Titel:
Beschlagnahme großer Datenmengen ohne vorherige Durchsicht
Normenketten:
StPO § 110 Abs. 3
StPO § 94, § 98, § 110
Leitsätze:
In einem Ermittlungsverfahren wegen Abrechnungsbetrugs kann die vollständige Spiegelung der Patientendaten einer Arztpraxis im Wege einer virtuellen Maschine zur Durchführung der Durchsicht verhältnismäßig sein, wenn die Praxis-EDV einen nach allgemeinen Parametern definierten partiellen Datenexport in angemessener Zeit nicht zulässt. (Rn. 13 – 17)
1. Die Beschlagnahme großer Datenmengen ohne vorherige Durchsicht ist rechtswidrig. (Rn. 8 – 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ist am Durchsuchungsort eine Durchsicht und Sortierung der Daten nach ihrer Verfahrensrelevanz nicht möglich oder erlaubt die – auch technische – Erfassbarkeit des Datenbestands eine unverzügliche Zuordnung nicht, kann die vorläufige Sicherstellung des gesamten Datenbestands erfolgen, an die sich die Durchsicht gem. § 110 StPO zur Feststellung der potenziellen Beweiserheblichkeit und -verwertbarkeit der einzelnen Datensätze anschließt. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beschlagnahme großer Datenmengen, Patientendaten, Abrechnungsbetrug, Durchsicht, Beweiserheblichkeit, vorläufige Sicherstellung
Vorinstanz:
AG Nürnberg, Beschluss vom 05.11.2024 – 59 Gs 11714/24
Fundstellen:
BeckRS 2025, 509
FDStrafR 2025, 000509
Tenor
Der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 05.11.2024 – 59 Gs 11714/24 – wird aufgehoben, soweit er die Beschlagnahme der virtuellen Maschine „Medistar Dr. …“ bestätigte.
Die Staatskasse trägt die Kosten der Beschwerde und die notwendigen Auslagen des Beschuldigten.
Gründe
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Die Beschwerde richtet sich gegen die richterliche Bestätigung der Beschlagnahme einer sog. virtuellen Maschine durch die StA. Dem liegt zugrunde:
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Der Beschuldigte ist als Arzt zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Die GenStA N. verdächtigt ihn des Abrechnungsbetrugs gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB) in den Quartalen 3/2019 bis 3/2021. Das Amtsgericht Nürnberg erließ dementsprechend Durchsuchungsbeschlüsse, u.a. auch für die Praxisräume des Beschuldigten, die am 09.10.2024 vollzogen wurden. Gesucht werden sollte ausweislich der Beschlüsse nach
1. Sämtlichen Patientenunterlagen, die Patienten der gesetzlichen Krankenversicherungen betreffen und welche Aufschluss darüber geben können, welche Leistungen im Zeitraum von Quartal 3/2019 bis 3/2021 an diesen Patienten erbracht wurden, insbesondere entsprechende Patientenkarteikarten, Behandlungsblätter, Arztbriefe, Befundberichte, Terminpläne etc., …
4. sämtlichen elektronisch gespeicherten Daten, welche die in vorstehenden Ziffern bezeichneten Informationen enthalten … einschließlich den für die Erfassung und Bearbeitung dieser Daten … verwendeten Computerprogrammen …
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Im Rahmen der Durchsuchung wurden in der Praxis Daten sichergestellt. Dies geschah in der Weise, dass Daten von Praxisrechnern auf dienstliche Datenträger gespiegelt wurden. Gespiegelt wurde auch die Praxissoftware CGM Medistar in Form einer sog. virtuellen Maschine vom Arbeitsplatzrechner des Beschuldigten. Diese virtuelle Maschine wurde aus dem auf dem Praxisrechner installierten Verwaltungsprogramm für virtuelle Maschinen Microsoft Hyper-V direkt exportiert und auf einem dienstlichen Datenträger gespeichert.
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Noch während der laufenden Datensicherung ordnete der in der Praxis anwesende Oberstaatsanwalt die Beschlagnahme der genannten Daten an, um dem Beweismittelverlust durch einen befürchteten (Fern-)Zugriff des Beschuldigten zuvorzukommen. Er begründete das damit, dass der Beschuldigte vor Beendigung der Sicherung die Praxis verlassen habe. Bei Durchsuchungsbeginn habe der Beschuldigte erklärt, die gesuchten Daten lägen nur elektronisch vor und er habe auf sie von seinem Praxisrechner und vom Homeoffice aus Zugriff.
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Am 05.11.2024 bestätigte das Amtsgericht Nürnberg auf Antrag der GenStA die Beschlagnahme der virtuellen Maschine. Die Beschlagnahme sei verhältnismäßig und für die Ermittlungen notwendig.
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Gegen diesen Beschluss legte der Verteidiger des Beschuldigten mit Schriftsatz vom 14.11.2024 Beschwerde ein, die er mit weiterem Schriftsatz vom 20.01.2025 ergänzend begründete. Die Beschlagnahme gehe viel zu weit. In der virtuellen Maschine seien sämtliche Behandlungsfälle seit Gründung der Praxis im Jahr 2007 einschließlich der Privatpatienten enthalten.
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Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Die angegriffene Beschlagnahme war unverhältnismäßig und damit rechtswidrig.
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1. Für die Entscheidung der Beschwerde ist die Verhältnisbestimmung von Durchsuchung, Durchsicht und Beschlagnahme zueinander von zentraler Bedeutung. Eine Durchsuchung dauert an, bis die Durchsicht der aufgefundenen Daten (§ 110 Abs. 3 StPO) abgeschlossen ist. Die Durchsicht dient der Prüfung, ob und bejahendenfalls welche Daten überhaupt als Beweismittel in Betracht kommen und sie infolgedessen zu beschlagnahmen oder zurückzugeben (oder ggf. zu löschen) sind. Dabei ist unerhebliches Material auszusondern, sodass nur die verfahrensrelevanten Daten der Beschlagnahme unterworfen werden (Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 67. Aufl., § 110 Rn. 2; Cordes/Reichling, NStZ 2022, 712, 713). Mit der Beschlagnahme wird das Stadium der Durchsicht nach § 110 StPO beendet (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 23.10.1996 – 3 VAs 4/96, NStZ-RR 1997, 74; LR-StPO/Tsambikakis, 27. Aufl., § 110 Rn. 26). Zugleich wird mit ihr die potenzielle Beweisbedeutung der bei der Durchsicht für relevant befundenen Daten nach § 94 Abs. 1, 2 StPO festgestellt. Voraussetzung für letzteres ist, dass die nicht fernliegende Möglichkeit besteht, sie im Verfahren zu Untersuchungszwecken in irgendeiner Weise zu verwenden. Das ist ex ante zu beurteilen, weil sich die tatsächliche Beweisbedeutung erst bei der Auswertung ergeben kann (BGH, Beschluss vom 14.06.2018 – StB 13/18, juris Rn. 6). Die inhaltliche Auswertung der gesichteten und vorsortierten Daten kann also – wenn der Betroffene nicht einverstanden ist – erst stattfinden, nachdem eine entsprechende Beschlagnahme erfolgt ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.11.2022 – 2 BvR 827/21, juris Rn. 6; Park, NStZ 2023, 646, 647 m.w.N.).
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2. Eine Durchsicht der Daten hat hier vor der Beschlagnahme nicht stattgefunden, obwohl sie technisch (a) und rechtlich (b) möglich war. Die Beschlagnahme der kompletten virtuellen Maschine erwies sich deshalb als unverhältnismäßig und damit rechtswidrig (c).
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a) Mit der vorgenommenen Virtualisierung des Programms Medistar – d.h. mit der lauffähigen Spiegelung des Programms einschließlich des Gesamtbestandes der von ihm verwalteten Patientendaten – hat die Ermittlungsbehörde noch keine Durchsicht vorgenommen, sondern dafür erst die Arbeitsgrundlage geschaffen. Die virtuelle Maschine bildet lediglich die Rechnerarchitektur des Arbeitsplatzrechners des Beschuldigten nach, soweit es um die Anwendung Medistar geht, und stellt insoweit ein identisches Duplikat dar. Medistar verfügt, auf die Bedürfnisse des behandelnden Arztes ausgerichtet, über eingeschränkte Suchfunktionen, die primär auf den einzelnen Patienten ausgerichtet sind. Für die Zwecke von Ermittlungsbehörden brauchbare Sortier- und Exportfunktionen hat das Programm – so, wie die Kammer das verstanden hat – nicht, insbesondere ist es nicht möglich, große nach bestimmten Parametern sortierte (z.B. nach Zeiträumen der Behandlung und Abrechnung) Datensätze en bloc zu exportieren. Das Programm verfügt zwar über eine Schnittstelle für den Datenaustausch mit der KVB, über die die quartalsweise Abrechnung der Behandlungen von Kassenpatienten abgewickelt wird. Das genügt den Erfordernissen der strafrechtlichen Ermittlungen aber nicht, weil mit den Abrechnungen die Inhalte der für jeden einzelnen Patienten geführten digitalen Karteikarten, namentlich die dort vermerkten Befunde und Behandlungen, nicht automatisch an die KVB versandt werden. Auf die aber kommt es an, wenn der Vorwurf – wie hier – dahin geht, dass tatsächlich nicht erbrachte Leistungen abgerechnet worden sein sollen. Praktisch bedeutet das, dass die Ermittler Medistar „händisch“ sichten müssen, um bei jedem einzelnen Patienten zu prüfen, ob dessen Datensatz für den untersuchten Zeitraum relevant sein kann oder nicht. Damit ist die Durchsicht von Medistar zwar mühsam und zeitraubend, aber grundsätzlich möglich.
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b) Der Durchsicht außerhalb der Praxisräume standen Rechtsgründe nicht entgegen. Die Durchsicht großer Datenmengen, erst recht, wenn es sich um sensible Gesundheitsdaten handelt, unterliegt allerdings in strikter Weise dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, was verfahrensrechtliche Sicherungen, einschließlich Löschungen nicht benötigter Daten beinhalten kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.04.2005 – 2 BvR 1027/02, juris Rn. 106 ff.; Park, NStZ 2023, 646, 647 ff.).
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aa) Im ersten Schritt war es zulässig, dass die die Arztpraxis durchsuchenden Ermittler den kompletten Datenbestand von Medistar durch die Erzeugung einer virtuellen Maschine spiegelten und diese mitnahmen.
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(1) Ist am Durchsuchungsort eine Durchsicht und Sortierung der Daten nach ihrer Verfahrensrelevanz nicht möglich oder erlaubt die – auch technische – Erfassbarkeit des Datenbestands eine unverzügliche Zuordnung nicht, kann die vorläufige Sicherstellung des gesamten Datenbestands erfolgen, an die sich die Durchsicht gemäß § 110 StPO zur Feststellung der potenziellen Beweiserheblichkeit und -verwertbarkeit der einzelnen Datensätze anschließt (BVerfG, Beschluss vom 15.08.2014 – 2 BvR 969/14, juris Rn. 44). Begrenzt wird ein solcher umfassender Zugriff durch das Übermaßverbot (BVerfG, Beschluss vom 12.04.2005 – 2 BvR 1027/02, juris 120).
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Nach den technischen Gegenbenheiten des vom Beschuldigten verwendeten Programms Medistar war vor Ort eine nach bestimmten allgemeinen Parametern vorzunehmende Sortierung und ein entsprechend umgrenzter Datenexport in angemessener Zeit nicht möglich. Die unvollständige Spiegelung von Programm und Patientendaten oder etwaige zu dem Zeitpunkt durchgeführten Löschungen hätten dazu geführt, dass die virtuelle Maschine nicht mehr lauffähig ist und daher später nicht gesichtet und ausgewertet werden kann. Insofern war die Erzeugung der virtuellen Maschine zur Durchführung der Ermittlungen erforderlich und geeignet.
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(2) Nichts anderes folgt aus dem Hinweis der Beschwerde auf ein anderes Ermittlungsverfahren, in dem Krankenhausmitarbeiter zusammen mit den Ermittlern vor Ort die dortige Datenbank durchgegangen seien und potenziell beweisrelevante Datensätze per Screenshot gesichert haben sollen, sodass die anschließende Auswertung sich allein darauf bezogen habe. Wenn die tatsächlichen Umstände dieses der Kammer nicht bekannten Verfahrens das hergegeben haben, so mag das so sein. Wenn es aber – wie hier – wohl um mehrere Tausend Patienten-Datensätze geht, die einzeln gesichtet werden müssten, so hätte die Durchführung der vorgeschlagenen Prozedur die tage- oder wochenlange Lahmlegung der Arztpraxis zur Folge gehabt, weil Medistar während der Durchsicht zur Meidung von Datenmanipulationen dem Zugriff des Praxispersonals entzogen werden müsste. Die Kammer vermag darin kein milderes Mittel zu erkennen. Die Ermittlungspersonen müssten auch in diesem Fall, den technischen Möglichkeiten von Medistar folgend, alle Datensätze einzeln sichten. Zudem wäre die Binnenorganisation der Ermittlungsbehörden empfindlich gestört, denn die Sichtung vor Ort müsste – zwangsläufig – umgehend erfolgen, was die Ermittlungspersonen für deren Dauer entsprechend binden und sie damit an der Teilnahme an anderen, möglicherweise länger geplanten und koordinierten Ermittlungen hindern würde. Auch das ist im Blick zu behalten.
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(3) Die Kammer vermag weiterhin dem Argument der Beschwerde nicht zu folgen, wonach § 500 StPO mit §§ 48, 46 Nr. 14 Buchstabe d BDSG der Sicherstellung der vollständigen Patientendatenbank entgegengestanden hätte. Diese Vorschriften des BDSG sind insoweit nicht anwendbar. Nur der (spätere) Umgang mit den durch strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen gewonnenen Daten richtet sich nach dem spezifischen Datenschutzrecht, das sich in Teil 3 des BDSG und in den speziellen Datenschutzregelungen der StPO findet. Die strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen – und um deren Beurteilung geht es hier – richten sich dagegen nach den Vorschriften der StPO und der hierzu ergangenen Rechtsprechung, weil ihnen als bereichsspezifischen Sonderregelungen der Vorrang gebührt (BGH, Beschluss vom 27.04.2023 – 5 StR 421/22, juris Rn. 4 m.w.N. auch zur a.A.; LR-StPO/Böß, 27. Aufl., § 500 Rn. 6 f.; Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 67. Aufl., § 500 Rn. 2).
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(4) Das Übermaßverbot wäre durch die Virtualisierung von Medistar allerdings dann verletzt, wenn der die Durchsuchung begründende Tatverdacht insgesamt als nicht hinreichend gewichtig zu werten wäre, um den erheblichen Eingriff zu rechtfertigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.06.2008 – 2 BvR 1111/08, juris Rn. 4; LR-StPO/Tsambikakis, 27. Aufl., § 110 Rn. 23). Das war aber nicht der Fall, denn die in der Strafanzeige der KVB vorgelegten Anlagen belegen eine Vielzahl von Unregelmäßigkeiten, die geeignet sind, den Verdacht umfänglichen Abrechnungsbetrugs durch den Beschuldigten zu tragen. Die Bekämpfung von systematischem Abrechnungsbetrug in dem auf Vertrauen basierenden Abrechnungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung stellt bei dieser Abwägung einen gewichtigen, gegen den Beschuldigten streitenden Belang dar (vgl. BGH, Beschluss vom 14.04.1993 – 4 StR 144/93, juris Rn. 2 f.; Urteil vom 21.05.1992 – 4 StR 577/91, juris Rn. 34).
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bb) Im zweiten Schritt wäre das Aussondern von möglicherweise verfahrensrelevanten Datensätzen im Wege der Sichtung angestanden. Hierbei hätten die Ermittlungsbehörden dem begrenzenden Zweck des im Durchsuchungsbeschluss formulierten Tatverdachtes Rechnung zu tragen gehabt, was einer gezielten Suche nach Zufallsfunden in der Masse der gespiegelten Daten von vornherein Schranken gesetzt haben würde (vgl. Park, NStZ 2023, 646, 651 f.). Der danach verbleibende Bestand potenziell beweisrelevanter Datensätze wäre tauglicher Gegenstand einer anschließenden Beschlagnahme.
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c) Eine Durchsicht und damit eine Sortierung nach verfahrensrelevanten und -irrelevanten Datensätzen hat vor der Beschlagnahme jedoch nicht stattgefunden. Beschlagnahmt und damit als potenziell beweisbedeutsam erklärt wurde der gesamte Datenbestand aus den Jahren 2007 bis Ende 2024, obwohl nur der Zeitraum von zwei Jahren (Quartal 3/2019 bis 3/2021) zur näheren Untersuchung ansteht. Dass das, auch angesichts der Sensibilität der fraglichen Daten, die Grenzen der Angemessenheit und damit der Verhältnismäßigkeit überschreitet, liegt auf der Hand (vgl. auch LR-StPO/Menges, 27. Aufl., § 94 Rn. 51 ff.). Der Beschlagnahmebeschluss war daher insgesamt aufzuheben. Eine Teilbarkeit in dem Sinne, dass die Beschlagnahme aufrechterhalten bleibt, soweit sie allein die Daten aus den genannten Quartalen betrifft, war nicht gegeben, denn mangels vorangehender Durchsicht und Sortierung wäre sie (derzeit und absehbar) technisch nicht umsetzbar.
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Die Kostenfolge beruht auf entsprechender Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.