Inhalt

VGH München, Beschluss v. 17.03.2025 – 5 ZB 24.30431
Titel:

(teilweise) Zulassung der Berufung in einem asylgerichtlichen Verfahren wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache, Abschiebungsverbot infolge der Flüchtlingsanerkennung eines anderen Mitgliedstaats bei europarechtlich untersagter Unzulässigkeitsentscheidung

Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 1 S. 2
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
GRCh Art. 4, 18, 19 Abs. 2
RL 2011/95 Art. 14, 21 Abs. 1
RL 2013/45 Art. 45
Schlagworte:
(teilweise) Zulassung der Berufung in einem asylgerichtlichen Verfahren wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache, Abschiebungsverbot infolge der Flüchtlingsanerkennung eines anderen Mitgliedstaats bei europarechtlich untersagter Unzulässigkeitsentscheidung
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 16.04.2024 – RO 13 K 22.31114
Fundstelle:
BeckRS 2025, 5913

Tenor

I. Den Klägern wird für das Zulassungsverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten, Herrn Rechtsanwalt F., Regensburg, bewilligt.
II. Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 16. April 2024 – RO 13 K 22.31114 – wird zugelassen, soweit sich die Klage gegen die in Nr. 5 des Bescheids der Beklagten vom 5. Juli 2022 enthaltene Abschiebungsandrohung richtet.
III. Im Übrigen wird der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt.
IV. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens, soweit der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt worden ist. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Soweit die Berufung zugelassen worden ist, bleibt die Kostenentscheidung der Endentscheidung vorbehalten.

Gründe

I.
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Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung ist teilweise begründet.
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1. Die Berufung ist zuzulassen, soweit das Verwaltungsgericht die Klage gegen die auf § 34 AsylG gestützte Abschiebungsandrohung abgewiesen hat. Insoweit werfen die Kläger zu Recht und unter Beachtung der Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG die grundsätzlich bedeutsame Frage auf (vgl. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG), ob eine Abschiebungsandrohung erlassen werden darf, wenn ein anderer Mitgliedstaat dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, oder ob in einem solchen Fall gemäß § 34 AsylG, § 60 Abs. 10 Satz 2 AufenthG (zumindest) festzustellen ist, dass die Kläger nicht in den Herkunftsstaat abgeschoben werden dürfen.
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Für den Fall der Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist geklärt, dass die Abschiebung in den Herkunftsstaat im Falle einer bereits erfolgten Flüchtlingsanerkennung durch einen anderen Mitgliedstaat untersagt ist (vgl. BVerfG, B.v. 13.9.2020 – 2 BvR 2082/18 – juris Rn. 28 m.w.N.). Die Beklagte hat gem. § 60 Abs. 10 Satz 2 AufenthG den Herkunftsstaat in ihrer Abschiebungsandrohung als Staat zu bezeichnen, in den nicht abgeschoben werden darf (vgl. BVerwG, U.v. 17.6.2014 – 10 C 7.13 – BVerwGE 150, 29 = juris Rn. 36).
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In Rechtsprechung und Literatur ist dagegen umstritten, ob eine Flüchtlingsanerkennung durch einen anderen Mitgliedstaat auch dann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG begründet, wenn eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – wie vorliegend vom Verwaltungsgericht angenommen – ausgeschlossen ist und daher eine volle Sachprüfung erfolgt (für ein Abschiebungsverbot: VG Göttingen, U.v. 2.11.2022 – 3 A 115/20 – juris; VG Düsseldorf, U.v. 9.8.2021 – 29 K 1915/19.A – juris; Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 4. Aufl. 2025, AsylG, § 29 Rn. 75; Bülow/Schiebel, ZAR 2020, 72; gegen ein Abschiebungsverbot: VG Düsseldorf, U.v. 4.8.2021 – 16 K 1148/21.A – juris; VG Stuttgart, U.v. 18.2.2022 – A 7 K 3174/21 – juris; VG Aachen, U.v. 3.6.2022 – 10 K 2844/20.A – juris, VG Trier, U.v. 19.8.2022 – 5 K 2104/22.TR – juris; VG Regensburg, U.v. 5.2.2024 – RO 13 K 22.30883 – juris Rn. 60 ff.; VG Hamburg, U.v. 29.11.2024 – 8 A 2694/23 – juris Rn. 102). Das Bundesverwaltungsgericht hat die Frage in seinem Vorlagebeschluss an den Europäischen Gerichtshof vom 7. September 2022 offengelassen (BVerwG, B.v. 7.9.2022 – 1 C 26.21 – NVwZ 2023, 357 = juris Rn. 15; ebenso Vogt, NVwZ 2020, 137). Obergerichtliche Rechtsprechung zu dieser Frage ist nicht ersichtlich.
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Auch unter Berücksichtigung der Ausführungen der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid, der aus europarechtlichen Gründen für eine teleologische Reduktion des § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG plädiert, ist für den Senat jedenfalls bislang nicht ohne weiteres ersichtlich, inwiefern eine nationale Verpflichtung zur sog. „negativen Staatenbezeichnung“ (vgl. dazu BVerwG, U.v. 13.12.2023 – 1 C 34.22 – NVwZ-RR 2024, 478; U.v. 15.1.2019 – 1 C 15.18 – BVerwGE 164, 19 Rn. 7) gegen europarechtliche Garantien verstoßen sollte. Sie schränkt lediglich den Gegenstand der Abschiebungsandrohung ein, ohne selbständig existenzfähig zu sein (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2023, a.a.O. Rn. 25 f.). Umgekehrt stellt sich nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 18. Juni 2024 (C-352/22 [Generalstaatsanwaltschaft Hamm], InfAuslR 2024, 429 m. Anm. Wittmann) die Frage, ob die vom Verwaltungsgericht und weiterer erstinstanzlicher Rechtsprechung vor allem mit Erwägungen des nationalen Gesetzgebers begründete teleologische Reduktion des § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nicht europarechtlich unzulässig ist (vgl. Wittmann a.a.O.). Diesen Fragen wird im Berufungsverfahren weiter nachzugehen sein.
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2. Weitere Zulassungsgründe wurden hingegen nicht hinreichend dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
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a) Die von den Klägern weiter aufgeworfene Frage der Bindungswirkung einer Flüchtlingsanerkennung eines anderen Mitgliedstaats ist nicht (mehr) klärungsbedürftig, da sie durch Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 18. Juni 2024 (C-753/22 – juris) mittlerweile – im verneinenden Sinne – geklärt ist (vgl. OVG NW, B.v. 28.6.2024 – 14 A 963/23.A – juris). Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass die Behörde nicht verpflichtet ist, dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft allein deshalb zuzuerkennen, weil dieser zuvor durch eine Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats als Flüchtling anerkannt worden ist (EuGH, a.a.O – juris Rn. 56 ff., 76 ff., 80). Die Berufung ist insoweit auch nicht aus Gründen des effektiven Rechtschutzes zuzulassen (Art. 19 Abs. 4 GG). Diesem Grundsatz widerspräche es, ein erfolgversprechendes Rechtsmittel nur deshalb nicht zuzulassen, weil in einem anderen Verfahren nachträglich eine grundsätzliche Klärung erfolgt ist (vgl. BVerfG, B.v. 25.9.2018 -1 BvR 453/17 – NJW 2018, 3699). Gemessen daran kommt hier eine Zulassung der Berufung nicht in Betracht, weil die aufgeworfene Rechtsfrage gerade nicht im Sinne der Kläger entschieden wurde und die Berufung auch auf der Grundlage ihres Vorbringens bis zum zulassungsrechtlich maßgeblichen Zeitpunkt des Ablaufs der Begründungsfrist (§ 78 Abs. 4 Sätze 1 und 4 AsylG) keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. OVG Berlin-Bbg, B.v. 26.3.2020 – OVG 3 N 113.17 – juris Rn. 8).
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Die Kläger haben ihren Asylantrag i.Ü. im Wesentlichen damit begründet, sie seien aus der Provinz Ninive geflohen, als der IS diese im Juni/Juli 2014 erobert habe und ihr Haus zerstört worden sei (UA S. 2). Bis zu ihrer Ausreise im Oktober 2019 hätten sie einem Camp in der Nähe von Dohuk in der Region Kurdistan-Irak gewohnt. Auch unter Berücksichtigung einer möglichen Vorverfolgung im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie (2011/95/EU) sprechen zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt aber – wie schon das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt hat (UA S.13 ff.) – keine stichhaltigen Gründe mehr für eine erneute Verfolgung durch den IS oder sonstige staatliche oder nichtstaatliche Akteure in der Provinz Ninive (vgl. auch OVG NW, U.v. 5.9.2023 – 9 A 1249/20.A – juris Rn. 63 ff.). Die Kläger haben trotz mehrmaliger Nachfragen des Verwaltungsgerichts auch von keinen konkreten Bedrohungen in ihrem Camp berichtet (UA S. 12).
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b) Grundsätzliche Bedeutung kommt auch nicht der Frage zu, ob
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„die Rückführung irakischer Staatsangehöriger jesidischer Religionszugehörigkeit in den Irak, welche bereits vor der Ausreise aus dem Irak als Binnenvertriebene unter prekären Umständen gelebt haben, derzeit im Widerspruch zu Art. 4 GrCH bzw. Art. 3 EMRK steht bzw. ob sich ein irakischer Staatsangehöriger jesidischer Religionszugehörigkeit, der bereits vor der Ausreise aus dem Irak als Binnenvertriebener unter prekären Umständen gelebt hat, bei einer zwangsweisen Rückkehr in den Irak unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihm nicht erlaubte, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden“.
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Die Fragestellung hat die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK im Hinblick auf die Sicherung des Existenzminimums zum Gegenstand. Ihre Beantwortung hängt neben den konkreten Verhältnissen in der Herkunftsregion der betroffenen Person oder einer anderen Region, in der die Person Zuflucht finden kann, von einer Vielzahl individueller Umstände und Faktoren wie etwa dem Alter, dem Geschlecht, dem Gesundheitszustand, der Volkszugehörigkeit, der Ausbildung, der finanziellen Situation und den familiären oder freundschaftlichen Verbindungen ab und ist daher keiner weiteren grundsätzlichen Klärung zugänglich (vgl. BayVGH, B.v. 25.3.2024 – 4 ZB 23.30149 – juris Rn. 6 ff.). Auch die Beschränkung auf einen Personenkreis, der bereits vor seiner Ausreise „in prekären Verhältnissen“ gelebt hat, macht eine Einzelfallbetrachtung nicht entbehrlich.
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG, soweit der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt wurde.
II.
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Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einem Beteiligten, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Aussicht auf Erfolg liegt stets dann vor, wenn eine gewisse, nicht notwendig überwiegende Wahrscheinlichkeit für den Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung spricht. Bei der dabei vom Gericht anzustellenden vorläufigen Prüfung dürfen im Hinblick auf die Rechtsschutzgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Es genügt, wenn sich die Erfolgsaussichten bei summarischer Prüfung als offen darstellen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 30. Aufl. 2024, § 166 Rn. 8 m.w.N.). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der Erfolgsaussicht ist der Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs (BVerfG, B.v. 16.4.2019 – 1 BvR 2111/17 – juris Rn. 25; BVerwG, B.v. 3.3.1998 – 1 PKH 3.98 – juris Rn. 2).
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Vorliegend haben die Kläger bereits vor der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 18. Juni 2024 (C-753/22 – juris) vollständige, entscheidungsreife Prozesskostenhilfeanträge gestellt und fristgemäß die Zulassung der Berufung gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts beantragt. Zu diesem Zeitpunkt bot der Zulassungsantrag im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. September 2022 (1 C 26.21 – NVwZ 2023, 357) auch hinsichtlich der Zuerkennung internationalen Schutzes hinreichende Aussicht auf Erfolg, so dass den Klägern ausgehend von der vorgelegten Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (vgl. § 117 Abs. 2 ZPO) vollumfänglich Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung ihres Rechtsanwalts (§ 121 Abs. 1 ZPO) zu bewilligen ist.
III.
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Soweit der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt wurde, ist dieser Beschluss unanfechtbar (§ 80 AsylG). Mit der Ablehnung wird das angegriffene Urteil in diesem Umfang rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG). Der Beschluss über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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Soweit die Berufung zugelassen wurde, wird das Verfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt. Insoweit gilt die nachfolgende Belehrung.