Titel:
Veranstaltungs- und Versammlungsverbot aufgrund der Corona-Pandemie
Normenketten:
VwGO § 47
GG Art. 4 Abs. 1, Art. 8, Art. 12 Abs. 1
IfSG § 28 Abs. 1, § 32 S. 1
Leitsätze:
1. Bei der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) handelt es sich um ein Grundrecht, das dem Grunde nach jederzeit und an jedem Ort verwirklicht werden kann, sodass an die Darlegung eines gewichtigen Grundrechtseingriffs keine besonderen Anforderungen zu stellen sind. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Untersagung von Veranstaltungen und Versammlungen durch § 1 der 2. BayIfSMV war verhältnismäßig und damit eine notwendige Schutzmaßnahme iSvn § 32 S. 1 iVm § 28 Abs. 1 IfSG. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des § 1 der 2. BayIfSMV kommt es allein darauf an, ob der Verordnungsgeber im fraglichen Zeitraum ihrer Geltung die von ihm bejahte Gefahrenlage aufgrund der damaligen offiziellen Stellungnahmen des RKI iSv § 4 Abs. 2 Nr. 1 IfSG annehmen konnte. Eine nachträgliche abweichende Einschätzung anderer Sachverständiger oder die Berufung auf spätere Studien kann hieran nichts ändern. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Corona-Pandemie, Veranstaltungs- und Versammlungsverbot, Gottesdienste, Darlegung eines gewichtigen Grundrechtseingriffs als Prozessvoraussetzung, Coronavirus, Gefahrenabwehr, Versammlungsfreiheit, Infektionsschutz, Gefahrenprognose, RKI
Fundstelle:
BeckRS 2025, 5883
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
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1. Mit seinem Normenkontrollantrag nach § 47 VwGO begehrt der Antragsteller die Feststellung, dass § 1 Abs. 1 der Bayerischen Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen anlässlich der Corona-Pandemie (Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung – BayIfSMV; 2126-1-4-G, 2126-1-5-G, BayMBl. 2020 Nr. 158; im Folgenden: 1. BayIfSMV) vom 27. März 2020 unwirksam war. Die Norm ist mit Ablauf des 19. April 2020 außer Kraft getreten (§ 7 Abs. 1 1. BayIfSMV i.d.F. der Verordnung zur Änderung der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 31. März 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 162)).
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2. Der Antragsgegner hat am 27. März 2020 durch das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege folgende Norm erlassen:
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„§ 1 Veranstaltungs- und Versammlungsverbot
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(1) Veranstaltungen und Versammlungen werden landesweit untersagt. Dies gilt auch für Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen und Synagogen sowie die Zusammenkünfte anderer Glaubensgemeinschaften. Ausnahmegenehmigungen können auf Antrag von der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde erteilt werden, soweit dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist.“
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Die Verordnung ist mit Ablauf des 19. April 2020 außer Kraft getreten (§ 7 Abs. 1 1. BayIfSMV).
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3. Der Antragsteller hat mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 8. April 2020 einen Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO gestellt und zuletzt mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 31. Januar 2025 sinngemäß beantragt,
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Es wird festgestellt, dass § 1 Abs. 1 der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 27. März 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 158), zuletzt geändert durch § 1 der Verordnung zur Änderung der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 31. März 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 162), unwirksam war.
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Er trägt zur Begründung seines Antrags im Wesentlichen vor, er sei unter anderem als Leiter von kostenpflichtigen Seminaren und Einzelkursen zu den Themen Krisen-, Konflikt- und Stressmanagement beruflich tätig. Die von ihm geleiteten Seminare und Einzelkurse fänden für gewöhnlich unten anderem in Bayern statt. Die Vorschrift des § 1 Abs. 1 Satz 1 1. BayIfSMV hätte landesweit mit unmittelbarer Wirkung sämtliche Veranstaltungen und Versammlungen untersagt. Hiervon sei auch der Antragsteller betroffen gewesen, der in seinem Recht aus Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz (GG) eingeschränkt worden sei. Auch im Hinblick auf das Verbot jeglicher Veranstaltung sei der Antragsteller zumindest in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG betroffen gewesen. Darüber hinaus sei er beruflich selbständig als Leiter von Seminaren und Einzelkursen zu den Themen Krisen- und Konfliktsowie Stressmanagement aktiv gewesen. Derartige Angebote seien als Veranstaltungen ebenfalls unter das abstrakt-generelle Verbot nach § 1 Abs. 1 Satz 1 1. BayIfSMV gefallen und hätten den Antragsteller damit ebenfalls in seiner Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG getroffen. An den Seminaren des Antragsstellers hätten üblicherweise 200-350 Personen teilgenommen. Insgesamt seien dem Antragsteller in dieser Zeit 600.000,00 Euro entgangen. Der Antragsteller sei im verfahrensgegenständlichen Zeitraum Mitglied der römisch-katholischen Kirche gewesen und habe regelmäßig, insbesondere an hohen Festtage wie Ostern, römisch-katholische Gottesdienste in Bayern besucht. Das habe er auch im Geltungszeitraum der Verordnung, insbesondere an den Osterfeiertagen (Karfreitag, Ostersonntag und Ostermontag (10.4.2020-13.4.2020) vorgehabt.
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Es bestehe ein Rechtschutzbedürfnis. Das notwendige Fortsetzungsfeststellungsinteresse sei hierbei aufgrund des Präjudizinteresses, der evidenten Wiederholungsgefahr sowie Grundrechtseingriffe – den massivsten in der Bundesrepublik Deutschland – offensichtlich gegeben. Der Antragsgegner behaupte wiederholt, ein individuelles Fortsetzungsfeststellungsinteresse sei nicht ausreichend geltend gemacht worden. Diesseits stelle sich die Frage, wie der Antragsgegner erwarten könne, dass der Antragssteller bis ins kleinste Detail erlittene Einschränkungen nachweisen könne, wenn er selbst fast vier Jahre nach Pandemiebeginn immer noch nicht in der Lage sei, dieselben Auswirkungen gesamtgesellschaftlich zu erfassen, geschweige denn nachvollziehbar darzulegen, wie er zu seinen Entscheidungen gekommen sei. Der Normenkontrollantrag sei auch begründet. Es habe an einer verfassungsrechtlich tragbaren, hinreichend bestimmten und parlamentarisch gedeckten gesetzlichen Grundlage für die angegriffenen Vorschriften gefehlt. Bei grundrechtsrelevanten und entsprechend intensiven Eingriffsakten wie hier hätte es dabei eines förmlich-parlamentarischen Gesetzes bedurft, das bereits selbst hinreichend bestimmt die Voraussetzungen und die Rechtsfolgen des Eingriffs regele. Für die angegriffenen Maßnahmen hätte zwar grundsätzlich die Ermächtigungsgrundlage der §§ 32 Satz 1, 28 Abs. 1 IfSG angedacht werden können. Allerdings genügten diese Vorschriften zumindest für die hier in Rede stehenden Vorschriften nicht den inhaltlichen Anforderungen der Wesentlichkeitstheorie an formell-gesetzliche Vorschriften. Die durch die angegriffenen Bestimmungen in Anspruch genommene Allgemeinheit hätte auf der Grundlage des § 28 Abs. 1 IfSG nicht – auch nicht unter Verweis auf den sog. Nichtstörer – zur Gefahrenabwehr herangezogen werden können. Die Regelungen verstießen auch gegen den strikten Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG. Die in Rede stehenden Regelungen hätten zudem gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Die ergriffenen Maßnahmen seien bereits nicht erforderlich, jedenfalls aber nicht verhältnismäßig im engeren Sinne gewesen. So alarmierend die Zustände in Spanien, Italien und in Frankreich gewesen seien, so wenig habe hieraus indes der Schluss gezogen werden können, dass es sich vorliegend um eine Infektion gehandelt habe, die mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung geführt hätte. Dass die Todesrate in Deutschland im Vergleich zu Italien und Spanien deutlich niedriger ausgefallen sei, hätte insbesondere daran gelegen, dass in Deutschland sehr viel mehr getestet worden sei. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (im Folgenden RKI) seien indes ca. 80% der Erkrankungen mild bis moderat verlaufen. Bei 3% bzw. 6% (abhängig davon, wie die Fälle identifiziert werden) sei der klinische Verlauf kritisch bis lebensbedrohlich gewesen. Andere Experten seien von einem optimistischeren Szenario ausgegangen. Die grundrechtseinschränkenden Maßnahmen mögen vielleicht am Anfang wegen der unsicheren Datenlage für einen sehr begrenzten Übergangszeitraum zulässig gewesen sein, um sich Zeit zu verschaffen und eine valide Datengrundlage zu generieren. Die (wissenschaftlichen) Erkenntnisse um die COVID-19-Pandemie seien weltweit aber auch später bruchstückhaft und von diversen Methodenfehlern gekennzeichnet gewesen. Problematisch sei zudem, dass der PCR-Test bereits nicht dazu geeignet gewesen sei, nur infektiöse Patientinnen zuverlässig zu identifizieren. Die seitens des RKI vermittelten Fallzahlen könnten nicht mit „Neuinfektionen“ gleichgesetzt werden. Die Schätzungen zur Sterblichkeit und zum zu erwarteten Bedarf an Intensivbetten hätten nicht auf wissenschaftlich fundierten Prognosen beruht, weshalb die Erwägungen des Verordnungsgebers fehlgegangen seien und daher keine Grundlage mehr für die ergriffenen Maßnahmen hätten darstellen können. Ferner hätte bei der Risikoprognose auch die Dunkelziffer berücksichtigt werden müssen. Bei den positiv gemeldeten Fällen habe es sich schließlich nicht um eine Vollerhebung gehandelt. Unbekannt sei u.a. deshalb auch, ob es eine sog. Übersterblichkeit gegeben habe. Sähe man die Prognosen als ausreichende Grundlage, um eine Erforderlichkeit anzunehmen, hätte das Ziel, Infektionen zu reduzieren, auch durch weniger einschneidende Grundrechtseingriffe wie Maskentragepflicht, Beschränkung der Regelungen auf besonders gefährdete Menschen, Ausweitung der Testkapazitäten, Regeln zur Hygiene und Steuerung des Zutritts erreicht werden können. Die Maßnahmen seien auch nicht angemessen gewesen. Es habe sich vorliegend nicht um bloße Unannehmlichkeiten gehandelt, die den Verordnungsadressaten aufgebürdet worden seien, sondern um tiefgehende Eingriffe in die Kernbereiche gleich mehrerer Grundrechte. So hätten die drohenden wirtschaftlichen, sozialen und medizinischen Folgen der Schutzmaßnahmen bei einer Abwägung deren prognostiziertem Erfolg überwogen. Darüber hinaus seien die Maßnahmen auch gleichheitswidrig gewesen.
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Die fehlende aktenmäßige Dokumentation durch den Antragsgegner erweise, dass keine Rechtsgüterabwägung durch den Antragsgegner stattgefunden habe. Hiermit liege ein Verstoß gegen das Legalitätsprinzip vor. Es sei insbesondere nicht zu rechtfertigen, Bürgerinnen die Inanspruchnahme eines wichtigen und hochrangigen Freiheitsrechts, nämlich das der kollektiven Meinungsäußerung, generell zu verwehren, während bei alltäglichen Verrichtungen, wie Bus und Bahn oder Taxi fahren, der Schutzstandard im Ergebnis zurückbleiben habe dürfen und dort ein erhöhtes Infektionsrisiko in Kauf genommen worden sei. Eine Auswertung der Krisenstabsprotokolle des RKI sei erforderlich – und auch von Amts wegen geboten – da sich der Senat in seiner Rechtsprechung durchgängig auf die öffentlich verlautbarten Äußerungen des RKI angesichts der gesetzlich hervorgehobenen Position (§ 4 Abs. 1 und Abs. 2 IfSG) gestützt habe. Der Senat hat jene Verlautbarungen auch regelmäßig für die Begründung der vermeintlichen (in der Regel angenommenen) Rechtmäßigkeit der angeordneten Grundrechtseingriffe im Rahmen der Corona-Krise herangezogen. Die RKI-Krisenstabsprotokolle zeigten, dass die Maßnahmen in erster Linie auf politischen Entscheidungen beruhten und nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. In diesem Zusammenhang beantrage der Antragsteller, die Protokolle, Tagesordnungen, Teilnehmerlisten und sonstige Notizen des RKI-Corona-Krisenstabs zur Corona-Pandemie vom Januar 2020 bis Juli 2023 beizuziehen, insbesondere sämtliche Dokumente und Notizen, die sich mit der Änderung der Risikobewertung am 17. März 2020 von „mäßig“ auf „hoch“ befassten, darunter auch Schriftwechsel innerhalb des RKI sowie zwischen dem RKI und dem Bundesgesundheitsministerium sowie ggf. weiteren Behörden der Bundesregierung, beizuziehen. Daran, dass es zu der von Gesetzes wegen erforderlichen Rechtsgüterabwägung gekommen sei, bestünden weiterhin erhebliche Zweifel. Bestätigung finde diese etwa in dem Beschluss des Ministerrats vom 5. Mai 2020. Dort sei auf Seite 2 zu lesen, dass das „Primat des Infektionsschutzes“ gelte. An dem Antrag Herrn Ministerpräsidenten ..., acht Ministerinnen und Minister der Bayerischen Staatsregierung sowie den ehemaligen Präsidenten des Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit als Zeugen heranzuziehen, werde zumindest solange festgehalten, als keine vollständigen Akten vorgelegt werden. Es seien nicht etwaige „Motive“, die den Antragsteller interessierten, sondern die Frage, ob die Regierung innerhalb des rechtlich ihr zugestandenen Ermessensspielraums agiert habe und gewissenhaft die vorgesehene Interessensabwägung durchgeführt habe oder sich von sachfremden Gründen habe leiten lassen. Dies sei insbesondere deshalb relevant, weil es bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Maßnahmen auf die ex-ante-Perspektive ankomme. Welche Erkenntnisse damals wirklich vorgelegen hätten, lasse sich daher nur ermitteln, wenn diejenigen, die die Vorschriften tatsächlich konzipiert hätten, befragt würden.
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4. Der Antragsgegner tritt dem Antrag entgegen und beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung trug der Antragsgegner im Wesentlichen vor, zunächst werde auf den rechtskräftigen Beschluss des Senats vom 7. März 2022, Az. 20 N 21.1926, hingewiesen, mit dem das auch hier streitgegenständliche Veranstaltungs- und Versammlungsverbot nach § 1 Abs. 1 Satz 1 BayIfSMV für formell und materiell rechtmäßig befunden worden sei. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2023, Az. 3 CN 1.22, gebe keinen Anlass, vom Ergebnis dieser Senatsentscheidung abzuweichen. Das Bundesverwaltungsgericht habe zwar damit die Unverhältnismäßigkeit einer Regelung der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung vom 17. April 2020 (SächsGVBl. S. 170) festgestellt, die dem Veranstaltungs- und Versammlungsverbot nach § 1 Abs. 1 Satz 1 (1.) BayIfSMV ähnlich sei. Zum einen habe das Bundesverwaltungsgericht die Unwirksamkeit der sächsischen Norm jedoch mit dem Zeitpunkt bzw. Zeitraum begründet, in dem die Sächsische Corona-Schutz-Verordnung vom 17. April 2020 erlassen worden sei. Zum anderen habe es die Unwirksamkeit der Norm ausdrücklich nur insoweit festgestellt, als damit Versammlungen im Sinne des Versammlungsrechts untersagt worden sei. Im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit des Versammlungsverbots der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung vom 17. April 2020 stelle das Bundesverwaltungsgericht fest, dass der sächsische Verordnungsgeber die Gefahr (für die Gesundheit der Bevölkerung durch die Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2) nicht mehr als so dringlich eingeschätzt habe wie noch bei Erlass der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung vom 31. März 2020. Angesichts der Verlangsamung der Infektionsgeschwindigkeit in Sachsen habe er Spielraum für schrittweise Lockerungen gesehen, nämlich die bisherige Ausgangsbeschränkung aufgehoben, Ladengeschäfte des Einzelhandels jeder Art bis zu einer Verkaufsfläche von 800 m² wieder öffnen lassen und Gottesdienste mit bis zu 15 Besuchern wieder zugelassen. Der sächsische Verordnungsgeber habe somit Abstands- und Hygieneregeln für den Infektionsschutz als ausreichend angesehen. In dieser Situation habe die generelle Untersagung von Versammlungen der Bedeutung der Versammlungsfreiheit nicht angemessen Rechnung getragen (BVerwG a.a.O. Rn. 51 f.).
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Die (1.) BayIfSMV sei demgegenüber in einer früheren und kritischeren Phase der Pandemie mit ansteigenden Infektionszahlen erlassen worden, vgl. die vom Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit erstellte „Epidemiekurve“, abrufbar unter https://www.lgl.bayern.de/gesundheit/infektionsschutz/infektionskrankheiten_a_z/coronavirus/karte_coronavirus/. Deshalb habe die (1.) BayIfSMV weitergehende Beschränkungen als die vom Bundesverwaltungsgericht geregelt. Aufgrund der Unterschiede zur Situation im Geltungszeitraum der vom Bundesverwaltungsgericht beurteilten sächsischen Verordnung sei nicht davon auszugehen, dass das Bundesverwaltungsgericht auch das Veranstaltungs- und Versammlungsverbot der (1.) BayIfSMV vom 27. März 2020 als unangemessen beurteilt hätte.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
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Der Antrag, über den der Senat nach § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entscheidet, ist nur zum Teil zulässig, letztendlich unbegründet, weil § 1 Abs. 1 der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 27. März 2020 (1. BayIfSMV), zuletzt geändert durch § 1 der Verordnung zur Änderung der Bayerischen Infektionsmaßnahmeschutzverordnung vom 31. März 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 162) wirksam war.
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Der Normenkontrollantrag ist nur zum Teil zulässig. Soweit der Antragsteller sich gegen das Verbot von religiösen Zusammenkünften nach § 1 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BayIfSMV wendet, ist sein Antrag unzulässig, weil er keinen gewichtigen Grundrechtseingriff glaubhaft dargelegt hat.
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Gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO kann den Normenkontrollantrag jede natürliche oder juristische Person stellen, die geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Zwar geht § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO vom Regelfall der noch geltenden Rechtsvorschrift aus (vgl. auch § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Ist die angegriffene Norm während der Anhängigkeit des Normenkontrollantrags außer Kraft getreten, bleibt er aber zulässig, wenn der Antragsteller weiterhin geltend machen kann, durch die zur Prüfung gestellte Norm oder deren Anwendung in seinen Rechten verletzt (worden) zu sein. Darüber hinaus muss er ein berechtigtes Interesse an der Feststellung haben, dass die Rechtsvorschrift rechtswidrig war (vgl. BVerwG, U. v. 22.11.2022 – 3 CN 1.21 – BVerwGE 177, 60 Rn. 9 m. w. N.). Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht trotz Erledigung unter anderem neben einer Wiederholungsgefahr dann fort, wenn ein gewichtiger Grundrechtseingriff von solcher Art geltend gemacht wird, dass gerichtlicher Rechtsschutz dagegen typischerweise nicht vor Erledigungseintritt erlangt werden kann (stRspr des BVerwG, Urteile v. 22.11.2022 – 3 CN 1.21 – BVerwGE 177, 60 Rn. 13, v. 16.5.2023 – 3 CN 4.22 – juris Rn. 16, – 3 CN 5.22 – NVwZ 2023, 1846 Rn. 15 und – 3 CN 6.22 – NVwZ 2023, 1830 Rn. 14 sowie v. 21.6.2023 – 3 CN 1.22 – NVwZ 2023, 1840 Rn. 13). Nachdem eine konkrete Wiederholungsgefahr im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats nicht dargetan wurde, kommt hier allein in Betracht, dass der Antragsteller Beeinträchtigungen seiner grundrechtlichen Freiheiten geltend machen, die ein Gewicht haben, das die nachträgliche Klärung der Rechtmäßigkeit der Verordnungsregelungen rechtfertigt (BVerwG, B. v. 5.1.2024 – 3 BN 2.23 – juris). Dies ist von den Antragstellern aus einer ex-post-Perspektive darzulegen.
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Zwar behauptet der Antragsteller, dass er im verfahrensgegenständlichen Zeitraum Mitglied der römisch-katholischen Kirche gewesen sei und regelmäßig, insbesondere an hohen Festtagen wie Ostern, römisch-katholische Gottesdienste in Bayern besucht habe, was er auch im Geltungszeitraum der Verordnung, insbesondere an den Osterfeiertagen (Karfreitag, Ostersonntag und Ostermontag (10.4.2020-13.4.2020) vorgehabt habe. Dieser Vortrag des Antragstellers ist jedoch im Hinblick auf seine Äußerungen auf seiner Homepage (https://mindflowacademy.de/s/Mindflow/mindflow_tom; zuletzt abgerufen: 18. Februar 2025) nicht glaubwürdig. Dort äußert sich der Antragsteller: „Was mich an der Kirche störte? Wir gingen voller Energie zum Gottesdienst und verließen das Gebäude energiearm. Die Menschen verlieren in der Kirche die Erdung, ihnen wird die Energie genommen, und dadurch sind sie manipulierbar. Ich spürte, dass ich glücklich hineinging und mit schlechter Laune herauskam (Hervorhebungen durch den Antragsteller…“ Anders ausgedrückt auf einer anderen Homepage des Antragstellers (https://www.mindflow.de/tombio; zuletzt abgerufen am 18. Februar 2025): „Kirchliche Zweifel und persönliche Rebellion. Die Vorbereitung und Teilnahme an der Kommunion offenbarte Toms kritische Haltung gegenüber der Kirche. Er erlebte den Gottesdienst als energieraubend und fühlte sich durch die kirchlichen Strukturen manipuliert, was ihn dazu brachte, seine Zeit in der Kirche bewusst zu begrenzen und eigenständige Entscheidungen gegen die erzkonservative kirchliche Erziehung zu treffen.“ Angesichts dieser Äußerungen kann dem Antragsteller nicht abgenommen werden, dass er tatsächlich beabsichtigt hätte, im streitgegenständlichen Zeitraum an Zusammenkünften der katholischen Kirche teilzunehmen. Dass er an Zusammenkünften anderer Glaubensgemeinschaften habe teilnehmen wollen, hat der Antragsteller nicht vorgetragen.
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Darüber hinaus ist nicht ersichtlich und auch nicht vom Antragsteller vorgetragen, dass er in dieser Zeit bei einer möglichen Aufhebung des Verbots die tatsächliche Möglichkeit gehabt hätte, an katholischen Gottesdiensten teilnehmen zu können. Der Senat hat in seinen Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren bereits auf die damaligen Verlautbarungen der katholischen Kirche anlässlich der Corona-Epidemie hingewiesen, dass die katholische Kirche in Deutschland und Bayern, insbesondere das Erzbistum München und Freising, in dessen Bezirk der Wohnort des Antragstellers liegt, sich der Herausforderung durch das Coronavirus (SARS-CoV-2) stelle. Zunächst seien alle Anweisungen von staatlichen Stellen, insbesondere der Gesundheitsämter, zu beachten. Grundsätzlich gelte, dass für Maßnahmen in den Bistümern ausschließlich die Bistümer selbst verantwortlich seien und zwar nach Maßgabe der staatlichen Behörden und der damit verbundenen Entscheidungen für Konsequenzen in den Bistümern. Alle 27 (Erz-)Bistümer haben umfangreiche Maßnahmen erlassen, dazu zählen in fast allen Bistümern auch die Entbindung von der Sonntagspflicht und der Ausfall von Gottesdiensten. Das Erzbistum München und Freising hatte sich dafür entschieden, keine öffentlichen Gottesdienste bis mindestens 19. April 2020 abzuhalten. Insoweit kann nach wie vor auf die ausführliche Darstellung der kirchlichen Erlasslage in Beschluss des Senats vom 9. April 2020 (Az.: 20 NE 20.704 – juris Rn. 14 ff.) verwiesen werden.
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Soweit der Antragsteller gewichtige Grundrechtseingriffe in seine Rechte aus Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 8 GG geltend gemacht hat, hat er ein Interesse an der nachträglichen Unwirksamkeitserklärung der Norm ausreichend dargelegt. Zum einen konnte der Antragsteller während der Gültigkeit der Norm seine Seminare und Einzelkurse, mit denen er seinen Lebensunterhalt bestritt, nicht abhalten. Zum anderen handelt es sich bei dem Versammlungsrecht um ein Grundrecht, dass dem Grunde nach jederzeit und an jedem Ort verwirklicht werden kann, so dass an die Darlegung eines gewichtigen Grundrechtseingriffs keine besonderen Anforderungen zu stellen sind.
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Der Normenkontrollantrag ist im Übrigen unbegründet, weil das Veranstaltungs- und Versammlungsverbot des § 1 Abs. 1 BayIfSMV formell rechtmäßig war (1.) und auch in materieller Hinsicht nicht zu beanstanden ist (2.).
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1. § 1 Abs. 1 BayIfSMV wurde als unbewehrte Verordnung durch Veröffentlichung im Bayerischen Ministerialblatt am 27. März 2020 veröffentlicht (BayMBl. 2020 Nr. 158). Der Umstand, dass diese Regelung im Nachhinein durch Änderungsverordnung vom 31. März 2021 bußgeldbewehrt wurde (BayMBl. 2020 Nr. 162), führte nicht zur formellen Rechtswidrigkeit der materiellen Verbotsnorm, sondern – was hier aber nicht entscheidungserheblich ist – allenfalls dazu, dass die entsprechende Bußgeldregelung (§ 5 Nr. 1 1. BayIfSMV) nach Art. 51 Abs. 2 des Landesstraf- und Verordnungsgesetzes i.d.F. vom 18. Mai 2018 (LStVG a.F.) im Gesetz- und Verordnungsblatt veröffentlicht werden musste (vgl. dazu BayVGH, B.v. 4.10.2021 – 20 N 20.767 – juris Rn. 32 ff.), da nur diese und nicht der zu diesem Zeitpunkt bereits unbewehrt in Kraft getretener Grundtatbestand in der die Bewehrung begründender Änderungsverordnung enthalten war.
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2. § 1 Abs. 1 BayIfSMV war auch materiell rechtmäßig (vgl. bereits BayVGH, B. v. 7.3.2022 – 20 N 21.1926 – juris).
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a) § 32 Satz 1 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) vom 20. Juli 2000 (BGBl. 2000 I 1045) i. d. F. des Gesetzes zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona- Krise (Corona -Steuerhilfsgesetz) vom 19. Juni 2020 (BGBl. 2020 I 1385) ermächtigt die Landesregierungen, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen (u.a.) nach § 28 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG in der bei Erlass und während der Geltung der Verordnung zuletzt durch das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (BGBl. 2020 I 587) geänderten Fassung dieser Vorschrift trifft die zuständige Behörde, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG kann die zuständige Behörde unter den Voraussetzungen von Satz 1 Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen. Die Grundrechte der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1GG) werden insoweit eingeschränkt (§§ 28 Abs. 1 Satz 4, 32 Satz 3 IfSG).
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Die Untersagung von Veranstaltungen und Versammlungen, die dazu dienen sollte, die Verbreitung der COVID-19-Krankheit und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, konnte unabhängig von einem Krankheits- oder Ansteckungsverdacht eine notwendige Schutzmaßnahme i.S.v. § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sein (vgl. BVerwG, U. v. 22.11.2022 – 3 CN 1.21 – BVerwGE 177, 60).
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2. Die infektionsschutzrechtliche Generalklausel des § 32 Satz 1 IfSG i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG war beim Erlass von § 1 Abs. 1 BayIfSMV und während der Geltungsdauer der Regelungen eine verfassungsgemäße Grundlage für die Untersagung von Veranstaltungen und Versammlungen. Die Generalklausel genügte in der maßgeblichen Zeit sowohl den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots (Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG) als auch denen des Parlamentsvorbehalts als einer Ausformung des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips (BVerwG, U. v. 16.5.2023 – 3 CN 5.22 – NVwZ 2023,1846; U. v. 22.11.2022 – 3 CN 2.21 – juris). § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 IfSG i. d. F. vom 27. März 2020 war eine verfassungsgemäße Grundlage für das Verbot von Veranstaltungen und Versammlungen (BVerwG, U. v. 21.6.2023 – 3 CN 1.22 – BVerwGE 179, 168-186).
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Die Voraussetzungen, unter denen nach diesen Vorschriften Verbote zur Bekämpfung einer übertragbaren Krankheit erlassen werden können, lagen vor. Bei Erlass der Verordnung waren unstreitig – auch in Bayern – Kranke festgestellt worden. Regelungen zur Beschränkung von Kontakten und zur Beschränkung von Einrichtungen und Betrieben, die – wie hier – unabhängig von einem Krankheits- oder Ansteckungsverdacht in der betroffenen Einrichtung oder in dem jeweiligen Betrieb zur Verhinderung der Verbreitung einer übertragbaren Krankheit angeordnet werden, können notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne von § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG sein (vgl. BVerwG, U. v. 22.11.2022 – 3 CN 1.21 – NVwZ 2023, 1000 Rn. 21 ff.). Notwendige Schutzmaßnahmen in diesem Sinne müssen an dem Ziel ausgerichtet sein, die Verbreitung der Krankheit zu verhindern, und sie müssen verhältnismäßig sein, das heißt geeignet und erforderlich, den Zweck zu erreichen, sowie verhältnismäßig im engeren Sinne (vgl. BVerwG, U. v. 22.11.2022 – 3 CN 2.21 – NVwZ 2023, 1011 Rn. 12).
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3. Die Untersagung von Veranstaltungen und Versammlungen war verhältnismäßig und damit eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne von § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 IfSG.
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a) Der Verordnungsgeber verfolgte mit der Untersagung von Veranstaltungen und Versammlungen durch § 1 BayIfSMV ein Ziel, das mit dem Zweck der Verordnungsermächtigung im Einklang stand.
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aa) Der BayIfSMV vom 27. März 2020 lag die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Bundesländer angesichts der Corona-Epidemie in Deutschland vom 16. März 2020 (https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/archiv/vereinbarung-zwischen-der-bundesregierung- und-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-bundeslaender-angesichts-der-corona-epidemie-in-deutschland-1730934.pdf) und die Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder zum Coronavirus vom 22. März 2020 (https://www.bundesregierung.de/resource/blob/992798/1733226/d1abd72b7073991584d48db842f4b0f3/2020-03-22-streaming-merkel-bundeslaender-gebaerdensprache-ausschriftung-data.pdf?download=1) zugrunde. Dort wurde u.a. festgestellt, dass die Lage sehr ernst sei und sich das Coronavirus weiter mit besorgniserregender Geschwindigkeit in Deutschland ausbreite. Weil kein Impfstoff und keine Medikamente vorhanden gewesen seien, sei das öffentliche Leben so weit herunterzufahren, wie es vertretbar sei, die Begegnungen der Menschen, bei denen das Virus weitergegeben werden könnte, so weit zu reduzieren wie möglich. Dieses Ziel entsprach dem Zweck der Verordnungsermächtigung, übertragbare Krankheiten zu bekämpfen (§ 32 Satz 1 IfSG) und ihre Verbreitung zu verhindern (§ 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG).
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b) Die Annahme des Verordnungsgebers, dass dieses Ziel ohne die erlassenen Verbote und Einschränkungen gefährdet und die Gefahr wegen einer möglichen Überlastung des Gesundheitssystems dringlich war, hatte eine tragfähige tatsächliche Grundlage (vgl. zu diesem Erfordernis: BVerfG, B. v. 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 u. a. – BVerfGE 159, 223 Rn. 177; BVerwG, U. v. 22.11.2022 – 3 CN 1.21 – NVwZ 2023, 1000 Rn. 52).
33
Im Situationsbericht des Robert Koch-Instituts (RKI) vom 30. März 2020 (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-03-30-de.pdf? blob=publicationFile) heißt es:
34
„Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Bei einem Teil der Fälle sind die Krankheitsverläufe schwer, auch tödliche Krankheitsverläufe kommen vor. Die Zahl der Fälle in Deutschland steigt weiter an. Die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland wird derzeit insgesamt als hoch eingeschätzt, für Risikogruppen als sehr hoch. Die Wahrscheinlichkeit für schwere Krankheitsverläufe nimmt mit zunehmendem Alter und bestehenden Vorerkrankungen zu. Diese Gefährdung variiert von Region zu Region. Die Belastung des Gesundheitswesens hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen (Isolierung, Quarantäne, soziale Distanzierung) ab und kann örtlich sehr hoch sein.“
35
Weiter verdeutlicht die folgende Schlussfolgerung des RKI vom 20. März 2020 (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Modellierung_Deutschland.pdf? blob=publicationFile) die Bedrohlichkeit der Lage: „Von jetzt an und in den nächsten Wochen sind maximale Anstrengungen erforderlich, um die COVID-19-Epidemie in Deutschland zu verlangsamen, abzuflachen und letztlich die Zahl der Hospitalisierungen, intensivpflichtigen Patienten und Todesfälle zu minimieren.“
36
Soweit der Antragsteller einwendet, dass die Fallzahlen des RKI zum Nachweis der vom Gesetz erforderlichen Neufinfektionen nicht geeignet gewesen seien, so greift dieser Einwand nicht durch. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bestehen keine Zweifel, dass die in Deutschland durchgeführten PCR-Tests, deren Ergebnisse in die Einschätzungen des RKI s zur Gefahrenlage und zur Wirksamkeit der Impfstoffe einfließen, geeignet sind, verlässliche Indikatoren für Infektionen mit SARS-CoV-2 zu liefern. Es leuchtet nämlich ein, dass der Nachweis einer erheblichen Konzentration an für SARS-CoV-2 typischen Nukleotidsequenzen ein Indikator für die Wirksamkeit des Virus in einem Organismus ist. Sie bilden – wie vom RKI angenommen – den „Goldstandard für den Nachweis von SARS-CoV-2“ (BVerwG, B. v. 7.7.2022 – 1 WB 2.22 – BVerwGE 176, 138 Rn 153). Der Umstand, dass ein positiver PCR-Test nicht notwendigerweise bedeutete, dass ein Patient im Zeitpunkt der Testung (noch) infektiös, also ansteckend, war, ändert nichts daran, dass die seinerzeit täglich in sehr großer Zahl durchgeführten PCR-Tests Rückschlüsse darauf zuließen, wie weit sich das Virus ausgebreitet hatte und in welchem Umfang weitere Infektionen drohten (OVG NRW, U. v. 24.9.2024 – 13 D 236/20.NE – BeckRS 2024, 29552).
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Dass das RKI eine selbstständige Bundesoberbehörde im Sinne des Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG ist und damit gegenüber der Bundesregierung bzw. dem Gesundheitsminister weisungsgebunden, ändert an dieser Beurteilung nichts. Zunächst einmal durfte sich der Antragsgegner auf die damaligen offiziellen Stellungnahmen des RKI stützen, da dieses durch die Entscheidung des Gesetzgebers dazu berufen war, die Erkenntnisse zu einer übertragbaren Krankheit durch Erhebung, Auswertung und Veröffentlichung der Daten zum Infektionsgeschehen in Deutschland und durch die Auswertung verfügbarer Studien aus aller Welt fortlaufend zu aktualisieren, und Anhaltspunkte dafür, dass es diese Aufgabe nicht erfüllte, fehlten (VGH BW, U. v. 11.4.2024 – 1 S 278/23 – BeckRS 2024, 12539 Rn 125). Das RKI ist gemäß § 4 IfSG die nationale Behörde zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten sowie zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen (Absatz 1 Satz 1). Es arbeitet u. a. mit wissenschaftlichen Einrichtungen und Fachgesellschaften, mit ausländischen Stellen und internationalen Organisationen sowie mit der Weltgesundheitsorganisation zusammen (Absatz 1 Satz 3, Absatz 3 Satz 1). Zu seinen Aufgaben gehört die Erstellung von Empfehlungen und sonstigen Informationen zur Vorbeugung, Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung übertragbarer Krankheiten (Absatz 2 Nr. 1). Es wertet die Daten zu meldepflichtigen Krankheiten und Nachweisen von Krankheitserregern infektionsepidemiologisch aus (Absatz 2 Nr. 2) und stellt die Ergebnisse der Auswertungen u. a. den obersten Landesgesundheitsbehörden und den Gesundheitsämtern zur Verfügung (Absatz 2 Nr. 3 Buchst. c und d). Das RKI ist eine infektionsepidemiologische Leit- und Koordinierungsstelle (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften <Seuchenrechtsneuordnungsgesetz – SeuchRNeuG>, BT-Drs. 14/2530 S. 45). Durch seine Aufgabe, die Erkenntnisse zu einer übertragbaren Krankheit durch Erhebung, Auswertung und Veröffentlichung der Daten zum Infektionsgeschehen in Deutschland und durch die Auswertung verfügbarer Studien aus aller Welt fortlaufend zu aktualisieren, verfügt es über eine besondere fachliche Expertise bei der Risikoeinschätzung und -bewertung einer übertragbaren Krankheit (BVerwG, U. v. 22.11.2022 – 3 CN 1.21 – juris Rn 56).
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Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Vorschriften kommt es allein darauf an, ob der Verordnungsgeber im fraglichen Zeitraum ihrer Geltung die von ihm bejahte Gefahrenlage aufgrund der damaligen offiziellen Stellungnahmen des RKI i.S.v. § 4 Abs. 2 Nr. 1 IfSG annehmen konnte. Eine nachträgliche abweichende Einschätzung anderer Sachverständiger oder die Berufung auf spätere Studien kann hieran nichts ändern. Denn – wie stets im Recht der Gefahrenabwehr (vgl. nur Graulich, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl., E Rn. 126 ff.; BVerwG, Beschluss vom 06.03.2008 – 7 B 13.08 – juris Rn. 9) – die ex ante rechtmäßig prognostizierte Gefahr entfällt selbst dann nicht, wenn ex post festgestellt wird, dass zum damaligen Zeitpunkt keine Gefahrenlage bestand. Für die Beurteilung der Gefahrenlage stellt folglich das materielle Recht, hier das Infektionsschutzrecht auf die zum damaligen Zeitpunkt vorhandenen und dem Verordnungsgeber verfügbaren Informationen und Erkenntnismöglichkeiten ab (BVerwG, U. v. 22.11.2022 – 3 CN 1.21 – juris Rn. 57; BVerfG, B. v. 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 u.a. – juris Rn. 171, 185, 204). Dabei durfte sich der Antragsgegner – wie dargelegt – auf die damaligen offiziellen Stellungnahmen des RKI stützen, da dieses durch die Entscheidung des Gesetzgebers dazu berufen war, die Erkenntnisse zu einer übertragbaren Krankheit durch Erhebung, Auswertung und Veröffentlichung der Daten zum Infektionsgeschehen in Deutschland und durch die Auswertung verfügbarer Studien aus aller Welt fortlaufend zu aktualisieren, und Anhaltspunkte dafür, dass es diese Aufgabe nicht erfüllte, fehlten (VGH Mannheim, U. v. 11.04.2024 – 1 S 278/23 – BeckRS 2024, 12539). Soweit der Antragsteller in diesem Zusammenhang bemängelt, dass der Antragsgegner es unterlassen habe, seine Entscheidungsfindung hinreichend aktenmäßig zu dokumentieren, muss darauf hingewiesen werden, dass zum damaligen Zeitpunkt keine Begründungspflicht für Verordnungen nach § 32 IfSG existierte und nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht auch der prozessuale Vortrag des Verordnungsgebers einzubeziehen ist, der seine Beweggründe und Einschätzungen wiedergibt (vgl. nur BVerwG, U. v. 18.4.2024 – 3 CN 8.22 – juris). Deshalb musste auch der Beweisanregung des Antragstellers, die damaligen Kabinettsmitglieder der Bayerischen Staatsregierung hierzu zu befragen, nicht nachgegangen werden.
39
Im Übrigen weist das RKI zu Recht darauf hin, dass während der COVID-19-Pandemie im Zuge des RKIinternen Lage- bzw. Krisenmanagements Besprechungen durchgeführt worden seien, in denen die Lage bewertet und RKI-Aktivitäten koordiniert wurden. Zu diesen Treffen seien Protokolle angefertigt worden. Als interne Arbeitsdokumente hätten sie dazu gedient, den Informationsfluss und die Abstimmung innerhalb des RKI sicherzustellen. Die Protokolle spiegelten den offenen wissenschaftlichen Diskurs wider, in dem verschiedene Perspektiven angesprochen und abgewogen würden. Die Bewertungen reflektierten den Stand des Wissens und auch der öffentlichen Debatte im Krisenstab zum jeweiligen Zeitpunkt. Einzelne Äußerungen im Rahmen solcher Diskussionen stellten nicht zwangsläufig eine abschließende wissenschaftliche Bewertung oder die abgestimmte Position des RKI dar. Die Krisenstabs-Protokolle seien daher nicht zu verwechseln mit offiziellen Veröffentlichungen oder Empfehlungen (https://www.rki.de/SharedDocs/FAQs/DE/COVID-19-Pandemie/Protokolle/FAQ-Liste-Krisenstab.html#entry_16925118; https://www.rki.de/SharedDocs/FAQs/DE/COVID-19-Pandemie/Protokolle/FAQ-Liste-Krisenstab.html#entry_16925130). Die beantragte Beiziehung der Protokolle zu den Gerichtsakten war nicht notwendig, weil diese mittlerweile öffentlich zugänglich sind.
40
c) Der Antragsgegner hat das in § 1 Abs. 1 BayIfSMV festgelegte Veranstaltungs- und Versammlungsverbot als geeignet ansehen dürfen, um das mit der Verordnung verfolgte Ziel zu erreichen.
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aa) Für die Eignung reicht es aus, wenn die Verordnungsregelung den verfolgten Zweck fördern kann. Bereits die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt (stRspr, vgl. BVerfG, B. v. 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 u. a. – BVerfGE 159, 223 Rn. 185; BVerwG, U. v. 22.11.2022 – 3 CN 1.21 – NVwZ 2023, 1000 Rn. 59, jeweils m. w. N.).
42
bb) Ausgehend von der Beurteilung des RKI zur Übertragbarkeit des Virus war das Veranstaltungs- und Versammlungsverbot geeignet, physische Kontakte zwischen Menschen zu reduzieren, um weitere Infektionen mit dem hochansteckenden Virus SARS-CoV-2 einzudämmen und damit den Erhalt der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens und insbesondere der Krankenhäuser zur Behandlung schwer- und schwerstkranker Menschen sicherzustellen. Dies gilt im Übrigen allgemein für Maßnahmen, um Ansammlungen zu verhindern (§ 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG) und damit auch allgemein die Mobilität innerhalb der Bevölkerung zu reduzieren. Durch das Veranstaltungs- und Versammlungsverbot kommt es zur Kontaktreduzierung im öffentlichen und privaten Raum.
43
d) Das durch § 1 Abs. 1 BayIfSMV festgelegte Veranstaltungs- und Versammlungsverbot war eine zur Zweckerreichung erforderliche Maßnahmen.
44
aa) An der Erforderlichkeit einer Maßnahme fehlt es, wenn dem Verordnungsgeber eine andere, gleich wirksame Maßnahme zur Erreichung des verfolgten Zwecks zur Verfügung steht, die weniger in die Grundrechte der Betroffenen eingreift und Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastet. Die sachliche Gleichwertigkeit der alternativen Maßnahme zur Zweckerreichung muss dafür in jeder Hinsicht eindeutig feststehen (stRspr, vgl. BVerfG, B. v. 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 u. a. – BVerfGE 159, 223 Rn. 203 m. w. N.; BVerwG, U. v. 22.11.2022 – 3 CN 1.21 – NVwZ 2023, 1000 Rn. 63).
45
Bei der Beurteilung der Erforderlichkeit hatte der Verordnungsgeber angesichts der auch im hier maßgeblichen Zeitraum noch fehlenden Erfahrungen mit dem SARS-CoV-2-Virus und den Wirkungen von Schutzmaßnahmen einen tatsächlichen Einschätzungsspielraum, der sich darauf bezog, die Wirkung der von ihm gewählten Maßnahmen im Vergleich zu anderen, weniger belastenden Maßnahmen zu prognostizieren (vgl. BVerfG, U. v. 16.5.2023 – 3 CN 6.22 – Rn. 65; B. v. 19.11.2021 – 1 BvR 781.21 u. a. – BVerfGE 159, 223 Rn. 204). Ein solcher Spielraum hat jedoch Grenzen. Die Einschätzung des Verordnungsgebers muss auf ausreichend tragfähigen Grundlagen beruhen. Das Ergebnis der Prognose muss einleuchtend begründet und damit plausibel sein (vgl. BVerwG, U. v. 22.11.2022 – 3 CN 1.21 – NVwZ 2023, 1000 Rn. 64). Das unterliegt der gerichtlichen Überprüfung (vgl. BVerwG, U. v. 22.11.2022 – 3 CN 2.21 – NVwZ 2023, 1011 Rn. 17 ff.).
46
Im vorliegenden Fall kamen als mildere Maßnahmen Ansammlungs- bzw. Versammlungsbeschränkungen in Betracht, wie z.B. Abstandsgebote, Hygieneregeln sowie personelle, zeitliche und örtliche Beschränkungen (so etwa Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2. Auflage 2021, V.3. unter Hinweis auf VG Hamburg, B. v. 16.4.2020 – 17 E 1648/20 – BeckRS 2020, 9930, Rn. 13 ff). Dabei ist jedoch zu beachten, dass es gerade in dieser Phase der Pandemie laut Schlussfolgerung des RKI vom 20. März 2020 (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Modellierung_Deutschland.pdf? blob=publicationFile) von jetzt an und in den nächsten Wochen „maximale Anstrengungen“ erforderlich waren, um die COVID-19-Epidemie in Deutschland zu verlangsamen, abzuflachen und letztlich die Zahl der Hospitalisierungen, intensivpflichtigen Patienten und Todesfälle zu minimieren. Stehen dem Verordnungsgeber bei der Bekämpfung einer pandemischen Infektionslage abgestufte, unmittelbar wirkende Bekämpfungsmaßnahmen zur Verfügung, so ist er nicht verpflichtet, bei der Bekämpfung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit und den Unsicherheiten über den Erfolgseintritt der möglichen Bekämpfungsmaßnahmen, im Zweifel die den Einzelnen weniger belastende Maßnahme auszuwählen. Dies liegt innerhalb des Spielraumes des Verordnungsgebers. Dies gilt im hier zu entscheidenden Fall vor allem auch deshalb, weil der Gesetzgeber in § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG die Beschränkung und das Verbot von Ansammlungen ausdrücklich als Bekämpfungsmaßnahme aufgeführt hat. Deshalb war aus der Sicht im Zeitraum des Erlasses und der Geltungsdauer der streitgegenständlichen Norm die Reduktion der Anzahl der Versammlungen durch ein repressives Verbot mit Ausnahmemöglichkeit voraussichtlich besser geeignet als Versammlungsbeschränkungen oder ein bloßer Erlaubnisvorbehalt, um die Anzahl und das Ausmaß von Versammlungen und damit Ansammlungen i.S.d. § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG zu reduzieren und so die Verbreitung des Coronavirus besser zu hemmen. Letztlich ist entscheidend, dass das Ziel, durch eine erhebliche Reduzierung der Kontakte in der Bevölkerung insgesamt das Infektionsgeschehen aufzuhalten und eine Überforderung des Gesundheitssystems zu verhindern, ohne breit angelegte Infektionsschutzmaßnahmen jedenfalls aus damaliger Sicht nicht zu erreichen gewesen war (vgl. zur Erforderlichkeit von Versammlungsverboten: BVerwG, U. v. 21.6.2023 – 3 CN 1.22 – juris Rn 38ff).
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d) Das in § 1 Abs. 1 BayIfSMV angeordnete Veranstaltungs- und Versammlungsverbot war angemessen und damit verhältnismäßig im engeren Sinne.
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aa) Die Angemessenheit und damit die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne erfordern, dass der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen (stRspr, vgl. BVerfG, B. v. 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 u. a. – BVerfGE 159, 223 Rn. 216 m. w. N.). In einer Abwägung sind Reichweite und Gewicht des Eingriffs in Grundrechte einerseits und die Bedeutung der Maßnahme für die Zweckerreichung andererseits gegenüberzustellen. Angemessen ist eine Maßnahme dann, wenn bei der Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt wird. Dabei ist ein angemessener Ausgleich zwischen dem Gewicht des Eingriffs und dem verfolgten Ziel sowie der zu erwartenden Zielerreichung herzustellen (stRspr, vgl. BVerwG, U. v. 22.11.2022 – 3 CN 1.21 – NVwZ 2023, 1000 Rn. 75 m. w. N.).
49
bb) Die Untersagung aller Versammlungen durch § 1 Abs. 1 BayIfSMV war ein äußerst schwerer Eingriff in die Versammlungsfreiheit. Art. 8 Abs. 1 GG schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammen zu kommen. Als Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugutekommt, gewährleistet Art. 8 GG den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung. Schon in diesem Sinne gebührt dem Grundrecht in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang; das Recht, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln, galt seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewussten Bürgers (vgl. BVerfG, B. v, 14.5.1985 – 1 BvR 233/81 u. a. – BVerfGE 69, 315 <343>). Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend (vgl. BVerfG, B. v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81 u. a. – BVerfGE 69, 315 <344>; U. v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06 – BVerfGE 128, 226 <250>). Das gilt auch in der Situation einer Pandemie. Die Beschränkungen der Versammlungsfreiheit waren zwar nicht darauf gerichtet, die kollektive Meinungskundgabe einer inhaltlichen Beschränkung zu unterwerfen. Physische Kontakte wurden in anderen Lebensbereichen durch die Verordnung ebenfalls beschränkt. Gleichwohl wurde die kollektive Meinungskundgabe behindert, was bei Versammlungen unter freiem Himmel besonders schwer wog. Die Sichtbarkeit von Versammlungen unter freiem Himmel – und damit ihre Wirksamkeit für die Meinungsbildung – konnte durch andere Formen der Kommunikation nur zum Teil ersetzt werden. Das Gewicht des Grundrechtseingriffs wurde dadurch erhöht, dass Versammlungen in Bayern bereits seit dem 16. März 2020 untersagt worden waren, zunächst aufgrund der Nr. 1 der Allgemeinverfügung vom 16. März 2020 (Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege und des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales vom 16.03.2020, Az. 51-G8000-2020/122-67), dann durch die Ausgangsbeschränkung in § 1 Abs. 1 BayIfSMV vom 27. März 2020,
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Auf der anderen Seite enthielt § 1 Abs. 1 1. BayIfSMV seinem Wortlaut ein repressives Verbot mit Befreiungsmöglichkeit, was den Eingriff in die Versammlungsfreiheit abmilderte. Der Verordnungsgeber ging bei seiner Regelung davon aus, dass bei der Einschätzung der damaligen Infektionsgefahr durch Sars-CoV-2 Ansammlungen i.S.d. § 28 Abs. 1 Satz 2 lfSG, also auch Versammlungen, grundsätzlich aus infektionsschutzrechtlicher Sicht nicht vertretbar waren. Lediglich soweit dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar war, konnten durch die zuständigen Kreisverwaltungsbehörden Ausnahmegenehmigungen erteilt werden (§ 1 Abs. 1 Satz 3 1. BayIfSMV). Bei der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung war dabei zunächst die Grundentscheidung des Verordnungsgebers für ein grundsätzliches Verbot von Versammlungen zu berücksichtigen. Auf der anderen Seite musste die Kreisverwaltungsbehörde bei der Entscheidung über Ausnahmeanträge die besondere Bedeutung der Versammlungsfreiheit würdigen und im Einzelfall entscheiden, ob die Versammlung infektionsschutzrechtlich vertretbar war. Dabei kam es auf solche Umstände, wie Teilnehmerzahl, Ort und Zeit der Veranstaltung sowie auf die Frage an, ob durch Auflagen das Infektionsrisiko auf ein vertretbares Maß herabgesenkt werden konnte. So hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 9. April 2020 (Az.: 20 CE 20.755 – BeckRS 2020, 6313 Rn. 6 ff.) die Auffassung vertreten, dass dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht ausreichend Rechnung getragen wird, wenn zur Begründung der Versagung der Ausnahmegenehmigung nicht auf ein (infektionsschutzrechtlich bedenkliches) Verhalten der Versammlungsteilnehmer, sondern ausschließlich auf das Verhalten Dritter und auf infektionsschutzrechtliche Gefahren abgestellt wird, die sich aus verbotenen Verhaltensweisen ergeben können. War im Einzelfall aufgrund der Angaben des Versammlungsleiters zur Teilnehmerzahl, zur Art und Weise der Versammlung (statische Versammlung – kein Umzug, Einhaltung der Hygienemaßgaben) sowie der örtlichen Verhältnisse am Versammlungsort davon auszugehen, dass Infektionsgefahren beispielsweise durch Abstandsregelungen, Umzäunung und Kenntlichmachung des Versammlungsgeländes und/oder die Begleitung durch Polizei begegnet werden konnte, hatte die zuständige Behörde nach pflichtgemäßem Ermessen die Erteilung des Genehmigungsbescheides unter Auflagen zu prüfen. Bei der erforderlichen Prüfung, ob für Versammlungen i.S.v. Art. 8 Abs. 1 GG Ausnahmegenehmigungen erteilt werden konnten, musste die Behörde auch eigene Überlegungen zur Minimierung von Infektionsrisiken anstellen (hierzu und zum Folgenden BVerfG, B.v. 17.4.2020 – 1 BvQ 37/20 – juris Rn. 25). Vor dem Erlass einer Beschränkung der Versammlungsfreiheit musste sich die zuständige Behörde zunächst um eine kooperative, einvernehmliche Lösung mit dem Versammlungsveranstalter bemühen. War die Durchführung der Versammlung bei Beachtung erforderlicher Auflagen vertretbar, hatte die zuständige Behörde kein Versagungsermessen mehr, vielmehr bestand in diesem Fall ein Anspruch auf eine entsprechende Ausnahmegenehmigung (zum wortgleichen § 1 Abs. 1 Satz 3 2. BayIfSMV: BayVGH, B.v. 30.4.2020 – 10 CS 20.999 – juris). Obwohl der Antragsgegner nicht geregelt hatte, unter welchen Voraussetzungen Versammlungen infektiologisch vertretbar sein könnten, und selbst für infektiologisch vertretbare Versammlungen die Erteilung der Genehmigung in das Ermessen der Behörde gestanden hatte, konnten durch die oben dargelegte Rechtsprechung des Senats Versammlungen in Bayern durchgeführt werden (vgl. BayVGH erlaubt Mini-Demo, mit Auflagen zurück in die Versammlungsfreiheit? https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/vgh-bayern-20CE20755-versammlungsfreiheit-auflagen-totalverbot-corona-verordnung-bverfg-eilrechtsschutz).
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cc) Den durch die Untersagung von Versammlungen und Ansammlungen bewirkten, gewichtigen Grundrechtseingriffen standen Gemeinwohlbelange von überragender Bedeutung gegenüber. Ziel der Verordnung war es, die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus und der dadurch verursachten bedrohlichen COVID-19-Erkrankung (vgl. § 2 Nr. 3a IfSG) zu verlangsamen und damit die Bevölkerung vor Lebens- und Gesundheitsgefahren zu schützen. Die Rechtsgüter Leben und Gesundheit haben eine überragende Bedeutung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; stRspr, vgl. BVerfG, B. v. 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 u. a. – BVerfGE 159, 223 Rn. 231 m. w. N.; BVerwG, U. v. 22.11.2022 – 3 CN 2.21 – NVwZ 2023, 1011 Rn. 32). Der Verordnungsgeber durfte bei Erlass des generellen Versammlungsverbots davon ausgehen, dass dringlicher Handlungsbedarf bestand. Das RKI schätzte die Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland als hoch ein. In die Prüfung der Angemessenheit ist über die Bedeutung des verfolgten Zwecks hinaus einzustellen, in welchem Maße er durch die in Rede stehende Maßnahme gefördert wird. Es war hier auch nicht zwingend möglich, Versammlungen unter Beachtung der auch für andere Veranstaltungen geltenden Sicherheitsauflagen und allgemeinen Hygieneauflagen gefahrmindernd durchzuführen, zum anderen ergebe sich ein kaum kontrollierbarer Bereich von möglichen Ansammlungen bei ankommendem und abfahrendem Verkehr, also beim Betreten und Verlassen des Versammlungsbereichs. Danach durfte der Verordnungsgeber zugrunde legen, dass die Maßnahme einen qualitativ und quantitativ erheblichen Beitrag zur Erreichung des Ziels leisten konnte, physische Kontakte zu reduzieren und dadurch die Verbreitung von COVID-19 zu verhindern.
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Der Antragsgegner bewertete die Gefahr im Gegensatz zu dem sächsischen Verordnungsgeber in dem Fall, der dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2023, Az. 3 CN 1.22, zugrunde liegt, als deutlich schwerer. Der Freistaat Bayern habe sich in dem streitgegenständlichen Zeitraum in einer kritischeren Phase der Pandemie mit ansteigenden Infektionszahlen befunden. Wie bereits oben dargestellt lag der BayIfSMV vom 27. März 2020 die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Bundesländer angesichts der Corona-Epidemie in Deutschland und die Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder zum Coronavirus vom 22. März 2020 zugrunde. Dort wurde u.a. festgestellt, dass die Lage sehr ernst sei und sich das Coronavirus weiter mit besorgniserregender Geschwindigkeit in Deutschland ausbreite. Weil kein Impfstoff und keine Medikamente vorhanden gewesen seien, sei das öffentliche Leben so weit herunterzufahren, wie es vertretbar sei, die Begegnungen der Menschen, bei denen das Virus weitergegeben werden könnte, so weit zu reduzieren wie möglich. Noch am 1. April 2020 beschlossen die damalige Bundeskanzlerin und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder, dass die Dynamik der Verbreitung des Coronavirus (SARS-CoV-2) in Deutschland noch immer zu hoch sei. Es müsste daher weiterhin alles dafür getan werden, die Geschwindigkeit des Infektionsgeschehens zu vermindern und das Gesundheitssystem leistungsfähig zu halten. Eine entscheidende Rolle komme dabei weiterhin der Reduzierung von Kontakten zu. Mit Blick auf das bevorstehende Osterfest und die in den Ländern anstehenden Osterferien betonten Bund und Länder: Bürgerinnen und Bürger bleiben angehalten, auch während der Osterfeiertage Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstandes gemäß den geltenden Regeln auf ein absolutes Minimum zu reduzieren (https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/archiv/telefonschaltkonferenz-der-bundeskanzlerin-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-am-1-april-2020-1738534). Erst bei der Telefonschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 15. April 2020 konnte festgestellt werden, dass die Infektionsgeschwindigkeit in Deutschland abgenommen habe. In kleinen Schritten sollte daran gearbeitet werden, das öffentliche Leben wieder zu beginnen, den Bürgerinnen und Bürgern wieder mehr Freizügigkeit zu ermöglichen und die gestörten Wertschöpfungsketten wiederherzustellen (https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/archiv/telefonschaltkonferenz-der-bundeskanzlerin-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-am-15-april-2020-1744228). Ab diesem Zeitpunkt konnte von einer Neubewertung der Pandemielage durch die verantwortlichen Entscheidungsträger ausgegangen werden, der eine Neubewertung der Maßnahmen darstellte. Dem wurde in Bayern durch Erlass der 2. BayIfSMV zum 20. April 2020 formell Rechnung getragen. Ob diese Neubewertung rechtmäßig umgesetzt wurde, ist jedoch nicht Streitgegenstand dieses Rechtsstreits.
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Neben der dramatischen Lageeinschätzung des Verordnungsgebers im streitgegenständlichen Zeitraum muss vergegenwärtigt werden, dass auf der Grundlage des damaligen wissenschaftlichen Kenntnisstandes keineswegs geklärt war, auf welche Weise und mit welcher Wahrscheinlichkeit sich der Coronavirus ausbreitet und zukünftig ausbreiten wird (vgl. Mitteilungen des Arbeitskreises Blut des Bundesministeriums für Gesundheit S. 2, https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/AK_Blut/Stellungnahmen/download/COVID.pdf? blob=publicationFile). Relativ bald wurde jedoch von einer hohen Infektiosität des Virus ausgegangen (COVID-19: Jetzt handeln, vorausschauend planen Strategie-Ergänzung zu empfohlenen Infektionsschutzmaßnahmen und Ziel vom 19. März 2020 S. 1, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/12_20.pdf? blob=publicationFile). Schließlich muss in die Betrachtung das hohe Infektionspotenzial von Versammlungen als Menschenansammlungen einfließen. Hinzu kommt, dass im Geltungszeitraum der streitgegenständlichen Regelung eine erhebliche Knappheit an Mund-Nase-Bedeckungen, mithilfe derer sich das Gefährdungspotential von Versammlungen hätte verringern lassen, herrschte. Diese sollten vorrangig für das medizinische und pflegerische Personal bereitgestellt werden (vgl. hierzu Ergänzung zum Nationalen Pandemieplan – COVID-19 – neuartige Coronaviruserkrankung S. 24/25, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Ergaenzung_Pandemieplan_Covid.pdf? blob=publicationFile;). Mund-Nasen-Schutz und FFP2-/FFP3-Masken waren auch später ein essenzieller Bestandteil einer sicheren Arbeitssituation in Krankenhäusern und bei der Pflege von Erkrankten und hilfsbedürftigen Menschen und mussten prioritär in diesen Bereichen eingesetzt werden (https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/19_20.pdf? blob=publicationFile).
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Aus den gleichen Gründen stellt sich das Verbot von Veranstaltungen, welches im Falle des Antragstellers den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG berührte, als verhältnismäßige Berufsausübungsregelung dar (vgl. hierzu allgemein: BVerwG, U. v. 16.5.2023 – 3 CN 4.22 – juris).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes ergibt sich aus § 52 Abs. 2 GKG.
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4. Die Revision wird nicht zugelassen.