Titel:
Strafvollstreckung, Vollstreckungsbehörde, Vorschaltverfahren, Ermessensentscheidung, Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts, Antrag auf gerichtliche Entscheidung, Weitere Vollstreckung, Erneute Einreise, Generalstaatsanwaltschaft, Ermessensfehler, Schwere der Schuld, Nicht geringe Menge, Maßgeblicher Zeitpunkt, Senatsbeschluß, Bestandskräftiger Bescheid, Öffentliches Interesse, Freiheitsstrafe, Festsetzung des Geschäftswerts, Außergerichtliche Kosten, Beschlüsse
Normenkette:
StPO § 456a
Leitsatz:
Der Anwendungsbereich von § 456a StPO ist auch gegenüber einem EU-Bürger eröffnet, wenn nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU bestandskräftig der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland festgestellt worden ist, er ausreisepflichtig ist und ihm die erneute Einreise in das Bundesgebiet befristet nach § 7 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU nicht gestattet ist
Schlagworte:
Strafvollstreckung, Ermessensentscheidung, Vollstreckungsbehörde, Betäubungsmittelkriminalität, Ausreisepflicht, EU-Bürger, Abschiebung
Fundstelle:
BeckRS 2025, 4332
Tenor
1. Der Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 23 ff. EGGVG gegen den Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft N. vom 28. Oktober 2024 wird auf seine Kosten als unbegründet zurückgewiesen.
2. Der Geschäftswert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
3. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
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Der Verurteilte, ein niederländischer Staatsangehöriger mit letztem Wohnsitz in U., befindet sich im Strafvollzug in der Justizvollzugsanstalt S. Mit Urteil des Landgerichts Regensburg vom 4. Februar 2022 – 7 KLs 502 Js 14206/21 –, rechtskräftig seit dem 9. August 2022, wurde der Verurteilte wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zu unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren und 3 Monaten verurteilt. Nach den Urteilsfeststellungen hatte er am 14. Juni 2021 im Kreis Regensburg in seinem Fahrzeug versteckt 2988,5 Gramm Kokain und daneben Streckmittel, vorgesehen für den gewinnbringenden Weiterverkauf, für unbekannte Hintermänner transportiert und war zudem bereits am 4. Dezember 2020 im Kreis D. mit einem Bargeldbetrag ungeklärter Herkunft in Höhe von 67.500.- Euro, auf dessen Herausgabe er in der Folgezeit verzichtete, und einer Armbanduhr im Wert von 20.000.- Euro, auf deren Herausgabe er ebenfalls verzichtete, festgestellt worden. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 30. September 2022 hat das Landratsamt ... den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland festgestellt, ein befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot ausgesprochen und dem Antragsteller die Abschiebung angedroht. Am 29. Juli 2024 war der Halbstrafenzeitpunkt erreicht, der Zweidritteltermin datiert auf 13. August 2025.
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Mit Schriftsätzen seines Verteidigers vom 5. Juli 2024 und 9. August 2024 hat der Verurteilte beantragt, von der weiteren Vollstreckung gemäß § 456a StPO abzusehen. Die Staatsanwaltschaft R. hat diesen Antrag mit Verfügung vom 12. August 2024 abgelehnt. Gegen diese Verfügung hat der Verurteilte mit anwaltlichem Schreiben vom 22. August 2024, ergänzt mit Schreiben vom 17. September 2024, Beschwerde eingelegt, welcher die Staatsanwaltschaft mit begründeter Verfügung vom 17. Oktober 2024 nicht abgeholfen hat. Die Generalstaatsanwaltschaft N. hat mit Bescheid vom 28. Oktober 2024 die Einwendungen des Verurteilten zurückgewiesen. Gegen diesen seinem Verteidiger am 4. November 2024 zugestellten Bescheid hat der Verurteilte durch Schriftsatz des Verteidigers vom 14. November 2024, eingegangen bei Gericht am selben Tage, gerichtliche Entscheidung beantragt. Die Generalstaatsanwaltschaft München hat mit Schreiben vom 2. Januar 2025 beantragt, den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zu verwerfen. Wegen der Einzelheiten wird auf die jeweiligen Ausführungen Bezug genommen.
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Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist nach § 23 Abs. 1, 2 EGGVG in Verbindung mit § 456a StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere wurde das erforderliche Vorschaltverfahren (§ 21 StVollstrO) durchgeführt. In der Sache hat der Antrag aber keinen Erfolg, weil die nach § 456a StPO getroffene Entscheidung keinen Ermessensfehler aufweist und der Verurteilte deswegen nicht in seinen Rechten verletzt ist (§ 28 Abs. 1 S. 1 EGGVG).
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1. Der Anwendungsbereich von § 456a StPO ist nach der Rechtsauffassung des Senats wegen der vergleichbaren Ausgangslage (vgl. Dietz, Ausländer- und Asylrecht, 5. Aufl., 2. Teil § 6 II 2 Rn. 20) auch gegenüber einem EU-Bürger eröffnet, wenn nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU bestandskräftig der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland festgestellt worden ist, er ausreisepflichtig ist und ihm die erneute Einreise in das Bundesgebiet befristet nach § 7 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU nicht gestattet ist (vgl. auch OLG Hamm, Beschluss vom 28. März 2019 – III-1 VAs 5/19 –, juris; im Erg. bereits Senat, Beschluss vom 17. Oktober 2024 – 203 VAs 393/24 –, juris; Pollähne in: Gercke/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 7. Auflage 2023, § 456a Rn. 1; Wolf in: Pohlmann/Jabel/Wolf/Kempfer, Strafvollstreckungsordnung, 10. Auflage 2024, § 17 StVollstrO Rn. 2; a.A., jedoch überholt, da zu § 456a StPO in der Fassung vom 21. Juni 2002 verfasst, Pfaff ZAR 2006, 121, 123; offen gelassen Coen in BeckOK StPO, 53. Ed. 1.10.2024, StPO § 456a Rn. 3). Denn nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist ein Unionsbürger ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Wenn sich der Betroffene in Haft befindet und eine freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht nicht gesichert ist, kann auch die Abschiebung eines Unionsbürgers aus der Haft heraus angeordnet werden (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 30. September 2019 – 10 C 19.1919 –, juris Rn. 10; zur Zulässigkeit einer Abschiebung eines Unionsbürgers auch BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 13/16 –, BVerwGE 157, 34-45, juris).
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2. Die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde nach § 456a Abs. 1 StPO ist eine Ermessensentscheidung im Sinne von § 28 Abs. 3 EGGVG (st. Rspr., vgl. etwa Senat, Beschluss vom 21. August 2023 – 203 VAs 243/23 –, juris Rn. 5; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 456a Rn. 14). Danach sind ablehnende Entscheidungen durch die Gerichte nur daraufhin zu überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Dies ist der Fall, wenn die Entscheidung willkürlich ist, wenn die Vollstreckungsbehörde von einem unvollständig ermittelten oder unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, wenn sie Gesichtspunkte zum Nachteil des Antragstellers berücksichtigt hat, die nach Sinn und Zweck des Gesetzes keine Rolle spielen dürfen, oder maßgebliche Gesichtspunkte, die bei der Ermessensentscheidung von Belang sein können, falsch bewertet oder außer Acht gelassen hat oder wenn sie insgesamt keine diese Prüfung ermöglichende Begründung enthält (vgl. Senat, Beschluss vom 17. Oktober 2024 – 203 VAs 380/24 –, juris Rn. 4 m.w.N.; OLG Hamm, Beschluss vom 8. März 2021 – III-1 VAs 3/21 –, juris Rn. 15; Mayer in KK-StPO, 9. Aufl., EGGVG § 28 Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., EGGVG § 28 Rn. 10 m.w.N.).
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3. Gegenstand der Überprüfung ist dabei die Entscheidung der Staatsanwaltschaft R. vom 12. August 2024 in der Gestalt, die sie durch den Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft N. vom 28. Oktober 2024 im Vorschaltverfahren erhalten hat (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 25. August 2021- 203 VAs 274/21-, juris Rn. 15 m.w.N.).
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4. Bei der Entscheidung, ob von der weiteren Vollstreckung nach § 456a StPO abgesehen werden konnte, sind die Umstände der Tat, die Schwere der Schuld, die Dauer des bisher verbüßten Teils der Strafe, das öffentliche Interesse an nachhaltiger Strafvollstreckung einerseits und andererseits die familiäre und soziale Lage des Verurteilten und das Interesse daran, sich beizeiten von der Last der Vollstreckung von Strafen gegen Ausländer zu befreien, gegeneinander abzuwägen und in eine Gesamtbetrachtung einzustellen (st. Rspr., vgl. Senat, Beschluss vom 17. Oktober 2024 – 203 VAs 380/24 –, juris Rn. 6 m.w.N.; OLG Hamm, Beschluss vom 8. März 2021 – III-1 VAs 3/21 –, juris Rn. 16; Graalmann-Scheerer a.a.O. Rn. 14; Appl in KK-StPO a.a.O., § 456a Rn. 3a m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. § 456a Rn. 5 m.w.N.; Pollähne a.a.O. § 456a StPO Rn. 2; Nestler in MüKoStPO, 2. Aufl. 2024, § 456a Rn. 12).
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5. Gemessen daran ist die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde im Rahmen der eingeschränkten Prüfungskompetenz des Senats nicht zu beanstanden. Der Senat nimmt auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft N. Bezug. Ermessensfehler lässt die Ablehnung des Absehens von der weiteren Vollstreckung im Fall des Antragstellers nicht erkennen. Die Entscheidung ist so gefasst, dass sie dem Senat eine Überprüfung auf Ermessensfehler ermöglicht. Die Vollstreckungsbehörde hat von dem ihr eingeräumten Ermessen auf einer zutreffenden Sachverhaltsgrundlage Gebrauch gemacht und dieses unter Beachtung des Normzwecks und der zu § 456a StPO mit dem Zweck einer gleichmäßigen Ermessensausübung erlassenen Richtlinien des Bayerischen Staatsministeriums für Justiz sowie unter Berücksichtigung der Umstände der Tat, der Schwere der Schuld, der Verbüßungsdauer, des öffentlichen Interesses an einer nachhaltigen Strafvollstreckung und der persönlichen Verhältnisse des Verurteilten rechtsfehlerfrei ausgeübt.
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a) Der Zweck der Ermächtigung des § 456a StPO liegt in der Entlastung des Vollzugs bei Straftätern, die das Bundesgebiet aufgrund hoheitlicher Anordnung verlassen müssen und denen gegenüber die weitere Vollstreckung weder unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung noch unter dem der Prävention sinnvoll wäre (Senat, Beschlüsse vom 21. August 2023 – 203 VAs 243/23 –, juris Rn. 9 und vom 17. Oktober 2024 – 203 VAs 380/24 –, juris Rn. 8; OLG Hamm, Beschluss vom 6. November 2012 – III-1 VAs 104/12 –, juris Rn. 8; Appl a.a.O. § 456a Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 456a Rn. 1).
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b) Bei ihrer Entscheidung durfte die Vollstreckungsbehörde den Unrechtsgehalt und die Umstände der von dem Antragsteller begangenen Taten in die Abwägung mit einstellen (st. Rspr., vgl. etwa Senat, Beschluss vom 17. Oktober 2024 – 203 VAs 380/24 –, juris Rn. 9 m.w.N.; OLG Hamm, Beschluss vom 6. November 2012 – III-1 VAs 104/12 –, juris Rn. 11; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25. März 2013 – 2 VAs 5/13 –, juris Rn. 13). Gleiches gilt für das öffentliche Interesse an der nachhaltigen Strafvollstreckung (OLG Hamm a.a.O. Rn. 8; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. November 2008 – 2 VAs 18/08 –, juris Rn. 9; OLG Frankfurt, Beschluss vom 18. Januar 2016 – 3 VAs 27/15 –, juris Rn. 4; Graalmann-Scheerer a.a.O. Rn. 14; Appl a.a.O. § 456a Rn. 3a; Nestler a.a.O. § 456a Rn. 12; Coen a.a.O. § 456a Rn. 4).
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c) Demgemäß ist nach Ziffer 2.2 der Ergänzenden Bestimmungen zur Strafvollstreckungsordnung (Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz vom 22. Juni 2006, Az. 4300 – II – 787/05 (JMBl. S. 91) -ErgStVollstrO) i.V.m. § 17 Abs. 1 StVollstrO eine über den Halbstrafenzeitpunkt hinausgehende Vollstreckung ungeachtet der Prüfung des Einzelfalls angezeigt, wenn – wie hier – die Verurteilung wegen eines Verbrechens aus dem Bereich der schweren Betäubungsmittelkriminalität erfolgte. Dann nähert sich der maßgebliche Zeitpunkt für die Anwendung des § 456a StPO dem Beginn des letzten Strafdrittels, falls nicht besondere Umstände sogar die vollständige Verbüßung der Strafe erfordern.
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d) Dass es sich beim Verurteilten um einen älteren, gesundheitlich eingeschränkten Ausländer handelt, der aus persönlichen Gründen gerne aus dem Strafvollzug entlassen werden und ins Ausland zurückkehren würde, hat die Vollstreckungsbehörde nicht aus dem Blick verloren. Den vom Verteidiger geltend gemachten Anspruch auf ein Absehen von der weiteren Vollstreckung nach Verbüßung der Halbstrafe kann der Antragsteller daraus jedoch nach der Begehung von schweren Straftaten (auch in der Form der Beihilfe) nicht herleiten (vgl. Senat, Beschluss vom 17. Oktober 2024 – 203 VAs 380/24 –, juris Rn. 11). Die persönlichen Verhältnisse und Belange eines Verurteilten sind zwar, soweit dies geboten erscheint, bei der zu treffenden Entscheidung angemessen zu berücksichtigen, stehen jedoch nicht im Vordergrund (Senat, Beschluss vom 17. Oktober 2024 – 203 VAs 380/24 –, juris Rn. 11 m.w.N.; OLG Hamm, Beschluss vom 6. November 2012 – III-1 VAs 104/12 –, juris Rn. 8). Wenn die Vollstreckungsbehörde hier mit Blick auf die Tatumstände und die Person des Antragstellers in ihrer Abwägungsentscheidung zu dem Ergebnis gekommen ist, dass von der weiteren Strafvollstreckung noch nicht abzusehen ist, ist gegen diese Entscheidung eingedenk des Prüfungsmaßstabs von § 28 Abs. 3 EGGVG nichts zu erinnern.
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1. Die Tragung der Gerichtskosten durch den Antragsteller wird unmittelbar durch das Gesetz geregelt (§ 1 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 19, § 22 Abs. 1 GNotKG). Eine Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung dem Antragsteller entstandenen außergerichtlichen Kosten aus der Staatskasse ist nicht veranlasst (§ 30 EGGVG).
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2. Die Festsetzung des Geschäftswerts beruht auf § 1 Abs. 2 Nr.19 i.V.m. § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
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Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen (§ 29 Abs. 2 EGGVG), da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.