müsse bereits bei der Erteilung des Aufenthaltstitels nach § 104c AufenthG perspektivisch geprüft werden, ob der Betroffene überhaupt Anspruch auf die Erteilung des Folgetitels haben werde. Im Fall des Klägers schlössen seine äußerst verstörenden Verhaltensweisen in der Vergangenheit auch für den einzig in Betracht kommenden Folgetitel nach § 25b AufenthG die erforderliche nachhaltige Integration aus. Der Kläger habe es sich zur Gewohnheit gemacht, zur Durchsetzung seiner Interessen die betreffenden Personen unter Androhung der Selbstverbrennung dazu zu bringen, seinen Wünschen und Erwartungen nachzukommen. Für die jeweils beteiligten Personen habe dies ein verstörendes Erlebnis dargestellt. Er habe auch eine Fremdgefährdung in Kauf genommen. Es sei mit weiteren entsprechenden Vorfällen zu rechnen, wenn es zu für den Kläger negativen Entscheidungen oder Situationen komme. Diese Verhaltensweisen widersprächen einer gelungenen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland. Dies sei (auch nach den bayerischen Vollzugshinweisen) ein atypischer Fall im Sinne des § 104c AufenthG. Die Beklagte habe ihr durch den atypischen Fall entstehendes Ermessen dahingehend ausgeübt, dem Kläger die Aufenthaltserlaubnis nicht zu erteilen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 26. März 2024 abzuweisen.
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er verteidigt die Entscheidung des Verwaltungsgerichts und führt darüber hinaus aus, von Nötigungen im Sinne des § 240 StGB könne nicht ausgegangen werden, zumal von den Strafverfolgungsbehörden keine Feststellungen zur subjektiven Tatseite getroffen worden seien. Die Vorfälle hätten im Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung des Klägers und seiner Angst vor einer Abschiebung gestanden. Bei Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis seien derartige Vorfälle nicht mehr zu erwarten. Die letzten Vorfälle lägen nunmehr auch schon länger zurück. Der Kläger habe sich stabilisiert und gehe seit Januar 2025 einer Erwerbstätigkeit nach. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG solle nach der gesetzgeberischen Intention einen Weg für die Integration schaffen, nicht aber eine Belohnung für eine bereits erfolgte Integration sein. In der Kirchengemeinde werde der Kläger als gut integriert dargestellt.
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Der Vertreter des öffentlichen Interesses hat keinen eigenen Antrag gestellt, aber gerügt, das Verwaltungsgericht habe nicht geprüft und berücksichtigt, dass der Kläger strafbare Nötigungen begangen habe. Gründe im Ermessenswege, vom Vorliegen eines Ausweisungsinteresses abzusehen, seien nicht ersichtlich.
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Der Senat hat eine aktuelle ärztliche Stellungnahme des Bezirksklinikums eingeholt und die Gerichtsakte des Asylfolgeverfahrens (Az. Au 5 K 21.30596) sowie die Akten der Staatsanwaltschaft in den jeweiligen Ermittlungsverfahren beigezogen.
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Im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 31. März 2025 wurde die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten eingehend erörtert. Auf das dabei gefertigte Protokoll wird ebenso Bezug genommen wie auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie auf die vorgelegten Behördenakten.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung der Beklagten hat teilweise Erfolg.
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Die Verpflichtungsklage des Klägers ist zulässig, aber nur teilweise begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG, sondern nur einen Anspruch darauf, dass die Beklagte unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut über seinen Antrag entscheidet (§ 113 Abs. 5 Sätze 1 und 2 VwGO). Das in vollem Umfang stattgebende Urteil des Verwaltungsgerichts war insoweit zu ändern.
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1. Die besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 104c Abs. 1 AufenthG liegen vor.
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Der Kläger ist derzeit geduldet und hielt sich am 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet auf. Die Zeit zwischen dem Erlöschen seiner Aufenthaltsgestattung am 26. April 2020 und der erstmaligen Erteilung einer Duldung am 13. August 2020 ist insofern unschädlich, weil in dieser Zeit seine Abschiebung aus tatsächlichen Gründen unmöglich war. Dies reicht im Rahmen des § 104c Abs. 1 AufenthG aus, die entsprechende Rechtsprechung des BVerwG zu § 25b AufenthG (BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – BVerwGE 167, 211 – juris Rn. 41) ist auch auf die Voraufenthaltszeiten im Sinne des § 104c Abs. 1 AufenthG anwendbar (Röder in Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, Stand 1.1.2025, § 104c AufenthG Rn. 31; Weiser in Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 4. Aufl. 2025, § 104c AufenthG Rn. 17).
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Der Kläger bekennt sich – von der Beklagten nicht bestritten – zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland (§ 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) und wurde auch nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, oder Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht, die nicht auf Jugendstrafe lauten, grundsätzlich außer Betracht geblieben wären (§ 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Auch der Versagungsgrund gemäß § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG liegt nicht vor; der Kläger hat nicht durch wiederholt vorsätzlich falsche Angaben oder durch Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit seine Abschiebung verhindert. Weitere Erteilungsvoraussetzungen enthält nach § 104c Abs. 1 AufenthG nicht.
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2. Es liegt – entgegen der Auffassung der Beklagten – auch kein Ausnahmefall vor, der die Beklagte berechtigten würde, von der regelmäßigen Rechtsfolge, wonach die Aufenthaltserlaubnis bei Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG erteilt werden „soll“, abzuweichen und nach Ermessen über die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zu entscheiden.
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a) Das Chancenaufenthaltsrecht des § 104c AufenthG bezweckt nach dem erklärten gesetzgeberischen Willen, möglichst vielen langjährig geduldeten Personen eine Chance zur Integration zu eröffnen (vgl. BT-Drs. 20/3717 S. 1). Abweichungen von den in § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG genannten gesetzlichen Vorgaben sind dementsprechend nach der Gesetzesbegründung nur nach umfassender Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls in äußerst ungewöhnlichen, also atypischen Fallkonstellationen zulässig (BT-Drs. 20/3717, S. 44 f.; vgl. auch OVG LSA, B.v. 1.6.2023 – 2 M 49/23 – juris Rn. 16; Kluth in: Kluth/Heusch, AuslR, Stand: 1.10.2024, § 104c AufenthG Rn. 26.). Für die Annahme eines atypischen Ausnahmefalls ist ein strenger Maßstab anzulegen (OVG LSA, B.v. 1.6.2023 – 2 M 49/23 – juris Rn. 16). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass nach dem Willen des Gesetzgebers das Chancen-Aufenthaltsrecht gerade dazu dienen soll, während der 18-monatigen Gültigkeitsdauer die noch fehlenden Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25a oder § 25b AufenthG nachzuholen, die eine Perspektive auf einen dauerhaft rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland ermöglicht (BT-Drs. 20/3717, S. 45).
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b) Das Regel-/Ausnahmeverhältnis im Sinne von § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist daher in allererster Linie anhand der Integrationsperspektive zu beurteilen. Aufgrund des Normzwecks, geduldeten Ausländern eine Integration zu ermöglichen, ist ein Ausnahmefall grundsätzlich nur dann anzunehmen, wenn dieser Gesetzeszweck nach den Umständen des Einzelfalls nicht erreicht werden kann. Dies ist etwa dann der Fall, wenn schon zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG sicher absehbar ist, dass die Voraussetzungen für eine anschließende, allein in Betracht kommende (vgl. § 104c Abs. 3 Satz 4 AufenthG) Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG oder § 25b AufenthG nicht erfüllt sein werden, weil Integrationsdefizite vorliegen, die auch im Laufe der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG von 18 Monaten (vgl. § 104c Abs. 3 Satz 3 AufenthG) offensichtlich nicht beseitigt werden können (vgl. zu § 104a AufenthG VGH BW, B.v. 29.7.2008 – 11 S 158/08 – juris Rn. 14; aA Weiser in Huber/Mantel, Aufenthaltsgesetz/Asylgesetz, 4. Aufl. 2025, Rn. 7 zu § 104c AufenthG; Röder in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.1.2025, Rn. 99 zu § 104c AufenthG). Weiter dürfte ein Ausnahmefall vorliegen, wenn bereits eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG erteilt worden war, die nicht zur Erteilung einer anschließenden Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG oder § 25b AufenthG geführt hat. Ein Ausnahmefall liegt demnach vor, wenn eine echte „Chance“ zur im Sinne des Gesetzes ausreichenden Integration in absehbarer Zeit gar nicht besteht oder in der Vergangenheit nicht genutzt wurde.
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c) Aus systematischen Gründen dürfen bei der Prüfung eines Ausnahmefalls nur Umstände berücksichtigt werden, die nicht bereits in den Erteilungsvoraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG geregelt sind (vgl. für § 104a AufenthG VGH BW, B.v. 29.7.2008 – 11 S 158/08 – juris Rn. 7). Insbesondere auch gefahrenabwehrrechtliche Gesichtspunkte rechtfertigen nicht die Annahme eines Ausnahmefalles im Sinne von § 104c AufenthG, denn der Gesetzgeber hat im Hinblick auf strafbares oder auch nur sicherheitsgefährdendes Verhalten ein differenziertes und insofern abschließendes Regelungskonzept normiert, das einen Rückgriff auf das integrationsbezogene Regel-/Ausnahmeverhältnis grundsätzlich ausschließt.
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Bereits mit der negativ formulierten Erteilungsvoraussetzung des § 104 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ist die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG aufgrund bestimmter strafrechtlicher Verurteilungen ausgeschlossen. Daneben findet auch die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des Nichtvorliegens eines Ausweisungsinteresses (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) auf die Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG Anwendung. Dies folgt schon daraus, dass die Aufenthaltserlaubnis nach dem Wortlaut des § 104c AufenthG nur „abweichend von § 5 Absatz 1 Nummer 1, 1a und 4 sowie § 5 Absatz 2“ AufenthG, nicht aber abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erteilt werden soll. Gestützt wird dieser Schluss auch durch die Gesetzbegründung (BT-Drs. 20/3717, S. 45), wonach die Vorgabe des § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG auch für die Beurteilung eines möglichen Ausweisungsinteresses im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG heranzuziehen sei und im Übrigen den Rahmen der ausländerbehördlichen Ermessensausübung nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vorgebe. Dies setzt notwendig voraus, dass die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG auf die Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG Anwendung findet (vgl. auch Kluth in Kluth/Heusch, AuslR, Stand 1.10.2024, AufenthG § 104c Rn. 21).
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Mit der in § 104 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG enthaltenen Wertung, dass strafrechtliche Verurteilungen unterhalb einer differenzierenden Bagatellschwelle nicht der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG entgegenstehen und der nach dem Willen des Gesetzgebers damit einhergehenden Modifikation der allgemeinen Grundsätze über das Erteilungshindernis eines bestehenden Ausweisungsinteresses zugunsten des Ausländers hat der Gesetzgeber ein Regelungskonzept geschaffen, das nicht dadurch unterlaufen werden darf, dass sicherheitsrechtliche Belange zur Begründung eines Ausnahmefalles im Sinne von § 104c Abs. 1 AufenthG herangezogen werden. Auch besteht deshalb kein Raum für die Annahme eines Ausnahmefalls bei „verstörendem“ (Vollzugshinweise des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, IMS F4-2081-3-88-218 vom 27.1.2023, Nr. 1.4.1. allerdings unter der zusätzlichen Voraussetzung, dass die „Menschenwürde“ tangiert sei) oder „eklatant rechtswidrigem“ (Dietz, Ausländer- und Asylrecht, 6. Aufl. 2025, § 4 Rn. 84) Verhalten, das weder strafbar ist, noch ein aktuelles Ausweisungsinteresse begründet (ähnlich wie hier Röder in Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, Stand 1.1.2025, § 104c AufenthG Rn. 101, 103 f.).
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d) Dies zugrunde gelegt, liegt im Falle des Klägers kein Ausnahmefall im Sinne des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG vor. Die gefahrenabwehrrechtlich relevanten Verhaltensweisen des Klägers sind im Rahmen der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu würdigen (dazu sogleich). Dass darüber hinaus jetzt schon hinreichend sicher prognostizierbar wäre, dass der Kläger die Erteilungsvoraussetzungen für die in seinem Fall allein in Betracht kommende Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG auch in den kommenden 18 Monaten nicht erfüllen werden kann, ist nicht ersichtlich. Vielmehr hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung selbst zum Ausdruck gebracht, dass aus ihrer Sicht in einem Jahr die Erteilungsvoraussetzungen nach § 25b AufenthG vorliegen werden.
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3. Der Kläger erfüllt jedoch zum vorliegend maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, denn in seinem Fall besteht zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ein noch aktuelles und hinreichend gewichtiges Ausweisungsinteresse.
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a) Die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des Nichtvorliegens eines Ausweisungsinteresses (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) findet auch auf die Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG Anwendung (s.o.). Dabei ist allerdings die Wertung des § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG zu berücksichtigen (BT-Drs. 20/3717, S. 45), der das regelmäßig bestehende Ausweisungsinteresse für bestimmte Straftaten für unbeachtlich erklärt, und zwar ohne, dass es insofern auf die Aktualität eines Ausweisungsinteresses ankäme. Verurteilungen zu Bagatellstraftaten im Sinne des § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG stellen daher in Bezug auf die Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG regelmäßig auch kein Ausweisungsinteresse im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG dar.
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Allgemein kann ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG auch dann angenommen werden, wenn keines der vertypten Ausweisungsinteressen nach § 54 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG vorliegt, der Aufenthalt des Ausländers aber gleichwohl eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – BVerwGE 157, 325 – juris Rn. 24; VGH BW, B.v. 21.6.2021 – 11 S 19/21 – juris Rn. 13; Fleuß in Kluth/Heusch, AuslR, Stand 1.10.2024, § 53 AufenthG Rn. 19). Für die Erteilungsvoraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG gilt im Ausgangspunkt nichts Anderes. Insbesondere, wenn eine Strafverfolgung aus Erwägungen unterblieben ist, die dem gefahrenabwehrrechtlichen Charakter von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG fremd sind (z.B. Schuldunfähigkeit des Täters), kann trotz unterbliebener strafrechtlicher Sanktion ein bestehendes Ausweisungsinteresse der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG entgegenstehen; dies widerspricht nicht der Wertung des § 104c Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG (ähnlich Dietz in Hailbronner, Ausländerrecht, § 104c AufenthG Rn. 29; ders., NVwZ 2023, 15). Gleiches gilt – wie auch sonst –, wenn Verhaltensweisen in Frage stehen, die zwar nicht strafbar sind, die aber dennoch eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG begründen.
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Bei Annahme eines unvertypten Ausweisungsinteresses aufgrund einer im Einzelfall nicht bestraften oder generell schon nicht strafbaren Handlung muss allerdings die in § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG normierte Erheblichkeitsschwelle beachtet werden. Es bedarf deshalb in diesen Fällen einer gesonderten Bewertung des Gewichts des Ausweisungsinteresses. Nur, wenn das entsprechende Verhalten das Gewicht der nach § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG grundsätzlich unbeachtlichen Straftaten übersteigt, kann ein solches Ausweisungsinteresse der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG entgegenstehen. In Ermangelung einer gerichtlich festgesetzten Strafe erfordert dies eine umfassende Bewertung aller Umstände des Einzelfalls. Für die Feststellung eines Ausweisungsinteresses gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG sowie mit Blick auf die in § 54 AufenthG vorgenommene Typisierung und Gewichtung kann dabei von Bedeutung sein, ob das jeweilige Verhalten des Ausländers im Einzelfall einem der Tatbestände des § 54 AufenthG nahekommt (VGH BW, B.v. 21.6.2021 – 11 S 19/21 – juris Rn. 13).
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b) Gemessen daran liegt beim Kläger ein aktuelles und im Hinblick auf § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG hinreichend gewichtiges Ausweisungsinteresse vor.
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aa) Die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet ergibt sich sowohl aus spezialpräventiven als auch aus generalpräventiven Gründen.
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(1) Die Tatbestandsmerkmale der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ im ausweisungsrechtlichen Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG sind nach der Begründung des Gesetzgebers (vgl. BT-Drs. 18/4097 S. 49) im Sinne des Polizei- und Ordnungsrechts zu verstehen (hierzu und zum Folgenden BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3/16 – BVerwGE 157, 325 juris Rn. 23). Auch die Gefährdung dieser Schutzgüter bemisst sich nach den im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht entwickelten Grundsätzen. Erforderlich ist die Prognose, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem der aufgeführten Schutzgüter eintreten wird. Die öffentliche Sicherheit im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG umfasst dabei u.a. die Unversehrtheit von Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre und Vermögen des Einzelnen sowie den Bestand und das Funktionieren des Staates und seiner Einrichtungen (vgl. Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 53 AufenthG Rn. 23).
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Die früher vom Kläger gezeigten Verhaltensweisen stellen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Der Kläger hat in einem relativ kurzen Zeitraum fortgesetzt öffentlich mit einer Selbstverbrennung gedroht. Zwischen August 2021 und Oktober 2022 kam es zu insgesamt fünf Vorfällen, bei denen der Kläger drohte oder jedenfalls andeutete, sich selbst anzuzünden. Dabei führte er jeweils Behältnisse mit Benzin bei sich. Bei zwei Gelegenheiten hatte er sich bereits mit Benzin übergossen und ein Feuerzeug in der Hand, in einem Fall hatte er bereits das brennende Feuerzeug an seine benzingetränkte Jacke gehalten, bevor herbeigerufene Polizeibeamte eingreifen konnten. Jedenfalls in den letztgenannten Fällen, in denen eine Entzündung nur noch vom Zufall abhing, verursachte der Kläger eine unmittelbare und erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere für die Gesundheit Dritter in körperlicher (z.B. bei Rettungsversuchen) und psychischer (durch Miterleben des Geschehens) Hinsicht.
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Für das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses ist dabei unerheblich, ob der Kläger die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung schuldhaft verursacht hat, denn auf ein Verschulden kommt es insofern nach allgemeinen sicherheitsrechtlichen Grundsätzen nicht an. Auch ist für das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG unerheblich, ob der Kläger rechtmäßig ausgewiesen werden könnte. Vielmehr reicht es aus, dass ein Ausweisungsinteresse gleichsam abstrakt – d. h. nach seinen tatbestandlichen Voraussetzungen – vorliegt. Eine Abwägung mit den privaten Bleibeinteressen erfolgt erst im Rahmen der Frage, ob eine Abweichung vom Regelfall im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vorliegt (BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – BVerwGE 162, 349 – juris Rn. 15).
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(2) In spezialpräventiver Hinsicht geht vom Kläger nach der Überzeugung des Senats derzeit noch eine Wiederholungsgefahr aus.
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Gleiches gilt für die Annahme der spezialpräventiv motivierten Annahme eines Ausweisungsinteresses im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (stRspr des Senats, vgl. etwa BayVGH, B.v. 6.11.2023 – 10 CS 23.1074 – juris Rn. 5).
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Bei der Prognose, ob eine Wiederholung der von einem Ausländer ausgehenden Gefahren mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, die Umstände der Gefährdung, das Gewicht des bei einer erneuten Gefahr bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Ausländers und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 28; U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18 jeweils für Straftaten).
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Gemessen daran ist der Senat nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 108 Abs. 1 VwGO) bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere auch des Eindrucks, den der Kläger in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, davon überzeugt, dass von ihm nach wie vor eine Wiederholungsgefahr ausgeht. Der Kläger hat über einen längeren Zeitraum von etwa anderthalb Jahren in mindestens fünf Fällen öffentlich mit einer Selbstverbrennung gedroht. In zwei Fällen kam es dabei zu Situationen, in denen eine Selbstverbrennung mehr oder weniger nur noch vom Zufall abhing. Die Vorkommnisse ereigneten sich allesamt vor dem Hintergrund der persönlichen Umstände des Klägers, die dieser offensichtlich als beängstigend und/oder frustrierend empfand. Dies lässt auf ein bestimmtes Verhaltensmuster schließen. Das Vorgehen des Klägers war dabei planvoll, was sich daraus ergibt, dass er stets ein Behältnis mit Benzin bei sich führte. Das dabei gefährdete Rechtsgut der körperlichen und geistigen Gesundheit Dritter genießt als besonderes gewichtiges Schutzgut Verfassungsrang (Art. 2 Abs. 2 GG), sodass an die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schades keine allzu hohen Anforderungen zu stellen sind. Für den Kläger spricht zwar, dass seit der letzten Androhung einer Selbsttötung im Oktober 2022 nunmehr zweieinhalb Jahre verstrichen sind, in denen er nicht mehr auffällig wurde. Dieser Zeitablauf allein vermag jedoch nicht hinreichend sicher ausschließen, dass der Kläger nicht in alte Verhaltensmuster verfallen und erneut sicherheitsgefährdend in Erscheinung treten wird.
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Nach der vom Senat eingeholten ärztlichen Stellungnahme des Bezirksklinikums vom 21. Februar 2025 besteht beim Kläger nach wie vor die Diagnose einer Anpassungsstörung (ICD-10: F43.2) und zudem der Verdacht auf eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung, impulsiver Typ (ICD-10: F60.30). Die Medikation mit Risperidon und Mirtazapin habe der Kläger selbst abgesetzt, er werde mit Trazodon bei Bedarf (bei Schlafstörungen oder Unruhe) behandelt und lehne eine weitere Medikation ab. Aktuell könne nicht endgültig prognostiziert werden, ob und unter welchen Umständen der Kläger wieder in alte Verhaltensmuster, insbesondere die öffentliche Androhung einer Selbsttötung verfallen würde. Aus psychiatrischer Sicht sei eine positive Prognose weiterhin zu erwarten, sofern die psychosozialen Faktoren stabil blieben. Ein geregelter Tagesablauf im Rahmen einer Erwerbstätigkeit könne ein stabilisierender Faktor sein, da dieses auch ein dringender Wunsch des Klägers sei. Inwiefern die Tätigkeit durch eventuelle Stressoren ein Risikofaktor für den Kläger sei, könne im Vorfeld nicht beurteilt werden.
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Ausgehend hiervon hängt die positive Prognose beim Kläger maßgeblich davon ab, dass die psychosozialen Faktoren stabil bleiben. Diese Stabilität in den Lebensumständen kann beim Kläger aber nicht ohne weiteres unterstellt werden. Insbesondere wenn sich seine aufenthaltsrechtliche Lage nicht verbessern oder gar erneut verschlechtern sollte, droht ein Rückfall in alte Verhaltensmuster. Entsprechendes steht bei einer Verschlechterung der Erwerbssituation zu befürchten. Diese fachärztliche Einschätzung wird unterstrichen vom Eindruck, den der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat gemacht hat. Eine angemessene Auseinandersetzung des Klägers mit seinem früheren Verhalten und insbesondere mit der von seinem Verhalten ausgehenden Gefahren für andere war nicht zu erkennen. Auf mehrfache Nachfrage des Gerichts kreisten die Antworten des Klägers stets um die eigene Verfassung. Dies und die erst nach mehrfachen Nachfragen des Senats erfolgte, eher pauschale Aussage, er habe sich nur deswegen nicht angezündet, um andere nicht zu gefährden, zeigen dabei auf, dass die schutzwürdigen Interessen und Rechte Dritter für den Kläger offenbar nur eine untergeordnete Rolle spielen. Eine echte und nachhaltige Einsicht in die Gefährlichkeit seiner Handlungen vermochte der Senat nicht zu erkennen. Dem entspricht, dass der Kläger insoweit keine Therapie absolvierte, seine Medikamente abgesetzt hat und auch auf ausdrückliche Nachfrage des Senats keine Strategien zur Vermeidung einer Fremdgefährdung in vergleichbaren Fällen aufzeigen konnte. Insgesamt kann aufgrund der derzeit relativ stabilen psychosozialen Faktoren möglicherweise von einer leicht verminderten Wiederholungsgefahr ausgegangen werden. Angesichts der Bedeutung der vom Kläger im Wiederholungsfall gefährdeten Rechtsgüter Dritter reicht dies jedoch nicht aus, um derzeit eine Wiederholungsgefahr und damit ein spezialpräventives Ausweisungsinteresse im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu verneinen.
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(3) Unabhängig davon begründet das Verhalten des Klägers auch ein noch aktuelles generalpräventives Ausweisungsinteresse.
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Ein Ausweisungsinteresse kann sich auch aus generalpräventive Gründe ergeben, denn vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, sich vergleichbar zu verhalten (BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 17; BayVGH, U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 32 ff.). Zur Annahme eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG bedarf es keiner Verurteilung wegen einer Straftat. Erforderlich ist lediglich, dass die Ausweisung an Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von ähnlichen Verhaltensweisen abzuhalten (BVerwG, U.v. 3.5.1973 – I C 33.72 – juris Rn. 3: „Straftaten oder Verhaltensweisen“). Auch muss das Ausweisungsinteresse zum Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung noch aktuell sein (BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 17; U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris -Rn. 22).
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Gemessen daran besteht im Falle des Klägers ein generalpräventives Ausweisungsinteresse. Die Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis ist geeignet, andere Ausländer von der Gefährdung Dritter im Zusammenhang mit der Androhung einer Selbstverbrennung abzuhalten. (Angedrohte) Selbstverbrennungen – etwa um auf das eigene Anliegen oder die eigene Lage aufmerksam zu machen – sind zwar kein häufiges, aber dennoch wiederkehrendes Phänomen, das die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere die Gesundheit von Rettungskräften und Umstehenden erheblich gefährdet. Es besteht daher ein erhebliches öffentliches Interesse (auch) Ausländer hiervon abzuschrecken.
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Es liegen keine besonderen Umstände in der Person des Klägers, seiner Lebenssituation oder der Tatbegehung selbst vor, welche die Eignung einer generalpräventiv gestützten Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis berühren könnten (vgl. zu diesen Erfordernissen BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 23; BayVGH, B.v. 19.2.2024 – 19 ZB 22.2483 – juris Rn. 20; OVG Bremen, U.v. 30.8.2023 – 2 LC 116/23 – juris Rn. 38; VGH BW, U.v. 2.1.2023 – 12 S 1841/22 – juris Rn. 86 zusammenfassend auch VGH BW, U.v. 10.12.2024 – 11 S 1306/23 – juris Rn. 55 f.). Dies ist z.B. der Fall, wenn es an einem rational gesteuerten Verhalten fehlt (vgl. VGH BW, U.v. 2.1.2023 – 12 S 1841/22 – juris Rn. 88; OVG Bln-Bbg, U.v. 26.7.2022 – OVG 2 B 2/20 – juris Rn. 29; Fleuß, in: Kluth/Heusch, AuslR, § 53 AufenthG Rn. 32), sodass auch in Bezug auf die strengstmögliche Sanktion andere Ausländer mit ähnlicher Veranlagung in vergleichbaren Situationen kaum von ähnlichen Handlungen abgehalten werden können (vgl. BVerwG, U.v. 26.2.1980 – I C 90.76 – juris Rn. 11; B.v. 18.12.1984 – 1 B 148.84 – juris Rn. 7). Weiter wird eine fehlende generalpräventive Wirkung in der Rechtsprechung etwa angenommen bei „Affekttaten“ oder reinen „Beziehungs- oder Leidenschaftstaten“ (vgl. OVG LSA, U.v. 29.10.2024 – 2 L 8/23 – juris Rn. 41; BayVGH, U.v. 29.1.2014 – 10 ZB 13.1137 – juris Rn. 9), „Hangtaten“ im Zusammenhang mit Betäubungsmittelkonsum (SächsOVG, B.v. 13.5.2022 – 3 A 844/20 – juris Rn. 20, str.), wenn der Sachverhalt derart singuläre Züge aufweist, dass die beabsichtigte Abschreckungswirkung nicht eintreten kann (BayVGH, B.v. 5.10.2021 – 10 ZB 21.1725 – juris Rn. 12) oder bei „Augenblicksversagen oder psychischer Ausnahmesituation“ (vgl. BVerwG, U.v. 26.2.1980 – I C 90.76 – juris Rn. 11; B.v. 18.12.1984 – 1 B 148.84 – juris Rn. 7).
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Es ist nicht ersichtlich, dass sich der Kläger zum Zeitpunkt der hier fraglichen Vorfälle in einer so besonderen, gleichsam nicht wiederholbaren Lage befunden hätte, dass eine generalpräventiv motivierte Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eine abschreckende Wirkung von vornherein nicht entfalten könnte. Der Kläger führt seine Handlungen zwar auf seine psychische Erkrankung zurück. Für die Annahme, dass er bei den Vorfällen nicht oder nur eingeschränkt einsichts- oder steuerungsfähig gewesen wäre, liegen jedoch keine konkreten Anhaltspunkte vor. Entsprechende Feststellungen wurden von den Strafverfolgungsbehörden nicht in verlässlicher Weise getroffen. Die Strafverfahren wurden zwar jeweils eingestellt, weil eine verminderte Schuldfähigkeit oder gar Schuldunfähigkeit im Raum stand. Diese Vermutungen wurden aber jeweils nur von den ermittelnden Polizeibeamten aufgrund des aktuellen Aufenthalts des Klägers in einer psychiatrischen Klinik angestellt und zu keinem Zeitpunkt von sachverständiger Seite bestätigt.
48
Beim Kläger waren und sind aktuell lediglich eine Anpassungsstörung und der Verdacht auf eine Persönlichkeitsstörung „impulsiver Typ“ diagnostiziert. Auch während seiner stationär-psychiatrischer Behandlung wurden ausweislich der zahlreichen im gerichtlichen Verfahren zum asylrechtlichen Folgeverfahren (Az. Au 5 K 21.30596, der Senat hat die Akte zum Verfahren beigezogen) vorgelegten ärztlichen Einschätzungen keine belastbaren Angaben zur Schuldfähigkeit des Klägers getroffen, die Aussagen in den Berichten sprechen vielmehr gegen eine verminderte oder aufgehobene Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit. So schildert ein ärztlicher Bericht vom 15. Februar 2022 (Bl. 27 ff. d.GA im Verfahren Au 5 K 21.30596) vier Tage nach dem Vorfall am 11. Februar 2022, bei dem der Kläger ein brennendes Feuerzeug an seine benzingetränkte Jacke hielt, der Kläger zeige keine depressiven Symptome, der formale Gedankengang präsentiere sich unauffällig und geordnet, Ich-Störungen, Sinnestäuschen oder inhaltliche Denkstörungen seien nicht erkennbar. Vergleichbare Aussagen finden sich im ärztlichen Bericht vom 24. Mai 2022 (Bl. 29 ff. d.GA im Verfahren Au 5 K 21.30596), nach dem der Kläger am selben Tag erneut mit einer Selbstverbrennung gedroht hatte. Die Schilderungen in den ärztlichen Berichten lassen es darüber hinaus wenn auch nicht zwingend, so doch zumindest plausibel erscheinen, dass der Kläger immer wieder Suiziddrohungen und auch Suizidversuche gezielt als Mittel einsetzte, um eigene Forderungen durchzusetzen. Gegen die Annahme, dass es sich bei den hier in Frage stehenden Verhaltensweisen um spontane Impulsdurchbrüche gehandelt haben könnte, spricht zudem, dass der Kläger jeweils planvoll vorging und stets ein Behältnis mit Benzin bei sich führte. Dass die Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis für den Kläger aufgrund seiner persönlichen Situation grundsätzlich keine generalpräventive Wirkung entfalten könnte, ist daher nicht ersichtlich.
49
Dieses generalpräventive Ausweisungsinteresse ist auch noch aktuell.
50
Jedes generalpräventive Ausweisungsinteresse verliert mit zunehmendem Zeitabstand an Bedeutung und kann ab einem bestimmten Zeitpunkt – auch bei der Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG – nicht mehr herangezogen werden (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21/18 – BVerwGE 165, 331 juris Rn. 18). Das Aufenthaltsgesetz enthält keine feste Regeln, wie lange ein bestimmtes Ausweisungsinteresse, wie es etwa in den Tatbeständen des § 54 AufenthG normiert ist, verhaltenslenkende Wirkung entfaltet und einem Ausländer generalpräventiv entgegengehalten werden kann. Eine Heranziehung der in § 11 Abs. 3 AufenthG festgelegten Kriterien für die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots ist nicht möglich, da sie an die Ausreise des Ausländers anknüpfen (BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – BVerwGE 162, 349 – juris Rn. 23). Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 23) für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, grundsätzlich eine untere Grenze.
51
Die Aktualität eines nicht an eine Straftat anknüpfenden Ausweisungsinteresses lässt sich hingegen nicht ohne Weiteres durch eine Orientierung an strafrechtlichen Verjährungsvorschriften bestimmen (Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 53 AufenthG Rn. 45). Vielmehr bedarf es hier einer wertenden Betrachtung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls. Mit Blick auf die in § 54 AufenthG vorgenommene Typisierung und Gewichtung kann von Bedeutung sein, ob das jeweilige Verhalten des Ausländers im Einzelfall einem der Tatbestände des § 54 AufenthG nahekommt (VGH BW, B.v. 21.6.2021 – 11 S 19/21 – juris Rn. 13). Daneben können beispielsweise die Häufigkeit des sicherheitsgefährdenden Verhaltens, das Gewicht der gefährdeten Rechtsgüter und die Öffentlichkeitswirksamkeit des Verhaltens eine Rolle spielen.
52
Gemessen daran ist das generalpräventive Ausweisungsinteresse beim Kläger derzeit noch aktuell. Der Senat verkennt nicht, dass seit der letzten Androhung einer Selbstverbrennung im Oktober 2022 nunmehr zweieinhalb Jahre verstrichen sind und ein Entfallen des generalpräventiven Ausweisungsinteresses selbst bei Straftaten im Einzelfall schon nach der Mindestverjährungsfrist von drei Jahren (§ 78 Abs. 3 Nr. 5 StGB) in Betracht kommt. Entgegen der Annahme des Vertreters des öffentlichen Interesses in der mündlichen Verhandlung kann auch nicht die fünfjährige Mindestverjährungsfrist bei einer Nötigung (vgl. § 240 Abs. 1 StGB i.V.m. § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB) zu Grunde gelegt werden, wenn – wie hier – das Vorliegen aller objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale des § 240 StGB nicht hinreichend sicher festgestellt ist (vgl. dazu sogleich). Bei der Gesamtwürdigung ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Kläger insgesamt fünfmal mit einer Selbstverbrennung gedroht hat, wobei er in mindestens zwei Fällen unmittelbare und erhebliche Gefahren für das besonders gewichtige Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit hervorgerufen hat. Auch erfolgten die Handlungen ganz überwiegend in der Öffentlichkeit vor mehreren Menschen. Insgesamt ist daher davon auszugehen, dass das generalpräventive Ausweisungsinteresse im Falle des Klägers jedenfalls für drei Jahre gerechnet ab dem letzten Vorfall im Oktober 2022 und damit zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats noch aktuell ist.
53
bb) Das Ausweisungsinteresse ist auch mit Blick auf die Wertung des § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG hinreichend gewichtig.
54
Das beim Kläger bestehende Ausweisungsinteresse erreicht sowohl in spezial- als auch in generalpräventiver Hinsicht das Gewicht der nach § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG regelmäßig anspruchsausschließenden Straftaten. Die Häufigkeit der Selbstverbrennungsdrohungen und der in diesem Zusammenhang hervorgerufenen konkreten Gefahren, der besonders hohe Rang des gefährdeten Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit und der Eindruck, den das Verhalten auf eine Vielzahl von Außenstehenden gemacht hat, verleihen dem Verhalten des Klägers erhebliches Gewicht. Selbst unter der Annahme, dass es sich bei dem Verhalten nicht um strafbare Nötigungen gehandelt hat, übersteigt das Gewicht des Ausweisungsinteresses deutlich dasjenige, das regelmäßig mit den in § 104 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG geregelten Bagatellstraftaten einhergeht.
55
cc) Nicht entscheidungserheblich ist nach alledem, ob der Kläger – wie die Beklagte und der Vertreter des öffentlichen Interesses meinen – mit seinem Verhalten auch den Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB) und dadurch auch ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG verwirklicht hat. Der Senat verkennt im Übrigen nicht, dass die Androhung einer Selbstverbrennung eine Nötigung darstellen kann, wenn die Person, der gegenüber die Drohung erfolgt, hierdurch zu einem bestimmten Tun, Dulden oder Unterlassen veranlasst werden soll (vgl. BGH, B.v. 21.4.1982 – 3 StR 46/82; OLG Hamm, B.v. 24.4.1995 – 2 Ss 365/95 – NStZ 1995, 547). Zu diesem finalen Element sowie zur entsprechenden subjektiven Tatseite haben Polizei und Staatsanwaltschaft im Fall des Klägers jedoch keine Feststellungen getroffen.
56
4. Es liegt auch kein Ausnahmefall im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG („in der Regel“) vor, der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis trotz eines bestehenden Ausweisungsinteresses ermöglichen würde. Bleibeinteressen des Klägers, die das sonst ausschlaggebende Gewicht des Fehlens einer Regelerteilungsvoraussetzung ausnahmsweise überwiegen könnten (BVerwG, U.v. 30.4.2009 – 1 C 3.08 – juris Rn. 13; U.v. 26.8.2008 – 1 C 32.07 – juris Rn. 27 jeweils bezogen auf § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), sind vorliegend nicht ersichtlich. Der Kläger ist erst im Jahr 2017 im Alter von 35 Jahren in das Bundesgebiet eingereist und hält sich insofern erst seit vergleichsweise kurzer Zeit in Deutschland auf. Einen gesicherten Aufenthaltsstatus hatte er nie inne, vielmehr ist er seit beinahe fünf Jahre vollziehbar ausreisepflichtig. Eine eigene Kernfamilie im Bundesgebiet hat er nicht. Auch sonst sind seine Bleibeinteressen relativ schwach ausgeprägt. Seine Erwerbstätigkeit und sein Engagement in seiner Unterkunft und innerhalb der Kirchengemeinde wiegen nicht so schwer, dass sie das bestehende Ausweisungsinteresse auf- oder gar überwiegen könnten.
57
5. Die Beklagte hat allerdings noch nicht die nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 104c Abs. 3 Satz 2 AufenthG erforderliche Ermessenentscheidung getroffen, ob von der Anwendung der Regelerteilungsvoraussetzung des fehlenden Ausweisungsinteresses abgesehen werden kann. Der streitgegenständliche Bescheid vom 27. Oktober 2023 enthält hierzu – aus der Sicht der Beklagten, die einen Ausnahmefall im Sinne von § 104c Abs. 1 AufenthG angenommen und deshalb Ausweisungsinteressen gar nicht geprüft hatte, folgerichtig – keine solchen Erwägungen. Insbesondere angesichts des Gewichts des Ausweisungsinteresses einerseits und des für den Kläger sprechenden Umstandes, dass es in den letzten zweieinhalb Jahren zu keinem sicherheitsgefährdenden Vorfall mehr gekommen ist, andererseits, ist eine Ermessensreduzierung in dem Sinne, dass allein die Erteilung oder allein die Versagung der Aufenthaltserlaubnis ermessensgerecht wäre, jeweils nicht ersichtlich. Dementsprechend war die Beklagte nach § 113 Abs. 5 Sätze 1 und 2 VwGO zur Neubescheidung des Antrags des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verpflichten.
58
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
59
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
60
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.