Titel:
Ablehnung der Asylberechtigung aus Art. 16a Abs. 1 GG wegen Ende der Flucht in einem Drittstaat, § 27 Abs. 1, 3 Satz 1 AsylG, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes. Definition der bestimmten sozialen Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG unter Berücksichtigung unionsrechtlicher Vorgaben nach dem Urteil des EuGH vom 16.1.2024 (Az. C-621/21)
Normenketten:
GG Art. 16a Abs. 1, 2 S. 1
AsylG § 3 Abs. 1
AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4
AsylG § 26a Abs. 1 S. 1, Abs. 2
AsylG § 27 Abs. 1, 3 S. 1, 2
AsylG § 29
Art. 10 Abs. 1 lit. d RL 2011/95/EU, Art. 33 Abs. 2, 35 S. 1 RL 2013/32/EU, Art. 3, 60 Istanbul Konvention
Leitsätze:
1. Einer eritreischen Frau im nationaldienstpflichtigen Alter droht bei Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes von Eritrea als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit geschlechtsspezfische Verfolgung.
2. Es liegt nahe, hierzu einer Parallele zu einer asylrelevanten Verfolgung im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG zu ziehen. Allerdings scheidet die Asylberechtigung aus Art. 16a Abs. 1 GG jedenfalls dann aus, wenn die Flucht des Ausländers bereits in einem Drittstaat geendet ist, § 27 Abs. 1, 3 Satz 1 AsylG.
Schlagworte:
Ablehnung der Asylberechtigung aus Art. 16a Abs. 1 GG wegen Ende der Flucht in einem Drittstaat, § 27 Abs. 1, 3 Satz 1 AsylG, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes. Definition der bestimmten sozialen Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG unter Berücksichtigung unionsrechtlicher Vorgaben nach dem Urteil des EuGH vom 16.1.2024 (Az. C-621/21)
Fundstelle:
BeckRS 2025, 5429
Tenor
I. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22.4.2024 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt ein Viertel der Kosten des Verfahrens, die Beklagte trägt drei Viertel der Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Die jeweilige Vollstreckungsschuldnerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die jeweilige Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin wendet sich gegen die vollständige Ablehnung ihres Asylantrags.
2
Die Klägerin ist am …2003 in A., Eritrea, geboren und eritreische Staatsangehörige. Sie ist tigrinischer Volkzugehörigkeit und orthodox christlicher Religionszugehörigkeit. Am 24.12.2022 reiste sie mit dem Flugzeug im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland ein und stellte am 7.3.2023 einen Asylantrag.
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Am 2.5.2023 fand die persönliche Anhörung der Klägerin durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) statt. Dabei gab die Klägerin unter anderem an, sie gehöre der Volksgruppe der Tigrinya an, sei in der Stadt A., Z. M., geboren und ihre Eltern seien beide Eritreer. Sie sei im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland gekommen, da ihre Mutter in Deutschland Flüchtlingsschutz erhalten habe. Einen Reisepass oder Personalausweis habe sie nicht gehabt, da sie minderjährig gewesen war, als sie Eritrea verlassen hatte. Sie habe zunächst in ihrem Geburtsort, A., gelebt. Nach der Trennung ihrer Eltern habe sie zunächst bei den Großeltern mütterlicherseits gelebt und nach Ausreise der Mutter nach Deutschland wieder bei ihrem Vater in A. Damals sei sie acht Jahre alt gewesen. Sie habe mit ihrer Großmutter und ihrer Schwester bei ihrem Vater gelebt bis sie selbst Eritrea verlassen habe. Ihren Vater habe sie nicht oft gesehen, da er Soldat gewesen sei. Sie sei nicht verheiratet und habe keine Kinder. Sie habe Eritrea im Jahr 2018 zusammen mit ihrer Schwester und ihrem Halbbruder verlassen. Sie sei Ende Dezember 2022 nach Deutschland eingereist. Sie sei zunächst von Eritrea nach Äthiopien gegangen, wo sie sich circa vier Jahre aufgehalten habe, bis sie dann im Rahmen des Familiennachzugs Ende Dezember 2022 mit einem Direktflug von Addis Abeba nach F. geflogen sei. Sie habe keine Verwandten mehr in Äthiopien. Sie habe dort in Addis Abeba gelebt. Sie habe einen Flüchtlingsausweis der UNHCR gehabt. Ihre Mutter habe ihnen Geld nach Äthiopien geschickt. Ihre Mutter habe auch den Flug nach Deutschland finanziert. Sie sei nie wieder in Eritrea gewesen. Ihr Vater sei immer noch Soldat in Eritrea. In Eritrea würden außerdem noch ihre Großmutter und Halbgeschwister leben, eventuell auch Tanten und Onkel mütterlicherseits. Sie habe die Schule bis zur 7. Klasse besucht. Sie habe in Äthiopien eine Ausbildung zur Friseurin gemacht, aber nicht gearbeitet. Sie habe nie Wehr- oder Nationaldienst geleistet, weil sie minderjährig gewesen sei. Ihre Eltern seien geschieden. Sie hätte bei der Großmutter gewohnt. Diese sei eine alte Frau und habe sich nicht um sie kümmern können. Ihr und ihrer Schwester sei es sehr schlecht gegangen, weshalb sie das Land verlassen hätten. Ihre Mutter sei in Deutschland gewesen und ihr Vater sei nicht zuhause gewesen. Deswegen habe sie zu ihrer Mutter gehen wollen. Wenn der Vater der Klägerin nicht zum Militärdienst erschienen war, seien die Soldaten zu ihnen gekommen und hätten die Kinder mitgenommen bis der Vater wieder zu seiner Einheit zurückgekehrt sei. Dies sei ihr zweimal passiert. Sie sei etwa 14 Jahre alt gewesen, als das passiert sei. Sie seien jeweils für einen Tag mitgenommen worden. Man habe sie bei einer Art Bushaltestelle festgehalten, nicht in einem Gefängnis. Das Leben in Eritrea sei hart gewesen. Niemand habe Verantwortung für sie übernommen. Sie wisse nicht, ob ihre Familie politisch aktiv gewesen sei. Sie sei es jedenfalls nicht. Sie habe auch nie Probleme mit Behörden, der Polizei oder dem Militär gehabt. Es habe keine Reaktionen auf ihre Ausreise gegeben. Würde die Klägerin nach Eritrea zurückkehren, so würde ihr der Militärdienst drohen, weil sie mittlerweile volljährig sei und die Schule abgebrochen habe. Der Militärdienst sei zwingend. Entweder man gehe zur Schule oder man heirate. Wenn eine Frau dies nicht täte, müsse sie in den Militärdienst. Sonst käme sie ins Gefängnis. Die Klägerin glaube nicht, dass sie nochmal zur Schule gehen dürfte, weil sie diese vor langer Zeit verlassen habe. Wenn man als Frau heirate und Kinder habe, würde man vom Militärdienst befreit. Sie wisse nichts von der weiblichen Genitalbeschneidung. Ihre Eltern seien dagegen. Ihre Mutter sei jedoch noch von ihrer Großmutter beschnitten worden. Sie wisse nicht, ob sie beschnitten worden sei. Sie sei dagegen. Sie wisse nicht, ob ihr in Eritrea eine Beschneidung drohe. Jedenfalls könne sie niemand zwingen, da dies verboten sei. Sie wisse nicht, was die Diaspora-Steuer sei. Sie würde das Reuebekenntnis nicht kennen und würde das auch nicht wollen. Sie wolle bei ihrer Mutter bleiben. Sie wolle eine Ausbildung machen und arbeiten.
4
Mit Bescheid vom 22.4.2024, laut Postzustellungsurkunde der Klägerin am 29.4.2024 zugegangen, erkannte das Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 4). Weiter wurde die Abschiebung nach Eritrea angedroht und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 30 Monaten ab dem Tag der Abschiebung angeordnet (Ziffern 5 und 6).
5
Am 6.5.2024 erhob die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg.
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Begründet wurde die Klage im Wesentlichen damit, dass der Klägerin der Flüchtlingsstatus, hilfsweise der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen sei. Der Klägerin drohe bei einer Rückkehr nach Eritrea ein ernsthafter Schaden, da sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen ihrer Flucht mit einer außergerichtlichen und willkürlichen Haftstrafe unter erniedrigenden Haftbedingungen rechnen müsse. Die Klägerin habe Eritrea ohne ein gültiges Visum und damit illegal verlassen. Zum Zeitpunkt der Ausreise sei die Klägerin zwar noch minderjährig gewesen, aufgrund der mittlerweile eingetretenen Volljährigkeit befinde sich die Klägerin aber im nationaldienstpflichtigen Alter. Es erscheine eine Bestrafung wegen Ausreise zur Umgebung des Nationaldienstes als beachtlich wahrscheinlich. Die Klägerin könne sich einer Bestrafung wegen Nationaldienstentziehung und illegaler Ausreise auch nicht durch den sogenannten Diaspora-Status entziehen. Zudem stünde der Klägerin ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu, da ihr bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung drohe. Denn sie sei nationaldienstpflichtig und in diesem Rahmen sei es beachtlich wahrscheinlich, dass gegen die Klägerin geschlechtsspezifische Gewalt in Anknüpfung an ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Frauen als bestimmte soziale Gruppe verübt werde durch Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes. Die Klägerin könne dieser Gefahr nicht zur Erlangung des sog. Diaspora-Status entgehen.
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Die Klägerin beantragt zuletzt,
I. Der Bescheid der Beklagten vom 22.04.2024, zugestellt am 29.04.2024, wird aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verpflichtet die Klägerin als asylberechtigt i. S. d. Art. 16a GG anzuerkennen.
III. Hilfsweise, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft anzuerkennen.
IV. Hilfsweise, der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
V. Hilfsweise festzustellen, dass bei der Klägerin Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegen.
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Das Bundesamt beantragt für die Beklagte,
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Das Bundesamt bezieht sich zur Klagebegründung auf die angefochtene Entscheidung.
10
Mit Beschluss vom 15.11.2024 wurde der Rechtsstreit auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.
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Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil mit Erklärungen vom 20.11.2024 und 13.01.2025 zugestimmt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 1 S. 1 Asylgesetz (AsylG) durch den Berichterstatter als Einzelrichter.
14
Der zuständige Einzelrichter konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten ihr Einverständnis hierzu erklärt haben, § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
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Die Klage ist zulässig und im tenorierten Umfang begründet.
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1. Der Klägerin steht nicht bereits ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 26 Abs. 2 AsylG zu. Zwar ist ihre Mutter als Flüchtling in Deutschland anerkannt. Allerdings ist die Antragstellerin nicht mehr minderjährig und war es auch nicht im Zeitpunkt der Asylantragstellung (vgl. Huber/Mantel/Nestler/Vogt, 4. Aufl. 2025, AsylG § 26 Rn. 24, beck-online).
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2. Die Klägerin hat jedoch einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 3 AsylG.
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Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist – unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben – Flüchtling, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland wegen seiner „Rasse“, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG ausgesetzt ist (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris). Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an die genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die wegen ihrer Intensität den Betroffenen dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es aber regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG NRW, U.v. 28.3.2014 – 13 A 1305/13.A – juris). Eine Verfolgung i.S. d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten (vgl. auch VG Augsburg, U.v. 11.8.2016 – Au 1 K 16.30744 – juris). Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist es nach § 3b Abs. 2 AsylG auch unerheblich, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist, weil er tatsächlich die Merkmale besitzt, die zu seiner Verfolgung führen, sofern der Verfolger dem Betroffenen diese Merkmale tatsächlich zuschreibt.
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Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt unabhängig davon, ob bereits eine Vorverfolgung stattgefunden hat, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – BVerwGE 140, 22). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festzustellenden Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 RL 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67 m.w.N.). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50% für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in sein Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris m.w.N.).
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Eine Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU. Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Handlungen oder Bedrohungen eine Beweiskraft für die Wiederholung in der Zukunft bei, wenn sie eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen (vgl. BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8 B 17.31645 m.w.N. – juris). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften (BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8 B 17.31645 m.w.N. – juris).
21
Bezüglich der vom Ausländer im Asylverfahren geltend gemachten Umstände, die zu seiner Ausreise aus dem Heimatland geführt haben, genügt aufgrund der regelmäßig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Ausländers die Glaubhaftmachung. Die üblichen Beweismittel stehen ihm häufig nicht zur Verfügung. In der Regel können unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Ausländers und dessen Würdigung eine gesteigerte Bedeutung zu. Dies bedeutet anderseits jedoch nicht, dass der Tatrichter einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris; BVerwG, U.v. 11.11.1986 – 9 C 316.85 – juris). Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne setzt voraus, dass die Geschehnisse im Heimatland schlüssig, substantiiert und widerspruchsfrei geschildert werden. Erforderlich ist somit eine anschauliche, konkrete und detailreiche Schilderung des Erlebten. An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es in der Regel, wenn der Asylsuchende im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellung nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheint, sowie auch dann, wenn er sein Asylvorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. VG Ansbach, U.v. 24.10.2016 – AN 3 K 16.30452 – juris m.w.N.).
22
Dies zugrunde gelegt hat die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG.
23
Der Klägerin droht nach Überzeugung des zuständigen Einzelrichters bei einer Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine geschlechtsspezifische Verfolgung im Rahmen des militärischen Teils des Nationaldienstes, die sie auch nicht durch Erlangung des Diasporastatus vermeiden kann.
24
a) Gemäß der Proklamation Nr. 82/1995 über den Nationaldienst (Proclamation on National Service No. 82/1995) vom 23. Oktober 1995 sind in Eritrea Männer und Frauen vom achtzehnten bis zum vierzigsten Lebensjahr nationaldienstpflichtig („active national service“) und gehören bis zum fünfzigsten Lebensjahr der Reservearmee („reserve military service“) an (Bundesamt für Fremdenwesen (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 18; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse vom 30.6.2017, S. 4). Nach abweichenden Angaben soll sich das Höchstalter für den Wehr- und Nationaldienst seit 2009 für Männer auf 57 und für Frauen auf 27 bzw. 47 Jahre belaufen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 18; Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 14; Amnesty International (AI) an VG Magdeburg vom 2.8.2018). In der Praxis kommt es vor, dass Eritreer bereits ab einem Alter von etwa 16 Jahren als dienstpflichtig behandelt werden, wobei teilweise auch noch jüngere Eritreer rekrutiert werden. Maßgeblich für die Rekrutierung ist nicht das tatsächliche Alter, sondern häufig eine Alterseinschätzung aufgrund des Aussehens der Person (vgl. European Asylum Support Office (EASO), Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 32 f.; EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 36 f.; SFH, Eritrea: Rekrutierung von Minderjährigen, Auskunft der SFH Länderanalyse, 6.12.2021, S. 1 ff.). Alle Dienstpflichtigen absolvieren gem. Art. 8 der Proklamation Nr. 82/1995 zuerst eine sechsmonatige militärische Ausbildung und werden dann entweder dem militärischen Teil unter dem Verteidigungsministerium zugeteilt oder einer zivilen Aufgabe, die von einem anderen Ministerium verwaltet wird. Angehörige des militärischen Teils leisten Dienst im eritreischen Militär (Armee, Marine oder Luftwaffe). Teilweise leisten sie auch Arbeitseinsätze im Aufbau von Infrastruktur und in der Landwirtschaft. Sie leben auf militärischen Stützpunkten und sind in Einheiten eingeteilt. Angehörige des zivilen Teils leisten ihren Dienst in zivilen Projekten. Zu diesem Zweck teilt sie die Regierung verschiedenen Ministerien zu. Meist handelt es sich um Personen mit guter Ausbildung oder speziellen Fähigkeiten. Typisch sind Einsätze an Schulen, Gerichten oder in der medizinischen Versorgung. Ihren zugeteilten Aufgaben gehen die Dienstleistenden wie einer normalen Arbeit nach. Sie leben mit ihren Eltern, Familien oder in privaten Wohnungen am Arbeitsort (vgl. Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), Staatssekretariat für Migration (SEM), Sektion Analysen: Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise (Stand: 22.6.2016), S. 11 f.). Zuständig für die Einteilung der Wehrpflichtigen in den militärischen bzw. zivilen Teil ist das Verteidigungsministerium (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 25.). Ausgenommen vom Nationaldienst sind lediglich Personen, die ihre Dienstpflicht bereits vor Inkrafttreten der Proklamation Nr. 82/1995 erfüllt haben, sowie ehemalige Unabhängigkeitskämpfer (Art. 12 der Proklamation Nr. 82/1995). Gesundheitliche Beeinträchtigungen führen in der Regel nur dazu, dass die militärische Ausbildung erlassen wird (Art. 13 Abs. 1 der Proklamation Nr. 82/1995), nicht jedoch die Dienstverpflichtung als solche. Faktisch werden verheiratete oder schwangere Frauen sowie Mütter in der Regel jedenfalls von der Dienstleistung im militärischen Teil des Nationaldiensts ausgenommen (vgl. Danish Immigration Service (DIS), Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 29; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 34, vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Ein Einsatz im zivilen Bereich des Nationaldienstes bleibt aber auch für verheiratete oder schwangere Frauen sowie Mütter möglich (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 19; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3.1.2022, S. 15). Nach Art. 21 der Proklamation Nr. 82/1995 kann die Dienstpflicht im Falle eines Kriegs oder einer allgemeinen Mobilmachung über die Dauer von 18 Monaten hinaus verlängert werden, sofern die zuständige Behörde den Dienstpflichtigen nicht offiziell entlassen hat. Seit dem Grenzkrieg mit Äthiopien rechtfertigt die eritreische Regierung die unbeschränkte Dauer des Nationaldiensts mit der Bedrohung durch Äthiopien. Der 1998 verhängte faktische Ausnahmezustand wurde seither nicht aufgehoben. Auf dieser Grundlage zieht der Staat Eritrea seine Staatsangehörigen regelmäßig zu einer die 18-Monats-Grenze überschreitenden, langjährigen Dienstleistung heran (Human Rights Council, Situation of human rights in Eritrea 5/2024, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, S. 7; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 19; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3.1.2022, S. 14; Danish Refugee Council (DRC), Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 17 ff.; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 33 f. EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32 ff.; EJPD, SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 11 f.; SFH, Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 30.6.2017, S. 4 f.; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online).
25
Danach ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Eritrea in den militärischen Teil des Nationaldienstes eingezogen wird bzw. jedenfalls eine sechsmonatige militärische Ausbildung abzuleisten hat. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die wichtigste Methode der Rekrutierung zum Nationaldienst das Schulsystem darstellt, in das die Klägerin nicht zurückkehren würde. Gleiches gilt für die Annahme der Beklagten, dass auch eine Rekrutierung außerhalb des Schulsystems für die Klägerin nicht beachtlich wahrscheinlich sei, da die eritreischen Behörden nicht mehr die Kapazitäten zu haben scheinen, alle Dienstverweigerer systematisch zu Hause aufzusuchen, um sie zu verhaften oder zu rekrutieren und es auch trotz „giffas“ zahlreichen Dienstverweigerern gelinge, sich längerfristig auch diesen Kontrollen zu entziehen. Bei dieser Betrachtungsweise der Beklagten lässt diese völlig außer Betracht, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Eritrea einreisen muss und damit eine Einreisekontrolle durchlaufen muss. Es ist nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln bei der Situation eines Rückkehrers davon auszugehen, dass dieser nach seinem Nationaldienststatus befragt und damit unmittelbar im Visier der Behörden ist. So berichtet EASO unter Hinweis auf überwiegend aus dem Sudan über die Landesgrenze stattgefundene Rückführungen, dass die meisten Betroffenen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Eritrea inhaftiert, insbesondere einem unterirdischen Gefängnis bei Tesseney zugeführt und dort auf den Nationaldienststatus überprüft würden. Die weitere Behandlung hänge von dem Profil des Betroffenen ab: Personen, die noch nie in den Nationaldienst aufgeboten wurden, müssten eine militärische Ausbildung absolvieren und sodann ihren Dienst bei einer Militäreinheit aufnehmen (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 69). Auch nach Auffassung des SEM deuten alle vorliegenden Informationen darauf hin, dass im Falle zwangsweiser Rückführung ähnlich wie bei einer „giffa“ der Nationaldienststatus überprüft und anschließend wie bei Aufgriffen im Inland verfahren werde (SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016), d.h. die Personen üblicherweise erst einige Tage oder Wochen in einem Gefängnis verblieben und dann zur militärischen Ausbildung in Ausbildungslager geschickt würden (vgl. auch OVG Lüneburg U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online).
26
Die zum Zeitpunkt der Entscheidung 21-jährige Klägerin ist im dienstpflichtigen Alter, nach ihren Angaben in der Anhörung am 2.5.2024 sowie den Schreiben vom 20.11.2024 und vom 17.2.2025 unverheiratet, kinderlos und nicht schwanger. Damit unterfällt sie der Pflicht zur Einziehung in den Nationaldienst in Eritrea.
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b) Das Aufgebot in den Nationaldienst kann die Klägerin nicht durch Erlangung des sog. Diaspora-Status abwenden, da zum einen nicht ausreichend gesichert ist, dass sie diesen überhaupt erlangen kann und zum anderen ihr der Diaspora-Status keinen ausreichenden Schutz vor der Einberufung in den militärischen Bereich des Nationaldienstes bieten würde, unabhängig davon, ob ihr ein Nachsuchen überhaupt zumutbar ist.
28
(1) Die Erlangung des Diaspora-Status kommt im Falle der zwangsweisen Rückführung nach Eritrea wohl von vornherein nicht in Betracht.
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Der Diaspora-Satus wird von der eritreischen Regierung den im Ausland lebenden Eritreern angeboten und gewährt freiwilligen Rückkehrern das Privileg, ohne Visaverfahren nach Eritrea ein- und auszureisen. Er entbindet insbesondere auch von der Verpflichtung, den Nationaldienst zu leisten (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 8; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 ff.; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33). Die Möglichkeit der Erlangung des Diaspora-Status richtet sich jedoch nur an freiwillige Rückkehrer (vgl. auch AI, Stellungnahme zum Umgang mit Rückkehrern und Kriegsdienstverweigerern in Eritrea, 28.7.2017, S. 1 f.). Anders als freiwillige Rückkehrer haben zwangsrückgeführte Personen nicht die Möglichkeit, ihren Status gegenüber den Behörden entsprechend zu regeln und sich damit eine mildere Behandlung zu sichern (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 68; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 44).
30
(2) Die Klägerin kann auch nicht darauf verwiesen werden, die Gefahr der Einberufung in den Nationaldienst durch freiwillige Ausreise und Rückkehr unter dem Diaspora-Status nach Eritrea abwenden zu können.
31
Nach übereinstimmender Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht, die in gleicher Weise für das Asylanerkennungsverfahren wie für das Abschiebungsschutzverfahren gilt, bedarf des Schutzes vor politischer Verfolgung im Ausland nicht, wer den gebotenen Schutz vor ihr auch im eigenen Land finden (sog. inländische Fluchtalternative, vgl. BVerfG, B.v. 2.7.1980 – 1 BvR 147/80 u.a. – juris; BVerwG, U.v. 6.10.1987 – 9 C 13.87 – juris) oder – in entsprechender Anwendung dieses Grundgedankens – durch eigenes zumutbares Verhalten die Gefahr politischer Verfolgung abwenden kann, wozu insbesondere die freiwillige Ausreise und Rückkehr in den Heimatstaat gehören (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris u. U.v. 3.11.1992 – 9 C 21.92 – juris). Eine solche freiwillige Rückkehrmöglichkeit ist bei der Gefahrenprognose im Asyl- und Flüchtlingsrecht folglich mit in den Blick zu nehmen, insbesondere, wenn sich durch eine freiwillige Rückkehr Verfolgungsgefahren vermeiden lassen, die im Falle der zwangsweisen Rückkehr als Abgeschobener infolge der damit verbundenen Vorabinformation und Kontakte zwischen Abschiebestaat und Zielstaat entstehen können.
32
Allerdings ist nach der Überzeugung des zuständigen Einzelrichters bereits nicht gesichert, dass die Klägerin den Diaspora-Status überhaupt erlangen kann.
33
Um den Diaspora-Status zu erlangen, muss der Auslandseritreer sein Identitätsdokument, den Zahlungsnachweis für die sog. Diaspora-Steuer, d.h. einen Betrag i.H.v. 2% des Einkommens (Gehalt oder Sozialleistungen), das „Reueformular“ und ein Schreiben der zuständigen eritreischen Auslandsvertretung vorlegen, in dem diese ihm einen mehr als dreijährigen Auslandsaufenthalt bestätigt (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 29). Das „Reueformular“ enthält die Erklärung, dass der Unterzeichnende bedauere, durch die Nichterfüllung des Nationaldienstes ein Vergehen begangen zu haben und dass er bereit sei, zu gegebener Zeit eine angemessene Bestrafung zu akzeptieren. Faktisch gilt außerdem die weitere Bedingung, dass bei dem Antragsteller keine regierungskritischen Aktivitäten festgestellt werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 64).
34
Zum einen ist anzumerken, dass man den Diaspora-Status nach manchen Quellen überhaupt nur erlangen kann, wenn ein gesicherter Aufenthalt im Ausland vorliegt (vgl. Pro Asyl, Neues Eritrea-Gutachten bestätigt: Verweigerung von Schutz verkennt Realität, 12.10.2022). Im Hinblick auf den auf Auslandseritreer zugeschnittenen Zweck des Diaspora-Status erscheint es durchaus nachvollziehbar, dass für die Erlangung eine gültige Aufenthaltserlaubnis im Ausland oder ein ausländischer Pass erforderlich sei, um die Möglichkeit, ins Ausland zurückzukehren, nachzuweisen (so auch OVG Bautzen, U.v. 19.7.2023 – 6 A 923/20.A – beck-online). Jedenfalls aber ist der Diaspora-Status in erster Linie für Auslandseritreer gedacht, die besuchsweise in ihre Heimat reisen und sich dort kurzzeitig aufhalten möchten. Dies ergibt sich bereits aus der Aussage, dass von Diaspora-Eritreern erwartet wird, dass diese mindestens einmal jährlich ausreisen. Andernfalls könne ihnen der Status entzogen werden, so dass sie wieder als normale Einwohner gelten würden (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3.1. 2022, S. 5 f., 21 f.). Auch das Schweizerische Staatssekretariat für Migration führt aus, dass die Erkenntnisse zum Diaspora-Status sich überwiegend auf temporäre Rückkehrer beziehen; über das Ergehen definitiver Rückkehrer gebe es nur wenige Erkenntnisse (EJPD, SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016, S. 32; zu diesen Vorbehalten auch ausführlich SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, 15.8.2016). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt außerdem aus, dass nach 2002 ausgereiste Personen den Diaspora-Status kaum erhielten, insbesondere gebe es keine Rechtssicherheit (SFH, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 30.9.2018, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, S. 10). Auch das EASO kann für die Gruppe der „dauerhaft Einreisenden“ nur wenige, mit Vorsicht zu behandelnde Quellen nennen (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 65). Vor dem Hintergrund, dass der eritreische Staat den Diaspora-Status vor allem deshalb „anbietet“, um sich eine überlebenswichtige Finanzierungsquelle zu erhalten, kann angenommen werden, dass dieser Status für permanente Rückkehrer nicht oder nur unter eingeschränkten Bedingungen eröffnet wird, da diese Personen zukünftig nicht mehr als ausländische Finanzierungsquelle zur Verfügung stehen. Zu beachten ist schließlich, dass aufgrund der dargestellten Willkür des eritreischen Regimes schon keine Sicherheit besteht, selbst bei Erfüllen der genannten Voraussetzungen den Diaspora-Status zu erhalten. Auch die Behörden ändern ihre Praxis immer wieder willkürlich (vgl. VG Bremen, B.v. 13.12.2021 – 7 K 2745/20 – beck-online m.w.N; a.A OVG Hamburg, U.v. 27.10.2021 – 4 Bf 106/20 – beck-online).
35
Vor diesem Hintergrund kann die Klägerin den Diaspora-Status bereits nicht mit ausreichender Sicherheit erlangen. Die Klägerin hat nach dem streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes keinen Flüchtlings- oder subsidiären Schutzstatus in Deutschland. Es kann derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin den Nachweis einer Rückkehrmöglichkeit ins Ausland erbringen könnte und ihre Rückkehr wäre nicht nur vorübergehend.
36
(3) Aber selbst wenn man annimmt, dass die Klägerin bei einer freiwilligen Rückkehr den Diaspora-Status jedenfalls zunächst erlangen könnte, wofür sprechen könnte, dass auf diesem Weg auch Knowhow nach Eritrea geholt werden kann, ist fraglich, ob ihr ein Nachsuchen des Diaspora-Status zumutbar ist.
37
Problematisch ist die Unterzeichnung der „Reueerklärung“, in der bedauert wird, seine Dienstpflicht nicht erfüllt zu haben und erklärt, eine dafür verhängte Strafe zu akzeptieren. Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen ist davon auszugehen, dass die „Reueerklärung“ von allen Eritreern unterzeichnet werden muss, die das Land illegal verlassen haben und den Nationaldienst nicht geleistet oder abgeschlossen haben. EASO stellt im Hinblick auf den Vorwurf der Dienstpflichtverletzung unmissverständlich klar, dass von dem Erfordernis der Unterzeichnung des „Reueformulars“ nur Personen befreit seien, die vom Nationaldienst ausgenommen sind oder die den Dienst bereits abgeschlossen haben (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 60 f.).
38
Nach Art. 10 Abs. 1 der Proklamation Nr. 24/1992 issued to regulate the issuing of travel documents, entry and exit visa from Eritrea, and to control residence permits of foreigners in Eritrea (im Folgenden: Proklamation Nr. 24/1992, abrufbar in englischer Sprache unter https://www.refworld.org/sites/default/files/attachments/54c0d9d44.pdf) kann keine Person Eritrea über andere Stellen verlassen als über die vom Sekretär für innere Angelegenheiten genehmigten. Nach Art. 11 der Proklamation Nr. 24/1992 kann niemand Eritrea verlassen, wenn er nicht im Besitz eines gültigen Reisedokuments, eines gültigen Ausreisevisums und eines gültigen internationalen Gesundheitszeugnisses ist. Die vorgenannten Voraussetzungen für eine legale Ausreise muss jede Person, unabhängig von ihrem Alter, erfüllen.
39
Die Klägerin war im Zeitpunkt ihrer Ausreise zwar noch nicht im dienstpflichtigen Alter. Sie ist jedoch mit einem Alter von nunmehr 21 Jahren inzwischen auch im nationaldienstpflichtigen Alter. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass in ihrem Falle die Unterzeichnung der „Reueerklärung“ verlangt wird.
40
Geht man davon aus, dass eine „Reueerklärung“ gefordert wird, wäre ein Verweis auf die freiwillige Ausreise unter Diasporastatus bereits unter diesem Aspekt wohl unzumutbar.
41
Das Bundesverwaltungsgericht hat im Kontext der Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer nach § 5 Abs. 1 AufenthV entschieden, dass die Abgabe der „Reueerklärung“ unter Berücksichtigung der widerstreitenden Belange für einen eritreischen Staatsangehörigen, der plausibel bekundet, die Erklärung nicht abgeben zu wollen, im Hinblick auf die darin enthaltene Selbstbezichtigung weder eine zumutbare Mitwirkungshandlung noch eine zumutbare staatsbürgerliche Pflicht sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Vom Herkunftsstaat geforderte Mitwirkungshandlungen seien dem Betroffenen gegen seinen Willen nur zuzumuten, wenn sie mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen vereinbar seien. Dies sei bei der „Reueerklärung“ nicht der Fall. Die Verknüpfung einer Selbstbezichtigung mit der Ausstellung eines Reisepasses entferne sich so weit von einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung, dass der Betroffene sich darauf gegen seinen Willen nicht verweisen lassen müsse. Es sei weder ein legitimes Auskunftsinteresse des eritreischen Staats erkennbar noch sei ersichtlich, dass die von den eritreischen Auslandsvertretungen praktizierte Voraussetzung im eritreischen Recht irgendeine formelle Grundlage hätte (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Mit der Erklärung sei eine rechtsstaatliche Grenzen nicht einfordernde Unterwerfung unter die eritreische Strafgewalt verbunden und werde ein Loyalitätsbekenntnis zu dem eritreischen Staat abgefordert, das dem Betroffenen gegen seinen ausdrücklichen Willen nicht zumutbar sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Das Bundesverwaltungsgericht führte weiter aus, dies gelte umso mehr, als es in Eritrea nach den erstinstanzlichen Feststellungen kein rechtsstaatliches Verfahren gebe (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Angesichts der dem eritreischen Staat attestierten gravierenden Menschenrechtsverletzungen und der willkürlichen Strafverfolgung könne ein Eritreer gegen seinen Willen auf die Unterzeichnung einer Selbstbezichtigung mit bedingungsloser Akzeptanz einer wie auch immer gearteten Strafmaßnahme auch dann nicht verwiesen werden, wenn die Abgabe der Erklärung die Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung und einer Bestrafung wegen der illegalen Ausreise nicht erhöht, sondern unter Umständen sogar verringert. Vielmehr müsse der Betroffene unter den beschriebenen Umständen (willkürliche und menschenrechtswidrige Strafverfolgungspraxis) kein auch noch so geringes Restrisiko eingehen und sei allein der – nachvollziehbar bekundete – Unwille, die Erklärung zu unterzeichnen, schutzwürdig (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Dies gelte jedenfalls dann, wenn der Betroffene plausibel darlegt, dass er zu der Selbstbezichtigung freiwillig nicht bereit sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris).
42
Der in Anwendung ausländerrechtlicher Vorschriften über die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt für die hier unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität des Asylrechts anzustellenden Zumutbarkeitsprüfung im Hinblick auf die Abgabe der „Reueerklärung“ als ein dem Asylantragsteller zumutbares Verhalten zur Gefahrenabwehr (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris u. U.v. 3.11.1992 – 9 C 21.92 – juris) nach Ansicht des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters eine gewisse Aussagekraft zu. Denn sie betrifft im Kern die Frage, ob die Abgabe der „Reueerklärung“ wegen der darin enthaltenen Selbstbezichtigung mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen vereinbar ist (vgl. BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23; a.A. OVG Greifswald, U.v. 17.8.2023 – 4 LB 145/20 OVG). Daran muss sich die Zumutbarkeit der Abgabe der „Reueerklärung“ auch im hier vorliegenden asylrechtlichen Kontext messen lassen.
43
Ausgehend hiervon spricht viel dafür, dass die Abgabe dieser „Reueerklärung“ unzumutbar ist. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Ausführungen des Auswärtigen Amtes im aktuellen Lagebericht, wonach der Text als Ermahnung zu verstehen sei und keine Rechtsnachteile für den Unterzeichner mit sich bringe (AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 22 f.). Zwar scheint für eine Zumutbarkeit zu sprechen, dass viele Eritreer diese Erklärung unterschreiben und unter Ausnutzung des Status vorübergehend nach Eritrea reisen und dies in der Regel auch unbehelligt tun können. Allerdings lassen sich hieraus keine zwingenden Rückschlüsse auf eine permanente Rückkehrsituation treffen. Hier fehlen solche Erfahrungswerte gerade. Auch ist die Zumutbarkeit vor dem Hintergrund des willkürlichen Verhaltens und der fehlenden Rechtsstaatlichkeit Eritreas zu sehen. Der zuständige Einzelrichter geht von der Annahme einer Unzumutbarkeit im Regelfall aus, ohne dass die Klägerin ihre Weigerung plausibel darstellen muss. Im Hinblick auf dieses Erfordernis ist anzumerken, dass das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 11.10.2022 (Az.: 1 C 9.21) zwar ausführte, dass jedenfalls gegen den geäußerten Willen eine Unterzeichnung der „Reueerklärung“ vom Ausländer nicht verlangt werden könne. Diese Entscheidung betraf jedoch eine Person mit zuerkanntem Schutzstatus im Zusammenhang mit der Zumutbarkeit der Passbeschaffung, nicht die Frage der Zumutbarkeit der Unterzeichnung im Zusammenhang mit einer straffreien Rückkehr. Wird selbst in diesem Fall eine Unzumutbarkeit jedenfalls gegen den Willen angenommen, spricht einiges dafür, dass eine Unterzeichnung der „Reueerklärung“, um eine möglicherweise straffreie Rückkehr nach Eritrea zu erreichen vor dem Hintergrund der Willkürlichkeit des Vorgehens des eritreischen Staats nicht verlangt werden kann, unabhängig davon, ob dies von Klägerseite ausdrücklich abgelehnt wurde (abstellend auf eine ausdrückliche Ablehnung wohl OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online; für eine Zumutbarkeit OVG Greifswald, U.v. 17.8.2023 – 4 LB 145/20 OVG – beck-online). Im Übrigen wurde im angesprochenem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sogar ausdrücklich offen gelassen, ob es einem subsidiär Schutzberechtigten generell schon dann unzumutbar ist, sich bei der Auslandsvertretung seines Herkunftsstaates um die Erteilung eines nationalen Passes zu bemühen, wenn ihm der subsidiäre Schutzstatus aufgrund einer gezielten Bedrohung durch staatliche Behörden (im Unterschied zu drohender willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts oder einer Bedrohung durch private Akteure, gegen die der Staat keinen wirksamen Schutz gewährt) zuerkannt worden ist. Auch dies spricht dafür, dass es, wenn es um die Frage einer möglichen Bestrafung durch den Staat oder die Einberufung in den Nationaldienst geht, jedenfalls im Falle eines oft willkürlich agierenden Staates wie Eritrea generell unzumutbar ist, gerade diese Straftat schriftlich anzuerkennen (vgl. für § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG VGH Mannheim, B.v. 5.6.2024 – 12 S 871/22 – beck-online).
44
(4) Aber selbst wenn man unterstellt, dass die Möglichkeit des Diasporastatus zur Verfügung steht und die Unterzeichnung der „Reueerklärung“ von der Klägerin nicht verlangt wird oder der Klägerin zumutbar wäre, bietet der Diaspora-Status keinen ausreichenden Schutz vor der Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes.
45
Es ist nach der derzeitigen Erkenntnislage davon auszugehen, dass permanente Rückkehrer – je nach „Arrangement“ zwischen dem Rückkehrer und der eritreischen Regierung vor der Rückkehr – jedenfalls nach einer „Probezeit“ von sechs bis zwölf Monaten zum Nationaldienst eingezogen werden können (EASO, Eritrea, September 2019, S. 65, SFH, Eritrea: Rückkehr, 19. September 2019, S. 4 f., DIS, Country Report, Januar 2020, S. 30). Sie können (wieder) in den Nationaldienst einberufen werden und werden unter Umständen für Desertion, Dienstverweigerung oder illegale Ausreise bestraft. Nach anderen Quellen liegt die Schutzwirkung bei einem bis drei Jahren (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 9; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33) bzw. bis zu sieben Jahren (DIS, Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 36). Gegen diese zeitliche Begrenztheit einer Schutzwirkung sprechen auch nicht die Aussagen, dass die große Mehrheit der Personen, die ihr Verhältnis zu dem eritreischen Staat durch den Diaspora-Status „bereinigt“ haben, tatsächlich (zunächst) nicht strafrechtlich verfolgt bzw. in den Nationaldienst aufgeboten werden (vgl. SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 22, 34; AA, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht vom 14.4.2020), da diese Aussage sich ausreichend gesichert nur auf temporäre Rückkehrer bezieht. Denn nur für diese Gruppe gibt es bislang aussagekräftige Erfahrungswerte (s.o.).
46
Der zuständige Einzelrichter geht auch nicht davon aus, dass die Erlangung des genannten Status und der damit einhergehende zeitweise Schutz, nicht in den Nationaldienst einberufen zu werden, dazu führt, dass eine Einberufung nicht mehr im erforderlichen, ausreichenden zeitlichen Zusammenhang mit der Rückkehr zu sehen ist (so auch VG Magdeburg, U.v. 25.5.2023 – 6 A 219/21 MD – beck-online, VG Köln, U.v. 20.4.2023 – 8 K 14995/17.A – beck-online in Bezug auf Einberufungsgefahr; a.A. OVG Hamburg, U.v. 27.10.2021 – 4 Bf 106/20 – beck-online). Zwar ist bei der erforderlichen Prognose ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Rückkehr und der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts erforderlich. Allerdings handelt es sich hier jedenfalls bei sechs und zwölf Monaten nicht um einen unüberschaubaren Zeitraum, der zu einer Unsicherheit bezüglich der Gefahr führt. Im Hinblick auf die lange bestehende Situation in Eritrea erscheint vielmehr eine Änderung der Situation im Nationaldienst und seiner Einberufungspraxis auch in diesem absehbaren Zeitraum derzeit als nicht beachtlich wahrscheinlich. Auch, dass andere Quellen von einem längeren Schutz sprechen (s.o.) führt vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Willkür, die in Eritrea herrscht, nicht zu einer anderen Einschätzung, sondern spricht vielmehr gegen eine Verlässlichkeit des Schutzes. Es kann davon ausgegangen werden, dass bei einer freiwilligen Rückkehr mit einem „Diaspora-Status“ jedenfalls ab dem Zeitpunkt, in dem erkannt wird, dass keine Rückkehr ins Ausland erfolgt, der Kläger damit rechnen muss, wie ein normaler Inländer behandelt zu werden, und damit auch einberufen zu werden. Im Hinblick darauf, dass grundsätzlich eine jährliche Ausreise gefordert wird, erscheint damit eine Einberufung jedenfalls nach einem Jahr als beachtlich wahrscheinlich, auch wenn längere „Probezeiten“ möglich sind.
47
Zudem bezieht sich der allgemeine – nicht auf Abschiebungsverbote beschränkte Maßstab – der Verschlechterung in absehbarer Zeit vorliegend – anders als bei Fällen, in denen die Prüfung von § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Fokus steht – nicht lediglich auf das enge zeitliche Umfeld nach einer hypothetischen Abschiebung nach Eritrea. Vielmehr sind bei der Ausfüllung des Maßstabs auch sonstige Rückkehrmodalitäten, die bereits zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung feststehen und voraussehbar sind, mithin nicht erst zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt zu befürchten sind, in den Blick zu nehmen (vgl. VG Magdeburg Urt. v. 25.5.2023 – 6 A 219/21 MD – beck-online). Hierfür spricht auch, dass nach der Rechtsprechung des EuGH (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – beck-online) auch im Zusammenhang mit einer Überstellung nach der Dublin-III-VO auch die Zustände für Anerkannte im Überstellungsstaat in den Blick zu nehmen sind. Die Situation scheint bei einem überschaubaren Zeitraum und grundsätzlich einschätzbarer Entwicklung auch für eine Überstellung in den Herkunftsstaat vergleichbar, so dass ein zeitlicher Aufschub des Nationaldienstes für nur sechs bis zwölf Monate, der möglicherweise durch einen Diaspora-Status erreicht werden kann, nicht geeignet ist, die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts auszuschließen. Es ist damit auch hier bereits die Situation in den Blick zu nehmen, in der der Rückkehrer wieder wie ein normaler Inländer betrachtet würde.
48
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Klägerin nicht auf eine freiwillige Ausreise unter dem Diaspora-Status verwiesen werden kann, da sie diesen weder gesichert erlangen kann, ein Nachfragen wohl unzumutbar wäre und er sie jedenfalls nicht vor der beachtlichen Gefahr einer alsbaldigen Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes ausreichend schützen würde.
49
c) Bei einer Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes droht der Klägerin aufgrund drohender sexueller Übergriffe nach Überzeugung des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG.
50
Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 Buchst. a AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe im Sinn dieser Vorschrift, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 Buchst. b AsylG). Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG). Bei der Bestimmung dieses Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sind die Vorgaben des Unionsrechts und insbesondere das Urteil des EuGH vom 16.1.2024 (Az. C-621/21) betreffend die Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d der RL 2011/95/EU zu berücksichtigen. Danach können je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, als „einer bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden, was im Sinne eines „Verfolgungsgrundes“ zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann. Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d der RL 2011/95/EU ist dabei nach der der Rechtsprechung des EuGH unter Berücksichtigung der Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt auszulegen. Nach Art. 60 Abs. 1 der Istanbul-Konvention muss Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden, wobei nach Art. 60 Abs. 2 die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention geschlechtersensibel ausgelegt werden müssen (vgl. EuGH, U.v. 16.1.2024 – C-621/21 – juris Rn. 47 f.). Gewalt gegen Frauen sind nach Art. 3 Buchstabe a der Istanbul-Konvention alle Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung, sei es im öffentlichen oder privaten Leben. In Art. 3 Buchstabe d der Istanbul-Konvention wird geschlechtsspezifische Gewalt als Gewalt definiert, die gegen eine Frau gerichtet ist, weil sie eine Frau ist, oder die Frauen unverhältnismäßig stark betrifft.
51
Die Voraussetzung des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe a AsylG wird von weiblichen Rekrutinnen bereits aufgrund der angeborenen Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht begründet. Aber auch die Voraussetzung des § 3 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b AsylG liegen für Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes vor. Zwar schließt das selbständige Erfordernis der „deutlich abgrenzbaren Identität“ eine Auslegung aus, nach der eine „soziale Gruppe“ im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG allein dadurch begründet wird, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von etwa als Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 oder Abs. 2 AsylG zu qualifizierenden Maßnahmen betroffen wird (EuGH, U.v. 25.1.2018 – C-473/16 – juris; BVerwG, B.v. 23.9.2019 – 1 B 54.19 – juris; OVG Münster, B.v. 21.9.2020 – 19 A 1857/19.A – juris). Hiervon geht auch die Entscheidung des EuGH vom 16.1.2024 – C 621/21 – beck-online aus, in der der Gerichtshof ausführt, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe unabhängig von den Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Richtlinie festgestellt werden muss, denen die Mitglieder dieser Gruppe im Herkunftsland ausgesetzt sein können. Gleichwohl könne eine Diskriminierung oder eine Verfolgung von Personen, die ein gemeinsames Merkmal teilen, einen relevanten Faktor darstellen, wenn für die Prüfung, ob die zweite in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2011/95 vorgesehene Voraussetzung für die Identifizierung einer sozialen Gruppe erfüllt sei, zu beurteilen sei, ob es sich bei der in Rede stehenden Gruppe im Hinblick auf die sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen des betreffenden Herkunftslands offensichtlich um eine gesonderte Gruppe handele. Diese Auslegung werde durch Rn. 14 der Richtlinien des UNHCR zum internationalen Schutz Nr. 2 betreffend die „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Zusammenhang mit Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention bestätigt. Folglich könnten Frauen insgesamt als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2011/95 zugehörig angesehen werden, wenn feststehe, dass sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt seien. Der zuständige Einzelrichter geht zwar nicht davon aus, dass alleine die verbreitete sexuelle Gewalt in Eritrea Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes zu einer gesonderten und abgrenzbaren sozialen Gruppe gegenüber z.B. Frauen außerhalb des militärischen Nationaldienstes macht. Allerdings führt die Zugehörigkeit zum Geschlecht der Frauen und die in Eritrea Frauen gegenüber bestehende Einstellung und die Rahmenbedingungen im militärischen Bereich des Nationaldienstes dazu, dass Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes, zu dessen Ableistung sie grundsätzlich verpflichtet sind, gegenüber den männlichen Rekruten anders angesehen und behandelt werden und damit eine „soziale Gruppe“ i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG vorliegt (anders OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 29.9.2022 – 4 B 14/21; VG Berlin, U.v. 6.2.2023 – VG 28 K 505.17.A; OVG Münster, B.v. 21.9.2020 – 4 B 21.9.2020 – 19.A.; OVG Lüneburg, B.v. 9.2.2022 – 4 LA 74/20 – jeweils beck-online). Zwar geht der zuständige Einzelrichter nicht davon aus, dass Frauen gerade zu dem Zweck rekrutiert werden, um für sexuelle Dienste von Vorgesetzten zur Verfügung zu stehen. Ihre Einberufung erfolgt vielmehr im Zuge der allgemeinen Dienstpflicht, unter die auch konsequent Frauen fallen. Auch, dass diese Frauen, die in den militärischen Bereich einberufen werden, häufig Funktionen wie Köchinnen, Putzkraft, Wäscherin, persönliche Assistentin des Kommandanten oder Büromittarbeiterin zugeteilt werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S.26), führt alleine nicht automatisch zu einer geschlechtsspezifischen Verfolgung. Diese Tätigkeiten sind nicht automatisch mit einem sexuellen Bezug belegt, sondern im militärischen Bereich notwendig. Allerdings ist nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln davon auszugehen, dass es gerade im militärischen Bereich und gerade in diesen Funktionen gehäuft zu sexuellen Übergriffen kommt und hiergegen nicht eingeschritten wird (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 14; Human Rights Council, Situation of human rights in Eritrea 5/2024, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea S. 8; UN General Assembly, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 6 May 2022, A/HRC/50/20, S. 7; Danish Refugee Council, Country Report Eritrea, January 2020, S. 22; SFH Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 13. Februar 2018 zu Eritrea, Sexualisierte Gewalt gegen Frauen, S. 3). Dabei deuten die Erkenntnismittel auf eine kontinuierliche Verschlechterung der Dienstbedingungen hin (vgl. VG Bremen, U.v. 24.11.2023 – 7 K 297/22 – BeckRS 2023, 45673, Rn. 42), womit auch eine tendenzielle Verschlechterung der Lage von Frauen im Militärdienst naheliegt. Nach dem letzten Bericht der früheren VN Sonderberichterstatterin Sheila B. Keetaruth stelle die anhaltende Leugnung der Existenz sexueller Ausbeutung und Gewalt in der Armee durch die Regierung eine Verweigerung der Rechte der Frauen dar, die dringend abgestellt werden müsse (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 14). Nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln geht der zuständige Einzelrichter davon aus, dass die nach den Erkenntnismitteln weit verbreitete Annahme, dass weibliche Rekrutinnen ihren Vorgesetzten auch in sexueller Hinsicht zur Verfügung stehen, auch in der Rolle der Frau im sozialen Kontext und ihrem mangelnden gesellschaftlichen Schutz zu sehen ist (vgl. allgemein auch Gaim Kibreab, Sexual Violence in the Eritrean National Service). Soweit bislang davon ausgegangen wurde, dass Misshandlungen, Willkür und Machtmissbrauch gegenüber Untergebenen allgemein im militärischen Bereich des Nationaldienstes verbreitet sind und die sexuellen Übergriffe gegenüber Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes eine besondere Form der Misshandlung im Rahmen des Nationaldienstes neben anderen Formen von Misshandlungen gegenüber allen Dienstverpflichteten unabhängig vom Geschlecht sei, erscheint dies im Lichte der Entscheidung des EuGH vom 16.1.2024 (s.o.) nicht mehr sachgerecht. Zwar sind sowohl die Misshandlungen als auch die sexuellen Übergriffe darin bedingt, dass den Vorgesetzten fast unbegrenzte Macht gegenüber den Rekruten zukommt. Dennoch ist auch zu berücksichtigen, dass die Machtdemonstration bei Frauen geschlechtsspezifische Formen hat und auch im Zusammenhang mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft zu sehen ist. Anders als ihre männlichen Kollegen sind sie auf Grund ihres Geschlechts auch sexueller Gewalt ausgesetzt bzw. werden unter Strafandrohung unter Druck gesetzt, zu sexuellen Diensten zu sein. Daneben tragen auch sie das Risiko bei Fehlverhalten im Dienst bestraft und dabei menschenunwürdig behandelt zu werden. Das zusätzliche Risiko, bestraft zu werden, weil sie nicht zu sexuellen Diensten sein wollen, tragen nur weibliche Rekrutinnen. Auch dies spricht dafür, dass weibliche Rekrutinnen aufgrund ihres Geschlechts im militärischen Bereich des Nationaldienstes anders angesehen und behandelt werden als männliche Rekruten. Auch tragen nur Frauen in Eritrea das Risiko einer Stigmatisierung, wenn sie unehelich schwanger werden, selbst bei einer Vergewaltigung (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 15). Sexuelle Übergriffe auf weibliche Rekrutinnen im Militärdienst erfolgen gerade aus dem Grund, weil sie Frauen sind bzw. betreffen solche Übergriffe unverhältnismäßig oft Frauen, womit eine geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen im Sinne des Art. 3 Buchstabe d der Istanbul-Konvention vorliegt. Da nach Art. 60 Abs. 2 der Istanbul-Konvention und gemäß der EuGH-Rechtsprechung auch bei der Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d der RL 2011/95/EU eine geschlechtersensible Auslegung von Verfolgungsgründen erforderlich ist, kann diese Form geschlechtsspezifischer Gewalt nach Ansicht des Einzelrichters nicht als bloßer Ausdruck eines unabhängig vom Geschlecht der Betroffenen bestehenden gewalttätigen Umfelds gesehen werden. Vielmehr ist dem gerade gegen Frauen als solche gerichteten Gewaltakt eine eigenständige Qualität beizumessen. Im Lichte einer geschlechtersensiblen Auslegung geht daher der zuständige Einzelrichter davon aus, dass Frauen, die beachtlich wahrscheinlich in den militärischen Bereich des Nationaldiensts einberufen werden, eine geschlechtsspezifische Verfolgung droht. Dem Erfordernis einer geschlechtssensiblen Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d der RL 2011/95/EU und damit auch des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG wird daher nur genügt, wenn Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes, die im Gegensatz zu Männern im regulären Dienst Verfolgungshandlungen ausgesetzt sind, entsprechend dem oben Ausgeführten als soziale Gruppe mit abgegrenzter Identität angesehen werden.
52
Der Klägerin droht damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im militärischen Teil des Nationaldienstes eine Verfolgung in Form sexueller Gewalt wegen Zugehörigkeit zur abgegrenzten sozialen Gruppe weiblicher Rekrutinnen. Da die Verfolgung im Nationaldienst von staatlichen Akteuren nach § 3c Nr. 1 AsylG ausgeht und innerhalb Eritreas keine Möglichkeit besteht, einer Einziehung in den Militärdienst zu entgehen (§ 3e Abs. 1 AsylG) hat die Klägerin damit gemäß § 3 Abs. 1 AsylG einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
53
3. Die Klägerin hat darüber hinaus aber keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte aus Art. 16a Abs. 1 Grundgesetz (GG).
54
Gemäß Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht.
55
Voraussetzung für die Anerkennung als Asylberechtigte ist nach der Rechtsprechung die politische Verfolgung durch staatliche Akteure aufgrund eines asylrelevanten Verfolgungsgrundes.
56
a) Die Anwendbarkeit des Asylgrundrechts aus Art. 16a Abs. 1 GG ist zunächst nicht nach Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylG ausgeschlossen. Demnach kann sich nicht auf Art. 16a Abs. 1 GG berufen, wer über einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einen „sicheren Drittstaat“ in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. Die Klägerin ist mit einem Direktflug aus Addis Abeba, der Hauptstadt der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien, nach Frankfurt am Main geflogen. Die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien ist weder ein Mitgliedstaat der EU noch ein sicherer Drittstaat i.S.d. Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG, § 26a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AsylG i.V.m. Anlage I zu § 26a AsylG.
57
b) Zwar spricht Vieles dafür, dass der Klägerin als nationaldienstpflichtige Frau im militärischen Bereich des Nationaldienstes eine politische Verfolgung in Form von sexuellen Übergriffen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes droht (vgl. allgemein zu sexualisierter Gewalt als Verfolgungshandlung im Kontext des Art. 16a GG: Dürig/Herzog/Scholz/Gärditz, 105. EL August 2024, GG Art. 16a Rn. 211, beck-online). Insoweit liegt es nahe, eine Parallele zwischen den obigen Ausführungen hinsichtlich der Flüchtlingseigenschaft zu einer möglichen Asylanerkennung zu ziehen (vgl. allgemein zur Verfolgung der sozialen Gruppe der Frauen im Kontext des Art. 16a GG: Dürig/Herzog/Scholz/Gärditz, 105. EL August 2024, GG Art. 16a Rn. 269-274, beck-online).
58
c) Allerdings scheidet ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte jedenfalls deshalb aus, weil die Klägerin ihre Flucht aus Eritrea bereits in Äthiopien beendet hat und dort vor einer politischen Verfolgung sicher war, § 27 Abs. 1, 3 Satz 1 AsylG.
59
Gem. § 27 Abs. 1 AsylG wird ein Ausländer, der bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung sicher war, nicht als Asylberechtigter anerkannt. Gem. § 27 Abs. 3 Satz 1 AsylG wiederum wird vermutet, dass ein Ausländer, der sich in einem sonstigen Drittstaat, in dem ihm keine politische Verfolgung droht, vor der Einreise in das Bundesgebiet länger als drei Monate aufgehalten hat, dort vor politischer Verfolgung sicher war. Dabei genügt es nicht, wenn der Ausländer den Drittstaat lediglich zur Durchreise genutzt hat. Vielmehr muss dort seine Flucht geendet sein.
60
Die Klägerin hat ihre Flucht aus Eritrea bereits in Äthiopien beendet und war dort vor politischer Verfolgung sicher. Die Klägerin ist im Jahr 2018 von Eritrea nach Äthiopien geflohen. Dort hat sie sich bis Ende Dezember 2022 aufgehalten, bevor sie dann am 24. Dezember 2022 nach Deutschland geflogen ist. In Äthiopien hat sie zunächst für sechs oder sieben Monate in einem Flüchtlingslager gelebt. Nach eigener Aussage hat sie dort auch einen Flüchtlingsausweis der UNHCR erhalten, wobei es sich wahrscheinlich um eine sog. identity documentation oder ID card der UNHCR gehandelt hat (vgl. https://www.unhcr.org/registration-guidance/chapter5/documentation/). Anschließend hat sie in Addis Abeba gelebt, wo sie auch eine Ausbildung zur Friseurin gemacht hat. In ihrer Zeit in Äthiopien wurde sie von ihrer Mutter von Deutschland aus finanziell unterstützt. Schon aufgrund der Tatsachen, dass sie sich ungestört und mit einer Art Duldung in Form des UNHCR-Ausweises in Äthiopien aufhalten konnte, innerhalb des Landes frei reisen und umziehen konnte und sogar eine Ausbildung machen konnte, wird deutlich, dass die Flucht der Klägerin in Äthiopien spätestens nach dem Umzug nach Addis Abeba geendet ist. Hierfür spricht auch die Vermutung des § 27 Abs. 3 Satz 1 AsylG, da die Klägerin sich insgesamt mindestens vier Jahre in Äthiopien aufgehalten hat.
61
Nicht erforderlich ist dabei, dass Äthiopien als Drittstaat auch bereit wäre, die Klägerin wieder aufzunehmen. Dieses Erfordernis sieht § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG dann vor, wenn ein Asylantrag bereits als unzulässig abgelehnt werden soll. Dagegen geht es bei § 27 Abs. 1, 3 AsylG um eine Einschränkung des Schutzbereichs des Asylgrundrechts aus Art. 16a Abs. 1 GG (vgl. BeckOK MigR/Diesterhöft, 20. Ed. 1.1.2025, AsylG § 27 Rn. 1, 6, beck-online). Im Umkehrschluss von § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG, der die Rücknahmebereitschaft ausdrücklich voraussetzt, auf § 27 Abs. 1, 3 AsylG, der sich hierzu nicht verhält, kann geschlossen werden, dass diese Voraussetzung für eine Beschränkung des Schutzbereichs nicht einschlägig ist. Hierfür spricht auch, dass § 29 AsylG für alle „Asylanträge“ und damit gem. § 13 Abs. 1 AsylG insbesondere auch für Anträge auf internationalen Schutz nach §§ 3 und 4 AsylG gilt. Mithin betrifft § 29 AsylG auch Anträge, die vollständig von Europarecht – insbesondere der Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) und der Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU) – überformt sind. Damit ist hinsichtlich der von § 29 AsylG (auch) erfassten Anträge auf internationalen Schutz gerade auch Art. 33 Abs. 2 lit. b i.V.m. Art. 35 Asylverfahrensrichtlinie anwendbar, wonach ein Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig wegen Verweises auf einen ersten Asylstaat abgelehnt werden kann, wenn dieser dazu bereit ist, den Ausländer wieder aufzunehmen, Art. 35 Satz 1 aE Asylverfahrensrichtlinie. Es liegt also nahe, dass das Erfordernis der Rücknahmebereitschaft in § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG auf diese europarechtliche Voraussetzung zurückgeht (vgl. BeckOK MigR/Diesterhöft, 20. Ed. 1.1.2025, AsylG § 27 Rn. 4, beck-online). § 27 AsylG hingegen betrifft einzig den Antrag auf Anerkennung der Asylberechtigung aus Art. 16a Abs. 1 GG und mithin lediglich nationalen Schutz, nicht aber Anträge auf internationalen Schutz, auf die die besagten Richtlinien anwendbar sind (vgl. BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087 (1090); BeckOK MigR/Diesterhöft, 20. Ed. 1.1.2025, AsylG § 27 Rn. 3, beck-online). Art. 16a GG ist als eigenständiges, nationales Schutzrecht zu sehen, dessen Anwendungsbereich sich auch primär nach nationalem Recht richtet – und nicht (unmittelbar) nach europäischem Recht (vgl. Art. 3 Abs. 1, 3 Asylverfahrensrichtlinie). Zwar ist es wiederum denkbar, dass der deutsche Gesetzgeber hinsichtlich der Ausgestaltung des Asylgrundrechts auf europäisches oder sonstiges internationales Recht (insbesondere die Genfer Flüchtlingskonvention, vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Gärditz, 105. EL August 2024, GG Art. 16a Rn. 159, 161, beck-online) verweist (vgl. Art. 3 Abs. 3 Asylverfahrensrichtlinie) oder zurückgreift und insoweit eine Auslegung des Anwendungsbereichs auch anhand internationaler Rechtssätze möglich ist. Dies ist jedoch nur im Rahmen des auslegungsfähigen Wortlauts des Gesetzes möglich (vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Gärditz, 105. EL August 2024, GG Art. 16a Rn. 167, beck-online). Demnach ist kein Raum für eine Übertragung der Rücknahmebereitschaft als Voraussetzung für die Einschränkung des Schutzbereichs des Art. 16a GG.
62
Auch wurde nicht glaubhaft gemacht, dass der Klägerin in Äthiopien die Abschiebung nach Eritrea drohte, § 27 Abs. 3 Satz 2 AsylG. Zwar gibt es zahlreiche Berichte darüber, dass eritreische Flüchtlinge vom äthiopischen Staat nach Eritrea abgeschoben werden (vgl. https://www.ohchr.org/en/press-releases/2023/07/un-experts-urge-ethiopia-halt-mass-deportation-eritreans). Allerdings ist nichts vorgetragen und auch nichts dafür ersichtlich, dass der Klägerin tatsächlich eine Abschiebung drohte. Wie ausgeführt wurde sie in Äthiopien zumindest geduldet, konnte sich innerhalb des Landes frei bewegen und eine Ausbildung aufnehmen.
63
Da somit der Schutzbereich des Art. 16a Abs. 1 GG bereits gem. § 27 Abs. 1, 3 AsylG ausgeschlossen ist, kann dahinstehen, ob eine im Rahmen des Art. 16a Abs. 1 GG relevante Verfolgung der Klägerin droht.
64
Klarzustellen bleibt noch, dass die Ausführungen zu § 27 AsylG lediglich den Anspruch auf Asylanerkennung aus Art. 16a Abs. 1 GG ausschließen, nicht aber dem oben bejahten Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 3 Abs. 1 AsylG entgegenstehen. Denn wie dargestellt, gilt § 27 AsylG nur für Anträge auf Asylberechtigung nach Art. 16a Abs. 1 GG und nicht für Anträge auf internationalen Schutz (vgl. BeckOK MigR/Diesterhöft, 20. Ed. 1.1.2025, AsylG § 27 Rn. 3, beck-online). Für letztere gilt vielmehr die zusätzliche Voraussetzung des § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG, wonach der erste Asylstaat auch zur Wiederaufnahme des Ausländers bereit sein muss (BeckOK MigR/Diesterhöft, 20. Ed. 1.1.2025, AsylG § 27 Rn. 6, beck-online). Es ist jedoch nichts dafür ersichtlich, dass die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien dazu bereit wäre, die Klägerin im Falle einer Abschiebung aus Deutschland aufzunehmen. Die Klägerin hat weder die äthiopische Staatsangehörigkeit, noch hat sie einen Aufenthaltsstatus nach äthiopischem Recht. Ihr UNHCR-Flüchtlingsausweises steht dem nicht gleich, da der Ausweis nicht vom äthiopischen Staat ausgestellt wurde. Auch lässt sich aus der faktischen Duldung der Klägerin in Äthiopien nicht schließen, dass der äthiopische Staat auch bereit wäre, sie nach über drei Jahren im Ausland wieder aufzunehmen.
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Der Klägerin steht somit kein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte aus Art. 16a Abs. 1 GG zu. Insoweit ist die Klage mithin als unbegründet abzuweisen.
66
Sie hat jedoch einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 3 Abs. 1 AsylG. Die Klage erweist sich insoweit als begründet.
67
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b Asyl nicht erhoben. Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.
68
Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).