Titel:
Keine rückwirkende Anordnung einer Inobhutnahme eines Kindes
Normenkette:
SGB VIII § 42
Leitsätze:
1. Zur Frage der Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs hinsichtlich der Tätigkeit eines Jugendamtes bei seiner Mitwirkung an der Vollziehung einer Kindesherausnahme aufgrund eines familienrechtlichen Herausgabetitels. (Rn. 59)
2. Ist der Kostenbescheid hinsichtlich einer Inobhutnahme eines Kindes zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch Gegenstand eines laufenden Widerspruchverfahrens, kann aus diesem Umstand unter verfahrensökonomischen Gesichtspunkten ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse anzunehmen sein. (Rn. 70)
3. Die Inobhutnahme ist kein Instrument, um eine bereits vollzogene Wegnahme des Kindes und dessen Unterbringung in einer Pflegefamilie rückwirkend zu legalisieren. (Rn. 75, 77, 78 und 84)
Schlagworte:
Keine rückwirkende Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII, Inobhutnahme, Kindeswohlgefährdung, Verwaltungsrechtsweg, rückwirkend
Fundstelle:
BeckRS 2025, 6681
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass die mit Bescheid vom 02.05.2023 angeordnete Inobhutnahme des Kindes …, geboren am …, vom 24.04.2023 bis 05.05.2023 rechtswidrig war.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung der außergerichtlichen Kosten der Klägerin gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in dieser Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass die vom Jugendamt des Beklagten durchgeführte Inobhutnahme ihres Sohnes … (geb. …, nachfolgend Sohn oder Kind) rechtswidrig war.
2
Der streitgegenständlichen Inobhutnahme gingen Unstimmigkeiten über die elterliche Sorge zwischen den Kindeseltern und entsprechende familiengerichtliche Streitigkeiten voran.
3
Unter dem 08.04.2022 kam Dr. …, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, in einem Attest zur Vorlage beim Familiengericht (Bl. 59 der der ASD286-Akte I) zu der Einschätzung, es sei aus fachärztlicher Sicht eine stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung des Sohnes dringend erforderlich, um gemäß § 1906 BGB einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden, da durch die aktuellen Entwicklungen eine erhebliche Beeinträchtigung auf psychischer Ebene und der sozialen Teilhabe zu erwarten sei. Hierbei handele es sich nicht um eine Situation, die als frei gewählt anzusehen sei und deren Konsequenzen vom Betroffenen auch nicht überblickt werden könnten. Formal besuche der Sohn die 10. Klasse des Gymnasiums. Letztendlich finde aber chronisch und mittlerweile durchgehend kein Schulbesuch mehr statt. Schon 2016 habe deswegen eine ambulante Psychotherapie stattgefunden. Es habe auch verschiedene Helfer gegeben. Weder diese noch die Eltern hätten eine Aktivierung erreichen können. Die stationäre Behandlung sei unabdingbar, die unter diesen Umständen mit geschlossener Unterbringung nach § 1631b BGB erfolgen müsse.
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Mit Beschluss des Amtsgerichts … – Abteilung für Familiensachen – vom 11.08.2022 (Bl. 21 ff. der ASD286-Akte I) wurde die geschlossene Unterbringung des Sohnes in der Kinder- und Jugendpsychiatrie … familiengerichtlich genehmigt. Das Gericht kam zu der Einschätzung, dass eine akute Gefahr bestünde, dass sich der Betroffene gesundheitlichen Schaden zufüge.
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Er befand sich infolge in der Zeit vom 09.08.2022 bis 20.09.2022 stationär im Bezirkskrankenhaus …-Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters (KJP).
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In einem Aktenvermerk des Beklagten vom 13.09.2022 wurde hinsichtlich einer geäußerten Information einer KJP-Mitarbeiterin festgehalten (Bl. 40 f. der ASD286-Akte I): „-> fraglich, ob es bei der KM ein gesundes Zuhause ist. Haben über Wohngruppe nachgedacht. ->KJP soll Entscheidung treffen und mitteilen, ob sie eine offizielle 8a Meldung ans Jugendamt leiten. Oder ob sie dem FamG eine Rückmeldung mit den Inhalten geben – erst dann kann gehandelt werden! Überlegung: Übertragung der e.S. auf den Vater alleine macht keinen Sinn, wenn [der Sohn] sich so wehrt und die Haltung der KM übernimmt.“ Am gleichen Tag wurde ein Aktenvermerk über ein Telefonat des Kindesvaters mit Frau … aufgenommen (Bl. 42 f. der der ASD286-Akte I): „-> dem KV wurde mitgeteilt, dass KJP klären muss, über welchen Weg sie die Informationen weitergeben (ans FamG direkt oder als 8a Meldung) – dem KV wurde mitgeteilt, dass eine Übertragung der elterlichen Sorge auf ihn alleine wahrscheinlich wenig Sinn ergeben würde, weil [der Sohn] sich eh gegen alles wehrt, was KV macht und entscheidet. KV wurden die Aufgaben eines Ergänzungspflegers erklärt -> findet er gute Option.“
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Beim Sohn der Klägerin wurde unter dem 24.11.2022 von der KJP bescheinigt (Bl. 35 ff. der ASD2863-Akte III), dass auf der Achse 1 eine Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion (F43.21) und diagnoseergänzend Schulvermeidung und Persönlichkeitsakzentuierung (schizoide und narzisstische Züge), auf der Achse 5 eine inadäquate oder verzerrte intrafamiliäre Kommunikation mit elterlicher Überfürsorge und einer abweichenden Elternsituation und auf Achse 6 eine ernsthafte soziale Beeinträchtigung in mindestens 1 oder 2 Bereichen (erheblicher Mangel an Freunden, Schulbesuch finde nicht statt, Unfähigkeit, mit sozialen Situationen zurechtzukommen). Die Bescheinigung der KJP wurde auch dem Jugendamt des Beklagten übersandt. Unter „Entlassgrund“ wurde ausgeführt „Aktuell waren die Mittel der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht zielführend, [den Sohn] zum Schulbesuch zu bringen. Stattdessen scheint eine Herausnahme des Jugendlichen aus dem aktuellen Lebensumfeld und Fremderziehung dringend erforderlich. Nach Klärung der Wohnsituation und ggfs. Einschränkungen elterlicher Rechte sollte die Notwendigkeit der Einflussnahme durch therapeutische Maßnahmen erneut geprüft werden. Bei weiterer Schulverweigerung ist von einer Kindeswohlgefährdung auszugehen“. Empfohlen wurde die Einleitung einer stationären Jugendhilfemaßnahme und eine ambulante kinder- und jugendpsychotherapeutische Behandlung.
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Mit Schriftsatz vom 24.10.2022 beantragte der Kindsvater beim Amtsgericht … – Abteilung für Familiensachen – das Aufenthaltsbestimmungsrecht sowie die Gesundheitsfürsorge für das gemeinsame Kind im Wege der Ergänzungspflegschaft auf das Amt für Jugend und Familie des Landkreises … zu übertragen (Bl. 50 ff. der der ASD286-Akte I).
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Das Familiengericht hat im Rahmen des Verfahrens Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens darüber, ob das Wohl des Kindes im mütterlichen Haushalt gefährdet ist. Beauftragt wurde der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie … Das Gutachten wurde unter dem 03.02.2023 erstattet (Bl. 26 ff. der Gerichtsakte). Er kommt dabei zu der Einschätzung (Bl. 39 ff. der Gerichtsakte), dass bei keinem der beiden Elternteile eine akute Erkrankung oder gravierende Störung der Persönlichkeitsentwicklung gemäß ICD10 bzw. DSM-5 festzustellen sei. Allerdings erfülle die elterliche Paarbeziehung die Kriterien für „Hochkonflikthaftigkeit“. Das bedeute, dass eine sinnvolle Lösung von Familienrechtsstreitigkeiten dauerhaft beeinträchtigt sei. Die Anamnesen des Sohnes und seiner Mutter sowie der Interaktion zeigten deutliche Hinweise auf eine Willensinduzierung seitens der Mutter auf, die die Haltung des Jugendlichen bestimmten und bereits im Arztbericht der KJP genannt worden seien. Diese sicher unbewusste, aber in großen Teilen wahrscheinlich auch bewusste Haltung der Kindesmutter beinträchtige die Entwicklung ihres Sohnes aus verschiedenen Gründen. Zum einen werde das Vaterbild nachhaltig beschädigt, was sich auf die eigene Identitätsentwicklung und auf das spätere Beziehungsleben auswirken werde. Zum anderen werde die Autonomieentwicklung des Jugendlichen beeinflusst, weil die „Löschung“ eines Familienmitglieds miterlebt worden sei und mit gravierenden inneren Konflikten für ihn behaftet bleibe. Hinzu könnten Schuldgefühle treten, weil die Kindesmutter die Verantwortung für eine Ablehnung von Umgangskontakten nicht selbst übernehme, sondern ihrem Sohne aufbürde. Der Kindeswille sei aber nicht als „selbst-initiiert“ anzusehen. Demgegenüber habe die Anamnese keine Hinweise auf reale Negativerlebnisse des Jugendlichen mit seinem Vater ergeben, die eine Umgangsverweigerung begründen könnten. Es müsse daher davon ausgegangen werden, dass vorrangig das elterliche Konfliktniveau und eine von der Kindesmutter ausgehende bewusste und vor allem unbewusste Manipulation ihres Sohnes für die vom Sohn vorgebrachte Ablehnung von Umgangskontakten mit dem Kindesvater verantwortlich sei. Die nahezu aufgehobene Bindungstoleranz der Klägerin dem Kindesvater gegenüber und deren mangelnde Reflexion auch im Hinblick auf die Auswirkungen für ihren Sohn schränkten ihre Erziehungsfähigkeit ein. Umgänge seien wesentlich abhängig von einer vor allem inneren Zustimmung der Kindesmutter; unterbleibe diese, sei von einem Scheitern künftiger Bemühungen um den Umgang zwischen dem Kindesvater und seinem Sohn auszugehen. Die den Kindesvater ambivalenzfrei ablehnende und an ihren Sohn delegierende Haltung der Klägerin treffe beim Sohn auf ein Kind, das relativ früh Verhaltensauffälligkeiten gezeigt habe und dessen Resilienz beeinträchtigt sei. Er habe wiederholt die Erfahrungen von Ablehnung gemacht, sein Sozialverhalten verhindere eine tragfähige Integration in Peergroups und die Übernahme entsprechenden Rollenverhaltens. Er scheine sozial wenig integriert, seine emotionale und seine intellektuelle Entwicklung seien nicht parallel verlaufen. Die Beziehung zu seiner Mutter sei ihm als einzig subjektiv verlässliche verblieben. Gleichzeitig habe aber auch die Klägerin Erfahrungen wiederholter Kränkungen gemacht, die zum Scheitern ihrer persönlichen und beruflichen Beziehungen beigetragen hätten. Dies habe eine aufeinander bezogene und anhaltende symbiotische Mutter-Sohn-Beziehung gefördert, die die Autonomieentwicklung des Sohnes verhindert und zu einer Schulabstinenz beigetragen habe. Die Schulverweigerung stehe somit sehr wahrscheinlich in engem Zusammenhang mit einer bei dem Sohn vorliegenden Trennungsangst. Die insgesamt ungünstige Prognose bei den psychischen Fehlentwicklungen des Sohnes, gescheiterte Interventionen im therapeutischen Bereich und insbesondere deutliche Hinweise auf ungünstiges elterliches (mütterliches) Erziehungsverhalten machten aus gutachterlicher Sicht dessen Unterbringung in einer betreuten Einrichtung erforderlich. Der Sohn verfüge nicht über ausreichende Fähigkeiten zum Selbstschutz, angemessene Frustrationstoleranz und intrinsische Veränderungsmotivation. Es drohe angesichts der bei der Kindesmutter nicht vorhandenen Problemeinsicht eine gravierende Störung der Persönlichkeitsentwicklung des Jugendlichen.
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Das Gutachten war dem Jugendamt des Beklagten spätestens im Februar 2023 bekannt (vgl. Bl. 119 ff. der ASD2863-Akte I). Die Mutter wurde seitens des Jugendamtes des Beklagten telefonisch am 22.02.2023 darüber befragt, wie sie zu dem Gutachten stehe (Bl. 154 f. der ASD2863-Akte I).
11
Mit Schriftsatz vom 28.02.2023 an das Amtsgericht … – Abteilung für Familiensachen – (Bl. 157 der ASD2863-Akte I) schloss sich das Jugendamt des Beklagten der fachlichen Empfehlung des Gutachters an, dass eine stationäre Unterbringung zum Wohle des Kindes und zu dessen sozio-emotionalen Entwicklung positiv beitragen werde.
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Unter dem 09.03.2023 nahm der Sachverständige zu seinem Gutachten vom 03.02.2023 ergänzend Stellung (Bl. 24 f. der Gerichtsakte). In seiner ergänzenden Stellungnahme führte er aus, dass angesichts der bei der Kindesmutter nicht vorhandenen Problemeinsicht eine gravierende Störung der Persönlichkeitsentwicklung des Jugendlichen drohe, also eine chronische Kindeswohlgefährdung vorliege. Auf die Frage der Verfahrensbeiständin des Sohnes, ob sich hinsichtlich einer einstweiligen Anordnung eine Dringlichkeit ergebe, antwortete der Gutachter, dass aus seiner Sicht eine chronische, nicht jedoch eine akute Kindeswohlgefährdung im Haushalt der Kindesmutter bestehe. Insoweit ergebe sich keine Notwendigkeit für den Erlass einer entsprechenden einstweiligen Anordnung; dies wäre ansonsten im Sachverständigengutachten vom 03.02.2023 auch so angegeben worden. Die Stellungnahme zum Gutachten ist beim Jugendamt des Beklagten aktenkundig (Bl. 173 ff. der der ASD2863-Akte I).
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Das Amtsgerichts … – Abteilung für Familiensachen – umschrieb das Gutachten bzw. die Aussagen des Gutachters in der nicht öffentlichen Sitzung am 29.03.2023 (Bl. 13 ff. der Gerichtsakte) im späteren Beschluss unter anderem wie folgt:
„[Der Sohn] neige außerdem zu einer Idealisierung der Kindesmutter und weise einen deutlichen Bezug zu ihr auf. Die derzeitige psychotherapeutische Behandlung [des Sohnes] bei Frau Dr. … schätzte der Sachverständige nicht nur als nicht hilfreich, sondern vielmehr auch kindeswohlschädlich ein: Aufgrund der Anhörung der Zeugin … sei der Eindruck entstanden, dass sie sich vielmehr der Auftraggeberin, und zwar Kindesmutter, verpflichtet fühle und nicht dem Patienten […]. Die Therapeutin habe außerdem nicht verstanden, dass die Schulabstinenz nicht das eigentliche Problem, sondern vielmehr lediglich ein Symptom sei. Das eigentliche Problem seien […] Trennungsängste und die fast symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Aus sachverständiger Sicht sei es so einzuschätzen, dass durch die Therapie bei Frau …der Behandlungsauftrag der Kindesmutter, den Sohn nicht von ihr zu entfremden, durch die Therapeutin weitergeführt wird.
Es sei bereits von einer persönlichen Fehlentwicklung und damit einer Schädigung des [Sohnes] auszugehen. Dies liege im wesentlichen an der pathologischen Mutter-Sohn-Beziehung. Es sei von einer bewussten und unbewussten Manipulation durch die Kindesmutter auszugehen. [Er] habe die Aufgabe übernommen, die ihm unbewusst delegiert worden sei, und zwar das psychische Wohlbefinden der Kindesmutter mitzusteuern. [Er] habe diesen Behandlungsauftrag unterbewusst für sich verstanden.
Aufgrund der insgesamt ungünstigen Prognose bei der psychischen Fehlentwicklung [des Sohnes], gescheiterte Interventionen im therapeutischen Bereich und insbesondere deutliche Hinweise auf ungünstiges mütterliches Erziehungsverhalten sei es aus gutachterlicher Sicht erforderlich, dass [der Sohn] in einer betreuten Einrichtung fremduntergebracht werde. [Er] verfüge nicht über ausreichende Fähigkeiten zum Selbstschutz, angemessene Frustrationstoleranz und intrinsische Veränderungsmotivation. Es drohe angesichts der bei der Kindesmutter nicht vorhandenen Problemeinsicht eine gravierende Störung der Persönlichkeitsentwicklung des Jugendlichen.
Es gebe auch keine Alternative zur Fremdunterbringung, was nicht an der ablehnenden Haltung gegenüber dem Vater liege, sondern vielmehr daran, dass durch das mütterliche Verhalten die Autonomieentwicklung [des Sohnes] massiv beeinträchtigt werde. Dies könne mit einer Fremdunterbringung behoben werden. Wenn [der Sohn] im mütterlichen Haushalt verbleibe, werde er sich nicht von der Kindsmutter loslösen können und werde, wenn es schlecht laufe, auch noch mit 40 Jahren bei seiner Mutter wohnen und keine eigenes Leben führen können. Er werde kein selbstbestimmtes Leben führen können. Durch eine Fremdunterbringung könne diese Fehlentwicklung effektiv entgegengewirkt werden.
Außerdem brauche es eine auf dieses konkrete Störungsbild fokussierte Psychotherapie.
Es sei anzunehmen, dass die Fremdunterbringung zu einem massiven Widerstand [beim Sohn] führen werde. Gleichwohl sei dies die bessere Lösung als ein Verbleib im mütterlichen Haushalt. Bei der Kindesmutter liege eine chronische Kindeswohlgefährdung vor, wobei klarzustellen sei, dass bereits ein psychischer Schaden [beim Sohn] eingetreten sei. Deshalb sei das Wohl des Kindes weniger gefährdet, wenn [er] künftig fremduntergebracht werde auch trotz seines entgegenstehenden Willens. Hinzukomme, dass die aktuelle Notlage professionell in einer Einrichtung abgefangen werden könne und dass sich der allgemeine Zustand verbessern könnte, was bei der Mutter nicht der Fall sein werde.
Entscheidend für die künftige Entwicklung [des Sohnes] sei die psychische Reifung. Diese werde in einer Fremdunterbringung ermöglicht. Wenn [er] eine persönliche Nachreifung erfahre, werde er der Verantwortung für sich übernehmen können. Derzeit übernehme er keine Verantwortung für sich. Er sei jetzt viel mehr das verlängerte Ich seiner Mutter. Er habe in der Fremdunterbringung die Chance, zu einem Jugendlichen mit einer weitgehend normal-psychologischen Entwicklung zu werden.
Es sei zu erwarten, dass [der Sohn] die Schuld für einen Aufenthaltswechsel seinem Vater geben werde, unabhängig davon was der Vater mache. Sofern die Teilbereiche der elterlichen Sorge auf den Kindesvater übertragen werden, werde er auch dies negativ bewerten. Bei einer Übertragung auf den Ergänzungspfleger gäbe es allerdings die gleichen Diskussionen. Der Vater würde auch in diesem Fall aus [seiner] Sicht Schuld an der Situation behalten. Sofern der Kindesvater die alleinige Sorge nicht dazu nutzen werde, eine notwendige Fremdunterbringung zu torpedieren, sei es aus sachverständiger Sicht sinnvoll, dass diese nicht auf einen Ergänzungspfleger, sondern auf den Kindsvater übertragen werde.“
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Nach dem Vermerk über die nichtöffentliche Sitzung am 29.03.2023 (Bl. 17 der Gerichtsakte) habe der Gutachter ausgesagt, es sei zutreffend, dass der Schaden beim Sohn bereits eingetreten sei. Aus diesem Grund solle eine Umsetzung der Fremdunterbringung auch zeitnah erfolgen, da sonst die Manipulation der Kindesmutter fortgeführt werde.
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Mit Beschluss vom 12.04.2023 (Bl. 6 ff. der Gerichtsakte) übertrug das Amtsgericht … – Abteilung für Familiensachen – das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitsfürsorge und das Recht zur Regelung schulischer Angelegenheiten für den Sohn der Klägerin auf den Kindsvater selbst (Ziffer 1). Die Klägerin wurde verpflichtet, den Sohn an den Antragsteller herauszugeben (Ziffer 2). Der zuständige Gerichtsvollzieher wurde beauftragt, den Sohn bei der Klägerin abzuholen und zum Antragsteller zu verbringen. Dieser habe für die Anwesenheit eines Mitarbeiters des zuständigen Jugendamtes des Landratsamtes … bei der Vollstreckung zu sorgen. Dieser wurde sogleich ermächtigt, zur Durchsetzung der Herausgabe des Sohnes, soweit notwendig, mit Hilfe der polizeilichen Vollzugsorgane Gewalt anzuwenden und erforderlichenfalls auch gegen den Willen der Klägerin ihre Wohnung zu betreten. (Ziffer 3).
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Der Beschluss des Amtsgerichts … – Abteilung für Familiensachen – traf dabei im Wesentlichen die folgenden Tatsachenfeststellungen: Die Eltern des Sohnes lebten nicht nur vorübergehend getrennt. Sie trennten sich im Jahre 2020. Seit der Trennung der Eltern lebe er im Haushalt der Klägerin. Er lehne seit der Trennung jeglichen Kontakt zum Kindsvater ab. Er verweigere seit geraumer Zeit den Schulbesuch. Er gehe derzeit in die 10. Klasse. Diese Klasse habe er aufgrund der Vielzahl der Fehlstunden im Rahmen der Schulabstinenz im vergangenen Schuljahr wiederholen müssen. Ausweislich des vom Kindsvater vorgelegten Kalenders käme es im derzeitigen Schuljahr – Stand 29.03.2023 – zu insgesamt 33 Fehltagen des Sohnes. Er befinde sich in ambulanter Therapie. Mit Attest vom 08.04.2022 habe die Therapeutin bescheinigt, dass eine stationäre Unterbringung des Kindes zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens erforderlich sei, da durch die aktuelle Entwicklung eine erhebliche Beeinträchtigung auf psychischer Ebene und der sozialen Teilhabe zu erwarten sei. Hierbei handele es sich nicht um eine Situation, die als frei gewählt anzusehen sei und deren Konsequenzen von ihm überblickt werden könnten.
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Insgesamt kam das Amtsgericht … – Abteilung für Familiensachen – zu dem Ergebnis, dass die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge dem Wohl des Kindes am besten entspreche. Die gemeinsame elterliche Sorge werde dem Kindeswohl nicht gerecht. Es bezog sich dabei auf die sachverständige Einschätzung. Ein Mindestmaß an erforderlicher Kooperations- und Kommunikationsbereitschaft zwischen den Kindeseltern sei nicht vorhanden. Die Übertragung der Teilbereiche der elterlichen Sorge (Aufenthaltsbestimmungsrecht, Gesundheitssorge und das Recht zur Regelung der schulischen Angelegenheiten) auf den Kindesvater würde dem Wohl des Kindes am besten entsprechen. Es sah eine nachhaltige Gefährdung des Kindeswohls im mütterlichen Haushalts, wobei bereits eine Schädigung des Kindeswohls eingetreten sei. Auch insoweit bezog sich das Gericht auf die sachverständige Einschätzung. Das Gericht ging davon aus, dass der Schulbesuch bei einem Verbleib im mütterlichen Haushalt weiter schleppend verlaufen werde, sodass dies schlimmstenfalls dazu führen könnte, dass der für den Sohn aufgrund seines intellektuellen Standes zwanglos mögliche Schulabschluss gefährdet sei. Die Kindesmutter sei auch nicht Willens oder in der Lage diese Situation zu ändern. Aufgrund der bei der Kindesmutter nicht vorhandenen Problemeinsicht und der nahezu aufgehobenen Bindungstoleranz gehe das Gericht davon aus, dass die Erziehungsfähigkeit derartig eingeschränkt sei, dass sich ein Verbleib des Sohnes in ihrem Haushalt weiter schädigend auf das Kindeswohl auswirken werde. Hinsichtlich der Übertragung dieser Teilbereiche der elterlichen Sorge auf den Kindesvater stellte das Gericht fest, dass dieser sich dazu bereit erklärt habe, alles Notwendige zu veranlassen, um eine zwingend notwendige Fremdunterbringung zu ermöglichen. Der Wille des Kindes sei letztlich unbeachtlich, da dieser fremdinduziert und selbstschädigend sei. Von einer Entscheidung nach § 1666 BGB habe das Gericht abgesehen, weil die Gefahr für das Kindeswohl durch eine (vorliegend streitige) Entscheidung über das Sorgerecht nach § 1671 BGB abgewendet werden könne. Das Recht auf Beantragung von Jugendhilfen nach dem Achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII) wurde – dem Antrag des Kindesvaters entsprechend – nicht übertragen.
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Im Aktenvermerk vom 17.04.2023 über diverse Telefonate zwischen dem 14.04.2023 und dem 17.04.2023 (Bl. 19 der ASD2863-Akte II) wurde festgehalten, dass nach Aussage des Kindsvaters der Sohn erst einmal bei der Mutter belassen werden solle, bis eine Einrichtung für den Sohn gefunden worden sei. Das Jugendamt gab dabei an, dass eine Hilfe ohne die Klägerin nicht zustande kommen könne, wenn sie nicht zustimme. Die zuständige Familienrichterin habe sich in einem Anruf wie folgt geäußert: „Info bzgl. HzE = beide Unterschriften wird weitergegeben. Richterin gibt an, dass KV den Aufenthalt alleine bestimmen kann. Er kann bestimmen, dass Kind z.B. in eine Pflegefamilie kommt. JA müsse dann keinen Antrag bei Gericht nach Anhörung ION stellen, sondern KV müsste Antrag bei Gericht bzgl. Ersetzung der Unterschrift. JA helfe KV dabei, sein Aufenthaltsbestimmungsrecht durchzusetzen. JA kann danach nach Unterschrift/ Zustimmung HzE KM fragen, ansonsten muss KV Antrag nach § 1628 stellen.“
19
In einem Aktenvermerk (Bl. 37 der ASD2863-Akte II) vom 18.04.2023 über ein Gespräch mit Rechtsanwältin …, der Verfahrensbevollmächtigten des Kindes, heißt es: „RA … teilt mit, dass sie von RA … erfahren habe, dass JA Kind mitnehmen möchte. RA … hält dies für keine gute Idee. [Der Sohn] wisse bisher nichts von dem Beschluss und werde aus allen Wolken fallen. Zudem fragt sie JA ob diese das Handeln verantworten kann. Außerdem sei eine Pflegefamilie gar kein Gegenstand des Gerichtsverfahrens gewesen. RA will wissen, ob die Pflegefamilie überhaupt geeignet sei, … bei sich aufzunehmen. Zudem werde RA … und … Beschwerde und vorübergehende Aussetzung des Beschlusses einlegen. RA fragt, ob JA nicht auf die Entscheidung warten möchte. JA gibt an, dass die Entscheidung der KV trifft und dass die Pflegefamilie zur Aufnahme eines Kindes geeignet sei. Vereinbarung: RA teilt morgen JA mit, was … zum Inhalt des Beschlusses gesagt habe.
20
In einem Aktenvermerk von 18.04.2023 (Bl. 38 der ASD2863-Akte II) über ein Gespräch mit der zuständigen Familienrichterin heißt es: „JA fragt bei Richterin … nach, wie lange es dauert, bis eine Beschwerde zugelassen wird und OLG Entscheidung über die Aussetzung des Beschlusses fällt. Richterin gibt an, dass dies länger dauern wird und nicht schnell gehe. JA könne gemeinsam mit KV Beschluss auf jeden Fall durchsetzen.“
21
Mit Schriftsatz vom 19.04.2023 (Bl. 63 ff. der ASD2863-Akte II) hat die Klägerin gegen den Beschluss vom 12.02.2023 Beschwerde eingelegt und gleichzeitig beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung über die Beschwerde, die Vollziehung des angefochtenen Beschlusses auszusetzen und der Antragstellerin das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitsfürsorge und das Recht zur Regelung schulischer Angelegenheiten zu übertragen.
22
In einem Aktenvermerk vom 19.04.2023 (Bl. 39 der ASD2863-Akte II) über eine die Besprechung im Fallteam heißt es: „Frage im Fallteam: Soll JA warten, bis Aussetzung des Beschlusses vorliegt oder eine geeignete Einrichtung gefunden ist oder jetzt handeln? Team gibt an, dass dies eine Hinhaltetaktik von KM sei. JA soll mit KV Vorgehen besprechen -> Hat JA schon gemacht. KV möchte Zwischenunterbringung in Pflegefamilie bis Einrichtung gefunden ist. Team gibt an, dass dann KV tätig werden muss und Gerichtsvollzieher hinzuziehen muss, da augenscheinlich keine Zusammenarbeit mit KM stattfinden kann und sie sich gegen den Beschluss und deren Umsetzung stellt.“
23
In einem Gesprächsvermerk vom 20.04.2023 (Bl. 44 ASD2863-Akte II) heißt es:
„Tel. KV am 19.04.2023: KV wird Inhalt des Fallteams mitgeteilt (KM versucht Herausnahme hinauszuzögern). KV muss tätig werden und Gerichtsvollzieher hinzuziehen. KV soll sich hierfür an seine Anwältin oder ans Gericht wenden.
Tel. Richterin … am 19.04.2023: Richterin gibt an, dass KV gerade angerufen habe und Telefonnummer von Gerichtsvollzieher wollte. Richterin habe ihm Kontaktdaten gegeben. JA gibt an, dass Herausnahme mit Gerichtsvollzieher erfolgen muss, da KM sich allem entziehen will. [Die Familienrichterin] wird auch mit Gerichtsvollzieher Kontakt aufnehmen und Fall dringlich darstellen.
Tel. KV am 19.04.2023: KV gibt an, dass er mit Gerichtsvollzieher telefoniert habe. Er benötige den beglaubigten Beschluss. JA gibt an, dass es mit Richterin telefoniert habe, die auch den Gerichtsvollzieher nochmal kontaktieren wird.
Tel. mit Gerichtsvollzieher … am 19.04.2023: Absprachen bzgl. Datum und Uhrzeit der Herausnahme werden getroffen: Donnerstag, 20.04. um 17 Uhr. KV habe mitgeteilt, dass …, wenn er in die Schule gehe, um ca. 16.15 Uhr zu Hause wäre.
Mehrere Tel. mit Gerichtsvollzieher … am 20.04.2023: JA berichtet von AB Nachricht von KM vom 20.04.2023. Schlussfolgerung: … geht heute nicht in die Schule. Herausnahme kann früher stattfinden. Herr … gibt an, dass Herausnahme um 14 oder 15 Uhr stattfinden kann. Er warte noch auf die Rückmeldung der PI. Herr … gibt an, dass Herausnahme erst, wie geplant um 17 Uhr stattfinden kann. Da die PI derzeit alle Einsatzfahrzeuge wg. Einsatz in NEC gebündelt hat. KV ist hierüber informiert.“
24
Die Herausnahme des Kindes am 20.04.2023 scheiterte, weil an diesem Tag offenbar die Klägerin mit ihrem Sohn nicht zuhause war (Bl. 46 der ASD2863-Akte II). Auch ein Versuch am 21.04.2023 scheiterte aus diesem Grund (Bl. 49 der ASD2863-Akte II). Am 24.04.2023 wurde die Klägerin schließlich mit ihrem Sohn zuhause angetroffen und der Sohn mitgenommen. Im entsprechenden Aktenvermerk (Bl. 51 f. der ASD2863-Akte II) ist immer wieder die Rede davon, dass der Beschluss des Familiengerichts vollstreckt werden soll.
25
In einem Aktenvermerk vom 25.04.2023 (Bl. 6 f. der Akte Inobhutnahme) über ein Gespräch des Jugendamtes mit der Prozessbevollmächtigten der Klägerin heißt es: „Das Schreiben, was JA KM gestern ausgehändigt hat, wird KM nicht unterschreiben. Situation werde immer besser. Warum braucht JA überhaupt Unterschrift von KM -> HzE noch gemeinsam. In welchem rechtlichen Bereich befinden wir uns dann? -> ggf. ION, wenn KM nicht zustimmt. JA bittet zudem um Zusendung einer Schweigepflichtentbindung.“
26
In einem Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 25.04.2023 an das Jugendamt des Beklagten wird die Zustimmung der Klägerin zur Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie verweigert. Von einer Unterbringung in einer Pflegefamilie sei nie die Rede gewesen. Die Unterbringung in der Pflegefamilie sei auch nicht vom familiengerichtlichen Beschluss vom 12.04.2023 gedeckt. Dies sei nach eigener Aussage des Jugendamtes auch bekannt. Der Beklagte wurde aufgefordert, die Unterbringung in der Pflegefamilie zu beenden. Auf die Frage, wie der rechtswidrige Zustand beseitigt werde solle, sei seitens des Beklagten angegeben worden, dass eine Ersetzung der Zustimmung zu den geplanten Jugendhilfemaßnahmen beim Amtsgericht … zu beantragen sei. Bis dahin werde eine Inobhutnahme des Kindes durch das Jugendamt erfolgen. Auf den Hinweis, dass es hierfür an einer erforderlichen Kindeswohlgefährdung fehle, habe der Beklagte angegeben, dass er dies anders sehe. Es werde bereits jetzt der Inobhutnahme durch die Kindesmutter widersprochen.
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Mit Schriftsatz vom 25.04.2023 (Bl. 56 ff. der ASD2863-Akte II) hat die Verfahrensbevollmächtigte des Kindesvaters beim Amtsgericht … – Abteilung für Familiensachen – beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung zusätzlich das alleinige Recht auf den Kindesvater zu übertragen, Hilfe zur Erziehung bei den zuständigen Behörden für den Sohn zu beantragen. Ziel der begehrten Maßnahme sei es, das Kind in einer Wohngruppe unterzubringen. Hierfür sei grundsätzlich notwendig, dass beide Elternteile einen entsprechenden Antrag unterschreiben, was die Kindesmutter verweigert habe. Eilig sei die Entscheidung auch deshalb, da der Sohn ja bereits in der Pflegefamilie untergebracht worden sei und dies nunmehr legalisiert werden müsse. Im Übrigen benötige das zuständige Jugendamt aufgrund der Vorgaben der wirtschaftlichen Jugendhilfe einen entsprechenden von beiden Eltern unterschriebenen Antrag. Nach Auskunft des Jugendamtes reiche es vorliegend nicht, dass dem Antragsteller das Aufenthaltsbestimmungsrecht sowie die Gesundheitsfürsorge alleine übertragen worden sei, um diese Entscheidung alleine zu treffen.
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In einer E-Mail von Frau … vom Jugendamt des Beklagten an die Prozessvertreterin der Klägerin wurde ausgeführt, dass der Kindsvater entschieden habe, aufgrund der Ablehnung des Sohnes ihm gegenüber, in Absprache mit ihr, den Sohn in einer Bereitschaftspflegefamilie unterzubringen, bis eine geeignete stationäre Jugendhilfemaßnahme gefunden worden sei. Bezüglich der Zustimmung der Klägerin zur Fremdunterbringung seien vom Vater bereits gerichtliche Maßnahmen eingeleitet worden.
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Mit Schriftsatz vom 28.04.2023 (Bl. 79 f. der ASD2863-Akte II) an das Amtsgericht … – Abteilung für Familiensachen – nahm das Jugendamt des Beklagten Stellung zu diesem Antrag. Der Kindsvater habe entschieden, aufgrund der Ablehnung des Sohnes ihm gegenüber, den Sohn in Absprache mit Frau … des Jugendamts des Beklagten in einer Bereitschaftspflegefamilie unterzubringen, bis eine für den Kläger geeignete stationäre Jugendhilfemaßnahme gefunden werde, was auch am 24.04.2023 umgesetzt worden sei. Vorgabe für eine Fremdunterbringung sei die Zustimmung sowie Unterschrift beider sorgeberechtigter Elternteile, wenn beide das Recht auf Beantragung von Hilfen aus dem SGB VIII innehätten. Um einer Inobhutnahme aufgrund fehlender Zustimmung der Kindsmutter vorzubeugen, solle dem Kindsvater das Recht auf Beantragung von Hilfen zu Erziehung alleine übertragen werden.
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Mit Schriftsatz vom 28.04.2024 an das OLG … (Bl. 81 ff. der ASD2863-Akte II) schrieb Frau … vom Jugendamt des Beklagten: „Da der Kindesvater u.a. das Aufenthaltsbestimmungsrecht alleine übertragen bekommen hat, bat er die Unterzeichnerin um Unterstützung bei der Kontaktaufnahme zur Kindesmutter, um [den Sohn] vorübergehend in einer Pflegefamilie unterzubringen. Ein Verbleib im mütterlichen Haushalt, bis eine geeignete Einrichtung gefunden ist, konnte, aufgrund der Ausführungen des Gutachters (fehlende Autonomieentwicklung, Beeinflussung des Kindes durch die Mutter, chronische Kindeswohlgefährdung im Haushalt der Mutter) nicht abgewartet werden. Die Unterzeichnerin kontaktierte die Kindesmutter am 17.04.2023 und fragte, wann die Unterzeichnerin [den Sohn] zu Hause abholen könne um ihn in eine Pflegefamilie zu bringen. [Die Klägerin] gab u.a. an, dies mit ihrer Anwältin besprechen zu wollen. Eine Rückmeldung von ihr erfolgte nicht, stattdessen folgten mehrere Telefonate mit Rechtsanwältin … und Rechtsanwältin …, die versuchten, auf die Unterzeichnerin einzuwirken, den Beschluss nicht umzusetzen, da beabsichtigt ist, den Beschluss anzufechten bzw. die Umsetzung des Beschlusses vorübergehend auszusetzen. Beide Rechtsanwältinnen sahen keinen Handlungsbedarf für eine Unterbringung [des Sohnes]. Anzumerken ist hierbei, dass der Begriff „Fremdunterbringung“ nicht die Art der Maßnahme bestimmt. Die Unterzeichnerin ist derzeit auf der Suche nach einer therapeutischen Jugendhilfeeinrichtung für [den Sohn]. Ein Vorstellungsgespräch kann in einer Einrichtung stattfinden. Derzeit ist die Umsetzung jedoch nicht möglich, da die Kindesmutter, Frau Rechtsanwältin …, Frau Rechtsanwältin … negativ auf [den Sohn] einwirken. So stimmt die Kindesmutter einer Unterbringung in einer geeigneten therapeutischen Jugendhilfeeinrichtung nicht zu und ließ dies auch schriftlich über ihre Anwältin der Unterzeichnerin zukommen (…).
31
Nach Auffassung des Amts für Jugend und Familie des Landkreises … wird die Übertragung der Teilbereiche der elterlichen Sorge auf den Kindsvater durch das Familiengericht … vom 12.04.2023 im Verfahren … sowie der aktuelle Aufenthalt [des Sohnes] in einer Bereitschaftspflegefamilie weiterhin als berechtigte und notwendige Maßnahme angesehen (…).
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Nach fachlicher Einschätzung des Amtes für Jugend und Familie ist eine Gefährdung für das Wohl des Kindes in [ihrem] Handlungsmuster, ihrer nicht vorhandenen Problemeinsicht, der nur vordergründig geäußerten Kooperationsbereitschaft sowie der Beeinflussung und Manipulation [des Sohnes] begründet.“
33
Mit Beschluss vom 02.05.2023 (Bl. 87 ff. der ASD2863-Akte II) übertrug das Amtsgericht … – Abteilung für Familiensachen – die Entscheidung, Hilfe zur Erziehung bei den zuständigen Behörden für den Sohn zu beantragen alleine auf den Kindesvater. Das Gericht habe bereits in einem Beschluss zur Sache … festgestellt, dass das Kindeswohl aufgrund des Verhaltens der Kindesmutter dauerhaft gefährdet werde. Aufgrund dessen sei bereits das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf den Antragsteller übertragen worden, sodass dieser über den gewöhnlichen Aufenthalt des Sohnes alleine bestimmen dürfe. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin sei die Unterbringung in der Pflegefamilie deshalb auch nicht rechtswidrig, sondern vom Recht des Antragstellers zur Bestimmung des Aufenthalts umfasst. Um das Verfahren nach den §§ 27 ff. SGB VIII ordnungsgemäß durchführen zu können, sei es grundsätzlich erforderlich, dass beide Elternteile, sofern diese sorgeberechtigt seien, einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung stellen, auch wenn dies nicht ausdrücklich im Gesetz erwähnt sei. Die Antragsgegnerin habe die Unterschrift zur Antragstellung verweigert. Das Gericht sei aufgrund des durchgeführten Verfahrens … davon überzeugt, dass das Kindeswohl ohne die Fremdunterbringung nachhaltig und dauerhaft gefährdet sei. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung lägen vor, weil ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden bestehe. Der Sohn befinde sich bereits seit 24.04.2023 in der Pflegefamilie, sodass ein weiteres Zuwarten oder die Einleitung eines Hauptsacheverfahrens nicht möglich ist.
34
Mit gleichlautendem Bescheid vom 02.05.2023 an die Klägerin (Bl. 23 der Gerichtsakte) und den Kindsvater (Bl. 9 f. der WiHi-Akte) hat das Landratsamt des Beklagten unter Ziffer 1 die Inobhutnahme des Kindes angeordnet. Als Beginn bzw. Dauer der Maßnahme wurde der 24.04.2023 genannt (Tag der Vollziehung des Herausgabetitels aus dem amtsgerichtlichen Beschluss) genannt. Unter „Art der Maßnahme“ wurde die Unterbringung in einer Pflegefamilie im Landkreis des Beklagten benannt. Unter Ziffer 2 wurde die sofortige Vollziehung dieses Bescheids angeordnet. Die Bescheidsbegründung gibt den Wortlaut des § 42 Abs. 1 S. 1 SGB VIII wieder. Die Notwendigkeit der Inobhutnahme habe vorgelegen, da gemäß des vorliegenden Gutachtens eine Kindeswohlgefährdung beim Verbleib im Haushalt der Mutter vorliege. Die sofortige Vollziehbarkeit wurde damit begründet, dass diese im öffentlichen Interesse und auch im Interesse des Kindes liege, da die Gefahr bestünde, dass das Wohl des Kindes so schwerwiegend beeinträchtigt werden könnte, dass nicht erst der Abschluss eines gerichtlichen Verfahrens abgewartet werden könne.
35
Ebenfalls unter dem 02.05.2023 erging an die Klägerin ein Bescheid über einen Kostenbeitrag gem. § 10 Abs. 2, §§ 91-94 SGB VIII (Bl. 11 ff. der WiHi-Akte). Unter Ziffer 1 heißt es: „Für die oben genannte Hilfemaßnahme wird der von Ihnen ab dem 24.04.2023 zu leistende monatliche Kostenbeitrag auf 250,00 € festgesetzt. Bei dem Betrag handelt es sich um einen Mindestkostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes, der vom kindergeldberechtigten Elternteil gem. § 94 Abs. 3 SGB VIII zu leisten ist.“ Der nachzuzahlende Betrag für die Zeit vom 24.04.2023 bis 31.05.2023 wurde nach Ziffer 2 des Bescheids auf 380,33 € festgesetzt. Das Landratsamt … – Fachbereich Jugend und Familie – leiste nach der Bescheidsbegründung seit dem 24.04.2023 für den Sohn Hilfe in Form von Unterbringung und Betreuung. Aufgrund der §§ 10 Abs. 2, 91-94 SGB VIII hätte die Klägerin zu den Kosten beizutragen, soweit Ihnen dieses zuzumuten sei. Bei dem festgesetzten Betrag handele es sich um das Kindergeld für das untergebrachte Kind, das als eigenständiger Kostenbeitrag neben einem evtl. weiteren Kostenbeitrag aus ihrem sonstigen Einkommen gem. § 94 Abs. 3 S. 1 SGB VIII zu leisten sei. Gegen den Kostenbescheid wurde mit Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 15.05.2023 Widerspruch eingelegt (Bl. 85 der WiHi-Akte), über den bis zum Zeitpunkt der Entscheidung seitens der Regierung von … noch nicht entschieden wurde.
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Mit weiteren gleichlautenden Schreiben des Beklagten vom 02.05.2023 (Bl. 3 ff. der WiHi-Akte) wurden die Klägerin und der Kindsvater aufgefordert, Angaben zu den wirtschaftlichen Verhältnissen zu machen, um den Kostenbeitrag für die vollstationäre Unterbringung und Betreuung des Sohnes, die seit dem 24.04.2023 erfolge, zu ermitteln.
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Mit weiteren Schreiben des Beklagten an die Bundesagentur für Arbeit … (Bl. 16 der WiHi-Akte) vom 02.05.2023 wurde angeführt, dass seitens des Beklagten Hilfe zur Erziehung gem. § 34 SGB VIII für den Sohn geleistet werde. Im Rahmen der Jugendhilfemaßnahme käme der Beklagte für den Lebensunterhalt des Jugendlichen in vollem Umfang auf. Die Klägerin sei gem. § 94 Abs. 3 S. 1 SGB VIII verpflichtet, einen Kostenbeitrag mindestens in Höhe des Kindergeldes zu leisten. Dieser Verpflichtung käme sie jedoch nicht nach. Der Beklagte beantragte deshalb die Erstattung des auf das auf den Sohn entfallenden Kindergeldes nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 94 Abs. 3 S. 2 SGB VIII. Der Antrag wurde mit Schreiben vom 15.05.2023 zurückgenommen (Bl. 137 der WiHi-Akte).
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Mit Beschluss vom 03.05.2023 setzte der 7. Zivilsenat des OLG … aufgrund der Beschwerde der Klägerin vom 19.04.2023 die Vollziehung des Beschlusses des Amtsgerichts … – Abteilung für Familiensachen – aus. Der Klägerin wurden das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitssorge und das Recht zur Regelungen schulischer Angelegenheiten (zurück-)übertragen. Der Senat hatte Zweifel daran, dass dem Kindeswohl am besten dadurch gedient sei, dass diese Teile der Personensorge auf den Kindesvater übertragen werden. Das Erstgericht habe unter Zugrundelegung der Ausführungen des Sachverständigen seine Entscheidung im Wesentlichen darauf gestützt, dass aufgrund einer nicht altersentsprechenden und ausreichenden Autonomieentwicklung das Kindeswohl bei einem Verbleib im mütterlichen Haushalt nachhaltig gefährdet sei. Hinsichtlich der im Rahmen der Prüfung nach § 1671 Abs. 1 BGB zu beachtenden Kriterien sei lediglich der Kindeswille thematisiert worden. Dieser sei als unbeachtlich angesehen worden, weil ein Verbleib im mütterlichen Haushalt als selbstschädigend und damit dem Kindeswohl widersprechend angesehen wurde. Es sei zutreffend, dass der Kindeswille als verbaler Ausdruck der Bindungen des Kindes einerseits, anderseits, aber auch Ausdruck der verfassungsrechtlich zu achtenden Selbstbestimmung des Kindes, in der Gesamtwürdigung als wichtiger Faktor zu berücksichtigen sei, soweit er dem Kindeswohl entspreche. Soweit das Erstgericht lediglich auf die Gefahren beim Verbleib im mütterlichen Haushalt abstelle, greife dies zu kurz. Angesichts der Ausführungen des Sachverständigen, wonach eine Fremdunterbringung wohl zu massivem Widerstand beim Sohn führen werde, was unter Umständen auch traumatisch sein könne, hätten auch die möglichen Folgen der Herausnahme berücksichtigt werden müssen. Soweit ausgeführt werde, der Kindeswille sei fremdinduziert und nicht eigenständig gebildet, würden Gründe für diese Einschätzung nicht angeführt. Dies wäre aber vor dem Hintergrund veranlasst gewesen, dass der Sohn nicht nur seinen Vater massiv ablehne, was auch in der gerichtlichen Anhörung zutage getreten sei, sondern dieser auch seit 2020 keinen Umgang mehr habe. Zu berücksichtigen sei, dass ein Junge im Alter von 16 Jahren bereits über eine durchaus entwickelte eigenständige Persönlichkeit verfüge und grundsätzlich in der Lage sei, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Zudem verliere auch bei massiver Beeinflussung durch einen Elternteil der Kindeswille dann nicht ohne weiteres an Bedeutung, wenn er dennoch Ausdruck echter und schützenswerter Bindungen des Kindes sei. Die Ausführungen, dass es keine weiteren negativen Auswirkungen auf das Kind haben werde, wenn Teile der elterlichen Sorge auf den Vater übertragen würden, ließen eine ausreichende Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts des Sohnes vermissen und wirkten der erstrebten Autonomieentwicklung entgegen.
39
Die Abwägung der drohenden Nachteile für die Beteiligten spreche klar für den Erlass der einstweiligen Anordnung. Sollte das Hauptsacheverfahren zugunsten des Kindesvaters ausgehen, würde sich der Wechsel des Sohnes in den Aufenthalt des Vaters bzw. die von diesem intendierte Fremdunterbringung um wenige Monate verzögern. Sollte dagegen das Hauptsacheverfahren zugunsten der Mutter ausgehen, würde ein Aufenthaltswechsel des Sohnes, verbunden mit der Trennung vom gewohnten Umfeld, vermieden werden. Nachteile durch die Aussetzung seien dagegen nicht ersichtlich, zumal ein Platz in einer Wohngruppe zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht zur Verfügung stünde und auch der Sachverständige bei einem Verbleib des Sohnes im Haushalt der Kindesmutter eine akute Kindeswohlgefährdung und die Notwendigkeit eines sofortigen Einschreitens verneint habe. Hieran ändere nichts, dass der Beschluss zwischenzeitlich vollzogen worden sei und der Sohn seit dem 24.04.2023 bei einer Pflegefamilie untergebracht sei. Für den Senat sei schon vor dem Hintergrund, dass der Aufenthalt bei der Pflegefamilie nur vorübergehend geplant sei, bis ein Platz in einer Wohngruppe zur Verfügung stehe, nicht nachvollziehbar, weshalb der Beschluss in Kenntnis der eingelegten Beschwerde und der beantragten einstweiligen Anordnung vollzogen worden sei. Eine Notwendigkeit, dem Jungen mehr als einen Haushaltswechsel zuzumuten, ergebe sich auch nicht unter Berücksichtigung der Ausführungen des Sachverständigen, der eine akute Kindeswohlgefährdung im Haushalt der Mutter verneint habe.
40
Am 05.05.2023 wurde das Kind zur Klägerin zurückzugeführt.
41
Mit Bescheid vom 15.05.2023 wurde die Inobhutnahme im Nachgang förmlich ab dem 06.05.2023 beendet (Bl. 15 der WiHi-Akte). Begründet wurde der Bescheid unter Verweis auf § 42 Abs. 4 SGB VIII mit der Entscheidung des OLG … Gegen die Beendigung der Inobhutnahme hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin Widerspruch eingelegt (Bl. 271 der WiHi-Akte), über den noch nicht seitens der Regierung von … entschieden wurde.
42
Mit weiterem Bescheid vom 15.05.2023 an die Klägerin (Bl. 138 der WiHi-Akte) wurde der Bescheid vom 02.05.2023 seitens der Beklagten insoweit zurückgenommen, als es um die Heranziehung in Höhe des Kindergeldes ab dem 06.06.2023 geht. Insoweit ist die Rede davon, dass der Sohn vom 24.04.2023 bis zum 05.05.2023 in Obhut genommen worden sei.
43
Mit Schreiben der Prozessbevollmächtigten vom 15.05.2023 legte die Klägerin Widerspruch gegen die Inobhutnahme ein (Bl. 123 der WiHi-Akte), der mit Schreiben vom 19.05.2023 begründet wurde. Insoweit führte die Prozessbevollmächtigte im Wesentlichen aus, dass der Beklagte es nicht versucht habe, eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen, wie es § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII verlange. Eine Inobhutnahme ohne Einholung einer einstweiligen Anordnung komme nur in besonders gelagerten, akuten Gefährdungssituationen in Betracht. Im Übrigen habe zu keinem Zeitpunkt eine akute Kindeswohlgefährdung vorgelegen. Dies sei durch das OLG … mit Beschluss vom 03.05.2023 bestätigt worden. Über diesen Widerspruch wurde seitens der Regierung von … bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ebenfalls noch nicht entschieden.
44
Mit Schriftsatz vom 19.07.2023, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am gleichen Tag, erhob die Prozessbevollmächtigte Klage mit dem Antrag
festzustellen, dass die Inobhutnahme des Kindes …, geboren am …, vom 22.04.2023 bis 06.05.2023 durch die Beklagte rechtswidrig war und die Klägerin in ihren Rechten verletzt hat.
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Die Klage sei zulässig und begründet, insbesondere bestehe ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsaktes. Es bestünde ein berechtigtes Interesse an der Rehabilitierung der Klägerin. Sie sei durch die Vorgehensweise in ihrem Ansehen in der Öffentlichkeit schwer beeinträchtigt worden. Das Kind sei am 24.04.2023 mit der Polizei und Sanitätern zu Hause abgeholt worden, mit der nicht zutreffenden Begründung, dass im Haushalt der Mutter eine akute Kindeswohlgefährdung gegeben sei. Dies werde auch jetzt noch weiterhin in aller Öffentlichkeit seitens des Beklagten kommuniziert. Außerdem sei die Inobhutnahme mit einem schwerwiegenden Grundrechtseingriff in das durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG geschützte Elternrecht der Klägerin verbunden gewesen. Daneben bestünde Wiederholungsgefahr, da die Beklagte nach wie vor trotz anderslautender Entscheidungen weiterhin eine von der Klägerin ausgehende Kindeswohlgefährdung behaupte. Der eigene Wunsch und Wille des Kindes habe im Übrigen keinerlei Berücksichtigung gefunden, obwohl der Sohn das sechzehnte Lebensjahr bereits vollendet habe.
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Dem in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG verfassungsrechtlich garantierten Elternecht komme als Grundrecht eine Abwehrposition gegen staatliche, nicht durch das „Wächteramt“ nach Satz 2 gedeckte Eingriffe zu. Es umfasse das Recht der Eltern, Pflege und Erziehung ihres Kindes nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Es beinhalte die freie Entscheidung über die Pflege, d.h. über die Sorge für das körperliche Wohl, wie auch die freie Gestaltung der Erziehung, d.h. der wertbezogenen Sorge für die seelisch geistige Entwicklung des Kindes. Der Umstand, dass die Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII das Vorliegen einer „dringenden“ Gefahr voraussetze, begründe für den anzuwendenden Gefahrenbegriff keine wesentlichen inhaltlichen Änderungen. Eine „dringende Gefahr“ bestehe zwar nicht schon bei einer bevorstehenden oder drohenden Gefahr, aber auch nicht erst bei einer „unmittelbar bevorstehenden Gefahr“. Eine dringende Gefahr müsse angesichts des mit der Inobhutnahme bewirkten schwerwiegenden Eingriffs in das Elternrecht stets eine konkrete Gefahr sein. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Inobhutnahme habe keine dringende Gefahr vorgelegen, wie auch das OLG … in seinem Beschluss bestätigt habe.
47
Die Inobhutnahme erweise sich ferner als rechtswidrig, weil eine familiengerichtliche Entscheidung rechtzeitig hätte eingeholt werden können. Der Umstand, dass eine Inobhutnahme nur gestattet sei, wenn eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden könne, verdeutliche zum einen den nur vorübergehenden Charakter dieser Maßnahme und zum anderen deren Nachrangigkeit gegenüber familiengerichtlichen Entscheidungen. Der Schutz des Kindes dürfe ein Abwarten der Entscheidung des Familiengerichts nicht erlauben. Demgemäß sei nicht entscheidend, ob das Familiengericht vor der Inobhutnahme hätte angerufen werden können, sondern ob eine familiengerichtliche Entscheidung, und sei es eine einstweilige Anordnung, noch rechtzeitig hätte erwirkt werden können, um der Kindeswohlgefährdung zu begegnen. Da Familiengerichte über einen gerichtlichen Bereitschaftsdienst verfügten und zudem die Möglichkeit einer Eilentscheidung hätten, deren Erlass sie gem. § 157 Abs. 3 FamFG in Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB unverzüglich zu prüfen hätten, käme eine Inobhutnahme ohne Einholung einer familiengerichtlichen Entscheidung grundsätzlich nur in besonders gelagerten akuten Gefährdungssituationen in Betracht. Vor der Inobhutnahme müsse deshalb grundsätzlich jedenfalls versucht werden, eine Entscheidung des Familiengerichts einzuholen. Im vorliegenden Fall wäre sich der Beklagte sogar bewusst gewesen, dass eine solche familiengerichtliche Entscheidung aufgrund fehlender Kindeswohlgefährdung nicht ergehen könne. Ein Handeln sei daher gänzlich ohne den Versuch der Einholung einer Entscheidung erfolgt.
48
Der Beklagte beantragte,
Die Klage wird abgewiesen.
49
Zur Begründung führt der Beklagte an, dass die Inobhutnahme weder rechtswidrig gewesen sei noch die Klägerin in ihren Rechten verletzt habe. Hinsichtlich der Rehabilitierung der Klägerin sei anzuführen, dass seitens des Gerichtsvollziehers und den Mitarbeitern des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) des Beklagten mehrmals vergeblich telefonisch versucht worden sei, die Klägerin zu einer Herausgabe des Sohnes zu bewegen. Weil dies nicht gelungen sei, sei zweimal ein Herausnahmeversuch vor Ort durch die Gerichtsvollzieher und die Mitarbeiter des ASD erfolgt. Dabei hätten die Behördenvertreter ihre Fahrzeuge einige zig Meter vor der Stichstraße der Klägerin abgestellt und seien den Rest des Weges zu Fuß gelaufen. Obwohl jemand zu Hause gewesen sei, sei trotz eindrücklichen Klingelns nicht geöffnet worden. Um keinen zeitaufwändigen erfolglosen Versuch unternehmen zu müssen, sei es zu der Herausnahmesituation am 24.04.2023 gekommen, zu der die Behördenvertreter die familiengerichtlich gestaltete Unterstützung der Polizei anforderten, sowie ein Sanitätsfahrzeug mit Besatzung. Diesmal seien alle Fahrzeuge (ohne Blaulicht und Martinshorn) am Anwesen der Klägerin vorgefahren. Nach minutenlangem Sturmläuten sei schließlich die Haustür durch die Klägerin und ihren Sohn geöffnet worden. Es habe eine lautstark geführte Auseinandersetzung mit der Klägerin und ihrem Sohn stattgefunden, bis der Sohn schließlich mitgenommen werden konnte. Die Aktion habe wegen des Widerstandes der Klägerin etwa eine Stunde gedauert. Hätte die Klägerin mitgewirkt und den Sohn dem Gerichtsvollzieher gleich mitgegeben, hätte das Ganze nicht länger als 10 Minuten gedauert. Insofern habe sich die Klägerin selbst zuzuschreiben, wenn die Herausnahme Aufsehen erregend ablief. Die Behauptung, eine akute Kindeswohlgefährdung würde seitens des Beklagten in aller Öffentlichkeit kommuniziert werden, werde in Abrede gestellt. Auch das geltend gemachte Feststellungsinteresse wegen einer schwerwiegenden Grundrechtsbeeinträchtigung der Klägerin sei zu verneinen. Durch den Beschluss des Familiengerichts sei das Grundrecht der Klägerin nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG bereits eingeschränkt gewesen. Die Inobhutnahme von … nach der den familiengerichtlichen Beschluss umzusetzenden Herausnahme sei logische Konsequenz und zwingend erforderlich, solange für eine Hilfe zur Erziehung das Einverständnis beider Elternteile nicht vorgelegen hätte. Die Geltendmachung des Feststellungsinteresses wegen Wiederholungsgefahr sei absurd. Selbstverständlich werde sich der Beklagte an die Entscheidungen des OLG … halten.
50
Vor der Herausnahme und der Inobhutnahme des Sohnes am 24.04.2023 habe die zuständige Mitarbeiterin des ASD des Beklagten bei 35 Einrichtungen telefonisch vergeblich versucht, für den Sohn einen Platz in der Wohngruppe zu bekommen. Überwiegend habe sie Absagen erhalten bzw. sei er auf die Warteliste gesetzt worden ohne die Aussage, wann etwa ein Platz frei werde. Deshalb habe man sich zusammen mit dem Vater entschlossen, die Herausnahme umzusetzen und den Sohn zunächst in einer Bereitschaftspflegefamilie unterzubringen, bis dann doch ein Platz in einer Wohngruppe gefunden wäre. Grund hierfür sei gewesen, dass der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung am 29.03.2023 zwar eine akute Kindeswohlgefährdung verneint habe, jedoch auf Nachfrage des Gerichts betont habe, dass eine Herausnahme des Jungen aus dem Haushalt der Klägerin zeitnah erfolgen solle. Die Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 SGB VIII sei nach der Umsetzung des familiengerichtlichen Beschlusses vom 29.03.2023/12.04.2023 erfolgt. Die Wegnahme des Sohnes aus dem Haushalt der Klägerin habe der Gerichtsvollzieher durchgeführt. Weil zu diesem Zeitpunkt nur ein Antrag des Kindesvaters und nicht der Beklagten auf Hilfe zur Erziehung in Form der Unterbringung des Sohnes in einer Bereitschaftspflegefamilie vorgelegen habe und das vom Familiengericht dem Vater zugesprochene Aufenthaltsbestimmungsrecht dieses Antragsrecht nicht umfasst habe, habe der Sohn in Obhut genommen werden müssen. Die Alternative wäre eine Rückgabe an die Klägerin gewesen, was die Angelegenheit ad absurdum geführt hätte. Die behauptete Unterbringung des Sohnes bei den Großeltern (mütterlicherseits) sei weder in der mündlichen Verhandlung noch beim Herausnahmegeschehen angesprochen worden. Im Übrigen hätte der Kindsvater diesem auch nicht zugestimmt. Nachdem die Klägerin am darauffolgenden Tag sich geweigert habe, das ihr vorgelegte Antragsformular auf Hilfe zur Erziehung in Form der Unterbringung bei einer Bereitschaftspflegefamilie zu unterschreiben, habe der Vater beim Familiengericht den Antrag gestellt, ihm die Entscheidung, Hilfe zur Erziehung bei den zuständigen Behörden zu beantragen und in Anspruch zu nehmen, zu erteilen. Dabei sei dem Gericht die Tatsache bekannt gewesen, dass der Sohn in einer Pflegefamilie untergebracht würde. Insofern habe es einer weiteren Entscheidung des Familiengerichts nach § 42 Abs. 3 Nr. 2 SGB VIII nicht mehr bedurft. Es tue auch nichts zur Sache, wenn in der mündlichen Verhandlung vom 29.03.2023 nur von einer Fremdunterbringung und nicht konkret von der Unterbringung in einer Pflegefamilie die Rede gewesen sei. Im Übrigen verweist der Beklagte auf die Ausführungen des Sachverständigen … und die Beschlüsse des Familiengerichts … vom 12.04.2023 und 02.05.2023. An der Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme ändere auch der inzwischen vorliegende Beschluss des Oberlandesgerichts … nichts. Der Gerichtsvollzieher sei an die erstinstanzliche Entscheidung des Amtsgerichts … gebunden gewesen. Zum Zeitpunkt der Inobhutnahme habe die Beschwerde an das OLG noch nicht vorgelegen und somit auch keine zweitinstanzliche Entscheidung. Nach der Herausnahme des Kindes aus dem mütterlichen Haushalt habe der Sohn in Obhut genommen werden müssen, bevor anschließend eine Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII habe erfolgen können.
51
Mit Beschluss vom 25.08.2023 des OLG … (Bl. 88 ff. der Gerichtsakte) wurde der Beschluss des Amtsgerichts … vom 12.04.2023 dahingehend abgeändert, dass die elterliche Sorge für den Sohn nunmehr auf die Kindsmutter alleine übertragen wurde. Zur Begründung führte der Senat an, dass es auch nach seiner Ansicht nach nicht bei einer gemeinsamen Sorge verbleiben könne. Es fehle an einer hinreichend tragfähigen Beziehung zwischen den Eltern aufgrund der hochkonfliktträchtigen Beziehung zueinander. In allen Teilbereichen der Sorge würde nach Ansicht des Senats die Übertragung auf die Kindesmutter besser dem Wohl des Sohnes gerecht.
52
Mit weiterem Schriftsatz des Beklagten vom 12.11.2024 wurde auf Nachfrage des Gerichts, wann gegenüber wem und in welcher Form die Inobhutnahme angeordnet wurde, eine Stellungnahme von Frau … des Beklagten übersandt. Nach dieser sei das Kind am „25.04.2023“ in Obhut genommen worden, nachdem die Klägerin einer Unterbringung in der Pflegefamilie nicht zugestimmt habe. Gleichzeitig sei die Mitteilung an den Kindsvater und an die Anwältin der Kindesmutter erfolgt. Das Jugendamt sei zu diesem Zeitpunkt von einer Gefährdung des Kindes im Haushalt der Kindesmutter ausgegangen. Auf Hinweis des Gerichts, dass in den Akten verschiedentlich ausdrücklich auf bestimmte Hilfen nach dem SGB VIII Bezug genommen werde, obwohl die Inobhutnahme eine sonstige Aufgabe des Jugendamtes sei, führte die Beklagtenseite aus, dass die Akten insoweit unrichtig seien, da im genutzten Computerprogramm eine Musterformulierung hinterlegt sei, die versehentlich nicht angepasst worden sei. Weiterhin wurde auf Nachfrage des Gerichts im Schriftsatz ausgeführt, dass die Inobhutnahme gegenüber dem Vater angeordnet wurde, da eine Unterbringung des Sohnes bei ihm nicht möglich gewesen sei. Auch wenn der Vater einverstanden gewesen wäre, so habe nach Auffassung des Beklagten die Inobhutnahme gegenüber beiden Elternteilen angeordnet werden müssen.
53
Mit Schriftsatz vom 12.12.2024 wurde von der Prozessbevollmächtigten klarstellend beantragt,
Es wird festgestellt, dass die Inobhutnahme des Kindes …, geboren am …, vom 24.04.2023 bis 06.05.2023 durch die Beklagte rechtswidrig war und ihren Rechten verletzt hat.
54
Mit Schreiben vom 12.11.2024 sind die Beteiligten zu einer Entscheidung im Wege des Gerichtsbescheids nach § 84 Abs. 1 S. 2 VwGO angehört worden.
55
Hinsichtlich der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte, die familiengerichtlichen Akten (Az. …, …*) sowie die Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
56
Das Gericht konnte gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) durch Gerichtsbescheid entscheiden, da der Sachverhalt geklärt ist und die Sache keine besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten aufweist.
57
Die Klage ist zulässig und begründet. Die vom Beklagten angeordnete Inobhutnahme war rechtswidrig und rechtsverletzend. Die Klägerin hat zudem ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Anordnung.
58
Die Klage ist zulässig.
59
1. Der Verwaltungsrechtsweg ist vorliegend eröffnet, §§ 62 SGB X, 40 Abs. 1 VwGO. Insbesondere wendet sich die Klägerin nicht gegen die Herausnahme des Kindes am 24.04.2023 durch die Gerichtsvollzieher aufgrund des Herausgabebeschlusses des Amtsgerichts … – Abteilung für Familiensachen – vom 12.04.2023. Insoweit würde der Streitgegenstand keine öffentlich-rechtliche Streitigkeit betreffen, sondern einen Gegenstand der freiwilligen Gerichtsbarkeit (vgl. VG Düsseldorf, B.v. 21. April 2020 – 19 K 8891/17 – juris Rn. 6; OVG NW, B.v. 29.6.2020 – 12 E 459/20 – juris Rn. 4), für die der Verwaltungsrechtsweg nicht eröffnet wäre. Eine Inobhutnahme setzt voraus, dass das Verhalten des Beklagten vom objektiven Empfängerhorizont aus als Ausübung hoheitlicher Befugnisse des Jugendhilfeträgers und nicht bloß als Maßnahme der Vollstreckung eines familiengerichtlichen Beschlusses erscheint und nicht etwa als bloße Unterstützung des Jugendamtes nach § 88 Abs. 2 FamFG bei der Vollstreckung des Herausgabetitels des Vaters (vgl. OVG NW, B.v. 29.6.2020 – 12 E 459/20 – juris Rn. 4). Das ist zwar hinsichtlich der Herausnahme des Sohnes am 24.04.2023 nach Aktenlage nicht der Fall, insbesondere spricht gegen eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit, dass der Gerichtsvollzieher bei der Herausnahme des Sohnes mitgewirkt hat (OVG NW, B.v. 29.6.2020 – 12 E 459/20 – juris Rn. 4). Allerdings hat der Beklagte mit Bescheid vom 02.05.2023 ausdrücklich eine Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII gegenüber der Klägerin angeordnet und auch schriftsätzlich behauptet, eine solche auch am Tag der Herausnahme des Sohnes am 24.04.2023 bzw. am 25.04.2023 verfügt zu haben. Der Beklagte hat damit gewissermaßen selbst bestätigt, öffentlich-rechtlich gehandelt zu haben (vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 3). Die Überprüfung von Inobhutnahmeverfügungen obliegt damit – unabhängig davon, ob die Inobhutnahme noch andauert oder nicht – den Verwaltungsgerichten (VG Bayreuth, B.v. 20.8.2024 – B 8 E 24.735 – juris Rn. 21).
60
2. Die Klage ist statthaft als Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO. Unabhängig davon, ob am 24.04.2024 tatsächlich bereits eine Inobhutnahme verfügt worden ist, so hat sich jedenfalls die bescheidsförmige Inobhutnahme vom 02.05.2023 durch Herausgabe des Kindes (§ 42 Abs. 4 Nr. 1 SGB VIII) am 05.05.2023 an die Klägerin aus Anlass des Beschlusses des OLG … vom 03.05.2023 (Bl. 39 ff. der WiHi-Akte) vor Klageerhebung erledigt (vgl. VG München, GB v. 4.4.2023 – M 18 K 18.5285 – juris Rn. 36). Die Inobhutnahme wurde mit weiterem „Bescheid“ vom 15.05.2023 des Beklagten überdies noch klarstellend ab dem 05.05.2023 beendet (Bl. 132 der WiHi-Akte). Hinsichtlich des zeitlichem Umfangs der beantragten Feststellung legt das Gericht den Antrag der Klägerseite angesichts der Herausgabe des Kindes am 05.05.2023 wohlwollend dahingehend aus, dass mit der Formulierung „bis 06.05.2023“ der Zeitraum bis zum letzten Tag der Unterbringung des Sohnes durch den Beklagten am 05.05.2023 gemeint ist.
61
3. Die nach § 42 Abs. 2 VwGO notwendige Klagebefugnis ist vorliegend zu bejahen. Die Klägerin kann trotz der Beschlüsse des Amtsgericht … – Abteilung für Familiensachen – vom 12.04.2023 (Bl. 6 ff. der Gerichtsakte) und vom 02.05.2023 geltend machen, durch die streitgegenständliche Inobhutnahme in ihren Rechten verletzt zu sein. Da der Klägerin durch die genannten Beschlüsse die Personensorge nicht vollständig entzogen wurde, greift die Inobhutnahme gleichwohl noch in das Grundrecht der Klägerin aus Art. 6 Abs. 2 GG ein. Der BayVGH führt hierzu aus:
„Als durch eine rechtswidrige Inobhutnahme möglicherweise verletztes Recht ist hier das verfassungsrechtlich in Art. 6 Abs. 2 GG garantierte Elternrecht in den Blick zu nehmen, dem als Grundrecht eine Abwehrdimension gegen staatliche Eingriffe zukommt (vgl. Uhle in BeckOK GG, Art. 6 Rn. 48). Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG umfasst materiell das Recht der Eltern, Pflege und Erziehung ihres Kindes nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Es beinhaltet die freie Entscheidung über die Pflege, d.h. über die Sorge für das körperliche Wohl, wie auch die freie Gestaltung der Erziehung, d.h. der wertbezogenen Sorge für die seelisch-geistige Entwicklung des Kindes (vgl. Uhle in BeckOK GG, Art. 6, Rn. 51 ff.). Dem entsprechend umschreibt § 1631 Abs. 1 BGB Inhalt und Grenzen der Personensorge als das Recht und die Pflicht der Eltern, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.
(…) Auch der Umstand, dass der Antragstellerin zu 1. das Aufenthaltsbestimmungsrecht für L. im Zeitpunkt der Inobhutnahme entzogen und dem Antragsgegner als Ergänzungspfleger übertragen worden war, lässt die Antragsbefugnis nicht entfallen. Denn eine Inobhutnahme tangiert, wie der Bevollmächtigte der Antragsteller zutreffend geltend gemacht hat, nicht ausschließlich das Aufenthaltsbestimmungsrecht, sondern darüber hinaus auch diejenigen Teile der elterlichen Sorge, die im vorliegenden Fall bei den Antragstellern verblieben waren, so insbesondere die Gesundheitsfürsorge für L., das Recht, Sozialleistungen zu beantragen sowie vor allem das von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG umfasste Recht, L. zu erziehen (vgl. hierzu Salgo in Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2015, § 1631 Rn. 17, 18, 21, 23, 58, 58a; Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 6. Aufl. 2016, § 42 Rn. 61 ff., 123; Wiesner in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 42 Rn. 31: „Überlagerung“ des elterlichen Sorgerechts für die Dauer der Inobhutnahme). (…) Soweit in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung überdies die Auffassung vertreten wird, eine durch staatliche Institutionen veranlasste Inobhutnahme tangiere allein das Aufenthaltsbestimmungsrecht und lasse im Übrigen die Personensorge der Eltern – vergleichbar der Rechtsstellung eines sorgeberechtigten Elternteils, bei dem das Kind nicht lebt – unberührt (so etwa VG Schwerin, U.v. 3.5.2015 – 6 A 719/12 – juris Rn. 30 ff.), ist dem nicht zu folgen. Vielmehr erweisen sich die durch eine Inobhutnahme bewirkten Beschränkungen des Erziehungsrechts wie auch der Gesundheitsfürsorge durch die zwangsweise herbeigeführte Trennung des Kindes von den leiblichen Eltern und die Reduzierung auf ein Umgangsrecht bei der Pflegefamilie als geradezu offenkundig. Mithin besteht bereits im Hinblick auf die den Antragstellern jenseits des Aufenthaltsbestimmungsrechts verbliebenen und vom grundrechtlichen Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG umfassten Bestandteile der elterlichen Sorge, in die die Inobhutnahme eingreift, eine Antrags- bzw. Klagebefugnis im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO.“ BayVGH, B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 4 f.; vgl. VG Göttingen, U.v. 24.8.2023 – 2 A 107/22 – juris Rn. 43; Dürbeck in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 70b m.w.N.
62
So liegt Fall auch hier. Die streitgegenständliche Inobhutnahme griff zwar nicht mehr in das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitssorge und das Recht zur Regelung der schulischen Angelegenheiten ein, welche der Klägerin zu dem Zeitpunkt aufgrund des familiengerichtlichen Beschlusses vom 12.04.2023 schon nicht mehr zustanden. Auch wurde mit weiterem Beschluss vom 02.05.2023 auch noch das Recht, Leistungen nach dem SGB VIII in Form der Hilfe zur Erziehung zu beantragen, auf den Kindsvater alleine übertragen. Dieses geht nicht mit einer Inobhutnahme über (Lohse, JAmt 2024, 386/390). Gleichwohl wurden weitere Teile der Personensorge durch das Vorgehen des Beklagten beeinträchtigt, etwa das Recht auf Pflege, Erziehung und Aufsicht (§ 1631 Abs. 1 BGB). Das gilt unabhängig davon, ob die vom Antragsgegner behauptete Inobhutnahme ab dem 24.04.2023 tatsächlich wie behauptet zum 24.04.2023 oder 25.04.2023 ausgesprochen oder erst mit streitgegenständlichem Bescheid vom 02.05.2023 rückwirkend angeordnet wurde und damit bereits in der Vergangenheit liegende Vorgänge legalisiert werden sollten. Die Verletzung dieser Rechte durch die angeordnete Inobhutnahme erscheint zumindest möglich.
63
4. Die Klägerin kann entgegen dem Vorbringen des Beklagten überdies auch ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse analog § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO für sich beanspruchen. Der Klägerin kann nicht abgesprochen werden, ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme zu haben.
64
a. Die klägerseits vorgebrachte Wiederholungsgefahr ist jedoch nicht anzunehmen. Für die Annahme einer Wiederholungsgefahr ist nicht nur die konkrete Gefahr erforderlich, dass künftig ein vergleichbarer Verwaltungsakt erlassen wird. Darüber hinaus müssen die für die Beurteilung maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Umstände im Wesentlichen unverändert geblieben sein (jüngst BVerwG, U.v. 24.4.2024 – 6 C 2/22 – juris Rn. 17). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Es sind keine Tatsachen vorgebracht worden, dass sich der Beklagte über die Entscheidung des OLG … vom 03.05.2023, welche die tatsächlichen Umstände nachträglich erheblich zugunsten der Klägerin geändert hat, hinwegsetzen und den Sohn der Klägerin erneut aus den davor vorgebrachten, immer noch unveränderten Gründen in Obhut nehmen wird. Hinzu kommt, dass mittlerweile auch in der Hauptsache das OLG … mit Beschluss vom 25.08.2023 der Mutter die alleinige Sorge übertragen hat. Auch dies spricht gegen eine konkrete Wiederholungsgefahr im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. Schenke/Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 30. Aufl. 2024, § 113 Rn. 132).
65
b. Es kann vorliegend offenbleiben, ob die Klägerin ein Rehabilitationsinteresse aufgrund der öffentlichkeitswirksamen Herausnahme des Sohnes und der Gegenwehr der Klägerin hat und insbesondere, ob die ihr allein zurechenbare Verweigerungshaltung, das Kind herauszugeben, wie der Beklagte vorgetragen hat, zu ihren Lasten zu berücksichtigen ist. Gegen ein Rehabilitationsinteresse dürfte jedenfalls sprechen, dass die Geschehnisse rund um die Herausnahme des Sohnes die Vollstreckung des familiengerichtlichen Herausgabebeschlusses und nicht die streitgegenständliche Inobhutnahme betreffen dürften. Soweit klägerseits vorgebracht wird, dass weiterhin in aller Öffentlichkeit darüber kommuniziert werde, dass bei der Mutter eine akute Kindeswohlgefährdung vorgelegen habe bzw. noch vorliege, so bleibt der Vortrag unsubstantiiert, zumal als Anknüpfungspunkt für diese Kommunikation wiederum nur die Geschehnisse am Tag der Herausnahme genannt werden.
66
c. Nach Auffassung der Kammer ergibt sich das Fortsetzungsfeststellungsinteresse unter dem Gesichtspunkt eines sich typischerweise kurzfristig erledigenden, qualifizierten Grundrechtseingriffs in Form eines Eingriffs in das durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG verfassungsrechtlich geschützte Elternrecht der Klägerin.
67
Das BVerwG hat zu dieser anerkannten Fallgruppe jüngst ausführlich ausgeführt:
„Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz gebietet darüber hinaus, die Möglichkeit einer gerichtlichen Klärung in Fällen gewichtiger, allerdings in tatsächlicher Hinsicht überholter Grundrechtseingriffe zu eröffnen, wenn die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung kaum erlangen kann (BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 – 1 BvR 461/03 – BVerfGE 110, 77 <85 f.> m. w. N.). (…)
Für einen Verzicht auf die Voraussetzung des qualifizierten Grundrechtseingriffs – neben der typischerweise vor der gerichtlichen Prüfung im Hauptsacheverfahren eintretenden Erledigung – spricht schließlich nicht, dass verallgemeinerungsfähige Kriterien, anhand derer geprüft werden kann, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, nicht auf der Hand liegen. Als grobe, nicht abschließende Orientierungshilfe lassen sich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einige Leitlinien für die im jeweiligen Einzelfall erforderliche Abgrenzung entnehmen.
Danach muss ein Rechtsschutzbegehren zur nachträglichen gerichtlichen Überprüfung jedenfalls immer dann zulässig sein, wenn eine Verletzung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Frage steht (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 27. Februar 2002 – 2 BvR 553/01 – NJW 2002, 2699 <2700>, vom 13. März 2002 – 2 BvR 261/01 – NJW 2002, 2700 <2701>, vom 8. April 2004 – 2 BvR 1811/03 – NStZ-RR 2004, 252 <253>, vom 23. November 2005 – 2 BvR 1514/03 – juris Rn. 13 und vom 15. Juli 2010 – 2 BvR 1023/08 – NJW 2011, 137 Rn. 30). Als schwerwiegend sind darüber hinaus solche Grundrechtseingriffe anzusehen, die das Grundgesetz selbst – wie in den Fällen der Art. 13 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 2 und 3 GG – unter Richtervorbehalt gestellt hat (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90, 728/92, 802, 1065/95 – BVerfGE 96, 27 <40> und vom 5. Dezember 2001 – 2 BvR 527/99, 1337, 1777/00 – BVerfGE 104, 220 <233>; Kammerbeschluss vom 5. Juli 2013 – 2 BvR 370/13 – juris Rn. 19). Auch dem von der Telekommunikationsüberwachung – als erheblicher Eingriff in die durch Art. 10 GG geschützte Rechtsposition – Betroffenen muss eine nachträgliche Kontrolle des bereits beendeten und nach der Strafprozessordnung unter einem gesetzlichen Richtervorbehalt stehenden Eingriffs möglich sein (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 14. Dezember 2004 – 2 BvR 1451/04 – NJW 2005, 1855 <1856>). Ebenso muss die Möglichkeit der nachträglichen Kontrolle eines bereits beendeten Eingriffs bestehen, wenn der Betroffene ein am Maßstab einfachen Rechts so eklatant fehlerhaftes Vorgehen eines Hoheitsträgers geltend machen kann, dass objektive Willkür (Art. 3 Abs. 1 GG) naheliegt (BVerfG, Kammerbeschluss vom 8. April 2004 – 2 BvR 1811/03 – NStZ-RR 2004, 252 <253>).
Hinsichtlich anderer Grundrechte ist bei der Beurteilung der Eingriffsintensität nach der Art des Eingriffs zu differenzieren. Im Rahmen der Einzelfallwürdigung ist – der Ermittlung des durch Art. 19 Abs. 2 GG garantierten Wesensgehalts des jeweiligen Grundrechts vergleichbar – zum einen dessen besondere Bedeutung im Gesamtsystem der Grundrechte zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 1970 – 2 BvL 17/67 – BVerfGE 30, 47 <53>) und zum anderen zu bewerten, inwieweit die fragliche Maßnahme die Möglichkeit individueller Selbstbestimmung in dem durch das Grundrecht erfassten Lebensbereich beschränkt (vgl. Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 150 ff.). So hat das Bundesverfassungsgericht beispielsweise entschieden, dass nicht jeder Eingriff in die Versammlungsfreiheit ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse begründet (BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 – 1 BvR 461/03 – BVerfGE 110, 77 <89>; Kammerbeschluss vom 8. Februar 2011 – 1 BvR 1946/06 – NVwZ-RR 2011, 405 Rn. 22). Vielmehr ist danach zu unterscheiden, ob die Versammlung aufgrund einer im Eilrechtsschutzverfahren wiederhergestellten aufschiebenden Wirkung des eingelegten Rechtsbehelfs im Wesentlichen wie geplant stattfinden konnte oder nicht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 – 1 BvR 461/03 – BVerfGE 110, 77 <89 f.>).“ BVerwG, Urteil vom 24. April 2024 – 6 C 2/22 –, Rn. 29, 32 ff. juris.
68
Dass sich Anordnungen von Inobhutnahmen nach einem Widerspruch der Personensorgeberechtigten nach § 42 Abs. 3 S. 2 SGB VIII typischerweise aufgrund von Entscheidungen der Familiengerichte vor Entscheidungen der Verwaltungsgerichte in der Hauptsache erledigen, steht außer Streit (vgl. nur Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. Stand: 22.10.2024, § 42 Rn. 282).
69
Im Anwendungsbereich von § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII spricht für einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff, dass im Regelfall vor der Anordnung einer Inobhutnahme – jedenfalls einfach-rechtlich bedingt – eine vorige Entscheidung der Familiengerichte eingeholt werden muss, § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VIII. Die Inobhutnahme ist folglich ein bloßer Notkompetenztitel (VG Bayreuth, B.v. 20.8.2024 – B 8 E 24.735 – juris Rn. 49 unter Verweis auf AG Schwäbisch Hall, B.v. 29.7.2022 – 2 F 528/21 – juris Rn. 56; VG München, B.v. 30.7.2024 – M 18 S 24.4443 – juris Rn. 49). Es obliegt primär den Familiengerichten, über die Trennung von Personensorgeberechtigten und Kind zu entscheiden (vgl. nur Kepert in: LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 34), was a priori für die besondere Grundrechtsensitivität einer behördlichen Inobhutnahme spricht. Diese grundsätzliche Vorschaltung einer familiengerichtlichen Entscheidung vor einer Inobhutnahme steht den vom BVerwG genannten verfassungsunmittelbaren bzw. einfach-rechtlichen Richtervorbehalten wertungsmäßig nicht nach. An dem tiefgreifenden Grundrechtseingriff ändert vorliegend nach Auffassung der Kammer auch der Umstand nichts, dass das AG … – Abteilung für Familiensachen – in zwei Entscheidungen der Klägerin bereits Teile der elterlichen Sorge entzogen hat. Wie bereits im Rahmen der Klagebefugnis dargelegt wurde, beschränkt die Inobhutnahme die verfassungsmäßig verbürgten Rechte des Personensorgeberechtigten noch weiter. Nach Auffassung der Kammer ist vorliegend insbesondere erschwerend zu berücksichtigen, dass die Trennung des Kindes von der Klägerin gerade aus dem Anlass folgte, die vom Gutachter angenommene pathologische Beziehung von Mutter und Sohn zu „entschärfen“ und damit final auch die Mutter-Kind-Beziehung zu schwächen. Ebenfalls ist zu berücksichtigen, dass es nicht in den Kompetenzbereich des Familiengerichts fällt, angeordnete Inobhutnahmen auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen, dies obliegt der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Das behördliche Handeln wäre in diesen Konstellationen nachträglich keiner gerichtlichen Kontrolle mehr zugänglich.
70
d) Nach Auffassung der Kammer ergibt sich zudem ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit auch unter dem Blickwinkel, dass aus verfahrensökonomischer Sicht ein weiteres Verfahren über die Rechtmäßigkeit des Kostenbescheids über die Inobhutnahme vermieden werden kann. Ein berechtigtes Interesse kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Natur sein. Entscheidend ist, dass die gerichtliche Entscheidung geeignet ist, die Position des Antragstellers in den genannten Bereichen zu verbessern (BVerwG, B.v. 4.3.1976 – I WB 54/74; Schenke/Schenke in: Kopp/Schenke, VwGO, 30. Aufl. 2024, § 113 Rn. 130). Das ist vorliegend der Fall. Nach § 91 Abs. 1 Nr. 7 SGB VIII werden nach weiterer Maßgabe der §§ 92 ff. SGB VIII Kostenbeiträge auch für die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen nach § 42 SGB VIII erhoben. Jedenfalls bei einer Inobhutnahme unter Widerspruch der betroffenen Personensorgeberechtigten ist nach zutreffender Auffassung auch die Rechtmäßigkeit der Maßnahme als Ausfluss des rechtsstaatlichen Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung als ungeschriebenes Merkmal in § 91 SGB VIII hinzulesen (Schindler/Eschelbach in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 91 Rn. 2, 10; vgl. Stähr in: Hauck/Noftz, SGB VIII, 1. EL 2024, § 91 Rn. 7; Winkler in: BeckOK SozR, 74. Ed. 1.9.2024, § 91 SGB VIII Rn. 6a; hinsichtlich jugendhilferechtlichen Hilfsmaßnahmen OVG NW, B.v. 11.10.2013 – 12 A 1590/13 – juris Rn. 4; differenzierend OVG Lüneburg, B.v. 27.8.2018 – 10 LA 7/18 – juris Rn. 10 f.). Die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der erledigten Inobhutnahme kann die Rechtsposition der Klägerin insoweit noch verbessern, da der von dem Beklagten erlassene Kostenbescheid noch Gegenstand des Widerspruchsverfahrens vor der Regierung von … ist. Da durch das hiesige Verfahren eine Vorfrage des Kostenbescheids geklärt wird, lässt sich ein weiterer Prozess vermeiden (weitergehend das VG Gelsenkirchen, U.v. 08.09.2000 – 8 K 3891/97, das die Vermeidung des Erlasses eines erwarteten Kostenbescheids genügen lässt).
71
Die gegen den richtigen Klagegegner (§ 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) gerichtete Klage ist auch begründet. Die Anordnung der Inobhutnahme mit Bescheid vom 02.05.2023 war rechtswidrig und hat die Klägerin in ihren Rechten verletzt.
72
1. Vorliegend kommt als Rechtsgrundlage für die Anordnung der Inobhutnahme einzig § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VIII in Betracht. Deren Voraussetzungen sind allerdings nicht gegeben gewesen.
73
a. Die Kammer konnte sich bereits nicht mit hinreichender Sicherheit davon überzeugen, dass der Beklagte eine Inobhutnahme vor dem schriftlichen Bescheid vom 02.05.2023 verfügt hat, erst nach der Beendigung der Inobhutnahme lediglich bestätigt worden wäre.
74
Die Aktenlage und selbst der Sachvortrag nach einer gerichtlichen Aufforderung zur Erhellung des Sachverhalts sind diesbezüglich widersprüchlich geblieben. In der Klageerwiderung wird ausgeführt, dass die Inobhutnahme am 24.04.2023 erfolgt sei (Bl. 70 der Gerichtsakte), also am gleichen Tag, an dem die Vollstreckung des familiengerichtlichen Herausgabetitels erfolgte. Dies wurde auch so auf dem Leistungsblatt für die Wirtschaftliche Jugendhilfe vom 28.04.2023 vermerkt, wo als „Hilfeart“ die Inobhutnahme genannt wird, deren Beginn am 24.04.2023 liege (Bl. 13 der Behördenakte Inobhutnahme). Demgegenüber wird in der Stellungnahme von Frau … vom Jugendamt des Beklagten an das Gericht davon gesprochen, dass die Inobhutnahme erst am 25.04.2023 erfolgt sei (Bl. 139 der Gerichtsakte). Das deckt sich scheinbar mit einem Aktenvermerk vom 25.04.2023 über ein Gespräch des Beklagten mit der Prozessbevollmächtigten der Klägerin. Dort heißt es: „Das Schreiben JA KM gestern ausgehändigt hat, wird KM nicht unterschreiben. Situation werde immer besser. Warum braucht JA überhaupt Unterschrift von KM -> HzE noch gemeinsam. In welchem rechtlichen Bereich befinden wir uns dann? -> ggf. ION, wenn KM nicht zustimmt. JA bittet zudem um Zusendung einer Schweigepflichtentbindung“ (Bl. 7 der Behördenakte Inobhutnahme). Allerdings ist auch das nicht eindeutig, da ausdrücklich nur die Rede davon ist, dass die Inobhutnahme nur „gegebenenfalls“ der rechtliche Bereich sei, in dem sich die Maßnahme derzeit befindet. Zudem wird die Inobhutnahme nach dem Vermerk auch davon abhängig gemacht, dass die Mutter nicht einer Hilfemaßnahme zustimmt („wenn KM nicht zustimmt“). Es ist damit nach dem Verständnis der Kammer mit einer Inobhutnahme gedroht worden, falls die Klägerin Hilfemaßnahmen nicht zustimmt. Das deckt sich mit dem Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin, die offenbar gerade wegen diesem Telefonat „vorsorglich“ mit Schreiben vom 25.04.2023 Widerspruch gegen eine Inobhutnahme eingelegt hat (Bl. 9 der Behördenakte Inobhutnahme), da eine Inobhutnahme des Kindes durch das Jugendamt bis zur Zustimmung der Klägerin erfolgen „werde“. Im Schriftsatz vom 25.04.2023 des Prozessbevollmächtigten des Kindsvaters an das Familiengericht vom 25.04.2023 (Bl. 58 der Behördenakte ASD2863 II-Akte) ist auch die Rede davon, dass die Unterbringung in der Pflegefamilie „nunmehr legalisiert werden muss“. Mit Schriftsatz vom 28.04.2023 des Beklagten an das Familiengericht, das über den Antrag auf Übertragung des Antragsrechts bezüglich Jugendhilfeleistungen zu entscheiden hatte, wird ausgeführt: „Um einer Inobhutnahme aufgrund fehlender Zustimmung der Kindsmutter vorzubeugen, sollte dem Kindsvater das Recht auf Beantragung von Hilfen zu Erziehung alleine übertragen werden“ (Bl. 79 der ASD2863 II-Akte).
75
Das Handeln des Beklagten am Tag des 24.04.2023 und danach kann nach objektiven Empfängerhorizont ungeachtet dieser ex-post-Umstände auch nicht so aufgefasst werden, dass die Regelung einer Inobhutnahme jedenfalls konkludent getroffen werden sollte. Wie bereits im Rahmen der Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs dargestellt wurde, erweist sich das Verhalten des Beklagten aufgrund der äußeren Umstände als Teil der Umsetzung des Herausgabetitels aus dem familiengerichtlichen Beschluss. Hierfür spricht maßgeblich, dass die Herausnahme des Kindes mithilfe von Gerichtsvollziehern vollzogen wurde und nicht (allein) mit den zuständigen Stellen im Sinne von § 42 Abs. 6 SGB VIII (vgl. Trenczek/Beckmann, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 42 Rn. 65; Kepert in: LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 122). Das Jugendamt des Beklagten wurde allein aufgrund der Regelung des § 88 Abs. 2 FamFG bei der Vollstreckung hinzugezogen. Soweit ein Gespräch des Beklagten am 25.04.2023 mit der Prozessbevollmächtigten der Klägerin stattgefunden hat, befand sich das Kind bereits in der Obhut der (Bereitschafts-)Pflegefamilie. Da Inobhutnahmen nur mit Wirkung in die Zukunft angeordnet werden können, erscheint auch insoweit eine konkludente rückwirkende Anordnung einer Inobhutnahme nach objektiven Empfängerhorizont als ausgeschlossen.
76
Die Kammer geht angesichts dieser Aktenlage nicht davon aus, dass bis zum Bescheid vom 02.05.2023 tatsächlich eine mündliche Inobhutnahme durch den Beklagten verfügt wurde, allenfalls wurde vorher damit gegenüber der Klägerin gedroht.
77
Auch der Bescheid vom 02.05.2023, mit dem eine Inobhutnahme des Kindes angeordnet wurde, stellt nicht etwa ausdrücklich auf eine Bestätigung eines vorangegangenen mündlichen Verwaltungsaktes ab. Eine retrospektive Anordnung der Inobhutnahme, die der streitgegenständliche Verwaltungsakt damit anordnet, ist nicht möglich, da die Norm als Gefahrenabwehrrecht auf die Abwendung einer dringenden Gefahr zielt und damit zwingend in die Zukunft gerichtet ist.
78
Aus dem konkreten Ablauf der Unterbringung des Kindes kann wohl gefolgert werden, dass sich der Beklagte selbst nicht sicher war, wie nach der zivilrechtlichen Vollstreckung der Kindesherausgabe durch den Kindsvaters weiter mit dem Sohn zu verfahren war, nachdem die Prozessbevollmächtigte des Kindsvaters offensichtlich vergessen hatte, auch das Antragsrecht bezüglich Jugendhilfeleistungen in seinen Übertragungsantrag an das Familiengericht aufzunehmen und das Familiengericht entsprechend nur eingeschränkt die Übertragung der einzelnen Teilbereiche der Sorge aussprach (vgl. zu diesem in der Praxis häufiger vorkommenden Problem Trenczek/Achterfeld/Beckmann in: Trenczek/Achterfeld/Beckmann u.a., Inobhutnahme, 4. Aufl. 2023, S. 211). Dies wurde angesichts der Gespräche des Jugendamts des Beklagten mit den Beteiligten spätestens am 14.04.2023 klar, also vor der Herausnahme des Kindes (vgl. Bl. 19 der ASD2863-Akte II). Es ist zudem stark auffällig, dass am Tag der rückwirkenden Anordnung der Inobhutnahme, die gegenüber beiden Elternteilen angeordnet wurde – obwohl der Vater mit Beschluss des Familiengerichts … vom gleichen Tag auch das Recht übertragen bekommen hat, Jugendhilfeleistungen zu beantragen und dieses auch ausüben wollte – zugleich auch ein Kostenbescheid gegenüber der Klägerin und dem Kindsvater ergangen ist (Bl. 3 ff. der WiHi-Akte). Es drängt sich der Kammer die Vermutung auf, dass versucht wurde, eine in Ermangelung der Zustimmung der Klägerin rechtswidrige Hilfe zur Erziehung in eine rechtmäßige Inobhutnahme „umzuetikettieren“.
79
2. Selbst das Vorbringen des Beklagten als zutreffend unterstellt, dass entweder am 24.04.2023 oder am 25.04.2023 eine Inobhutnahme des Kindes angeordnet wurde, sind die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Maßnahme aus mehreren Gründen nicht gegeben gewesen.
80
a. Es fehlte zu jeder Zeit an einer dringenden Gefahr für das Kindeswohl. Diese ist Grundvoraussetzung einer Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII. Eine dringende Gefahr im Sinne der genannten Bestimmung muss – angesichts des mit der Inobhutnahme bewirkten schwerwiegenden Eingriffs in das Elternrecht – stets eine konkrete Gefahr sein. Eine lediglich latente bzw. abstrakte Gefahr für das Kindeswohl reicht zur Rechtfertigung einer Inobhutnahme nicht aus (BayVGH B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 9). Eine konkrete Gefahr, die wie im Sicherheitsrecht zu definieren ist, ist eine Sachlage, die aus der maßgeblichen ex-ante-Sicht bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens im Einzelfall in absehbarer Zeit mit einer gemessen am Gewicht einer drohenden Rechtsgutsverletzung hinreichenden Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung des Rechtsguts, hier des Kindeswohls, führt (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 – juris Rn. 187; BVerwG, U.v. 3.7.2002 – 6 CN 8/01 – Rn. 35; Schoch/Kießling in: Schoch/Eifert, Besonderes Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2023, Kap. 1 Rn. 279). Das Schutzgut des Kindeswohls umfasst das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes i.S.d. § 1666 Abs. 1 BGB (vgl. BVerfG, B.v. 5.9.2022 – 1 BvR 65/22 – juris Rn. 20). Zudem gehören nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, B.v. 29.1.2010 – 1 BvR 374/09; B.v. 27.8.2014 – 1 BvR 1822/14 Rn. 25; B.v. 5.9.2022 – 1 BvR 65/22 – juris Rn. 19) die Eltern und deren sozio-ökonomische Verhältnisse grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes und es unterfällt demzufolge nicht dem Wächteramt des Staates nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, für eine den Fähigkeiten des Kindes bestmögliche Förderung zu sorgen. Es berechtigt daher nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern den Staat, die Eltern bei der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten (VG München, B.v. 30.7.2024 – M 18 S 24.4443 – juris Rn. 40). Für die Annahme einer Gefährdung des Kindeswohls – im Rahmen der Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII sogar einer dringenden Gefahr für das Kindeswohl – bedarf es daher stets einer hinreichenden Tatsachengrundlage, aus der ablesbar ist, dass entweder bereits ein Schaden beim Kind eingetreten oder aber bei seiner weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten ist (vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 12; VG München, B.v. 30.7.2024 – M 18 S 24.4443 –, juris Rn. 40). Mutmaßungen und Vermutungen reichen nicht aus (Winkler in: BeckOK SozR, 73. Ed. 1.6.2024, § 42 SGB VIII Rn. 4).
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Diese Maßstäbe zugrunde gelegt fehlt es jedenfalls an einer „dringenden“ Gefahr für das Kindeswohl des Sohnes im gesamten streitgegenständlichen Zeitraum.
82
Soweit sich der Beklagte zur Rechtfertigung der Maßnahme gerichtlich wie auch im Bescheid auf das Gutachten des Sachverständigen vom 03.02.2023, das im Rahmen des familiengerichtlichen Verfahren erstattet wurde, und die Beschlüsse des Amtsgerichts … vom 12.04.2024 bzw. vom 02.05.2023 bezieht, ist dies nicht durchgreifend. Das Gutachten des Sachverständigen war dem Beklagten schon seit Anfang Februar 2023 bekannt. Der Gutachter selbst sah keinen übermäßig dringenden Handlungsbedarf. Unter dem 09.03.2023 nahm der Sachverständige zu seinem Gutachten vom 03.02.2023 ergänzend Stellung (Bl. 24 f. der Gerichtsakte). Aus seiner Sicht läge zwar eine chronische, nicht jedoch eine akute Kindeswohlgefährdung im Haushalt der Kindesmutter vor. Insoweit ergebe sich gerade keine Notwendigkeit für den Erlass einer entsprechenden einstweiligen Anordnung; dies wäre nach seiner Aussage ansonsten im Sachverständigengutachten vom 03.02.2023 auch so von ihm angegeben worden. Die Stellungnahme zum Gutachten ist beim Jugendamt des Beklagten aktenkundig (Bl. 173 ff. der der ASD2863-Akte I). Zwar äußerte sich der Gutachter vor dem Familiengericht in der nichtöffentlichen Sitzung vom 29.03.2023 dergestalt, dass eine Umsetzung der Fremdunterbringung „zeitnah“ erfolgen solle (Bl. 17 der Gerichtsakte). Aber auch diese Aussage wurde bereits knapp einen Monat vor der behaupteten Inobhutnahme in Anwesenheit von Frau … als Vertreterin des Jugendamtes des Beklagten getätigt. Soweit sich der Beklagte gerade auf diese Aussage des Gutachters stützt, werden einerseits seine schriftlichen Stellungnahmen ausgeblendet, die gerade keine dringende Gefahr im Sinne einer akuten Kindeswohlgefährdung stützen. Andererseits ist nicht zu erklären, warum danach noch in widersprüchlicher Weise dermaßen lange bis zur Inobhutnahme zugewartet wurde. Selbst der Beklagte sprach noch im Schriftsatz vom 28.04.2024 an das OLG … (Bl. 81 ff. der ASD2863 II-Akte) von einer chronischen Kindeswohlgefährdung durch die Klägerin. Soweit der Beklagte zudem auf den Beschluss des Familiengerichts … vom 02.05.2023 verweist, greift er – die behauptete Inobhutnahme bereits am 24.04.2023 oder 25.04.2023 unterstellt – unzulässigerweise einerseits auf ex-post-Erkenntnisse nach Erlass der Inobhutnahme zurück, anderseits spricht das Familiengericht zwar von einem dringenden Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden. Dies ist allerdings allein vor dem Hintergrund zu sehen, dass zu diesem Zeitpunkt der Sohn bereits in der Pflegefamilie untergebracht worden war und insoweit die Durchführung eines familiengerichtlichen Hauptsacheverfahrens in zeitlicher Hinsicht freilich zu lange gebraucht hätte.
83
Soweit der Beklagte ausführt, dass nach der Herausnahme des Kindes durch den Vater das Kind in Obhut genommen werden musste, weil die Alternative die Rückgabe an die Klägerin gewesen wäre und damit „die ganze Angelegenheit ad absurdum“ geführt worden wäre, führt dies nicht weiter. Die Kammer verkennt nicht die vertrackte Situation zum Zeitpunkt der Herausnahme, weil der Sohn eine erhebliche Abneigung gegen den Vater entwickelt hat, der Vater aber einen Herausgabeanspruch gegen die Klägerin und das Aufenthaltsbestimmungsrecht innehatte. Die Inobhutnahme ist gleichwohl kein Werkzeug, um Gefährdungen des Kindeswohls unterhalb der Schwelle zur dringenden Gefahr abzuwehren. Dass im Zeitpunkt der Herausnahme des Sohnes eine dringende Gefahr für das Kindeswohl spezifisch durch die Vollstreckung des Herausgabeanspruchs durch den Vater in Verbindung mit dem Unwillen des Kindes von Zuhause wegzugehen vorgelegen hat, wird vom Beklagten nicht vorgebracht und wäre wohl auch von den weiteren Entwicklungen vor Ort zum Zeitpunkt der Herausnahme abhängig gewesen. Insoweit fehlt ohnehin entsprechender Tatsachenvortrag.
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Auch die Verweigerung der Klägerin, nach Herausnahme des Kindes einer Jugendhilfemaßnahme zuzustimmen, perpetuiert allenfalls die bisher bestehende chronische Kindeswohlgefährdung und stellt keine dringende Gefahr für das Kindeswohl dar. Die Inobhutnahme ist kein Instrument, eine rechtswidrig eingeleitete Hilfe nachträglich rechtmäßig zu gestalten.
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b. Zudem erweist sich die Inobhutnahme auch als unverhältnismäßig.
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Da die angeordnete Inobhutnahme nach Einschätzung der Kammer für den streitgegenständlichen Zeitraum allein der rückwirkenden Legalisierung der Unterbringung des Sohnes in einer Bereitschaftspflegefamilie diente, ist die Anordnung der Inobhutnahme als Maßnahme der Gefahrenabwehr vorliegend bereits nicht zur Zielerreichung geeignet.
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Selbst den Vortrag der Beklagtenseite als zutreffend unterstellt, dass am 24.04.2023 oder am 25.04.2023 eine Inobhutnahme angeordnet wurde, erweist sich diese jedenfalls als unangemessen. Die Eingriffswirkung der Inobhutnahme steht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck. Wie bereits im Rahmen der Klagebefugnis und dem Fortsetzungsfeststellungsinteresse dargelegt wurde, erweist sich eine Inobhutnahme auch bei eingeschränkter elterliche Sorge weiterhin als schwerwiegender Eingriff in das aus Art. 6 Abs. 2 GG folgende Elterngrundrecht. Das vom Beklagten verfolgte Ziel steht angesichts der Umstände des Einzelfalls außer Verhältnis zu diesem Eingriff. Hierbei war zu berücksichtigen, dass Anlass der Maßnahme „allein“ die Abwehr einer chronischen Kindeswohlgefährdung durch die vermeintlich pathologische Beziehung des Sohnes zur Klägerin war, die – wie oben bereits zum Tatbestandsmerkmal der dringenden Gefahr ausgeführt – in zeitlicher Hinsicht keine besondere Eilbedürftigkeit aufwies. Es kommt hinzu, dass der Kindsvater nach der absehbaren familiengerichtlichen einstweiligen Übertragung auch noch des Rechts, Hilfe zur Erziehung zu beantragen, absehbar bereit war, weiterhin mit dem Jugendamt zusammenzuarbeiten. Es war damit absehbar, dass die begehrten Hilfemaßnahmen, die für den Sohn geplant waren, durch den Kindsvater danach ohne weiteres beim Jugendamt beantragt worden wären. Erschwerend ist ferner zu berücksichtigen, dass sich die avisierte Heimunterbringung des Sohnes noch im Rahmen der Suche nach einer geeigneten Einrichtung befand. Nachdem der 16-jährige Sohn erkennbar einen Kontakt zum Vater ablehnte, ist zudem schwerlich nachvollziehbar, wieso man diesen auf nicht absehbare Zeit bei einer Bereitschaftspflegefamilie unterbringen wollte, bis ein taugliches Heim gefunden wird. Dies hätte dem Sohn einen weiteren Aufenthaltswechsel zugemutet. Insoweit nimmt die Kammer ergänzend Bezug auf die überzeugenden Ausführungen im Beschluss des OLG … vom 25.08.2023 (insb. dort S. 11 f.).
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c. Angesichts dieser Ausgangslage bedarf es keiner Entscheidung mehr, inwieweit vor der Inobhutnahme noch (einmal) das Familiengericht einzuschalten gewesen wäre.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 S. 2 Hs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).