Inhalt

FG Nürnberg, Urteil v. 18.03.2025 – 2 K 1120/21
Titel:

Vorsteuerabzug bei Lieferungen

Normenketten:
UStG § 2 Abs. 2 Nr. 2, § 3 Abs. 1, § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
MwStSystRL Art. 14, Art. 168 Buchst. a
AO § 204
Leitsatz:
Eine „Nettofakturierung“ ähnelt  der „Zwischenfinanzierung“, bei der ebenfalls zivilrechtlich zwei Kaufverträge geschlossen werden, aufgrund einer Gesamtschau umsatzsteuerrechtlich aber von einer sonstigen Leistung auszugehen ist (vgl. Senatsurteil vom 16.06.2020 – 2 K 1119/18),  (Rn. 25). (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Vorsteuerabzug, Leistungsbeziehung, Unternehmen, Eingliederung, Umsatzsteuer, Provision, Finanzamt, Verfügungsmacht, Weiterveräußerung, Gebühr, Gewährleistungsanspruch, Billigkeitsverfahren
Fundstelle:
BeckRS 2025, 7227

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Tatbestand

1
Streitig ist der Vorsteuerabzug beim Handel mit Personenkraftwagen.
2
Der Kläger handelte im Streitjahr als Einzelunternehmer mit Kraftfahrzeugen ganz überwiegend im Inland. Er ermittelte seine Umsatzsteuer nach vereinbarten Entgelten. Daneben war er alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer der S GmbH, die ihren Geschäftssitz unter der gleichen Anschrift wie das Einzelunternehmen hatte und ebenfalls mit Kraftfahrzeugen handelte, allerdings ganz überwiegend grenzüberschreitend. Der Kläger hatte die Geschäftsräume von einem Dritten angemietet und der S GmbH durch privatschriftlichen Vertrag gegen eine monatliche Pauschale die Mitbenutzung der Räume und der Büroeinrichtung, insbesondere der Telekommunikationsanlagen eingeräumt. Als Geschäftsführer der GmbH erhielt er ein festes Gehalt, hatte Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und einen Jahresurlaub von dreißig Arbeitstagen.
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Das Geschäftsmodell der S GmbH bestand darin, als Zwischenhändler im Kraftfahrzeughandel aufzutreten, wenn ein inländischer Verkäufer und ein Kaufinteressent im übrigen Gemeinschaftsgebiet sich über Kaufgegenstand und Kaufpreis schon einig waren, der Verkäufer aber nicht innergemeinschaftlich liefern wollte. Die S GmbH schloss dann aufeinander abgestimmte Kaufverträge, wonach sie die Fahrzeuge zu den zuvor vereinbarten Preisen zuzüglich Umsatzsteuer von dem Verkäufer kaufte und unter Aufschlag ihrer ebenfalls zuvor vereinbarten Provision steuerfrei an den Kaufinteressenten weiterverkaufte und erstellte Buch- und Belegnachweise für innergemeinschaftliche Lieferung (sog. „Nettofakturierung“). Die Initiative zur Einbeziehung der S GmbH konnte dabei sowohl vom Verkäufer als auch vom Kaufinteressenten ausgehen. Zu den von der S GmbH nach diesem Muster an- und verkauften Fahrzeugen gehörten im Streitjahr unter anderem 22 Fahrzeuge, welche die S GmbH durch Kaufverträge von der A GmbH (Inland) erwarb und an die P GmbH, Österreich, veräußerte. In den zwischen der S GmbH und der P GmbH geschlossenen formularmäßigen Kaufverträgen war jeweils festgehalten, die Fahrzeuge seien „unfallfrei laut Vorbesitzer“, etwaige Gebrauchsspuren seien im Preis berücksichtigt, „alle fälligen Service, Wartungen, Reparaturen u. Instandsetzungen … vom Käufer durchzuführen“, in „Sondervereinbarungen“ zusätzlich „Mängelansprüche ausgeschlossen, soweit dies gesetzlich zulässig ist“. Das Transportrisiko und die Verantwortung für eine den gesetzlichen Vorgaben entsprechende Verbringung des Fahrzeugs sollte der Käufer tragen.
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Die S GmbH erhielt für diese Fahrzeuge Rechnungen der A GmbH über insgesamt 1.624.550,00 € netto zuzüglich 309.271,50 € gesondert ausgewiesener Umsatzsteuer, 1.936.903,50 € brutto. In zwei Rechnungen wies die A GmbH die Umsatzsteuer zu hoch aus und gab zudem einen Bruttokaufpreis an, der die Summe aus Nettokaufpreis und ausgewiesener Umsatzsteuer überstieg. Die S GmbH beanstandete dies nicht. Selbst stellte die S GmbH der P GmbH Rechnungen über insgesamt 1.664.000 €, jeweils ohne Steuerausweis und mit dem Hinweis, dass eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung vorliege. Der Kläger ging in seiner Umsatzsteuererklärung 2015 vom 22.09.2016 in Anlehnung an das Ergebnis einer Umsatzsteuersonderprüfung 2012 davon aus, dass er Organträger der S GmbH sei und die S GmbH die in den Rechnungen der A GmbH ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer abziehen könne, für die Verkäufe an die P GmbH aber keine Umsatzsteuer schulde. Er zog daher insgesamt 2.813.185,21 € Vorsteuer ab und ermittelte unter Berücksichtigung der übrigen Besteuerungsgrundlagen eine Umsatzsteuer von -2.555.640,80 €. Der Beklagte (das Finanzamt) stimmte der Steuererklärung zu. Mit Bescheid vom 18.09.2017 setzte es aus nicht streitigen Gründen die Steuer auf -2.558.594,54 € herab.
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Aufgrund einer bei A GmbH und S GmbH durchgeführten Fahndungsprüfung vertrat die Steuerfahndungsstelle des Finanzamts die Auffassung, dass aufgrund des beschriebenen Geschäftsmodells die S GmbH keine Verfügungsmacht über die Fahrzeuge erlangt habe. Mehrere Fahrzeuge hätten sich zum Zeitpunkt der angeblichen Lieferung nicht in der Verfügungsmacht der A GmbH, sondern bei Zollämtern zur Abfertigung für die Ausfuhr befunden. Das Finanzamt folgte dieser Auffassung und erließ am 13.10.2020 einen Umsatzsteuerbescheid 2015, in dem es den Vorsteuerabzug aus dem Ankauf der 22 Fahrzeuge ablehnte, die Vorsteuer mit 2.508.845,92 € feststellte und die Umsatzsteuer auf -2.254.255,25 € erhöhte. Dagegen legte der Kläger am 09.11.2020 Einspruch ein. Das Finanzamt erließ am 23.12.2020 einen hinsichtlich der Steuer und der Besteuerungsgrundlagen unveränderten, allerdings in den Erläuterungen abweichenden Steuerbescheid und wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 09.08.2021 zurück.
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Der Kläger erhob daraufhin Klage. Er trägt vor, Mitarbeiter der A GmbH hätten alle streitgegenständlichen Fahrzeuge vom Sitz der A GmbH an den Sitz der S GmbH gebracht, Mitarbeiter der S GmbH sie dort in Augenschein genommen und anschließend Mitarbeiter der P GmbH die Fahrzeuge abgeholt und an den Sitz der P GmbH gebracht. Aus den Zolldokumenten lasse sich nicht folgern, dass die Fahrzeuge zu einem bestimmten Zeitpunkt den Zollbehörden vorgeführt worden wären. Von etwaigen Steuerhinterziehungen von Mitarbeitern der A GmbH hätten der Kläger und die Mitarbeiter der S GmbH weder gewusst noch wissen müssen. In rechtlicher Hinsicht bezieht er sich insbesondere auf das EuGH-Urteil vom 22.10.2015 – C-277/14 PPUH Stehcemp, wonach der Vorsteuerabzug beim Leistungsempfänger nicht deswegen abgelehnt werden dürfe, weil der Sitz des leistenden Unternehmers nach seinem Zustand keine wirtschaftliche Tätigkeit gestatte, und auf das BFH-Urteil vom 22.07.2015 – V R 23/14, BFHE 250, 559, BStBl. II 2015, 914, wonach der Vorsteuerabzug auch bei Fehlen der gesetzlichen Voraussetzungen aus Gründen des Vertrauensschutzes zu gewähren sein könne.
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Umsatzsteuerbescheide 2015 vom 13.10.2020 und 23.12.2020 sowie die Einspruchsentscheidung vom 09.08.2021 aufzuheben.
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Das Finanzamt beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung verweist das Finanzamt auf die Erkenntnisse der Steuerfahndungsstelle. Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse sei auch kein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers auf das Vorliegen der Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs erkennbar.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist unbegründet. Die angefochtenen Steuerbescheide und die Einspruchsentscheidung verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO)). Der Kläger darf die in den Rechnungen der A GmbH an die S GmbH ausgewiesene Umsatzsteuer schon deswegen nicht als Vorsteuer abziehen, weil er nicht Organträger der S GmbH ist. Auch unabhängig davon dürfte er die Umsatzsteuer nicht als Vorsteuer abziehen, weil die A GmbH keine Lieferungen an ihn oder die S GmbH ausgeführt hat.
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1. Der Unternehmer kann nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuer abziehen. Unionsrechtlich beruht dies auf Art. 168 Buchst. a und Art. 14 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL). Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige nach Art. 168 Buchst. a MwStSystRL berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden, abzuziehen. Als Lieferung von Gegenständen gilt nach Art. 14 Abs. 1 MwStSystRL die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.
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2. Diese Voraussetzungen liegen für den Kläger hinsichtlich der Vorsteuer aus den Rechnungen der A GmbH schon deswegen nicht vor, weil die A GmbH in Leistungsbeziehungen allenfalls (siehe aber unten 3.) mit der S GmbH, nicht aber mit dem Kläger stand. Die Person des Leistenden und des Leistungsempfängers bestimmen sich nach nationalem Recht und Unionsrecht nach dem der Leistung zugrunde liegenden Rechtsverhältnis (st. Rspr., z. B. BFH-Urteil vom 21.04.2022 – V R 18/19, BFHE 276, 493, Rn. 10, m.w.N.). Ein solches Rechtsverhältnis bestand – in Gestalt des Kaufvertrags – aber immer nur zwischen der A GmbH und der S GmbH. Entgegen der Auffassung des Klägers und des Finanzamts sind durch die S GmbH bezogene Leistungen dem Kläger nicht zuzurechnen, weil die S GmbH zum Unternehmen des Klägers gehören würde.
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a) Die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit wird nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG nicht selbständig ausgeübt, wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist (Organschaft). Unionsrechtlich beruht dies auf Art. 11 Abs. 1 MwStSystRL. Danach kann jeder Mitgliedstaat in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln. Die Regelung in § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG ist mit diesen Vorgaben vereinbar (vgl. BFH-Urteil vom 29.08.2024 – V R 14/24 (V R 20/22; V R 40/19), zur Veröffentlichung in BFHE vorgesehen, m.w.N.).
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b) Die S GmbH war in das Unternehmen des Klägers aufgrund dessen Stellung als Alleingesellschafter-Geschäftsführer zwar finanziell (vgl. BFH-Urteil vom 18.01.2023 – XI R 29/22 (XI R 16/18), BFHE 279, 320, Rn. 32 ff.) und organisatorisch (vgl. zuletzt BFH-Beschluss 13.03.2024 – V B 67/22, BFH/NV 2024, 1190, Rn. 12, m.w.N.), nicht aber wirtschaftlich eingegliedert.
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aa) Für die wirtschaftliche Eingliederung muss auch bei deutlicher Ausprägung der finanziellen und organisatorischen Eingliederung ein vernünftiger wirtschaftlicher Zusammenhang im Sinne einer wirtschaftlichen Einheit, Kooperation oder Verflechtung zwischen den Unternehmensbereichen vorhanden sein. Dabei braucht die Organgesellschaft nicht wirtschaftlich vom Organträger abhängig zu sein. Es müssen aber mehr als nur unerhebliche Beziehungen zwischen den Unternehmensbereichen bestehen. Die Verpachtung größerer Liegenschaften kann dafür ausreichen, nicht hingegen die Vermietung von nicht eigens für die Unternehmenstätigkeit in besonderer Weise ausgestatteten und daher ohne weiteres austauschbaren Büroräumen oder die bloße Übernahme von Verwaltungsaufgaben (zum Ganzen BFH-Urteil vom 01.02.2022 – V R 23/21, BFHE 276, 362, BStBl. II 2023, 148, Rn. 28, m.w.N.).
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bb) Hieran fehlt es im Streitfall. Allein, dass das Einzelunternehmen des Klägers und die S GmbH unterschiedliche Segmente in der gleichen Branche abdeckten, begründet keine gegenseitigen Beziehungen. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Geschäftsmodelle standen die Unternehmen grundsätzlich eigenständig nebeneinander. Die vom Kläger schriftsätzlich vorgetragene gelegentliche Veräußerung einzelner Fahrzeuge untereinander ist angesichts des gesamten Geschäftsvolumens beider Unternehmen zu vernachlässigen.
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(1) Auch die Untervermietung der Büroräume bewirkte keine wirtschaftliche Eingliederung, da nach dem vom Kläger vorgelegten Untermietvertrag die Büroräume nicht besonders ausgestattet und daher austauschbar im vorgenannten Sinn waren. Telekommunikationseinrichtungen (Telefon, Telefax, PC, Internetzugang) waren im Streitjahr allgemeiner Standard für Büroräume. Ausstellungs- oder Verkaufsräume oder -flächen waren kein Gegenstand des Untermietvertrags. Ohnehin waren sie für das Geschäftsmodell der S GmbH nicht erforderlich, da die S GmbH keine Fahrzeuge erwarb, deren Abnehmer noch nicht feststand. Da die Abnehmer die Fahrzeuge zeitnah abholten, waren für die S GmbH eigene Freiflächen auch nicht als Abstell- oder Lagerfläche unverzichtbar. Angesichts der durchschnittlichen Preise der von der A GmbH angekauften Fahrzeuge, wie sie sich aus den in den Beweismittelordnern abgehefteten Belegen ergeben, legt der Gesamtbetrag der erklärten innergemeinschaftlichen Lieferungen nahe, dass die S GmbH im Streitjahr insgesamt nicht mehr als rund zweihundert bis zweihundertfünfzig Fahrzeuge handelte. Selbst wenn einige dieser Fahrzeuge einen oder mehrere Tage bei der S GmbH standen, bis der Erwerber sie abholte, wäre der Fahrzeugbestand nicht so groß gewesen, dass die S GmbH dafür zwingend auf eigene Abstellflächen angewiesen war, weil es nicht möglich gewesen wäre, die Fahrzeuge auf öffentlichen Flächen zu parken.
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(2) Die Geschäftsführertätigkeit des Klägers führte ebensowenig zu einer wirtschaftlichen Eingliederung, da der Kläger als Geschäftsführer nicht selbständig tätig war. Er hatte, wie sich aus dem von ihm vorgelegten Geschäftsführervertrag ergibt, Anspruch auf ein festes Jahresgehalt, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Urlaub, trug mithin selbst kein unmittelbares wirtschaftliches Risiko, war zudem am Erfolg der S GmbH nicht durch eine erfolgsabhängige Vergütung beteiligt (vgl. EuGH-Urteil vom 21.12.2023 – C-288/23 TP). Ob der Kläger aufgrund dieses Vertrages selbständig im Sinne der deutschen Arbeits- oder Sozialrechts ist, kann für die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung zwar Indizwirkung haben. Grundsätzlich ist aber die Selbständigkeit im umsatzsteuerrechtlichen Sinne einheitlich nach unionsrechtlichen Grundsätzen zu beurteilen (BFH-Urteil vom 14.04.2010 – XI R 14/09, BFHE 230, 245, BStBl. II 2011, 433, Rn. 26).
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(3) Auch die vom Finanzamt in der mündlichen Verhandlung angesprochene gleichzeitige Anstellung einer Mitarbeiterin sowohl bei dem Kläger als auch bei der S GmbH rechtfertigt nicht die Annahme einer wirtschaftlichen Eingliederung. Zum einen ist diese gleichzeitige Anstellung nur für 2017 belegt, nicht aber für das Streitjahr. Zum anderen bedeutet das gleichzeitige Bestehen zweier Arbeitsverhältnisse gerade, dass es auch insofern an einem Leistungsaustausch zwischen Einzelunternehmen und S GmbH fehlt, weil die Mitarbeiterin für S GmbH aufgrund eines mit dieser bestehenden Arbeitsverhältnisses tätig wurde, nicht aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem Kläger als ihrem Arbeitgeber und der S GmbH. Ohnehin dürfte sich die Tätigkeit für die S GmbH im Wesentlichen in der Dokumentation der Kaufverträge und von deren Vollzug erschöpft haben, also verwaltender Art gewesen sein.
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cc) Auf die abweichende Beurteilung des Finanzamts kann sich der Kläger nicht berufen. Zwar ergab das Verfahren keine Anhaltspunkte, dass der Kläger nicht auf diese Beurteilung vertraut hätte. Er hatte insbesondere deswegen keinen Anlass zu zweifeln, weil dem Finanzamt die betrieblichen Verhältnisse sowohl des Einzelunternehmens als auch der GmbH aufgrund einer Umsatzsteuersonderprüfung bekannt waren. Die Ausführungen des Finanzamts sind aber weder als verbindliche Auskunft (§ 89 Abs. 2 der Abgabenordnung – AO) noch als verbindliche Zusage (§ 204 AO) rechtlich bindend. Der Gesetzgeber hat durch diese Rechtsinstitute geregelt, unter welchen Voraussetzungen Finanzbehörden an eine geäußerte Rechtauffassung gebunden sind, für weitergehenden Vertrauensschutz wegen behördlicher Äußerungen, die diesen Voraussetzungen nicht genügen, ist daher grundsätzlich kein Raum. Insbesondere die Ausführungen in dem vom Kläger vorgelegten Bericht über die Umsatzsteuer-Sonderprüfung 2012 beziehen sich zwar auf den Zeitraum „ab 01.01.2012“. Sie bezeichnen damit aber lediglich den Prüfungszeitraum und lassen nicht erkennen, dass das Finanzamt sich ausnahmsweise auch darüber hinaus rechtlich binden wollte. Der schon damals steuerlich beratene Kläger konnte insbesondere nicht davon ausgehen, dass das Finanzamt eine verbindliche Auskunft oder Zusage ohne besonderen Antrag und ohne sie als solche zu bezeichnen erteilen würde. Die Außenprüfung für die Jahre 2012 bis 2015 begann ausweislich des Prüfungsberichts ohnehin erst 2017, mithin nach dem Streitjahr und nachdem der Kläger seine Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr abgegeben hatte.
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c) Der Senat kann ausschließen, dass der Wegfall auch der bisher nicht streitgegenständlichen Umsätze der S GmbH zu einer Verringerung der festgesetzten Steuer führt. Der Kläger erklärte in der Annahme einer Organschaft steuerpflichtige Ausgangsumsätze von 1.343.108 € und steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen von 13.394.161 €. Angesichts der Konzentration des Einzelunternehmens vor allem auf den inländischen, der S GmbH auf den innergemeinschaftlichen Handel folgt daraus, dass der weit überwiegende Teil der erklärten Vorsteuer auf die S GmbH entfiel und die S GmbH zu der vom Kläger ermittelten Steuer einen Vorsteuerüberhang beitrug, der die streitgegenständliche Vorsteuer weit überstieg. Dass dieser Vorsteuerüberhang dem Kläger möglicherweise erhalten bleibt, beschwert ihn nicht.
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3. Unabhängig von der Frage der Organschaft kann der Kläger die in den Rechnungen der S GmbH ausgewiesene Vorsteuer auch deswegen nicht abziehen, weil er oder die S GmbH keine Lieferungen der A GmbH bezogen, sondern lediglich sonstige Leistungen an die A GmbH oder die P GmbH ausführten.
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a) Lieferungen eines Unternehmers sind nach § 3 Abs. 1 UStG Leistungen, durch die er oder in seinem Auftrag ein Dritter den Abnehmer oder in dessen Auftrag einen Dritten befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen (Verschaffung der Verfügungsmacht). Als Lieferung von Gegenständen gilt unionsrechtlich nach Art. 14 Abs. 1 MwStSystRL die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.
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b) Lieferung ist demnach jede Übertragung eines körperlichen Gegenstands durch eine Partei, die die andere Partei ermächtigt, über diesen Gegenstand faktisch so zu verfügen, als wäre sie sein Eigentümer, ohne dass es dabei auf eine Eigentumsübertragung in den durch das anwendbare nationale Recht vorgesehenen Formen ankommt. Hiervon ist bei der Übertragung von Substanz, Wert und Ertrag auszugehen, die allerdings häufig mit dem bürgerlich-rechtlichen Eigentum verbunden ist. Ob die Verfügungsmacht über den Gegenstand übertragen wird, richtet sich nach dem Gesamtbild der Verhältnisse auf Grundlage der konkreten vertraglichen Vereinbarungen und deren tatsächlicher Durchführung. Dabei können mehrere formal selbständige Verträge als Einheit anzusehen sein, wenn sich aus der Interessenlage der Vertragsparteien ergibt, dass der eine Vertrag nicht ohne den anderen geschlossen worden wäre (BFH-Urteil vom 06.04.2016 V R 12/15, BFHE 253, 475, BStBl. II 2017, 188, Rn. 18 f., m.w.N.). Das Eigentum vermittelt nicht die für eine Lieferung erforderliche Verfügungsmacht im umsatzsteuerrechtlichen Sinne, wenn der Eigentümer aufgrund schuldrechtlicher Vereinbarungen in der Verfügung weitgehend beschränkt ist (vgl. BFH-Urteil vom 23.07.2009 V R 27/07, BFHE 226, 421, BStBl. II 2010, 859, unter II.1.c.). Ein Zwischenerwerber kann die Befähigung, wie ein Eigentümer über den Gegenstand zu verfügen, dem nachfolgenden Erwerber nur übertragen, wenn er sie zuvor vom vorhergehenden Verkäufer erhalten hat (EuGH-Urteil vom 16.12.2010 C-430/09 Euro Tyre Holding, HFR 2011, 228, Rn. 31). Das Recht auf Vorsteuerabzug erstreckt sich nicht auf eine Steuer, die ausschließlich deswegen geschuldet wird, weil sie in einer Rechnung ausgewiesen ist. Liegt kein steuerbarer Umsatz vor, besteht auch kein Recht auf Vorsteuerabzug. Die Gut- oder Bösgläubigkeit des Steuerpflichtigen, der einen Vorsteuerabzug vornehmen möchte, ist insofern ohne Bedeutung. Wer einen Vorsteuerabzug vornehmen möchte, muss nachweisen, dass er die Voraussetzungen hierfür erfüllt (EuGH-Urteil vom 27.06.2018 C-459/17 und C-460/17 SGI und Valeriane, HFR 2018, 679, Rn. 37 ff.; BFH-Urteil vom 10.07.2019 XI R 28/18, BFHE 266, 387, BStBl. II 2021, 961, Rn. 37; zum Ganzen Senatsurteil vom 16.06.2020 – 2 K 1119/18). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erlangt ein Zwischenhändler ohne eigenen Entscheidungsspielraum, der am Transport der gehandelten Gegenstände nicht beteiligt ist, weder Verfügungsmacht noch verschafft er sie (BGH-Beschluss vom 19.04.2023 – 1 StR 14/23, HFR 2023, 918, Rn. 7).
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c) Nach diesen Maßstäben sind die zwischen A GmbH, S GmbH und P GmbH getroffenen Abreden dahingehend zu würdigen, dass die Verfügungsmacht über die gehandelten Fahrzeuge von der A GmbH unmittelbar auf die P GmbH überging und die S GmbH weder Verfügungsmacht erlangte noch verschaffte, mithin keine Lieferung ausführte, sondern lediglich eine sonstige Leistung erbrachte, indem sie bei einer – fehlgeschlagenen – Gestaltung mitwirkte (vgl. BFH-Urteil in BFHE 253, 475, BStBl. II 2017, 188, Rn. 28 ff.). Die „Nettofakturierung“ ähnelt insofern der „Zwischenfinanzierung“, bei der ebenfalls zivilrechtlich zwei Kaufverträge geschlossen werden, aufgrund einer Gesamtschau umsatzsteuerrechtlich aber von einer sonstigen Leistung auszugehen ist (vgl. Senatsurteil vom 16.06.2020 – 2 K 1119/18). Zwar konnten dem Kläger sowohl im Streitjahr als auch bei der Abgabe seiner Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr weder das Senatsurteil vom 16.06.2020 – 2 K 1119/18 noch der BGH-Beschluss in HFR 2023, 918 bekannt sein, die beide erst später ergingen. Insofern ergaben sich für den Senat keine Anhaltspunkte, dass der Kläger die „Nettofakturierung“ nicht für eine grundsätzlich tragfähige Steuergestaltung hielt. Anders als möglicherweise für die steuerstrafrechtliche Beurteilung sind für die steuerrechtliche Beurteilung rechtliche Fehlvorstellungen eines Beteiligten aber ohne Bedeutung.
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aa) Aufgrund der Abfolge der Anbahnung und des Abschlusses der Verträge konnte die S GmbH rechtlich zu keinem Zeitpunkt über Substanz, Wert und Ertrag verfügen. Aufgrund der vor Einschaltung der S GmbH unmittelbar zwischen A GmbH und P GmbH getroffenen Vereinbarungen hatte die S GmbH bei wirtschaftlicher Betrachtung keine Möglichkeit, den Kaufpreis zu beeinflussen und damit von Substanz, Wert und Ertrag zu profitieren. Der Kaufpreisaufschlag bei der Weiterveräußerung richtete sich nach dem – ohne Beteiligung der S GmbH – verhandelten Ankaufspreis. Zudem verkaufte die A GmbH an die S GmbH nur wegen der zuvor mit der P GmbH getroffenen Vereinbarungen und um der P GmbH den Erwerb von der S GmbH zu ermöglichen. Die Weiterveräußerung an die P GmbH war damit, auch wenn sie in den Kaufverträgen mit der A GmbH nicht angesprochen war, für diese zumindest Geschäftsgrundlage, wenn nicht gar Nebenpflicht der S GmbH (§ 241 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs). Gegenüber der P GmbH hatte sich die S GmbH ohnehin vorab verpflichtet. Wegen dieser besonderen, zusätzlichen Umstände kann sich der Kläger weder darauf berufen, dass der Gesetzgeber bei Reihengeschäften Lieferungen annehme (vgl. § 3 Abs. 6 UStG), noch darauf, dass es weit verbreitet und unternehmerisch günstig sei, Waren erst zu kaufen, wenn ein Abnehmer gefunden sei, da in beiden Fallgruppen typischerweise keine (Vor) Verhandlungen zwischen erstem Veräußerer und letztem Erwerber stattfinden.
27
bb) Dies entsprach auch der Interessenlage der Beteiligten. Die A GmbH wollte Substanz, Wert und Ertrag der Fahrzeuge der P GmbH übertragen, die P GmbH diese von der A GmbH erwerben. Die S GmbH wurde nur eingeschaltet, um die A GmbH von dem Aufwand für die ordnungsgemäße Dokumentation der innergemeinschaftlichen Lieferung zu entlasten, mithin als Dienstleisterin für die A GmbH. Hiervon gingen auch die damaligen steuerlichen Bevollmächtigten des Klägers in dem vom Kläger vorgelegten Schreiben an das Finanzamt vom 20.04.2012 aus. Dem entspricht es, dass der Kläger den Kaufpreisaufschlag bei der Weiterveräußerung in seiner Vernehmung im Mai 2018 als „Gebühren“ bezeichnete. Die Erklärung, „Gebühr“ sei lediglich ein unjuristischer Ausdruck für die angesichts der Marktgegebenheiten beim Weiterverkauf zu realisierende Marge, überzeugt angesichts des Umstands, dass die „Gebühr“ sich im Wesentlichen nach dem Einkaufspreis der S GmbH richtete, nicht. Gleichzeitig zeichnete sich die S GmbH gegenüber der P GmbH schon dadurch weitestgehend von Gewährleistungsansprüchen frei, indem sie wegen der Unfallfreiheit auf den Vorbesitzer verwies und Reparaturen und Instandsetzungen auf die P GmbH abwälzte. Die „Sondervereinbarung“ zum weitergehenden Ausschluss von Mängelansprüchen konnte insofern kaum noch Bedeutung erlangen, lässt gleichwohl – unabhängig davon, ob sie zulässig und wirksam war – erkennen, dass nach dem Willen der Beteiligten die S GmbH möglichst nicht für Substanz, Wert und Ertrag der Fahrzeuge einstehen sollte. Ablichtungen der Kaufverträge sind in den vom Finanzamt übersandten Beweismittelordnern abgelegt. Der Sachverhalt im Streitfall unterscheidet sich insofern auch von den vom Kläger beschriebenen Fällen, in denen ein Großabnehmer zu mit dem Hersteller vereinbarten Konditionen Waren von Vertragshändlern erwirbt, da sich in diesen Fällen, wie der Kläger selbst einräumt, Gewährleistungsansprüche des Abnehmers gegen den Vertragshändler richten sollen, dieser mithin für Substanz, Wert und Ertrag einzustehen hat.
28
cc) Aus der Rechtsprechung des BFH zur Zurechnung von Gaststättenumsätzen in Strohmann-Fällen (z. B. BFH-Beschluss vom 02.01.2018 – XI B 81/17, BFH/NV 2018, 457, m.w.N.) ergibt sich nichts anderes. Zwar ergibt sich danach regelmäßig aus den abgeschlossenen zivilrechtlichen Vereinbarungen, wer bei einem Umsatz als Leistender anzusehen ist. Diese Regel schließt aber eine ausnahmsweise abweichende Beurteilung aufgrund einer Gesamtschau mehrerer formal selbständiger, aber eine Einheit bildender Verträge nicht aus. Tatsächlich lag dem BFH-Beschluss in BFH/NV 2018, 457 auch kein Sachverhalt mit einem derartigen Vertragskonstrukt zugrunde. Dort war vielmehr über ein im Streitfall nicht gegebenes „passives Strohmannverhältnis“ zu entscheiden.
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d) Auf die zwischen den Beteiligten umstrittene Frage, ob und unter welchen genauen Umständen die A GmbH die Fahrzeuge an den Sitz der S GmbH brachte und die P GmbH sie dort übernahm, kommt es nach alledem nicht mehr an. Der Senat muss daher auch nicht der Frage nachgehen, ob die Anmeldung zur Zollabfertigung, wie das Finanzamt meint, erfordert, ein Fahrzeug zu einer Zollbehörde zu verbringen und dort zu belassen, oder ob es sich, wie der Kläger gut nachvollziehbar vorträgt, um ein rein elektronisches Verfahren handelt.
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4. Über einen Vorsteuerabzug im Billigkeitsverfahren (§§ 163, 227 der Abgabenordnung) hat der Senat nicht zu entscheiden, weil der Kläger einen entsprechenden Antrag erstmals im Klageverfahren gestellt hat (vgl. BFH-Urteil in BFHE 250, 559, BStBl. II 2015, 914, Rn. 32, 46). Die vorliegenden Behördenakten bieten keine Anhaltspunkte, dass der Kläger Billigkeitsmaßnahmen schon vor Erlass der angefochtenen Steuerbescheide beantragt hätte. Unabhängig davon könnte ein solcher Antrag hilfsweise auch in der Sache keinen Erfolg haben, weil Vorsteuerabzug als Billigkeitsmaßnahme nur zum Schutz des guten Glaubens in Rechnungsangaben in Betracht kommt, nicht aber, wenn der Steuerpflichtige – wie hier – die Umstände, die den Vorsteuerabzug ausschließen, kennt und lediglich rechtlich falsch beurteilt (BFH-Urteil vom 14.02.2019 – V R 47/16, BFHE 264, 76, BStBl. II 2020, 424, Rn. 29 ff.).
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.