Inhalt

VGH München, Beschluss v. 06.03.2025 – 12 C 24.292
Titel:

Ausbildungsförderung für Besuch der Berufsoberschule, Ausbildungsabbruch, Ausbildungsunterbrechung, Wichtiger Grund

Normenkette:
BAföG § 7
Schlagworte:
Ausbildungsförderung für Besuch der Berufsoberschule, Ausbildungsabbruch, Ausbildungsunterbrechung, Wichtiger Grund
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 02.02.2024 – Au 3 K 22.2291
Fundstelle:
BeckRS 2025, 5853

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 2. Februar 2024 wird aufgehoben.
II. Der Klägerin wird für das Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht Augsburg Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt … beigeordnet.

Gründe

I.
1
Die Klägerin beansprucht mit ihrer Klage die Bewilligung von Ausbildungsförderungsleistungen für den Besuch der 12. Jahrgangsstufe der BOS N. im Zeitraum September 2021 bis Juli 2022 (Schuljahr 2021/2022). Das Verwaltungsgericht hat ihr hierfür mit dem angefochtenen Beschluss die Gewähr von Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung wegen mangelnder Erfolgsaussichten der Klage versagt. Der Bewilligung von Ausbildungsförderung stehe der Abbruch der Ausbildung im Februar 2020 ohne hinreichend substantiierte Geltendmachung eines wichtigen Grundes im Sinne von § 7 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BAföG entgegen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde. Demgegenüber verteidigt der Beklagte den streitbefangenen Beschluss.
II.
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Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts kommen der Klage auf Bewilligung von Ausbildungsförderungsleistungen für den Besuch der BOS N. im Schuljahr 2021/2022 hinreichende Erfolgsaussichten im Sinne von § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 ZPO zu.
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1. Für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe genügt bereits eine gewisse, nicht notwendig überwiegende Wahrscheinlichkeit des Erfolgs der beabsichtigten Klage (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2022, § 166 Rn. 8 m.w.N.). Denn das Recht auf effektiven und gleichen Rechtsschutz, das für die öffentlich-rechtliche Gerichtsbarkeit aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG abgeleitet wird, gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. hierzu und zum Folgenden BVerfG, B. v. 12.5.2020 – 2 BvR 2151/177 – BeckRS 2020, 11557 Rn. 17 ff. jeweils mit weiteren Nachweisen). Es ist dabei zwar verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg besitzt und nicht mutwillig erscheint. Bei der Auslegung und Anwendung von § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO gilt es hingegen, den verfassungsgebotenen Zweck der Prozesskostenhilfe dergestalt zu berücksichtigen, dass die Anforderungen an das Vorliegen von Erfolgsaussichten der Klage nicht überspannt werden dürfen. Denn deren Prüfung soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Aus dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit folgt eine Auslegung von § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO dahingehend, dass ein Rechtsschutzbegehren schon dann hinreichende Erfolgsaussichten besitzen kann, wenn die Entscheidung von der Beantwortung einer schwierigen und noch nicht geklärten oder von einer in hohem Maße streitigen Rechtsfrage abhängt. Demgegenüber ist Prozesskostenhilfe nicht bereits dann zu gewähren, wenn die entscheidungserhebliche Frage zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als „schwierig“ erscheint. Ein Gericht, das § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO so auslegt, dass auch schwierige und noch nicht geklärte oder hoch streitige Rechtsfragen im Prozesskostenhilfeverfahren „durchentschieden“ werden können, verkennt die Bedeutung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechtsschutzgleichheit. Denn dadurch würde dem unbemittelten Beteiligten im Gegensatz zu dem bemittelten die Möglichkeit genommen, seinen Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren mit den dort zur Verfügung stehenden prozessualen Mitteln darzustellen und von dort aus – soweit statthaft – in die höhere Instanz zu bringen. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist daher stets dann geboten, wenn der vom jeweiligen Kläger eingenommene Standpunkt zumindest vertretbar erscheint und in tatsächlicher Hinsicht die Möglichkeit einer Beweisführung offensteht (so auch Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 166 Rn. 26). Ungeachtet dessen entspricht es der ständigen Praxis des Senats, Prozesskostenhilfe grundsätzlich auch dann zu bewilligen, wenn im jeweiligen Verfahren eine weitere Sachaufklärung oder gar eine Beweiserhebung in Betracht kommt (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2024 – 12 C 24.1578 – BeckRS 2024, 30428 Rn. 17 m.w.N.)
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2. Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs kommen der Klage auf Leistung von Ausbildungsförderung für das Schuljahr 2021/2022 nach summarischer Prüfung im Beschwerdeverfahren hinreichende Erfolgsaussichten zu.
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2.1 Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts spricht bereits Vieles dafür, dass es sich bei dem „Austritt“ der Klägerin aus der BOS in A. am 14. Februar 2020 ausbildungsförderungsrechtlich nicht um einen Ausbildungsabbruch im Sinne von § 7 Abs. 3 Satz 2 BAföG, sondern vielmehr – wie die Klägerin geltend macht – um eine Ausbildungsunterbrechung handelt mit der Folge, dass ihr für die im Schuljahr 2021/2022 fortgeführte Ausbildung an der BOS N. Ausbildungsförderung zu gewähren ist.
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Nach § 7 Abs. 3 Satz 2 BAföG bricht ein Auszubildender eine Ausbildung dann ab, wenn er den Besuch von Ausbildungsstätten einer Ausbildungsstättenart einschließlich der im Zusammenhang hiermit geforderten Praktika endgültig aufgibt. Dies ist wiederum dann der Fall, wenn erkennbar wird, dass die auszubildende Person die Ausbildung an einer Ausbildungsstätte derselben Ausbildungsstättenart nicht mehr fortführen will (vgl. Winkler in BeckOK SozR, Stand 1.12.2024, § 7 BAföG Rn 43). Demgegenüber liegt lediglich eine Unterbrechung der Ausbildung vor, wenn die auszubildende Person die Ausbildung vorübergehend nicht mehr betreibt, sie aber zu einem späteren Zeitpunkt weiterverfolgen will. Ob im konkreten Fall ein Ausbildungsabbruch oder eine Ausbildungsunterbrechung vorliegt, beurteilt sich nach der Vorstellung, die der Auszubildende bei Ausführung seines Entschlusses gehabt hat (Buter in Rothe/Blanke, BAföG Stand November 2022 § 7 Rn. 45.2 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung). Als maßgeblich erweist sich die nach außen erkennbare Intention der auszubildenden Person (Winkler in BeckOK SozR Stand 1.12.2024, § 7 BAföG Rn. 43a).
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Während sich die Differenzierung zwischen Ausbildungsunterbrechung und Ausbildungsabbruch im Rahmen einer Hochschulausbildung formal an der Unterscheidung zwischen Beurlaubung und Exmatrikulation nachvollziehen lässt, fehlt es beim Besuch allgemeinbildender Schulen wie der Berufsoberschule an der Möglichkeit einer „Beurlaubung“, durch die deutlich gemacht wird, dass der Auszubildende nach einer Unterbrechung der Ausbildung, beispielsweise wegen einer längerdauernden Erkrankung, die Ausbildung fortführen möchte. Insoweit weist der Bevollmächtigte der Klägerin zutreffend darauf hin, dass die Erklärung des „Austritts“ der Klägerin aus der BOS A. aufgrund fehlender „formaler“ Möglichkeiten einer Beurlaubung im konkreten Fall nicht als endgültiger Abbruch der Ausbildung, sondern vielmehr als deren Unterbrechung zu verstehen sei (vgl. hierzu auch Buter in Rothe/Blanke, BAföG Stand November 2022 § 7 Rn. 45.2, wonach selbst bei einer Exmatrikulation nach den Umständen des Einzelfalls und dem Erklärungsverhalten des Auszubildenden lediglich von einer Unterbrechung der Ausbildung auszugehen sein kann). Diesbezüglich trägt die Klägerin selbst vor, sie habe bei einem Telefonat mit der BOS im Februar 2020 ausdrücklich erklärt, dass sie die Ausbildung zu einem späteren Zeitpunkt weiterführen möchte. Zwar findet sich diese Aussage nicht explizit in dem über das Telefonat angelegten Aktenvermerk. Dessen Formulierung („Laut Anruf von Frau T. hat sie die Ausbildung zum Halbjahr abgebrochen. Den letzten Schultag kann sie nicht genau sagen. Es wurde vereinbart, dass sie uns dies per E-Mail schriftlich zukommen lassen soll.“) lässt gleichwohl Raum für die aus Sicht des Senats plausible Annahme, der „Austritt“ aus der BOS in A. stelle gerade keinen endgültigen Ausbildungsabbruch dar. Sofern hierüber im Zuge weiterer Sachaufklärung Beweis zu erheben wäre, käme bereits aus diesem Grund der Klägerin ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe zu.
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2.2 Selbst wenn man von einem Ausbildungsabbruch der Klägerin im Februar 2020 ausginge, fehlte es entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht an der „hinreichenden Substantiierung“ eines wichtigen Grundes im Sinne von § 7 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BAföG. Nachdem es sich bei der „abgebrochenen“ Ausbildung der Klägerin an der Berufsoberschule um eine solche nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BAföG handelt, war für die Förderunschädlichkeit selbst eines mehrfachen Ausbildungsabbruchs nicht das Vorliegen eines „unabweisbaren Grunds“ im Sinne von § 7 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BAföG erforderlich, auch wenn der Beklagte ohne nähere Begründung im Verwaltungsverfahren hiervon ausgeht.
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Ein wichtiger Grund für einen Ausbildungsabbruch liegt dann vor, wenn die Fortsetzung der bisherigen Ausbildung nach verständigem Urteil unter Berücksichtigung aller im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes erheblichen Umstände und der beiderseitigen die Förderung berührenden Interessen nicht mehr zugemutet werden kann (BVerwGE 50, 161 [164] – BeckRS 1976, 30430044; ferner Tz. 7.3.7 BAföG-VwV). Wichtige Gründe für einen Ausbildungsabbruch können dabei grundsätzlich auch dem familiären oder persönlichen Lebensbereich des Auszubildenden entstammen (Steinweg in Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 8. Aufl. 2024, § 7 Rn. 152, Buter in Rothe/Blanke, BAföG, Stand November 2022, § 7 Rn. 42.4). Steht, wie im vorliegenden Fall, die Förderung einer Ausbildung im sekundären Sektor nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BAföG in Rede (Berufsoberschulen werden nach Ziffer 2.1.13 BAföG-VwV den Kollegs im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BAföG förderungsrechtlich gleichgestellt), geht schon die Verwaltungspraxis bei Abbruch und Neuaufnahme der Ausbildung in der Regel vom Vorliegen eines wichtigen Grundes aus (so Steinweg in Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 8. Aufl. 2024, § 7 Rn. 136 unter Verweis auf Tz. 7.3.10 BAföG-VwV; Buter in Rothe/Blanke, BAföG Stand November 2022 § 7 Rn. 42). Zwar sollen nach Ziffer 7.3.10 Satz 2 BAföG-VwV im Falle eines wiederholten Ausbildungsabbruchs die Anforderungen an das Vorliegen eines wichtigen Grundes steigen. Wird der wichtige Grund für einen Ausbildungsabbruch jedoch auf Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich gestützt, kommt im Streitfall der Glaubhaftigkeit und Plausibilität des entsprechenden Vortrags große Bedeutung zu (so Buter in Rothe/Blanke, BAföG Stand November 2022 § 7 Rn. 42 a.E.).
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Darüber hinaus spielt es bei der im Rahmen der Prüfung des Vorliegens eines wichtigen Grundes vorzunehmenden Interessenabwägung zwischen den persönlichen Interessen des Auszubildenden und den öffentlichen Förderinteressen eine wesentliche Rolle, ob der Auszubildende seiner Obliegenheit zur verantwortungsbewussten, vorausschauenden und umsichtigen Planung sowie zur zügigen und zielstrebigen Durchführung seiner Ausbildung nachgekommen ist. Ein wichtiger Grund kann regelmäßig dann nicht mehr anerkannt werden, wenn der Auszubildende seine Ausbildung in Kenntnis der den wichtigen Grund begründenden Umstände aufgenommen hat. Ergibt sich ein wichtiger Grund für den Ausbildungsabbruch dagegen erst im Laufe der Ausbildung, muss der Auszubildende hieraus unverzüglich die notwendigen Konsequenzen ziehen und die bislang betriebene Ausbildung abbrechen (vgl. Steinweg in Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 8. Aufl. 2024, § 7 Rn. 134; Buter in Rothe/Blanke, BAföG Stand November 2022 § 7 Rn. 42).
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Soweit das Verwaltungsgericht im Fall der Klägerin im Hinblick auf das Vorliegen eines wichtigen Grundes für einen Ausbildungsabbruch davon ausgegangen ist, dass nach ihren Angaben und der Würdigung der vorgelegten Unterlagen hierfür im Schuljahr 2019/2020 keine ausreichenden Anhaltspunkte gegeben seien, sie ferner Umstände, die nach Beginn des Schuljahres 2019/2020 eingetreten seien und zur Unzumutbarkeit der Fortführung der Ausbildung geführt hätten, nicht „hinreichend substantiiert“ aufgezeigt habe, kann dem nicht gefolgt werden. Denn das Verwaltungsgericht berücksichtigt in diesem Zusammenhang die Darlegung der Klägerin nicht, dass zu Beginn des Schuljahres 2019/2020 zwar ihre Eheprobleme bereits bestanden hätten, der Schulbesuch gleichwohl damals noch möglich gewesen sei. Erst durch ihre im Laufe des Schuljahres eingetretene Erkrankung sowie die hinzutretende Erkrankung ihrer Kinder, ferner durch das Mobbing in ihrer Klasse habe sich die Situation dergestalt verschlimmert, dass sie den Schulbesuch nicht mehr habe fortsetzen können und ihn daher – im förderungsrechtlichen Sinne auch „unverzüglich“ – abgebrochen habe. Weshalb es insoweit an der „hinreichenden Substantiierung“ der nach Schuljahresbeginn eintretenden Unzumutbarkeitsgründe fehlen soll, erscheint nicht nachvollziehbar. Denn bei der Prüfung wichtiger Gründe für einen Ausbildungsabbruch aus dem persönlichen Lebensbereich kommt es, wie bereits ausgeführt, ganz wesentlich auf die Plausibilität und Glaubhaftigkeit der Angaben des Auszubildenden selbst an. Daher rügt der Bevollmächtigte der Klägerin zu Recht eine „vorweggenommene Beweiswürdigung“ des Verwaltungsgerichts im Prozesskostenhilfeverfahren.
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Angesichts des vorstehend Ausgeführten regt der Senat an, zur Vermeidung weiterer Kosten die Klägerin klaglos zu stellen und die für das Schuljahr 2021/2022 beantragten Ausbildungsförderungsleistungen zu bewilligen.
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3. Da gegenwärtig die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung ebenfalls erfüllt sind, war der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts aufzuheben und der Klägerin Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung zu gewähren.
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4. Einer Kostenentscheidung bedarf es vorliegend nicht, da das Verfahren nach § 188 Satz 2, 1 VwGO gerichtskostenfrei ist und Kosten im Beschwerdeverfahren nach § 166 VwGO in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattet werden.
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5. Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.