Inhalt

VG Ansbach, Beschluss v. 20.01.2025 – AN 10 S 24.2731
Titel:

Entziehung der Fahrerlaubnis nach negativem Fahreignungsgutachten (regelmäßiger Cannabis- konsum) - einstweiliger Rechtsschutz

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
StGB § 3 Abs. 1
FeV § 13a S. 1 Nr. 2 lit. a Alt. 2, § 14 Abs. S. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 1 Nr. 2, § 46 Abs. 1, Abs. 3
FeV Anl. 4 Nr. 9.2.1 ( idF bis zum 31.3.2024)
Leitsätze:
1. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt, dem Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, rechtmäßig gewesen. Dennoch spricht viel dafür, dass sowohl der Entzug der Fahrerlaubnis, wie auch die Ablieferungsverpflichtung des Führerscheins, gegen Treu und Glauben als allgemeiner auch im Verwaltungsrecht geltender Rechtsgrundsatz verstoßen. Die Entziehung der Fahrerlaubnis stellt sich vor dem Hintergrund der zum 1. April 2024 geänderten Rechtslage als widersprüchlich dar. Es ist jedoch unter Anwendung des § 13a Nr. 2 FeV überwiegend wahrscheinlich, dass de Antragstellerin im Falle eines Antrags auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis diese ohne Weiteres wieder erteilt werden müsste. (Rn. 26 – 36)
2. In Anlehnung an die Rechtsprechung zu Nr. 8.1 der Anlage 4 zur FeV (Alkoholmissbrauch) und um den Begriff des fahrerlaubnisrechtlich relevanten Cannabismissbrauchs nicht zu überdehnen, ist im Rahmen des § 13a Nr. 2 a) Alt. 2 FeV ein zumindest mittelbarer Zusammenhang zwischen dem Cannabiskonsum und einer Teilnahme am Straßenverkehr zu fordern. Die Antragstellerin hat zu keinem Zeitpunkt unte Cannabiseinfluss ein Fahrzeug geführt. Ein mittelbarer Zusammenhang darf gerade nicht daraus gezogen werden, dass die Antragstellerin in der Vergangenheit täglich Cannabis konsumierte, denn es ist unter Heranziehung der neuen Fassung der Nr. 9.2.1. der Anlage 4 zur FeV ohne Hinzutreten weiterer Umstände gerade nicht mehr auf einen Kontrollverlust oder eine fehlende Trennfähigkeit zu schließen. (Rn. 40)
1. Eine im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten Behördenentscheidung rechtmäßige Entziehung der Fahrerlaubnis wegen regelmäßigen Cannabiskonsums (vgl. BVerwG BeckRS 2024, 15306 Rn. 5; VGH München BeckRS 2024, 30414 Rn. 13) verstößt gegen den auch im Verwaltungsrecht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben, wenn die Fahrerlaubnis nach der zum 1.4.2024 geänderten Rechtslage unter Anwendung des § 13a S. 1 Nr. 2 FeV auf einen entsprechenden Antrag ohne Weiteres wiedererteilt werden müsste. (Rn. 26 – 36) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nach der seit 1.4.2024 geltenden Rechtslage wird nunmehr zwischen einer Cannabisabhängigkeit (FeV Anl. 4 Nr. 9.2.3), dem Cannabismissbrauch (FeV Anl. 4 Nr. 9.2.1) und einem fahrerlaubnisrechtlich unbedenklichen Cannabiskonsum, welcher nach Vorstellung des Gesetzgebers gelegentlich oder auch regelmäßig erfolgen könne, unterschieden (so auch: BVerwG BeckRS 2024, 15306 Rn. 9 f.). Damit hat der Gesetzgeber die bisherige Annahme aufgegeben, dass mit einem regelmäßigen Konsum idR auch eine fehlende Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen vorliege. Allein die Annahme eines regelmäßigen Cannabiskonsums rechtfertigt nach der neuen Rechtslage auch nicht die Anordnung eines medizinisch-psychologisches Gutachtens nach § 13a S. 1 Nr. 2 FeV. (Rn. 37 – 40) (redaktioneller Leitsatz)
3. So ist insbesondere nach § 13a S. 1 Nr. 2 lit. a Alt. 2 FeV ein medizinisch-psychologisches Gutachten (nur) einzuholen, wenn noch sonstige Tatsachen die Annahme von Cannabismissbrauch begründen.  In Anlehnung an die Rechtsprechung zu Nr. 8.1 der Anlage 4 zur FeV (Alkoholmissbrauch) und um den Begriff des fahrerlaubnisrechtlich relevanten Cannabismissbrauchs nicht zu überdehnen, ist dazu ein zumindest mittelbarer Zusammenhang zwischen dem Cannabiskonsum und einer Teilnahme am Straßenverkehr zu fordern. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Letzte Behördenentscheidung als Entscheidungszeitpunkt; Verstoß gegen Treu und Glauben, Medizinisch-psychologisches Gutachten nach § 13a Nr. 2 FeV, Cannabismissbrauch nach Änderung der Nr.9.2.1 der Anlage 4 zur FeV, maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt, letzte Behördenentscheidung, Änderung der Rechtslage zum 1. April 2024, Verstoß gegen Treu und Glauben, regelmäßiger Cannabiskonsum und Kraftfahreignung, Anordnung eines Fahreignungsgutachtens, Cannabismissbrauch, sonstige Tatsachen, Zusammenhang zur Teilnahme am Straßenverkehr
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 23.04.2025 – 11 CS 25.203
Fundstellen:
SVR 2025, 156
DAR 2025, 230
LSK 2025, 631
BeckRS 2025, 631

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 8. März 2024 wird hinsichtlich der Ziffern 1 und 2 wiederhergestellt.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgelegt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin wendet sich im einstweiligen Rechtsschutz gegen den Entzug ihrer Fahrerlaubnis sowie die damit verbundene Verpflichtung zur Abgabe ihres Führerscheins.
2
Die Antragstellerin war Inhaberin der Fahrerlaubnis der Klassen A1, A, A (unb.), B, M, L und S.
3
Die Antragsgegnerin erhielt Kenntnis von der vorschriftswidrigen Einnahme psychoaktiv wirkender Arzneimittel im Rahmen eines Suizidversuchs der Antragstellerin am … 2022. Dem Arztbrief des Klinikums … vom 10. Februar 2022 ist eine schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen, Differentialdiagnose Schizophrenie Spektrum Störung zu entnehmen. Am 26. April 2022 wurde der Antragstellerin eine rezidivierende depressive Störung mit gegenwärtiger schwerer Episode und psychotischen Symptomen diagnostiziert.
4
Im daraufhin eingeleiteten Verfahren zur Überprüfung der Fahreignung forderte die Antragsgegnerin die Antragstellerin am 17. Mai 2023 zur Beibringung eines ärztlichen Gutachtens einer amtlich ankerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung auf, da sich aufgrund der oben genannten Diagnosen gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 FeV i.V.m. Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV Zweifel an der Fahreignung ergeben hätten. Laut dem beigebrachten ärztlichen Gutachten der … vom 4. September 2023 lag bei der Antragstellerin eine rezidivierende depressive Störung und damit eine Erkrankung nach Nr. 7 der Anlage 4 FeV vor. Die Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 1 bestehe, sofern die Auflage der sechsmonatigen fachärztlichen Kontrollen eingehalten werde. Die am 28. Juli 2023 durchgeführte leistungspsychologische Untersuchung ergab keine Hinweise auf fahreignungsrelevante Beeinträchtigungen der psychofunktionalen Leistungsfähigkeit. Im Rahmen des Begutachtungsprozesses gab die Antragstellerin an, in der Vergangenheit über einen Zeitraum von eineinhalb bis zwei Jahren täglich Cannabis konsumiert zu haben. Die zwei während der medizinischen Untersuchung forensisch gesicherten, entsprechend den Beurteilungskriterien unter Sicht abgegebenen Urinproben ergaben keinen Hinweis auf aktuellen Drogenkonsum.
5
Mit Schreiben vom 25. September 2023 teilte die Antragsgegnerin mit, dass ausweislich des Gutachtens der … bei der Antragstellerin ein missbräuchlicher Drogen- und Arzneimittelkonsum in der Vergangenheit vorgelegen habe, jedoch mutmaßlich seit Anfang 2022 eine Betäubungsmittelabstinenz vorliege. Ein damit verbundener Einstellungswandel müsse im Rahmen einer medizinisch-psychologischen Begutachtung auf Stabilität hin überprüft werden. Sie wurde zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (ohne Reaktions- und Leistungstests) einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung zur Klärung folgender Fragen aufgefordert:
Ist nicht zu erwarten, dass Frau … zukünftig Cannabis konsumieren wird?
Ist ferner nicht zu erwarten, dass Frau … zukünftig psychoaktiv wirkende Arzneimittel (Diazepam, Tramadol und Morphin) missbräuchlich einnimmt?
6
Laut dem eingeholten medizinisch-psychologischen Gutachten der … vom 8. Januar 2024 lägen positive Befunde im Hinblick auf den veränderten Lebensstil und die Stabilisierung der Persönlichkeit der Antragstellerin vor. Dennoch sei eine günstige Prognose aufgrund fehlender Abstinenznachweise zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Es sei daher davon auszugehen, dass die Antragstellerin auch zukünftig Cannabis konsumieren und psychoaktiv wirkende Arzneimittel missbräuchlich einnehmen werde.
7
Mit Anhörungsschreiben vom 16. Februar 2024 wurde der Antragstellerin in Anbetracht der negativen Begutachtung der beabsichtigte Entzug der Fahrerlaubnis angekündigt und ihr die Möglichkeit gegeben, bis zum 4. März 2024 Stellung zu nehmen. Die Antragstellerin gab mit Schreiben vom 4. März 2024 an, dass sie von der Antragsgegnerin zuvor die Auskunft erhalten habe, dass keine Abstinenznachweise zu erbringen seien und legte ein ärztliches Attest ihres behandelnden Psychiaters vor, welches einen positiven Krankheitsverlauf und eine glaubhaft berichtete vollständige Cannabisabstinenz auswies.
8
Mit Bescheid vom 8. März 2024 wurde der Antragstellerin die Fahrerlaubnis der Klassen A1, A, A (unb.), B, M, L und S entzogen (Ziffer 1). Zugleich verpflichtete die Antragsgegnerin sie, ihren Führerschein binnen einer Woche nach Zustellung des Bescheides abzugeben (Ziffer 2). Die sofortige Vollziehung der Ziffern 1 und 2 des Bescheides wurden angeordnet (Ziffer 4). Zudem wurde der Antragstellerin unmittelbarer Zwang hinsichtlich Ziffer 2 angedroht (Ziffer 3).
9
Die Antragstellerin gab am 15. März 2024 ihren Führerschein bei der Antragsgegnerin ab.
10
Mit dem am 11. April 2024 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz erhob die Antragstellerin gegen den zuvor bezeichneten Bescheid Klage. Mit dem am 31. Oktober 2024 eingegangenen Schriftsatz begehrt sie einstweiligen Rechtsschutz. Sie trägt zur Begründung im Wesentlichen vor, dass der streitgegenständliche Bescheid offensichtlich rechtswidrig sei und die Interessenabwägung wegen der langen Verfahrensdauer und der damit verbundenen Perpetuierung des Fahrerlaubnisentzugs zu ihren Gunsten ausfalle. Sie sei zu keinem Zeitpunkt unter Cannabis Einfluss Auto gefahren. Im Rahmen der verkehrsmedizinischen Untersuchung hätten keine Hinweise auf aktuellen Cannabiskonsum vorgelegen. Des Weiteren sei ihr die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen unter Auflagen bestätigt worden und auch die leistungspsychologische Untersuchung sei positiv verlaufen. Die Antragsgegnerin habe ihr Ermessen bezüglich der Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens überschritten, da die zweimalige Feststellung der Fahrtüchtigkeit ignoriert werde. Nach der Legalisierung von Cannabis hätte im Bescheid erwogen werden müssen, ob sie eine ausreichende Trennung zwischen Cannabiskonsum und dem Führen von Kraftfahrzeugen vorweisen könne. Ein Screening-Test mache im Hinblick auf die Legalisierung keinen Sinn.
11
Sie beantragt daher:
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 8. März 2024 hinsichtlich der Fahrerlaubnisentziehung wird wiederhergestellt.
12
Die Antragsgegnerin beantragt,
Der Antrag wird abgelehnt.
13
Sie führt im Wesentlich aus, dass nach Nr. 9.2.1 (der zum Entscheidungszeitpunkt geltenden Fassung) der Anlage 4 zur FeV bei regelmäßigem Konsum von Cannabis die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen entfalle. Zum Erlasszeitpunkt am 8. März 2024 habe noch die alte Rechtslage im Hinblick auf Cannabis gegolten, weshalb diese zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Bescheides heranzuziehen sei. Der vergangene regelmäßige Konsum stehe wegen der Feststellungen im ärztlichen Gutachten und der eigenen Angaben der Antragstellerin fest. Entsprechend Nr.9.5 der Anlage 4 zur FeV sei bei Aufgabe des Konsums in der Regel eine Abstinenz von einem Jahr und ein stabiler, motivationaler gefestigter Einstellungswandel nachzuweisen. Die Gutachtensanordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens sei rechtmäßig erfolgt, da für die Frage des Vorliegens der Nr. 9.5 der Anlage 4 zur FeV gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 2 FeV zwingend ein Gutachten einzuholen sei. Ermessen bestehe nicht. Im Übrigen stellten dessen Ergebnisse neue Tatsachen mit selbstständiger Bedeutung dar, welche verwertet werden dürften. Dem medizinisch-psychologischen Gutachten begegneten inhaltlich keine durchgreifenden Bedenken. Die Feststellung der Eignung im ärztlichen Gutachten habe jedoch allein in Bezug auf die Erkrankung nach Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV Aussagekraft, da der regelmäßige Konsum nicht Teil dieser Begutachtungsfrage gewesen sei. Die im Rahmen dessen abgegeben Urinproben stellten lediglich Momentaufnahmen dar, da dadurch ein Konsum zwischen den Tests nicht ausgeschlossen werden könne. Wegen des Fehlens aussagekräftiger Abstinenznachweise sei weiterhin von einer fehlenden Eignung auszugehen und die Fahrerlaubnis mangels Ermessens zwingend zu entziehen gewesen. Die Entscheidung in der Hauptsache sei nicht offen und eine lange Verfahrensdauer begründe kein überwiegendes Suspensivinteresse der Antragstellerin.
14
Wegen der weiteren Einzelheiten wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die beigezogene Behördenakte sowie auf die Gerichtsakte verwiesen.
II.
15
A. Der zulässige Antrag ist begründet.
16
1. Der Antrag der anwaltlich vertretenen Antragstellerin ist dahingehend auszulegen (§§ 88, 122 Abs. 1 VwGO), dass sie die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Hauptsacheklage gegen die Ziffern 1 und 2 des streitgegenständlichen Bescheides begehrt, da diese in Ziffer 4 für sofort vollziehbar erklärt wurden. Hinsichtlich Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides ist der Antrag so auszulegen, dass er sich nicht gegen diese richtet, da die Antragstellerin der Abgabeverpflichtung nachgekommen ist. Andernfalls wäre der grundsätzlich nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO i.V.m. Art. 21a VwZVG statthafte Antrag insoweit unzulässig, weil sich die Androhung unmittelbaren Zwangs im Entscheidungszeitpunkt erledigt hat.
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2. Diese Anträge sind nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO statthaft. Die Ziffern 1 und 2 des Bescheides stellen wirksame Verwaltungsakte dar, welche in Ziffer 4 jeweils gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO für sofort vollziehbar erklärt wurden. Diese Verwaltungsakte haben sich nicht erledigt. Die Abgabe des Führerscheines führte nicht zur Erledigung der Ziffer 2, weil diese weiterhin den Rechtsgrund für das vorläufige Behaltendürfen darstellt (vgl. BayVGH, B.v. 12.2.2014 – 11 CS 13.2281 – juris Rn. 22).
18
3. Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Hauptsacheklage gegen die Ziffern 1 und 2 des streitgegenständlichen Bescheides ist begründet.
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Die Sofortvollzugsanordnung in Ziffer 4 des Bescheides ist formell rechtmäßig (a.), aber die vom Gericht originär zu treffende Interessenabwägung zwischen dem Interesse der Antragstellerin an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung und dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug des Bescheides fällt zugunsten der Antragstellerin aus (b.).
20
a. Die Begründung des Sofortvollzugs (Ziffer 4) im streitgegenständlichen Bescheid gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO entspricht den formalen Erfordernissen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, da das besondere öffentliche Interesse am Sofortvollzug ausreichend schriftlich begründet wurde. Diese schriftliche Begründung soll dem Betroffenen ermöglichen, seine Rechte wirksam wahrzunehmen, weshalb die Behörde unter Würdigung des jeweiligen Einzelfalls darzulegen hat, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung einer Klage die sofortige Vollziehbarkeit der Verwaltungsakte angeordnet hat. Bloße formelhafte Begründungen reichen nicht aus. An den Inhalt der Begründung sind jedoch keine zu hohen Anforderungen zu stellen (vgl. BayVGH, B.v. 7.9.2020 – 11 CS 20.1436 – juris Rn. 20). Nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung ist bei Kraftfahrern, denen die erforderliche Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs fehlt, das Erlassinteresse regelmäßig mit dem sofortigen Vollzugsinteresse identisch (vgl. BayVGH, B.v. 4.7.2019 – 11 CS 19.1041 – juris Rn. 16; B.v. 14.9.2016 – 11 CS 16.1467 – juris Rn. 13). Bei immer wiederkehrenden Sachverhaltsgestaltungen, welchen eine typische Interessenlage zugrunde liegt, kann sich die Behörde zur Rechtfertigung der Anordnung der sofortigen Vollziehung darauf beschränken, die für diese Fallgruppen typische Interessenlage aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass diese Interessenlage nach ihrer Auffassung auch im konkreten Fall vorliegt. Das kommt insbesondere im Bereich des Sicherheitsrechts in Betracht, zu dem auch das Fahrerlaubnisrecht zählt (vgl. BayVGH, B.v. 8.9.2015 -11 CS 15.1634 – juris Rn. 6).
21
Dem hat die Antragsgegnerin genüge getan, indem sie bezogen auf Ziffer 1 ausführte, dass das öffentliche Interesse an der sofortigen Unterbindung der weiteren Teilnahme am Straßenverkehr zum Schutz von Leben und Gesundheit anderer Verkehrsteilnehmer dem Interesse der Antragstellerin an der weiteren Teilnahme bis zur rechtskräftigen Entscheidung überwiege.
22
Sicherheitsrisiken für andere Verkehrsteilnehmer, welche aufgrund des dargestellten Sachverhaltes bestünden, seien nur so zu minimieren. Der Sofortvollzug der Ziffer 2 erfolge, da der Führerschein als Rechtsdokument den Anschein einer vorhandenen Fahrerlaubnis erwecken könne, was insbesondere im Rahmen einer Verkehrskontrolle zu unterbinden sei.
23
b. Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende originäre Interessenabwägung des Gerichts fällt zugunsten der Antragstellerin aus.
24
Bei der Entscheidung ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Maßnahme (Vollzugsinteresse), vorliegend der Unterbindung der Teilnahme der Antragstellerin am Straßenverkehr, mit dem Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs (Suspensivinteresse) abzuwägen. Maßgeblich für die Entscheidung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Wird der Hauptsacherechtsbehelf nach der gebotenen summarischen Prüfung erfolglos bleiben, weil keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen, kann der Antrag abgelehnt werden, ohne dass noch weitere Interessen abgewogen werden müssen.
25
Nach der gebotenen summarischen Prüfung wird die erhobene Anfechtungsklage gegen Ziffer 1 und 2 des Bescheids vom 8. März 2024 voraussichtlich Erfolg haben, obwohl die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheines zum Zeitpunkt ihres Erlasses rechtmäßig waren und sind. Maßgeblicher Zeitpunkt ist die Sach- und Rechtslage bei Erlass des streitgegenständlichen Bescheids (vgl. BayVGH, B.v. 31.10.2024 – 11 ZB 24.1246 – BeckRS 2024, 30414, Rn. 13). Gleichwohl verstoßen der Entzug und die Abgabeverpflichtung gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, weswegen sie dennoch die Antragstellerin in ihren Rechten verletzen, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Im vorliegenden Einzelfall überwiegt darüber hinaus nach Abwägung der gegenseitigen Interessen das Suspensivinteresse der Antragstellerin in Anbetracht der Gesamtumstände unabhängig von den Erfolgsaussichten der Klage.
26
aa. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt, dem Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, rechtmäßig gewesen.
27
Nach § 3 Abs. 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet oder nur bedingt geeignet ist, so finden gemäß § 46 Abs. 3 FeV die §§ 11 bis 14 FeV entsprechende Anwendung. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dann unter den dort genannten Voraussetzungen weitere Aufklärung, insbesondere die Anordnung der Vorlage ärztlicher oder medizinisch-psychologischer Gutachten, zu betreiben (§ 3 Abs. 1 Satz 3 StVG, § 46 Abs. 3 FeV). Bedenken gegen die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bestehen gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 2 FeV, wenn Tatsachen die Annahme begründen, dass eine Einnahme von Betäubungsmitteln im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes vorliegt. Nach Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV der im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheids geltenden Fassung entfällt die Fahreignung bei regelmäßiger Einnahme von Cannabis. Nach § 14 Abs. 1 Nr. 3 FeV i.V.m. Nr. 9.4 der Anlage 4 zur Fev ist bei einer missbräuchlichen Einnahme von psychoaktiv wirkenden Arzneimitteln die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ebenfalls ausgeschlossen. Die Tatsachen, die Zweifel an der Fahreignung begründen, können sich aus Amtsermittlung der Behörde, aus Mitteilungen anderer Behörden oder von dritter Seite ergeben (BeckOK, StVR, § 11 FeV Rn. 10). Durch das ärztliche Gutachten vom 4. September 2023 wurde der Antragsgegnerin bekannt, dass die Antragstellerin im Rahmen des Suizidversuches 2022 psychoaktiv wirkende Arzneimittel (Diazepan, Tramodol und Morphin) vorschriftswidrig eingenommen hatte. Ferner gab die Antragstellerin an, bis Anfang 2023 täglich Cannabis konsumiert zu haben. Nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung wird als regelmäßige Einnahme von Cannabis der tägliche oder gewohnheitsmäßige Konsum bezeichnet (Nr. 3.14.1). Für die Annahme von regelmäßigem Cannabiskonsum ist die eigene Angabe der Betroffenen ausreichend (vgl. Koehl in: MüKoStVR, 1. Aufl. 2016, StVG § 3 Rn. 28). Nach eigenen Angaben im Begutachtungsprozess habe die Antragstellerin jedoch seit Anfang 2022 keine Drogen oder Arzneimittel mehr vorschriftswidrig eingenommen, weshalb die Wiedererlangung der Fahreignung nach Beendigung des Missbrauchs im Raum stand. Nach Nr. 9.5 der Anlage 4 zur FeV, der auf Cannabiskonsum ohne Abhängigkeit hinsichtlich des Abstinenzzeitraums entsprechend anwendbar ist (vgl. BayVGH, B.v. 5.10.2023 – 11 CS 23.1413 – juris Rn. 21), ist bei Aufgabe des Konsums regelmäßig eine Abstinenz von einem Jahr und ein stabiler, motivational gefestigter Einstellungswandel nachzuweisen, um annehmen zu können, dass die Fahreignung wiedererlangt wurde (vgl. BayVGH, B.v. 5.5.2022 – 11 CS 22.927 – juris Rn. 22; B.v. 23.8.2021 – 11 CS 21.1837 – juris Rn. 17).
28
Gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 2 FeV ist ein medizinisch-psychologisches Gutachten anzuordnen, um zu klären, ob die Betroffene weiterhin die in Abs. 1 genannten Mittel oder Stoffe einnimmt. Ermessen besteht diesbezüglich nicht. Die Feststellungen auf Seite 19 des ärztlichen Gutachtens vom 4. September 2023 zur aktuellen Betäubungsmittelabstinenz ersetzen die Anordnung des medizinisch-psychologischen Gutachtens gerade nicht. § 14 Abs. 2 Nr. 2 FeV normiert ausdrücklich die Beibringung eines medizinisch-psychologischen und nicht eines ärztlichen Gutachtens im Sinne des § 14 Abs. 1 FeV. Im Übrigen haben die Feststellungen der Eignung im ärztlichen Gutachten allein in Bezug auf die Erkrankung nach Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV Aussagekraft, da der regelmäßige und zukünftige Cannabiskonsum nicht Teil der Begutachtungsfrage war. Deshalb forderte die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 25. September 2023 die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle, um zu klären, ob die Antragstellerin in Zukunft Cannabis oder psychoaktiv wirkende Arzneimittel konsumieren bzw. missbräuchlich einnehmen werde.
29
Vorliegend hat die Antragstellerin das geforderte medizinisch-psychologische Gutachten beigebracht. Nach der Vorlage sind die strengen Anforderungen an die Begutachtungsanordnung (BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – juris Rn. 19) nicht mehr zu prüfen (MüKo, StVG, § 11 Rn. 20 m.w.N.). Das Gutachten ist als neue Beweistatsache grundsätzlich verwertbar (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.1996 – 11 B 14.96 – juris Rn. 3).
30
Entgegen der Auffassung der Antragstellerin begegnet das medizinisch-psychologische Gutachten jedenfalls hinsichtlich der Frage des zukünftigen Cannabiskonsums keinen inhaltlichen Bedenken und ist insoweit schlüssig, weshalb der Fahrerlaubnisentzug zumindest auf diesen Mangel gestützt werden konnte. Die zum Entscheidungszeitpunkt geltende Fassung der Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV regelte, dass die regelmäßige Einnahme von Cannabis ohne Hinzutreten weiterer Umstände und unabhängig von einer Teilnahme am Straßenverkehr unter der Wirkung des Rauschmittels im Regelfall die Fahreignung ausschloss (vgl. BayVGH, B.v. 23.8.2021 – 11 CS 21.1837 – juris Rn. 17; B.v. 31.10.2024 – 11 ZB 24.1246 – BeckRS 2024, 30414, Rn. 13). Maßgeblich ist die Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, also dem Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheides am 8. März 2024 (vgl. BVerwG, U.v. 7.4.2022 – 3 C 9/21 – juris Rn. 13). Eine Rückwirkung der für den Fahrerlaubnisinhaber günstigeren Neuregelung hat der Gesetz- und Verordnungsinhaber nicht vorgesehen (vgl. BayVGH, B.v. 31.10.2024 – 11 ZB 24.1246 – BeckRS 2024, 30414, Rn. 13). Bei Aufgabe des Konsums wäre nach Nr. 9.5 der Anlage 4 zur FeV eine Abstinenz von einem Jahr und ein stabiler, motivationaler gefestigter Einstellungswandel nachzuweisen gewesen, was nicht erfolgt ist. Laut Gutachten der … vom 8. Januar 2024 lagen positive Befunde im Hinblick auf den veränderten Lebensstil und die Stabilisierung der Persönlichkeit der Antragstellerin vor. Dennoch sei eine günstige Prognose aufgrund fehlender Abstinenznachweise zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich gewesen. Es sei daher davon auszugehen, dass die Antragstellerin auch zukünftig Cannabis konsumiere. Die im Rahmen der ärztlichen Begutachtung abgegebenen Urinproben vermögen nicht den geforderten Abstinenznachweis zu ersetzten. Der Betäubungsmittelkonsument muss die Abstinenz durch ärztliche Untersuchungen belegen. Dies geschieht bei Urinscreenings auf der Basis von mehreren unvorhersehbar anberaumten Laboruntersuchungen innerhalb der Abstinenzfrist in unregelmäßigen Abständen. Die Einbestellung des zu Untersuchenden zur Abgabe einer Urinprobe muss kurzfristig und unvorhersehbar sein (vgl. Kriterien CTU 1 der Beurteilungskriterien). Es kann dahinstehen, ob die Urinkontrollen am 28. Juli 2023 und am 8. August 2023 dem Kriterium der Unvorhersehbarkeit entsprachen, da sie im Ergebnis jedenfalls noch keinen Abstinenzzeitraum von einem Jahr und selbst bei besonders günstiger Betrachtung auch nicht von einem halben Jahr belegen können. Die Frist zur Vorlage des Gutachtens ist im Übrigen nicht so zu bemessen, dass die Betroffene den Abstinenznachweis bis zur Begutachtung durchführen kann. Ihr wäre es vielmehr zumutbar gewesen, unmittelbar nach dem Abstinenzentschluss entsprechende Nachweise zu sammeln (vgl. BayVGH, B.v. 5.10.2023 – 11 CS 23.1413 – juris Rn. 25).
31
Allerdings ergibt sich aus dem Gutachten vom 22. Dezember 2023 die fehlende Eignung der Antragstellerin zum Führen von Kraftfahrzeugen im Hinblick auf einen zukünftigen Missbrauch psychoaktiv wirkender Arzneimittel nicht schlüssig, weshalb der Entzug der Fahrerlaubnis nicht auf diesen Eignungsmangel gestützt werden konnte. Im medizinisch-psychologischen Gutachten heißt es, dass die Antragstellerin einen Arzneimittel- bzw. Morphinmissbrauch ausschließlich in der Phase einer Psychose betrieben habe. Sie gab selbst an, nur im Rahmen des Suizidversuchs Morphin, Tramadol und Tilidin vorschriftswidrig eingenommen zu haben. Weiter wurde festgestellt, dass die Antragstellerin nach dem Suizidversuch notärztlich behandelt worden und dabei ein Morphinkonsum festgestellt worden sei. Die Verkehrsteilnahme unter Einfluss von Arzneimitteln sei nicht aktenkundig. Ihre Darstellung sowohl dieses Ereignisses, als auch ihrer früheren generellen Drogenkonsumgewohnheiten stehe in Übereinstimmung mit der Aktenlage und sei durchgängig realistisch.
32
Es kann kein Abstinenznachweis (in entsprechender Anwendung der Nr. 9.5 der Anlage 4 zur FeV) gefordert werden, wenn schon Nr.9.4 der Anlage 4 zur FeV nicht zu bejahen ist, da keine missbräuchliche Einnahme (gleichzeitiger regelmäßiger und übermäßiger Gebrauch) von psychoaktiv wirkenden Arzneimitteln vorliegt. Der ein- oder mehrmalige Gebrauch genügt für einen Missbrauch aber nicht (vgl. BayVGH, B.v. 16.1.2020 – 11 CS 19.1535 – juris Rn. 25; VG Würzburg, B.v. 27.7.2016 – 6 S 16.680 – juris Rn. 36; Dauer in: Hentschel/König/Dauer, 47. Aufl. 2023, StVG § 2 Rn. 65). Aus dem Fehlen des Abstinenznachweises hinsichtlich eines zukünftigen Arzneimittelmissbrauchs durfte demnach auch nicht auf die fehlende Eignung geschlossen werden.
33
Im Übrigen begegnen dem medizinisch-psychologischen Gutachten inhaltlich keine weiteren durchgreifenden Bedenken. Wegen des Fehlens aussagekräftiger Abstinenznachweise im Hinblick auf eine Cannabisabstinenz war unter Zugrundelegung der Nr. 9.2.1 in der zum Entscheidungszeitpunkt gültigen Fassung weiterhin von einer fehlenden Eignung nach § 14 Abs. 2 Nr. 2 FeV i.V.m. Nr.9.5 der Anlage 4 zur FeV auszugehen. Die Fahrerlaubnis war mangels Ermessens gemäß § 46 Abs. 1 FeV zu entziehen.
34
bb. Aufgrund der überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis in Ziffer 1, hätte sich voraussichtlich auch die akzessorische Ablieferungspflicht des Führerscheins in Ziffer 2 des Bescheids als rechtmäßig erwiesen, § 47 Abs. 1 FeV.
35
cc. Dennoch spricht viel dafür, dass sowohl der Entzug der Fahrerlaubnis, wie auch die Ablieferungsverpflichtung des Führerscheins, gegen Treu und Glauben als allgemeiner auch im Verwaltungsrecht geltender Rechtsgrundsatz verstoßen. Das Gebot sich so zu verhalten, wie Treu und Glauben es verlangen, gehört im Verwaltungsrecht als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) zu den sog. allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Diese Grundsätze gibt es – häufig im Inhalt übereinstimmend – sowohl im Verwaltungsrecht des Bundes als auch im Verwaltungsrecht der Länder. Ob im Einzelfall ein Grundsatz des Bundesrechts oder ein solcher des Landesrechts einschlägig ist, hängt von der Qualität des Rechts ab, zu dessen Ergänzung der allgemeine Grundsatz herangezogen wird. Bundesrecht wird durch bundesrechtliche allgemeine Grundsätze, Landesrecht durch entsprechende landesrechtliche Grundsätze ergänzt (vgl. BVerwG, U.v. 14.4.1978 – 4 C 6.76 – juris Rn. 10; B.v. 1.4.2004 – 4 B 17/04 – juris Rn. 4). Vorliegend kommt das Gebot als Ergänzung von Bundesrecht in Betracht, denn die Entziehung der Fahrerlaubnis findet ihre Rechtsgrundlage in den bundesrechtlichen Vorschriften des § 3 Abs. 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV sowie der §§ 11 bis 14 FeV.
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Die Entziehung der Fahrerlaubnis stellt sich vor dem Hintergrund der zum 1. April 2024 geänderten Rechtslage als widersprüchlich dar. Da keine hinreichenden Anhaltspunkte zur Abklärung der Fahreignung im Hinblick auf eine missbräuchliche Einnahme von psychoaktiv wirkenden Arzneimitteln mehr bestanden, kommt es ausschließlich darauf an, ob Tatsachen vorliegen, die die Annahme eines Cannabismissbrauchs nach der ab 1. April 2024 geltenden Rechtslage begründen. Es ist jedoch unter Anwendung des § 13a Nr. 2 FeV überwiegend wahrscheinlich, dass der Antragstellerin im Falle eines Antrags auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis diese ohne Weiteres wieder erteilt werden müsste. Dieses widersprüchliche Verhalten stellt voraussichtlich einen Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben dar, da die Antragsgegnerin nicht den Entzug der Fahrerlaubnis aufrechterhalten sollte, wenn in der nächsten juristischen Sekunde diese wieder zu erteilen wäre.
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In Anbetracht der seit 1. April 2024 geltenden Rechtslage wird nunmehr zwischen einer Cannabisabhängigkeit (Nr. 9.2.3 der Anlage 4 zur FeV), dem Cannabismissbrauch (Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV) und einem fahrerlaubnisrechtlich unbedenklichen Cannabiskonsum (so auch: BVerwG, B.v. 14.6.2024 – 3 B 11.23, BeckRS 2024, 15306 Rn. 9 f.), welcher nach Vorstellung des Gesetzgebers gelegentlich oder auch regelmäßig erfolgen könne (BT-Drs. 20/11370 S.11), unterschieden. Damit hat der Gesetzgeber die bisherige Annahme, dass mit einem regelmäßigen Konsum in der Regel auch eine fehlende Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen vorliege, aufgegeben. Obwohl der Entzug nach obigen Ausführungen nach alter Rechtslage rechtmäßig ist, dürfte die Antragsgegnerin unter Heranziehung der seit 1. April 2024 geltenden Rechtslage im Wiedererteilungsverfahren kein erneutes medizinisch-psychologisches Gutachten nach § 13a Nr. 2 FeV mehr fordern. Die Anwendung des § 14 Abs. 2 FeV scheidet mangels Betäubungsmitteleigenschaft von Cannabis i.S.d. § 14 Abs. 1 Nr. 2 FeV nunmehr aus.
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Eine medizinisch-psychologische Untersuchung wäre im Falle eines Wiedererteilungsantrags der Antragstellerin aus den folgenden Gründen nicht zur fordern: § 13a Nr. 2d) FeV ist nicht heranzuziehen. Wenn ein früherer Cannabismissbrauch zur Entziehung der Fahrerlaubnis geführt hat, dürfte grundsätzlich lit. c) anzuwenden sein. § 13a Nr. 2c) i.V.m. § 13a Nr. 2a) FeV greift jedoch vorliegend nicht durch. Die Beibringung des medizinisch-psychologischen Gutachtens war auf § 14 Abs. 2 Nr. 2 FeV gestützt worden, weshalb die Fahrerlaubnis nicht aus einem unter den Buchstaben a) und b) genannten Gründen entzogen war. § 13a Nr. 2c) FeV verweist ausdrücklich nur auf die Buchstaben a) und b) des § 13a Nr. 2 FeV und gerade nicht auf § 14 FeV.
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Auch die direkte Anwendung des § 13a Nr. 2a) Alt. 1 FeV scheidet aus. Danach ist ein medizinisch-psychologisches Gutachten anzufordern, wenn nach einem ärztlichen Gutachten keine Cannabisabhängigkeit, aber Anzeichen für einen Cannabismissbrauch vorliegen. Abzustellen wäre demnach auf die Ausführungen im ärztlichen Gutachten vom 4. September 2023 und gerade nicht auf die Feststellungen im medizinisch-psychologischen Gutachten vom 8. Januar 2024, da das Gesetz ausdrücklich von Anzeichen in einem ärztlichen Gutachten spricht. Im ärztlichen Gutachten heißt es auf Seite 19, dass bei der Antragstellerin keine Hinweise auf verkehrsrelevante drogenassoziierte Folgeerkrankungen oder Beeinträchtigungen vorlägen. Auf Seite 20 heißt es weiter, dass eine regelmäßige Einnahme von Cannabis nach Anlage 4 FeV Ziffer 9.2.1 gegeben sei. Allerdings hat sich mit der seit 1. April 2024 geltenden Rechtslage auch die Ziffer 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV geändert und damit ebenso der Cannabismissbrauchsbegriff. Missbrauch liegt nun vor, wenn das Führen von Fahrzeugen und ein Cannabiskonsum mit nicht fernliegender verkehrssicherheitsrelevanter Wirkung beim Führen eines Fahrzeugs nicht hinreichend sicher getrennt werden. Dabei kann nach der neuen Rechtslage grundsätzlich nicht alleine aufgrund der Annahme eines regelmäßigen Konsums auf die fehlende Trennfähigkeit geschlossen werden. Das ärztliche Gutachten bezieht sich jedoch durch den Hinweis auf den regelmäßigen Konsum zweifelsfrei auf die alte Fassung der Ziffer 9.2.1. Ausführungen, die darüber hinaus im Sinne einer fehlenden Trennfähigkeit auf einen Cannabismissbrauch hindeuten, sind dem ärztlichen Gutachten nicht zu entnehmen.
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§ 13a Nr. 2a) Alt. 2 FeV ist ebenfalls nicht einschlägig. Danach ist ein medizinisch-psychologisches Gutachten einzuholen, wenn sonst Tatschen die Annahme von Cannabismissbrauch begründen. Es liegen aber gerade keine sonstigen Tatsachen vor, die einen Cannabismissbrauch begründen. Richtig ist, dass im medizinisch-psychologischen Gutachten ein Cannabismissbrauch als Merkmal einer fortgeschrittenen Drogenproblematik (Drogenmissbrauch Hypothese D2) festgestellt wurde. Höchst fraglich ist bereits, ob sich diese Annahme auf den neuen Cannabismissbrauchsbegriff übertragen lässt. Die Hypothesen der Begutachtungskriterien wurden bisher nicht auf die neue Rechtlage angepasst. Dennoch vermag voraussichtlich allein diese Feststellung im medizinisch-psychologischen Gutachten keine sonstige Tatsache im Sinne des § 13a Nr. 2 a) Alt. 2 FeV zu begründen. In Anlehnung an die Rechtsprechung zu Nr. 8.1 der Anlage 4 zur FeV (Alkoholmissbrauch) und um den Begriff des fahrerlaubnisrechtlich relevanten Cannabismissbrauchs nicht zu überdehnen, ist ein zumindest mittelbarer Zusammenhang zwischen dem Cannabiskonsum und einer Teilnahme am Straßenverkehr zu fordern (vgl. zu Alkoholmissbrauch: BayVGH, B.v. 4.4.2006 – 11 CS 05.2439, BeckRS 2009, 37434). Darüber hinaus würde das Heranziehen jeglicher Tatsachen, welche keinen mittelbaren Zusammenhang zum Straßenverkehr aufweisen die Äquivalenz der verschiedenen Varianten des § 13a Nr. 2 FeV untergraben und den Auffangtatbestand des § 13a Nr. 2 a) Alt. 2 FeV für nahezu immer anwendbar erklären. Die Antragstellerin hat zu keinem Zeitpunkt unter Cannabiseinfluss ein Fahrzeug geführt. Ein mittelbarer Zusammenhang darf gerade nicht daraus gezogen werden, dass die Antragstellerin in der Vergangenheit täglich Cannabis konsumierte, denn es ist unter Heranziehung der neuen Fassung der Nr. 9.2.1. der Anlage 4 zur FeV ohne Hinzutreten weiterer Umstände gerade nicht mehr auf einen Kontrollverlust oder eine fehlende Trennfähigkeit zu schließen. Bei Zugrundelegung der D2 Hypothese als alleinige sonstige Tatsache würde dies jedoch umgangen werden. Die Lebensumstände der Antragstellerin und die Äußerungen im medizinisch-psychologischen Gutachten legen keine künftige Teilnahme am Straßenverkehr unter Cannabiskonsum mit nicht fernliegender verkehrssicherheitsrelevanter Wirkung nahe. Im Gegenteil ist dem Gutachten auf Seite 13 zu entnehmen, dass bei der Antragstellerin neben der Eigenmotivation und ihrem Problemverständnis weitere Veränderungen gegeben seien, die dazu beitragen würden, ihren Drogenverzicht zu stabileren.
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4. Aus diesen Gründen wird die Klage in der Hauptsache voraussichtlich Erfolg haben. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind ein wesentliches, aber nicht das alleinige Indiz für das Überwiegen des öffentlichen Interesses. Im Übrigen wäre im vorliegenden Einzelfall die aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO auch nach Abwägung der gegenseitigen Interessen unabhängig von den Erfolgsaussichten der Klage wiederherzustellen. Zwar ist dem verfassungsrechtlich verankerten Schutz von Leben, Gesundheit sowie Eigentum anderer Verkehrsteilnehmer ein erhebliches Gewicht beizumessen. In Anbetracht der Gesamtumstände des vorliegenden Einzelfalls ist jedoch das persönliche Interesse der Antragstellerin, von den in dem streitgegenständlichen Bescheid angeordneten Maßnahmen bis zum Abschluss des Klageverfahrens verschont zu bleiben, höher zu gewichten, als das Interesse am Vollzug der angefochtenen Anordnungen. Es ist insbesondere unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben nicht von der Antragstellerin zu verlangen, den Entzug der Fahrerlaubnis zunächst hinzunehmen und sodann in der nächsten juristischen Sekunde einen neuen Antrag auf Wiedererteilung der Fahrerlaubnis zu stellen, welchem, wie oben dargelegt, entsprochen werden müsste.
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Die aufschiebende Wirkung der Hauptsacheklage war daher wiederherzustellen.
B.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
C.
44
Der Streitwert ergibt sich aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. den Ziffern 1.5 und 46.1 sowie 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.