Titel:
Elektronische Aufenthaltsüberwachung, Verfassungsrechtliche Anforderungen, Vorbereitungshandlung, Verfassungskonforme Auslegung, Hinreichende Bestimmtheit, Verfassungsrechtliche Vorgaben, Freiheitsentziehung, Auswahlermessen, Bestandsdatenauskunft, Gesetzgebungsrecht, Notwendige Auslagen, Sachen von bedeutendem Wert, Gesetzgebungskompetenz, Bestimmtheitsgrundsatz, Grundrechtsbeeinträchtigung, Bestimmtheitsgebot, Popularklageverfahren, Kostenerstattung, Sachverhaltsaufklärung, Richtervorbehalt
Leitsätze:
1. Eine Meinungsverschiedenheit nach Art. 75 Abs. 3 BV, Art. 49 Abs. 1 VfGHG kann nachträglich um einen Antrag zu einer anderen gesetzlichen Vorschrift erweitert werden, wenn der Antragsgegner in die Antragserweiterung einwilligt oder wenn diese sachdienlich ist. Die nachträgliche Antragserweiterung muss darüber hinaus als Meinungsverschiedenheit zulässig sein. Auch für sie gilt insbesondere das Erfordernis der Rügeidentität, sodass auch insoweit die Erkennbarkeit der Meinungsverschiedenheit im Gesetzgebungsverfahren darzulegen ist.
2. Wie bei der Popularklage nach Art. 98 Satz 4 BV ist auch bei der Meinungsverschiedenheit nach Art. 75 Abs. 3 BV für eine Entscheidung über außer Kraft getretenes Recht ein öffentliches Interesse notwendig. Die Meinungsverschiedenheit ist zwar ein kontradiktorisches Verfahren zur Klärung streitiger Fragen der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zwischen Verfassungsorganen oder Teilen derselben. Es weist aber nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Popularklageverfahren auf, das von dem öffentlichen Interesse bestimmt ist, eine verfassungsgerichtliche Entscheidung zu einer Gesetzesvorschrift unabhängig von der Frage der Verletzung des Antragstellers in eigenen Rechten herbeizuführen.
3. Es besteht kein öffentliches Interesse an einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des aufgehobenen Art. 11 Abs. 3 PAG in den vom 1. August 2017 bis zum 31. Juli 2021 geltenden Fassungen.
4. Art. 11 a PAG, der als Generalklausel an sich eine große Bandbreite von sowohl informationellen als auch aktionellen Eingriffen in verschiedene Grundrechte ermöglicht, hat schon nach einfachrechtlicher Auslegung aufgrund der beiden in ihm enthaltenen Subsidiaritätsklauseln nur einen eingeschränkten Anwendungs- und Wirkungsbereich. Insbesondere dürfen Richtervorbehalte, denen Maßnahmen nach Art. 12 bis 65 PAG unterliegen, nicht durch einen Rückgriff auf Art. 11 a PAG unterlaufen werden. Die Vorschrift bietet auch weder eine Rechtsgrundlage für heimliche Maßnahmen noch ermöglicht sie es, für Maßnahmen unbeteiligte Dritte in Anspruch zu nehmen.
5. Art. 11 a PAG entspricht dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV). Im Bereich von Vorfeldermittlungen und bei Maßnahmen zur Gefahrenvorsorge muss der Gesetzgeber die Anforderungen an Tatsachen, die auf die künftige Gefahrenlage hindeuten, so bestimmt umschreiben, dass das in diesem Bereich besonders hohe Risiko einer Fehlprognose gleichwohl verfassungsrechtlich noch hinnehmbar ist. Die Norm muss deshalb handlungsbegrenzende Tatbestandselemente enthalten, die einen Standard an Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit vergleichbar zu demjenigen schaffen, der für die überkommenen Aufgaben der Gefahrenabwehr rechtsstaatlich geboten ist. Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Festlegung hinreichend bestimmter, tatsachenbasierter Mindestanforderungen für Grundrechtseingriffe im Vorfeld konkreter Gefahren wird Art. 11 a PAG gerecht.
6.
Art. 11 a PAG entspricht dem rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV) im engeren Sinn in drei Aspekten nur in einer bestimmten Auslegung, nämlich mit den folgenden Maßgaben:
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-
„Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung“ im Sinn des Art. 11 a Abs. 1 Nr. 1 PAG sind nur terroristische oder vergleichbare Angriffe auf bedeutende Rechtsgüter im Sinn des Art. 11 a Abs. 2 PAG;
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schwerste Grundrechtseingriffe können auf Art. 11 a PAG allenfalls für eine Übergangszeit bei neuen, vom Gesetzgeber noch nicht bedachten Gefährdungslagen gestützt werden;
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„Maßnahmen“ im Sinn von Art. 11 a Abs. 1 PAG sind nur solche, die nicht tief in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen.
7. Im Übrigen genügt die Generalklausel den verfassungsmäßigen Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Der Gesetzgeber hat die erforderliche Ausgewogenheit zwischen der Art und Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung einerseits und den zum Eingriff berechtigenden Tatbestandsmerkmalen andererseits – Eingriffsschwelle, erforderliche Tatsachenbasis und Gewicht der geschützten Rechtsgüter – gewahrt. Insbesondere kann eine Absenkung der Eingriffsschwelle auf die konkretisierte oder drohende Gefahr bei Beachtung der dafür entwickelten verfassungsrechtlichen Anforderungen grundsätzlich bei allen Eingriffsermächtigungen mit präventiver Zielrichtung und damit auch im Rahmen einer Generalklausel erfolgen. Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG genügt den Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad und die erforderliche Tatsachenbasis der Prognose im Vorfeld konkreter Gefahren. Dem potenziell sehr hohen Eingriffsgewicht der durch Art. 11 a PAG ermöglichten Maßnahmen steht mit den in Art. 11 a Abs. 2 PAG definierten bedeutenden Rechtsgütern durchgehend der Schutz hinreichend gewichtiger Rechtsgüter gegenüber.Rahmen einer Generalklausel erfolgen. Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG genügt den Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad und die erforderliche Tatsachenbasis der Prognose im Vorfeld konkreter Gefahren. Dem potenziell sehr hohen Eingriffsgewicht der durch Art. 11 a PAG ermöglichten Maßnahmen steht mit den in Art. 11 a Abs. 2 PAG definierten bedeutenden Rechtsgütern durchgehend der Schutz hinreichend gewichtiger Rechtsgüter gegenüber.Rahmen einer Generalklausel erfolgen. Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG genügt den Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad und die erforderliche Tatsachenbasis der Prognose im Vorfeld konkreter Gefahren. Dem potenziell sehr hohen Eingriffsgewicht der durch Art. 11 a PAG ermöglichten Maßnahmen steht mit den in Art. 11 a Abs. 2 PAG definierten bedeutenden Rechtsgütern durchgehend der Schutz hinreichend gewichtiger Rechtsgüter gegenüber.Rahmen einer Generalklausel erfolgen. Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG genügt den Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad und die erforderliche Tatsachenbasis der Prognose im Vorfeld konkreter Gefahren. Dem potenziell sehr hohen Eingriffsgewicht der durch Art. 11 a PAG ermöglichten Maßnahmen steht mit den in Art. 11 a Abs. 2 PAG definierten bedeutenden Rechtsgütern durchgehend der Schutz hinreichend gewichtiger Rechtsgüter gegenüber.
Schlagworte:
Polizeiaufgabengesetz, drohende Gefahr, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Parlamentsvorbehalt, Generalklausel, verfassungskonforme Auslegung
Fundstelle:
BeckRS 2025, 4100
Tenor
1. Das Verfahren Vf. 7-VII-18 wird im Hinblick auf Art. 11 Abs. 3 des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Staatlichen Polizei (Polizeiaufgabengesetz – PAG) in den bis zum 31. Juli 2021 geltenden Fassungen eingestellt.
2. Art. 11 a des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Polizei (Polizeiaufgabengesetz – PAG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. September 1990 (GVBl S. 397, BayRS 2012-1-1-I), das zuletzt durch § 1 des Gesetzes vom 23. Juli 2024 (GVBl S. 247) geändert worden ist, ist nur mit den Maßgaben, dass
„Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung“ im Sinn des Art. 11 a
Abs. 1 Nr. 1 PAG nur terroristische oder vergleichbare Angriffe auf bedeutende Rechtsgüter im Sinn des Art. 11 a Abs. 2 PAG sind (vgl. Rn. 184 bis 187), schwerste Grundrechtseingriffe auf Art. 11 a PAG allenfalls für eine Übergangszeit bei neuen, vom Gesetzgeber noch nicht bedachten Gefährdungslagen gestützt werden können (vgl. Rn. 191 bis 194)
„Maßnahmen“ im Sinn von Art. 11 a Abs. 1 PAG nur solche sind, die nicht tief in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen (vgl. Rn. 195 und 196), mit der Bayerischen Verfassung vereinbar.
Im Übrigen werden die Anträge in den Verfahren Vf. 7-VII-18 und Vf. 10-VIII-18 abgewiesen.
3. Die Anträge in den Verfahren Vf. 5-VIII-18 und Vf. 16-VIII-18 werden abgewiesen.
4. Den Antragstellern des Verfahrens Vf. 7-VII-18 und der Antragstellerin des Verfahrens Vf. 10-VIII-18 ist jeweils die Hälfte der ihnen durch das jeweilige Verfahren entstandenen notwendigen Auslagen aus der Staatskasse zu erstatten.
Entscheidungsgründe
1
Die zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen verfassungsgerichtlichen Verfahren, drei Meinungsverschiedenheiten und eine Popularklage, betreffen nach Abtrennung der übrigen Gegenstände durch den Verfassungsgerichtshof (Entscheidung vom 18. Dezember 2024) allein die Frage, ob Art. 11 a des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Polizei (Polizeiaufgabengesetz – PAG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. September 1990 (GVBl S. 397, BayRS 2012-1-1-I), das zuletzt durch § 1 des Gesetzes vom 23. Juli 2024 (GVBl S. 247) geändert worden ist (im Folgenden auch: PAG 2021), und – nur im Verfahren Vf. 5-VIII-18 – Art. 11 Abs. 3 PAG in der Fassung des Gesetzes zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen vom 24. Juli 2017 (GVBl S. 388; im Folgenden auch: PAG 2017) bzw. des Gesetzes zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts (PAG-Neuordnungsgesetz) vom 18. Mai 2018 (GVBl S. 301, 434; im Folgenden auch: PAG 2018) gegen die Bayerische Verfassung verstoßen bzw. verstoßen haben.
2
Den Schwerpunkt bildet dabei die Frage, ob die Einführung der Kategorie der „drohenden Gefahr“, wie sie in diesen Vorschriften als Legaldefinition und Voraussetzung für atypische polizeiliche Eingriffsmaßnahmen enthalten ist, mit der Bayerischen Verfassung vereinbar ist. Die Kategorie der „drohenden Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut“ wurde auch in verschiedene, polizeiliche Spezialbefugnisse regelnde Vorschriften eingefügt, u. a. in die Regelungen über die Identitätsfeststellung in Art. 13 PAG, über erkennungsdienstliche Maßnahmen in Art. 14 PAG, über Platzverweis, Kontaktverbot und Aufenthalts- und Meldeanordnung in Art. 16 PAG sowie über Eingriffe in den Telekommunikationsbereich in Art. 42 PAG. Diese Spezialbefugnisse sind jedoch vorliegend nicht Verfahrensgegenstand.
3
1. Die Kategorie der drohenden Gefahr geht zurück auf das Gesetz zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen vom 24. Juli 2017 (GVBl S. 388), durch dessen § 1 Nr. 2 Buchst. a die Regelung der polizeilichen Generalklausel in Art. 11 PAG um einen – inzwischen durch § 1 Nr. 4 Buchst. c des Gesetzes zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes und weiterer Rechtsvorschriften vom 23. Juli 2021 (GVBl S. 418) aufgehobenen – Absatz 3 ergänzt wurde, der folgenden Wortlaut hatte:
(3) 1Die Polizei kann unbeschadet der Abs. 1 und 2 die notwendigen Maßnahmen treffen, um den Sachverhalt aufzuklären und die Entstehung einer Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut zu verhindern, wenn im Einzelfall
1. das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet oder
2. Vorbereitungshandlungen für sich oder zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen den Schluss auf ein seiner Art nach konkretisiertes Geschehen zulassen, wonach in absehbarer Zeit Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung zu erwarten sind (drohende Gefahr), soweit nicht die Art. 12 bis 48 [bzw. in der vom 25.5.2018 bis 31.7.2021 geltenden Fassung: 65] die Befugnisse der Polizei besonders regeln. 2Bedeutende Rechtsgüter sind:
- 1.
-
der Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes,
- 2.
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Leben, Gesundheit oder Freiheit,
- 3.
-
die sexuelle Selbstbestimmung,
- 4.
-
erhebliche Eigentumspositionen oder
- 5.
-
Sachen, deren Erhalt im besonderen öffentlichen Interesse liegt.
4
a) In der Begründung des Gesetzentwurfs der Staatsregierung hierzu (LT-Drs. 17/ 16299 S. 2, 9 f.) wurde ausgeführt, u. a. die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 20. April 2016 (BVerfGE 141, 220; im Folgenden auch: BKAG I-Urteil) erfordere eine Ergänzung und Überarbeitung des Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes. Die Einführung der drohenden Gefahr als zusätzliche Gefahrbegriffskategorie nach den Maßgaben des genannten Urteils des Bundesverfassungsgerichts erfolge zur besseren Erfassung vor allem von Vorbereitungshandlungen. Über die bisherigen Regelungen in der allgemeinen Befugnisnorm hinaus solle der Polizei auch für atypische Maßnahmen dann, wenn eine aus zu erwartenden Gewalttaten von erheblicher Intensität oder Auswirkung resultierende drohende Gefahr für bestimmte bedeutende Rechtsgüter zu erwarten sei, neben Maßnahmen der Sachverhaltsaufklärung erforderlichenfalls auch gestattet werden, Maßnahmen zur Abwehr der (weiteren) Entstehung der Gefahr zu treffen und hierzu auch bereits in den Kausalverlauf einzugreifen. Durch die Bezugnahme auf die inhaltlich-zeitlichen Vorgaben aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, welche an bestimmte Tatsachen bzw. individuelles Verhalten anknüpften, werde sichergestellt, dass polizeiliche Maßnahmen keinesfalls aufgrund bloßer Vermutungen getroffen werden könnten. Durch die Beschränkung auf Gefahren, die von Gewalttaten von erheblicher Intensität oder Auswirkung für die in Art. 11 Abs. 3 Satz 2 PAG abschließend aufgezählten bedeutenden Rechtsgüter ausgingen, werde der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders beachtet.
5
b) In der Ersten Lesung des Gesetzentwurfs trug die Fraktionsvorsitzende ... für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor (Plenarprotokoll 17/102 S. 9046; vgl. auch Plenarprotokoll 17/109 S. 9773), dass sie ein Problem hätte, wenn rechtswidrige Vorschläge und Sicherheitsplacebos auf den Tisch gelegt würden, wenn die Freiheitsrechte aller Bürgerinnen und Bürger durch den massiven Ausbau polizeilicher Befugnisse ausgehöhlt würden. In der Sitzung des Ausschusses für Verfassung, Recht und Parlamentsfragen am 22. Juni 2017 kritisierte die Abgeordnete Gote für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am Gesetzentwurf (Protokoll S. 45 f.), dass es zu einer Vermischung von Polizei und Verfassungsschutz und zum Verlust der Balance zwischen der Freiheit der einzelnen Bürger und staatlicher bzw. polizeilicher Überwachung komme. Außerdem sei der Begriff der drohenden Gefahr viel zu schwammig und nicht zielführend. Die Fraktionsvorsitzende ... monierte in der Zweiten Lesung des Entwurfs (Plenarprotokoll 17/ 109 S. 9773), dass dieser Begriff nicht nur aus verfassungsrechtlichen, sondern auch aus polizeipraktischen Gründen abzulehnen sei. Der neu definierte Begriff der drohenden Gefahr sei viel zu unscharf. Es sei „total unklar“, wie die drohende Gefahr rechtsstaatlich sauber angewendet werden könne und solle. Kein Richter und keine Richterin wisse, wie das auszulegen sei. Außerdem würden polizeiliche Befugnisse in das sogenannte Gefahrenvorfeld ausgedehnt. Es finde also eine „Vernachrichtendienstlichung“ der Polizei statt. Eine Dritte Lesung fand nicht statt.
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c) Der Gesetzentwurf wurde im Landtag am 19. Juli 2017 gegen die Stimmen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verabschiedet, wobei einem Änderungsantrag (LT-Drs. 17/17058) folgend auf Empfehlung des Ausschusses für Kommunale Fragen, Innere Sicherheit und Sport (LT-Drs. 17/17415) der im ursprünglichen Gesetzentwurf enthaltene Begriff der „Gewalttaten“ durch das Wort „Angriffe“ ersetzt wurde (Plenarprotokoll 17/109 S. 9776 f., 9781 mit Anlage 2).
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2. Durch das Gesetz zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts (PAG-Neuordnungsgesetz) vom 18. Mai 2018 (GVBl S. 301, 434) wurde eine Vielzahl von Vorschriften des Polizeiaufgabengesetzes überarbeitet.
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a) Neben Anpassungen zur Umsetzung von Europarecht erfolgte eine Überarbeitung verschiedener der in Art. 13 ff. PAG geregelten Spezialbefugnisse. Insbesondere wurde die Gefahrenkategorie der drohenden Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut in verschiedene Befugnisnormen eingefügt, wobei die Gesetzesbegründung (LT-Drs. 17/20425 S. 2) davon ausging, dass diese Anpassungen von der oben genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeskriminalamtgesetz (BKAG) vorgezeichnet worden seien. Die Einfügung betraf u. a. die Regelungen über die Sicherstellung in Art. 25 PAG, über allgemeine Grundsätze der Datenverarbeitung in Art. 30 PAG, über die Postsicherstellung in Art. 35 PAG und über Eingriffe in den Telekommunikationsbereich in Art. 42 PAG.
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b) In der Ersten Lesung des Gesetzentwurfs äußerte die Vorsitzende der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ... für ihre Fraktion die Sorge (Plenarprotokoll 17/123 S. 10991), dass durch das PAG-Neuordnungsgesetz die polizeilichen Eingriffsbefugnisse u. a. auch aufbauend auf dem Begriff der drohenden Gefahr noch einmal massiv ausgedehnt würden. Bereits zuvor hatte sie hervorgehoben, dass sie bereits die Änderung des Polizeiaufgabengesetzes im Jahr 2017 u. a. wegen der Einführung des Begriffs der drohenden Gefahr, die bislang keiner richtig definieren könne, für verfassungswidrig erachte. In der gemeinschaftlichen Sitzung des Ausschusses für Kommunale Fragen, Innere Sicherheit und Sport und des Ausschusses für Verfassung, Recht und Parlamentsfragen am 21. März 2018 zum Zweck der Expertenanhörung zu dem Entwurf des PAG-Neuordnungsgesetzes und einem Entwurf zur Änderung des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes machte die Fraktionsvorsitzende ... geltend (Protokoll S. 21), dass mit dem PAG-Neuordnungsgesetz die „Vernachrichtendienstlichung“ der Polizei weiter fortschreite und das Trennungsgebot weiter aufgeweicht werde. In der Zweiten Lesung hob die Vorsitzende für die Fraktion weiter hervor (Plenarprotokoll 17/132 S. 11923), das große Problem sei der unklare Begriff der drohenden Gefahr, den die CSU schon 2017 eingeführt habe. Deswegen habe die Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN schon damals gegen das Gesetz gestimmt und klage jetzt auch vor dem Verfassungsgerichtshof, weil sie die Einführung des Begriffs für grundsätzlich falsch halte. Damit werde die Eingriffsschwelle massiv abgesenkt. Aus gutem Grund gebe es die Trennung von Polizei und Verfassungsschutz. Die Fraktion wolle jedoch nicht, dass sich Polizei und Nachrichtendienste in ihrer Arbeit immer ähnlicher würden. Das Bundesverfassungsgericht habe zwar den Begriff der drohenden Gefahr in seiner Entscheidung zum Bundeskriminalamtgesetz verwendet, aber auch klare und enge Grenzen gesetzt: Danach sei die Anwendung des Begriffs nur zum Schutz überragend wichtiger Rechtsgüter im Zusammenhang mit der Terrorabwehr gerechtfertigt. Im Gesetzentwurf würde jedoch die drohende Gefahr ins allgemeine Polizeirecht übertragen.
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c) Nachdem von Seiten der SPD-Fraktion durch den Abgeordneten ... in der Ersten Lesung allgemeine Kritik an der Ausweitung der polizeilichen Eingriffsbefugnisse durch den Gesetzentwurf geäußert worden war (Plenarprotokoll 17/ 123 S. 10988), hob die Abgeordnete Kohnen für die SPD-Fraktion in der Zweiten Lesung gerichtet an die CSU-Fraktion hervor (Plenarprotokoll 17/132 S. 11917 ff.), dass sie als Parteien unterschiedliche Auffassungen über den vorliegenden Gesetzentwurf hätten und die CSU nichts anderes täte, als Verfassungsrechtler zu ignorieren, die mit guten Argumenten belegten, dass das PAG-Neuordnungsgesetz die Freiheitsrechte einschränke. Es werde der schwammige Begriff der drohenden Gefahr nun für fast alle Befugnisse der Polizei in das Polizeiaufgabengesetz eingeführt. In der Dritten Lesung kündigte der Abgeordnete ... für seine Fraktion an (Plenarprotokoll 17/132 S. 11942 f.), dass eine verfassungsgerichtliche Überprüfung des PAG-Neuordnungsgesetzes anstehe. Man werde eine Normenkontrolle im Wege der Meinungsverschiedenheit geltend machen. Der Abgeordnete rügte für die SPD-Fraktion, dass wesentliche Bestimmungen des Gesetzentwurfs gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit bzw. das Übermaßverbot und die Gebote der Bestimmtheit und Normenklarheit verstießen. Im Einzelnen wurde insbesondere die Einführung der drohenden Gefahr als neue Kategorie bei all den polizeilichen Befugnissen gerügt, bei denen diese Kategorie durch das Gesetz zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen aus dem Jahr 2017 noch nicht eingeführt worden sei. Dabei zählte der Abgeordnete ... eine Vielzahl von polizeilichen Spezialbefugnissen auf, ließ die (lediglich redaktionell angepasste) polizeirechtliche Generalklausel des Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 jedoch unerwähnt.
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d) Der Gesetzentwurf wurde im Landtag am 15. Mai 2018 in der Fassung der Beschlussempfehlung des endberatenden Ausschusses (vgl. LT-Drs. 17/21971) gegen die Stimmen u. a. der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verabschiedet (Plenarprotokoll 17/132 S. 11947, 11952 mit Anlage 5).
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3. In Reaktion auf den Abschlussbericht einer im Jahr 2018 von der Staatsregierung eingesetzten unabhängigen Expertenkommission zur Begleitung des neuen Polizeiaufgabengesetzes (im Folgenden: PAG-Kommission) wurde dieses durch das Gesetz zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes und weiterer Rechtsvorschriften vom 23. Juli 2021 (GVBl S. 418, im Folgenden auch: PAG-Änderungsgesetz) erneut novelliert und eine Vielzahl von Vorschriften geändert. Unter anderem wurde durch § 1 Nr. 4 Buchst. c des PAG-Änderungsgesetzes der im Jahr 2017 eingefügte Art. 11 Abs. 3 PAG aufgehoben. Dessen Regelungsgegenstand – Generalklausel und Legaldefinition zur Gefahrenkategorie der drohenden Gefahr – wurde dabei durch § 1 Nr. 5 des PAG-Änderungsgesetzes in einer neuen Vorschrift, nämlich Art. 11 a PAG, mit einer modifizierten Definition der bedeutenden Rechtsgüter neu gefasst.
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a) Nach der Gesetzesbegründung (LT-Drs. 18/13716 S. 19, 21 ff.) dienten die Änderungen der Umsetzung der von der PAG-Kommission benannten Optimierungspotenziale sowie der Lesbarkeit und besseren Handhabbarkeit des Polizeiaufgabengesetzes. Im Einzelnen bewirke die Normierung der Generalbefugnis samt der Legaldefinition der drohenden Gefahr und der Definition der bedeutenden Rechtsgüter in einem gesonderten Artikel mehr Transparenz. Die Vorrangstellung der konkreten Gefahr im Verhältnis zur drohenden Gefahr werde dadurch deutlich. Der Wortlaut des neuen Art. 11 a PAG bringe das Rang- und Prüfungsverhältnis der beiden Generalklauseln zum Ausdruck, wonach zu-nächst das Vorliegen einer konkreten Gefahr zu prüfen sei, bevor die Kategorie der drohenden Gefahr zur Anwendung kommen könne. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeskriminalamtgesetz ergebe sich, dass eine konkrete Gefahr insbesondere in zeitlicher und modaler Hinsicht das Vorliegen von Tatsachen dafür, dass eine Verletzung der Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hinreichend wahrscheinlich sei, erfordere. Nach dieser Rechtsprechung könne seitens der Polizei auch eingegriffen werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte im Einzelfall eine drohende Gefahr für bedeutende Rechtsgüter wahrscheinlich machten, auch wenn sich der zum Schaden führende Kausalverlauf noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersagen lasse, etwa weil die Frage nach dem „wann“ oder „wo“ noch nicht mit hinreichender Sicherheit beantwortet werden könne. Der Gesetzgeber deute die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts so, dass dadurch einerseits der Begriff der konkreten Gefahr verfassungsgerichtlich eingeschränkt worden sei. Andererseits sei dem Gesetzgeber die Möglichkeit eröffnet worden, den Wegfall eines Teils des bisherigen Anwendungsbereichs der konkreten Gefahr durch eine explizite Neuregelung der drohenden Gefahr – wenngleich unter der Prämisse einer Beschränkung des Einsatzfeldes der drohenden Gefahr auf den Schutz bedeutender Rechtsgüter – zu kompensieren.
Die im Jahr 2017 erfolgte Einführung der neuen Gefahrenkategorie der drohenden Gefahr habe damit nur einen Ausgleich für die eingeschränkte Auslegung der Gefahrenkategorie der konkreten Gefahr darstellen und keine Vorverlagerung oder Ausweitung eines möglichen Tätigwerdens der Polizei weit in das Gefahrenvorfeld bewirken sollen. Weiter habe das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zur Bestandsdatenauskunft aus dem Jahr 2020 klargestellt, dass diese Gefahrenkategorie nicht auf Fälle der Terrorismusabwehr beschränkt sei. Gerade im Vorfeld einer konkreten Gefahr sei oftmals nicht hinreichend sicher, ob es sich bei den geplanten Taten um einen Terrorakt handle. Andere Leib und Leben gefährdende Akte, wie etwa ein Amoklauf, dürften nicht durch eine gesetzliche Beschränkung auf Terrorismus ausgeschlossen werden. Für die Eingriffsschwelle solle auch weiterhin die in der Rechtsprechung seit Langem anerkannte und angewandte „Je-Desto-Formel“ Anwendung finden: Je gewichtiger das Rechtsgut sei und je weitreichender es durch die jeweiligen Handlungen beeinträchtigt würde, desto geringer dürfe die Wahrscheinlichkeit sein, mit der auf eine drohende oder erfolgte Verletzung geschlossen werden könne, und desto weniger fundiert dürften gegebenenfalls die Tatsachen (insbesondere in zeitlicher, örtlicher und modaler Hinsicht) sein, die dem Verdacht zugrunde lägen. Dieser Grundsatz habe durch die Einführung der Kategorie der drohenden Gefahr nicht in Frage gestellt werden sollen. Vielmehr konkretisiere Art. 11 a PAG, auf welche Rechtsgüter im Fall der drohenden Gefahr abgestellt werden dürfe, und gebe für die Anwendungspraxis die in diesem Fall zur Anwendung kommenden engen Tatbestandsvoraussetzungen vor.
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Soweit es um die Definition der bedeutenden Rechtsgüter gehe, werde diese durch Präzisierung und teilweise Streichung an die Maßgaben der PAG-Kommission angepasst. Die sexuelle Selbstbestimmung werde weiterhin als „bedeutendes Rechtsgut“ eingestuft. Der Entwurf folge der PAG-Kommission, indem er die Betroffenheit eines „überragend wichtigen Rechtsgutes“ nur annehme, wenn die sexuelle Selbstbestimmung durch Straftatbestände geschützt sei, die im Mindestmaß mit wenigstens drei Monaten Freiheitsstrafe bedroht seien. Da präventiv-polizeiliche Maßnahmen zur Verhinderung von Sexualdelikten häufig im sozialen Nahraum getroffen werden müssten, wo die Erkenntnisgewinnung mit besonderen Herausforderungen in rechtlicher wie praktischer Hinsicht verbunden sei, sei es sinnvoll, wenn die relevanten Maßnahmen bereits bei Vorliegen einer drohenden Gefahr getroffen werden könnten. Der Schutz von Eigentumspositionen solle künftig ein Handeln auf Grundlage der drohenden Gefahr nicht mehr rechtfertigen können. Die in Art. 11 Abs. 3 Nr. 4 der bisherigen Fassung des Polizeiaufgabengesetzes genannten erheblichen Eigentumspositionen würden auf Empfehlung der PAG-Kommission gestrichen und in Art. 11 a PAG nicht übernommen. Schließlich stelle auch Art. 11 a Abs. 2 Nr. 4 PAG eine begriffliche Präzisierung dar, indem statt wie bisher auf Sachen, deren Erhalt im besonderen öffentlichen Interesse liege, nun auf Anlagen der kritischen Infrastruktur sowie Kulturgüter von mindestens überregionalem Rang abgehoben werde. Es gehe dabei in Anlehnung an die Definition kritischer Infrastruktur in der RL 2008/114/EG des Rates vom 8. Dezember 2008 über die Ermittlung und Ausweisung europäischer kritischer Infrastrukturen und die Bewertung der Notwendigkeit, ihren Schutz zu verbessern (ABl L 345/75), um Anlagen, Systeme und auch Teile hiervon, die von wesentlicher Bedeutung für die Aufrechterhaltung wichtiger gesellschaftlicher Funktionen, der Gesundheit, der Sicherheit und des wirtschaftlichen oder sozialen Wohlergehens der Bevölkerung seien. Mitumfasst seien auch der Sektor Medien und Kultur sowie Einrichtungen und Funktionen der öffentlichen Verwaltung, wobei es in erster Linie um die Funktionsfähigkeit gehe. Auch hinsichtlich des Schutzes von Kulturgütern werde den Vorschlägen der PAG-Kommission gefolgt. Unter Kulturgut sei in Anlehnung an § 2 Abs. 1 Nr. 10 des Kulturgutschutzgesetzes (KGSG) jede bewegliche Sache oder Sachgesamtheit von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder aus anderen Bereichen des kulturellen Erbes, insbesondere von paläontologischem, ethnographischem, numismatischem oder wissenschaftlichem Wert, zu verstehen.
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b) Im Gesetzgebungsverfahren nahmen u. a. Mitglieder der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der SPD-Fraktion zum Gesetzentwurf Stellung.
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aa) In der Ersten Lesung des Entwurfs des PAG-Änderungsgesetzes hob die Fraktionsvorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ... für ihre Fraktion hervor (Plenarprotokoll 18/73 S. 9489 f.), dass das zentrale Übel des Polizeiaufgabengesetzes, der schwammige Begriff der drohenden Gefahr, weiterhin vorhanden sei. Mit diesem Begriff habe man eine eklatante Befugnisverschiebung weit ins Gefahrenvorfeld und eine „Vernachrichtendienstlichung“ der Polizei bekommen. Dies sei verfassungswidrig. Der bleibende Webfehler des Gesetzes sei der Paradigmenwechsel des Polizeirechts weg von der Bekämpfung gegenwärtiger Gefahren hin zur Bekämpfung einer nebulösen drohenden Gefahr. Deswegen würde man beide Klagen vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof aufrechterhalten. In Art. 11 a Abs. 1 Nr. 1 PAG werde neu ausgeführt, dass „das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit“ der Entstehung einer Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut begründen solle. Das sei ein absolut unbestimmter Rechtsbegriff, der sehr weit dehnbar sei und große Interpretationsspielräume eröffne. Man könne sogar sagen: Jedes normabweichende individuelle Verhalten von Personen könnte als solches gewertet werden. Aus Sicht von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gehöre dies gestrichen. In der Beratung des Verfassungsausschusses am 15. Juli 2021 monierte der Abgeordnete ... für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erneut (Protokoll S. 32), die drohende Gefahr berge die Gefahr der „Vernachrichtendienstlichung“ der Polizei, wobei der Begriff zu unbestimmt sei. In der Zweiten Lesung des Gesetzentwurfs erinnerte der Abgeordnete Dr. R. für seine Fraktion daran (Plenarprotokoll 18/88 S. 11933 ff.), dass diese beide PAG-Reformen in den Jahren 2017 und 2018 abgelehnt habe und vor den Bayerischen Verfassungsgerichtshof gezogen sei. Als wesentlichen Kritikpunkt der Klagen hob er u. a. die Schaffung des Gefahrenbegriffs der drohenden Gefahr beim PAG 2017 hervor. Man halte das Polizeiaufgabengesetz in dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf für verfehlt und stark angreifbar, sodass man diesem nicht zustimmen und die Klagen aufrechterhalten werde.
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bb) In der Ersten Lesung des Gesetzentwurfs warf der Abgeordnete Arnold für die SPD-Fraktion der CSU-Fraktion vor (Plenarprotokoll 18/73 S. 9497), aus einem „verwunderlichen Verständnis“ einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Terrorabwehr für sich die Befugnis abzuleiten, die gesamte Bevölkerung mit einem Generalverdacht zu überziehen. Die CSU-Fraktion wolle polizeiliche Eingriffsbefugnisse bei einer drohenden Gefahr in ganzer Breite ermöglichen. Dieser Begriff sei eigentlich dem Nachrichtendienst vorbehalten. Eine Definition der drohenden Gefahr wäre notwendig, da es im Gesetz neun unbestimmte Rechtsbegriffe gebe. Die Klage der SPD-Fraktion vor dem Verfassungsgerichtshof sei berechtigt. In der Zweiten Lesung monierte der Abgeordnete Arnold (Plenarprotokoll 18/88 S. 11939 ff.), der Begriff der drohenden Gefahr „bleibe“, auch wenn nachgebessert worden sei, eine Eingriffsschwelle mit neuen interpretierbaren Generalbegriffen, die sowohl den Beamtinnen und Beamten, die das Gesetz anwenden sollten, als auch der Bevölkerung nach wie vor einige Rätsel aufgäben, was keine gute Sache sei. Gefahrenabwehr sei nicht Strafverfolgung oder Aufklärung. Die CSU-Fraktion verlagere mit ihrem Gesetz die Gefahrenabwehr ins Gefahrenvorfeld. Für die Gefahrenerforschung sei eigentlich der Verfassungsschutz zuständig. Die CSU-Fraktion vermische mit ihrem Gesetz Gefahrenabwehr und Gefahrenerforschung. Es gelte aber das Trennungsgebot von Verfassungsschutz und Polizei. Eine Entgrenzung sei nicht zulässig und deswegen setze die CSU-Fraktion hiermit auch die bayerische und deutsche Sicherheitsarchitektur verfassungsrechtlich bedenklich aufs Spiel. In der Dritten Lesung rügte der Abgeordnete Arnold für die SPD-Fraktion den Verstoß verschiedener Bestimmungen des PAGÄnderungsgesetzes gegen mehrere Artikel der Bayerischen Verfassung (Plenarprotokoll 18/88 S. 11957). § 1 Nr. 5 des PAG-Änderungsgesetzes, der Art. 11 a PAG 2021 einführte, war nicht darunter.
18
c) Nach Beratung in den Ausschüssen, Zweiter (Plenarprotokoll 18/88 S. 11928 ff.) und Dritter (Plenarprotokoll 18/88 S. 11951 ff.) Lesung wurde der Entwurf der Staatsregierung mit einigen Änderungen (vgl. LT-Drs. 18/17225) am 20. Juli 2021 mit den Stimmen der CSU-Fraktion und der Fraktion FREIE WÄHLER gegen die Stimmen der übrigen Landtagsfraktionen angenommen (Plenarprotokoll 18/88 S. 11959). Ein Änderungsantrag der SPD-Fraktion, der u. a. die Aufhebung des Art. 11 a PAG und den Entfall der Gefahrenkategorie der drohenden Gefahr vorsah (LT-Drs. 18/16369 S. 4, 108 ff.), wurde in der Zweiten Lesung mit den Stimmen der CSU-Fraktion, der Fraktion FREIE WÄHLER und der AfDFraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion abgelehnt (LT-Drs. 18/88 S. 11949). Der Änderungsantrag der SPD-Fraktion war damit begründet worden, dass die drohende Gefahr aufgrund ihrer Unbestimmtheit und Weite verfassungswidrig, insbesondere als Eingriffsschwelle unverhältnismäßig sei. Ein Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, den Begriff der drohenden Gefahr als Eingriffsschwelle für präventiv-polizeiliche Maßnahmen des allgemeinen Polizeirechts zu streichen (LT-Drs. 18/16284), wurde in der Dritten Lesung mit den Stimmen der CSU-Fraktion, der Fraktion FREIE WÄHLER, der AfD-Fraktion und der FDP-Fraktion abgelehnt (Plenarprotokoll 18/88 S. 11959). Dieser Antrag war damit begründet worden, dass die Absenkung der Eingriffsschwelle durch den Begriff der drohenden Gefahr zu einem rechtsstaatswidrigen Eingriff in die betroffenen Grundrechte führe.
19
4. Die neben der bereits zitierten Vorschrift des Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 (vgl. oben unter 1.) streitgegenständliche Vorschrift des aktuell geltenden Art. 11 a PAG 2021 hat folgenden Wortlaut:
Allgemeine Befugnisse bei drohender Gefahr
(1) Wenn die Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 1 und 2 nicht vorliegen, kann die Polizei die notwendigen Maßnahmen treffen, um den Sachverhalt aufzuklären und die Entstehung einer Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut zu verhindern, wenn im Einzelfall
1. das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet oder
2. Vorbereitungshandlungen für sich oder zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen den Schluss auf ein seiner Art nach konkretisiertes Geschehen zulassen, wonach in absehbarer Zeit Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung zu erwarten sind (drohende Gefahr), soweit nicht die Art. 12 bis 65 die Befugnisse der Polizei besonders regeln.
(2) Bedeutende Rechtsgüter sind
- 1.
-
der Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes,
- 2.
-
Leben, Gesundheit oder Freiheit,
- 3.
-
die sexuelle Selbstbestimmung, soweit sie durch Straftatbestände geschützt ist, die im Mindestmaß mit wenigstens drei Monaten Freiheitsstrafe bedroht sind, oder
- 4.
-
Anlagen der kritischen Infrastruktur sowie Kulturgüter von mindestens überregionalem Rang.
20
1. Verfahren Vf. 7-VII-18 (Popularklage)
21
Mit ihrer am selben Tag eingegangenen Popularklage vom 3. Mai 2018 wandten sich die 21 Antragsteller u. a. gegen Art. 11 Abs. 3 PAG 2017; mit Schriftsatz vom 14. Oktober 2021 erklärten sie, „weiterhin“ den streitgegenständlichen Art. 11 a PAG 2021 anzugreifen. Sie rügen – auch unter Berücksichtigung ihrer Schriftsätze vom 31. Januar 2019 und 24. Januar 2025 sowie ihrer Ausführungen in der mündlichen Verhandlung – im Kern, die Norm verletze aus den im Schriftsatz vom 3. Mai 2018 ausgeführten Gründen weiterhin Art. 101 BV, da sie gegen das Bestimmtheitsgebot verstoße und unverhältnismäßig sei.
22
a) Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 verstoße gegen den Bestimmtheitsgrundsatz als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips. Wenn der Gesetzgeber auf Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe zurückgreife, verlange das Bestimmtheitsgebot, dass eine gesetzliche Befugnis nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt und somit auch für den Bürger inhaltlich verständlich sei. Da die angegriffene Norm gewichtige Grundrechtseingriffe im Gefahrenvorfeld ermögliche, seien an ihre Bestimmtheit strenge Anforderungen zu stellen; insbesondere müsse die Formulierung der Ermächtigungsgrundlage handlungsbegrenzende Tatbestandsmerkmale enthalten. Hieran gemessen seien die Tatbestandsmerkmale des Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 nicht bestimmt und nicht bestimmbar.
23
Da sich die polizeiliche Prognose nicht auf ein konkretes Schadensereignis beziehen müsse, führe die Unbestimmtheit des Kausalverlaufs und des Schadensereignisses nach Art. 11 Abs. 3 Satz 1 Nrn. 1 und 2 PAG 2017 zu einer mangelnden Vorhersehbarkeit, wann die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt seien. Die zeitliche Vorverlagerung der Eingriffsbefugnisse bedeute, dass für das Gefahrenereignis in seiner konkreten Ausprägung, insbesondere für dessen Eintritt, noch keine hinreichende Wahrscheinlichkeit bestehen müsse. Durch den Verzicht auf die Anknüpfung an die Prognose eines nach Kausalverlauf und Geschehen erwarteten Schadenseintritts werde das Tatbestandsmerkmal „in absehbarer Zeit“ unbestimmt.
24
Auch der dem Polizeirecht bislang fremde Begriff „Angriff von erheblicher Intensität und Auswirkung“ genüge dem Gebot der Normenbestimmtheit nicht. Es sei unklar, wann eine Angriffslage vorliege, zumal die drohende Gefahr – anders als etwa § 32 StGB – keine besondere zeitliche Nähe der Rechtsgutverletzung verlange.
25
Ebenso könne der Begriff der „Vorbereitungshandlungen“ nicht hinreichend bestimmbar ausgelegt werden. Da Kausalverlauf und das Schadensereignis nicht bekannt sein müssten, bleibe unklar, auf welches Ereignis sich der Handelnde vorbereite, weshalb eine Qualifikation der Handlung als „Vorbereitungshandlung“ im Ergebnis nicht möglich sei. Auch durch die Verknüpfung mit dem Merkmal eines „seiner Art nach konkretisierten Geschehens“ stelle die Norm nicht klar, auf welche drohenden Ereignisse sie abstelle.
26
Entsprechendes gelte für das Merkmal „Vorliegen bestimmter Tatsachen“. Durch das Tatbestandsmerkmal würden zwar polizeiliche Maßnahmen aufgrund bloßer Vermutungen ausgeschlossen. Es bestimme aber nicht, welche Tatsachen welcher Beschaffenheit eine drohende Gefahr begründen könnten. Mangels Anknüpfung an die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts im konkreten Fall werde die Wahl der Anknüpfungstatsachen und Maßstäbe der Polizei überlassen.
27
Schließlich erwiesen sich auch die in Art. 11 Abs. 3 Satz 2 PAG 2017 aufgezählten Rechtsgüter, zu deren Schutz bei drohender Gefahr Maßnahmen ergriffen werden dürften, teilweise als zu unbestimmt; dies gelte auch für die Definition bedeutender Rechtsgüter nach Art. 11 a Abs. 2 PAG 2021. Insbesondere sei unklar, was „Kulturgüter von mindestens überregionalem Rang“ seien.
28
Da die angegriffene Vorschrift gerade für Situationen gelten solle, die nicht kategorisierbar seien, scheide auch eine Einschränkung des zu weit gefassten Tatbestands des Art. 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 PAG 2017 mit Hilfe gerichtlicher Fallgruppenbildung aus. Im Übrigen verstoße Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 auch auf der Grundlage der seitens der Staatsregierung postulierten einengenden Auslegung, wonach die Norm weitgehend nur die Fälle erfassen solle, die bereits vor der Gesetzesreform als konkrete Gefahr eingestuft worden seien, gegen den Grundsatz der Normenklarheit, weil sie das Polizeiaufgabengesetz im Hinblick auf Art. 11 Abs. 1 PAG 2017, der eine konkrete Gefahr voraussetze, widersprüchlich mache.
29
b) Die angegriffene Erweiterung der Generalklausel, die Eingriffe in Art. 101 BV erlaube, ohne dass die Schwelle der konkreten Gefahr erreicht sei, sei aus mehreren Gründen unangemessen und damit unverhältnismäßig.
30
aa) Die angegriffene Vorschrift sei nicht auf die Abwehr drohender terroristischer Gefahren beschränkt, sondern eine echte Generalklausel, die eine Vielzahl neuer – bislang schlicht rechtswidriger – Grundrechtseingriffe ermögliche, indem sie von der höheren Eingriffsschwelle der konkreten Gefahr abrücke, die eine wesentliche rechtsstaatliche Sicherung gegen uferlose und vorschnelle gefahrenabwehrrechtliche Grundrechtseingriffe darstelle.
31
Soweit die Staatsregierung sich darauf berufe, dass die angegriffene Norm eine durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeskriminalamtgesetz entstandene Regelungslücke schließen und nur Konstellationen erfassen solle, die früher als Fälle der konkreten Gefahr unter die überkommene Generalklausel gefasst worden seien, sodass die Eingriffsschwelle durch den neuen Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 nicht gravierend abgesenkt werde, überzeuge dies nicht. Schon die Annahme, das Bundesverfassungsgericht habe den Begriff der konkreten Gefahr einschränkend modifizieren und neu interpretieren wollen, sei sehr zweifelhaft. Auch die Gesetzgebungsmaterialien könnten eine einschränkende Auslegung der angegriffenen Vorschrift nicht begründen, sondern deuteten in die gegenteilige Richtung. Im Ergebnis bleibe es dabei, dass durch die Vorschrift die Eingriffsschwelle in verfassungswidriger Weise abgesenkt werde.
32
bb) Durch die angegriffene Vorschrift verschiebe sich das Prognoserisiko zu Lasten der Grundrechtsträger. Nach traditionellem Verständnis müsse der Schaden schon hinreichend konkretisiert sein, damit eine in die Grundrechte eingreifende Maßnahme rechtmäßig sein könne. Dann sei es selbst im Fall einer unzutreffenden Prognose gerechtfertigt, die Betroffenen in Anspruch zu nehmen. Je weniger Anforderungen aber an die Konkretisierung des Schadens gestellt würden, desto größer werde die Wahrscheinlichkeit einer fehlerhaften Prognose. Wenn die angegriffene Vorschrift Maßnahmen schon bei drohender Gefahr zulasse, erhöhe sich das Risiko, dass Unbeteiligte, von denen keine Gefahr ausgehe, in Anspruch genommen würden. Das Bundesverfassungsgericht fordere stets eine individuelle Zurechenbarkeit. Werde die Eingriffsschwelle derart abgesenkt, müssten sich auch rechtstreue Bürger früher Eingriffe in ihre Grundrechte gefallen lassen; zudem steige die Gefahr, dass diese allein aufgrund von Aussehen, Herkunft oder Religion Opfer rechtswidriger staatlicher Eingriffe würden. Es liege kein angemessenes Verhältnis der Grundrechtsbeschränkung zum Gut der öffentlichen Sicherheit mehr vor, zumal die fehlende zeitliche Begrenzung den Grundrechtseingriff intensiviere. Eine derart tiefgreifende Erweiterung der polizeilichen Eingriffsbefugnisse zu Lasten des Freiheitsschutzes sei angesichts der aus der Kriminalstatistik ablesbaren guten Sicherheitslage in Bayern nicht nötig.
33
cc) Schließlich verstärke die Unbestimmtheit der angegriffenen Vorschrift die Unangemessenheit, indem sie den Bereich der Grundrechtseingriffe ins Vorfeld ausdehne, ohne dass für die Betroffenen erkennbar sei, wann und unter welchen Umständen ein Eingriff zu erwarten sei.
34
c) Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 genüge den Vorgaben aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeskriminalamtgesetz nicht, auch wenn sich die Gesetzesbegründung hierauf beziehe. Das Bundesverfassungsgericht gehe davon aus, dass im Regelfall eine konkrete Gefahr erforderlich sei und hiervon nur ausnahmsweise abgewichen werden könne. In einer Generalklausel die Gefahrenschwelle auf die drohende Gefahr abzusenken, sei damit ausgeschlossen. Die Neuregelung in der angegriffenen Vorschrift weiche von den verfassungsgerichtlichen Vorgaben ab, indem sie eine Alternativität genügen lasse, wo das Bundesverfassungsgericht ein kumulatives Vorliegen von Tatsachen, welche das die Gefahr begründende Geschehen konkretisieren, und Tatsachen, welche den Schluss auf die Beteiligung bestimmter Personen zulassen, fordere. Das Bundesverfassungsgericht lasse ein bloßes Abstellen auf das individuelle Verhalten einer Person nur dann zu, wenn es um Überwachungsmaßnahmen, d. h. bloße Gefahrerforschungseingriffe zur Abwehr terroristischer Straftaten gehe. Die angegriffene Regelung sehe hingegen bewusst von einer Begrenzung auf drohende terroristische Gefahren ab und ermächtige darüber hinaus nicht bloß zu Gefahrerforschungseingriffen, sondern auch zu Eingriffen in den Kausalverlauf. Insbesondere der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14. November 2024 (1 BvL 3/22, juris) zur längerfristigen Observation nach dem nordrhein-westfälischen Polizeigesetz unterstreiche, dass die Regelung der drohenden Gefahr als Eingriffsschwelle in der polizeilichen Generalklausel unverhältnismäßig sei. Im Übrigen gehe die Bayerische Staatsregierung unzutreffend davon aus, dass die Kategorie der „drohenden Gefahr“ in Art. 11 a PAG 2021 der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Kategorie der „hinreichend konkretisierten Gefahr“ entspreche. Art. 11 a Abs. 1 PAG 2021 definiere zwei Tatbestandsalternativen einer drohenden Gefahr, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs aufgrund einer konkretisierten Gefahr kumulativ vorliegen müssten.
35
2. Verfahren Vf. 5-VIII-18 (Meinungsverschiedenheit)
36
Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Bayerischen Landtag (Antragstellerin) wandte sich, soweit hier von Relevanz, mit ihrem gegen die CSU-Fraktion und die Bayerische Staatsregierung (Antragsgegnerinnen) gerichteten Antrag vom 26. März 2018 zunächst gegen § 1 Nr. 2 des Gesetzes zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen vom 24. Juli 2017 (GVBl S. 388), der Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 einfügte. Zuletzt macht sie mit ihrem am 1. Oktober 2021 eingegangenen, modifizierten und ergänzten Antrag vom 25. September 2021 geltend, dass § 1 Nr. 2 des Gesetzes zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen vom 24. Juli 2017 (GVBl S. 388) sowie die Neufassung des Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 durch § 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts vom 18. Mai 2018 (GVBl S. 301) und seine Ersetzung durch Art. 11 a PAG 2021 gemäß § 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes und weiterer Rechtsvorschriften vom 23. Juli 2021 (GVBl S. 418) Art. 3 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Art. 100, Art. 101 und 102 BV verletzten und daher nichtig seien.
37
a) Die Meinungsverschiedenheit habe sich durch die Gesetzesänderung im Juli 2021 nicht erledigt. Die inhaltlichen Kernelemente der 2017 beschlossenen Neuregelungen, insbesondere der neu eingeführte Begriff der drohenden Gefahr, blieben bestehen. Deswegen gälten die seinerzeit gegen die ursprünglichen Regelungen vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken weiterhin weitestgehend unverändert. Die mit dem modifizierten Antrag geltend gemachte Antragserweiterung sei zulässig, was insbesondere aus der Eigenheit des Verfahrens der Meinungsverschiedenheit als einem kontradiktorischen Verfahren folge. Eine hiervon abweichende Sichtweise, die eine vollständige Umstellung des ursprünglichen Antrags auf die Neuregelung forderte, würde diesem kontradiktorischen Charakter dagegen nicht gerecht.
38
b) Die Meinungsverschiedenheit sei bereits im Gesetzgebungsverfahren erkennbar geworden, da die Antragstellerin im Verlauf des Verfahrens zur Gesetzesnovellierung auf den Fortbestand der eigenen Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Vorschriften immer wieder hingewiesen habe. Dabei verweist die Antragstellerin auf den Redebeitrag ihres Abgeordneten Dr. R. in der Plenardebatte vom 20. Juli 2021 (Plenarprotokoll 18/88 S. 11932 ff.). Speziell zur Problematik der drohenden Gefahr werde insoweit auf den parlamentarischen Antrag der Antragstellerin „Keine Vernachrichtendienstlichung der Polizei – Eingriffsschwelle der drohenden Gefahr aus dem allgemeinen Polizeirecht streichen!“ vom 10. Juni 2021 (LT-Drs. 18/16284) hingewiesen.
39
c) Im Hinblick auf die Begründetheit der Meinungsverschiedenheit trägt die Antragstellerin schriftsätzlich und in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen Folgendes vor: Art. 11 a PAG 2021 bzw. Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 seien zu unbestimmt, weil die zentralen Begriffe und Formulierungen „drohende Gefahr“, „Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung“ und „bedeutende Rechtsgüter“ sich weder durch eine systematische Auslegung, die zum Vergleich andere Gesetze (z. B. Art. 11 Abs. 2, Art. 87 a Abs. 4 S. 1 und Art. 91 GG, § 228 BGB) heranziehe, noch durch eine Bezugnahme auf die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeskriminalamtgesetz – die nicht übertragbar sei, insbesondere weil die Generalklausel auch aktionelle Maßnahmen ermögliche und nicht auf die Aufgabe der Terrorismusabwehr beschränkt sei – konkretisieren ließen. Verschärfend komme hinzu, dass die „bedeutenden Rechtsgüter“ zum einen nur ein subjektives Tatbestandsmerkmal in Art. 11 a Abs. 1 PAG 2021 bzw. Art. 11 Abs. 3 Satz 1 PAG 2017 seien und zum anderen auch in ihrer durch das PAG-Änderungsgesetz überarbeiteten Katalogform weiterhin unklar seien. Insbesondere bleibe bei Art. 11 a Abs. 2 Nr. 4 PAG 2021 offen, weshalb regionale Kulturgüter keinen Schutz genießen sollten und nach welchen Maßstäben die Abgrenzung zwischen regionalen und überregionalen Gütern durchgeführt werden solle. Das Rechtsgut „Gesundheit“ werde weiterhin ohne eine Präzisierung genannt. Konsequenz daraus sei, dass bereits geringfügige Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit ausreichten, um den Tatbestand des Art. 11 a PAG 2021 zu erfüllen. Zudem seien Art. 11 a PAG 2021 bzw. Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 unverhältnismäßig, da erstens die als Eingriffsvoraussetzung genannten drohenden Rechtsgüterverletzungen nicht die erforderliche Schwere aufwiesen, die für eine entsprechende Reduktion der Wahrscheinlichkeitsannahme nötig sei, zweitens die genannten Vorschriften nicht die eigentlich gebotene Zuordnung der drohenden Gefahr zu einer bestimmten Person als Adressat polizeilicher Maßnahmen verlangten und drittens kein Richter- und/oder Behördenleitervorbehalt existiere. Art. 11 a PAG 2021 sei auch deshalb unverhältnismäßig, weil er in den Nummern 1 und 2 seines ersten Absatzes die kumulativen bundesverfassungsgerichtlichen Anforderungen an eine hinreichend konkretisierte Gefahr, wonach bestimmte Tatsachen zum einen den Schluss auf ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen müssen und zum anderen darauf, dass bestimmte Personen beteiligt sein werden, über deren Identität zumindest so viel bekannt sei, dass die Überwachungsmaßnahme gezielt gegen sie eingesetzt und weitgehend auf sie beschränkt werden könne, zu Alternativen auseinanderziehe.
So ermögliche Art. 11 a PAG 2021 Eingriffe gegenüber unbeteiligten Dritten.
40
3. Verfahren Vf. 10-VIII-18 (Meinungsverschiedenheit)
41
Mit ihrer weiteren, am 6. Juni 2018 eingegangenen Meinungsverschiedenheit machte die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Bayerischen Landtag (Antragstellerin) gegenüber der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag und der Bayerischen Staatsregierung (Antragsgegnerinnen) geltend, dass verschiedene Normen des Gesetzes zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts (PAG-Neuordnungsgesetz) vom 18. Mai 2018 (GVBl S. 301) verfassungswidrig seien. Die Antragstellerin wandte sich dabei weder ausdrücklich noch sinngemäß gegen Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 oder gegen dessen Modifikation durch § 1 Nr. 5 des PAG-Neuordnungsgesetzes. In diesem Verfahren greift die Antragstellerin vielmehr nur die durch das PAG-Änderungsgesetz vom 23. Juli 2021 neu gefasste Generalklausel des Art. 11 a PAG 2021 an, und zwar erstmals mit am 1. Oktober 2021 eingegangenem Schriftsatz vom 28. September 2021. Sie führt dabei aus, Art. 11 PAG 2017 sei nicht unmittelbar Gegenstand des Antrags im hiesigen Verfahren gewesen; diese Bestimmung sei bereits im Verfahren Vf. 5-VIII-18 angegriffen worden. Nachdem an deren Stelle die Bestimmung des Art. 11 a PAG 2021 getreten sei und diese während des Gesetzgebungsverfahrens Gegenstand einer Meinungsverschiedenheit gewesen sei, ergänze sie ihren Antrag vom 6. Juni 2018 dahingehend, dass der Verfassungsgerichtshof feststellen möge, dass § 1 Nr. 5 des Gesetzes vom 23. Juli 2021 gegen das Rechtsstaatsgebot des Art. 3 BV verstoße und daher verfassungswidrig und nichtig sei (vgl. Nr. 15 des neugefassten Antrags mit zugehöriger Begründung).
42
a) Zur Begründung der Meinungsverschiedenheit führt die Antragstellerin auch unter Berücksichtigung des Schriftsatzes vom 9. Januar 2025 und ihrer Ausführungen in der mündlichen Verhandlung aus, dass auch nach Änderung des Polizeiaufgabengesetzes durch das PAG-Änderungsgesetz vom 23. Juli 2021 die vom Verfassungsgerichtshof geforderte Identität zwischen der im Gesetzgebungsverfahren erhobenen Rüge und der den Gegenstand des Verfahrens der Meinungsverschiedenheit bildenden Rüge bestehe. Soweit die bereits im Gesetzgebungsverfahren als verfassungswidrig gerügten Bestimmungen des Gesetzes bei dessen späterer Änderung in ihrer Eingriffswirkung unverändert geblieben seien und sich damit weiterhin den gleichen, bereits in diesem Verfahren erhobenen verfassungsrechtlichen Einwänden ausgesetzt sähen, sei von der geforderten Identität auch hinsichtlich der als verletzt erachteten Verfassungsnormen auszugehen.
Dies betreffe insbesondere die als verfassungswidrig gerügte Verwendung des Begriffs der drohenden Gefahr, der im Gesetzestext in Art. 11 a Abs. 1 PAG 2021 wortlautidentisch zu Art. 11 Abs. 3 Satz 1 PAG 2017 erhalten geblieben sei. Die Antragstellerin habe wiederholt deutlich gemacht, dass sie von einer fortbestehenden Meinungsverschiedenheit ausgehe, so im von der Landtagsmehrheit abgelehnten Antrag „Keine Vernachrichtendienstlichung der Polizei – Eingriffsschwelle der drohenden Gefahr aus dem allgemeinen Polizeirecht streichen!“ vom 10. Juni 2021 (LT-Drs. 18/16284). Auch habe der Abgeordnete Dr. R. in der Plenarsitzung vom 20. Juli 2021 die fortbestehende Meinungsverschiedenheit zusammengefasst. Schließlich sei deren Fortbestehen, nicht zuletzt auch hinsichtlich des Begriffs der drohenden Gefahr, auch in der Endberatung im Verfassungsausschuss am 15. Juli 2021 deutlich geworden (Protokoll S. 29 ff.).
43
b) Die Antragstellerin rügt der Sache nach, dass die Definition des Begriffs der drohenden Gefahr, wie er in Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 bzw. Art. 11 a PAG 2021 enthalten sei, nicht den Anforderungen des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebots genüge. Die einzelnen Tatbestandsmerkmale der Legaldefinition, insbesondere dasjenige der zu erwartenden Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung, seien unbestimmt, da Wortsinn, Systematik und Entstehungsgeschichte unterschiedliche Deutungen zuließen, eine gefestigte Rechtsprechung zur Auslegung des Begriffs nicht bestehe und die Aussagen des ersten Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeskriminalamtgesetz nicht auf das allgemeine Polizeirecht übertragen werden könnten. Gerade die Häufung unbestimmter, auslegungsbedürftiger Rechtsbegriffe laufe dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot zuwider. Zudem entspreche die Generalklausel zur drohenden Gefahr im Hinblick auf die geschützten Rechtsgüter, auf die in Art. 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 PAG 2017 bzw. Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG 2021 fehlende Zuordnung der potenziellen Gefahr zu einer bestimmten Person, auf die auch aktionelle Handlungen umfassende Rechtsfolge und auf den weiten (nicht auf Terrorismusabwehr begrenzten) Aufgabenbereich nicht den Vorgaben aus der ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeskriminalamtgesetz.
44
c) Die im Kontext der Terrorismusbekämpfung getroffenen Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zur drohenden Gefahr in diesem Urteil dürften nicht unbesehen auf das allgemeine Polizeirecht übertragen werden. Das Polizeiaufgabengesetz gehe über die Erfassung vergleichbarer oder gleichwertiger Bedrohungslagen deutlich hinaus. Das Urteil beziehe sich auf informationelle Eingriffe, wohingegen das Polizeiaufgabengesetz auch aktionelle Eingriffe vorsehe. Auch wenn die Vorverlagerung der Eingriffsschwelle nach der Entscheidung „Bestandsdatenauskunft II“ (BVerfG vom 25.5.2020 BVerfGE 155, 119) nicht zwingend auf den Bereich der Terrorismusbekämpfung begrenzt werde, führe diese Entscheidung nicht maßgeblich über die Aussagen im BKAG I-Urteil hinaus. Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG 2021 überschreite schon deshalb den vom Bundesverfassungsgericht umrissenen Rahmen, weil hier nicht mehr auf das individuelle Verhalten einer Person abgestellt werde. Die Vorschrift begründe vielmehr eine Befugnis zum Einschreiten mit großer Streubreite auch gegen gänzlich Unbeteiligte. Soweit die Entscheidung „Bestandsdatenauskunft II“ die Eingriffsschwelle der hinreichend konkretisierten Gefahr auch für Befugnisse von nicht sehr großem Gewicht erwäge, besage dies nichts anderes, als dass die Anforderungen an die Gefahrenprognose von der Intensität des Eingriffs abhängig seien. Die Entscheidung zur elektronischen Fußfessel (BVerfG vom 1.12.2020 BVerfGE 156, 63) führe ebenfalls zu keiner anderen Einschätzung. Entgegen der Auffassung der Staatsregierung könne von einer Identität der drohenden Gefahr mit der Eingriffsschwelle der hinreichend konkretisierten Gefahr ebenso wenig gesprochen werden wie davon, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Begriff der drohenden Gefahr im Sinn des Polizeiaufgabengesetzes konsolidiert und bestätigt habe. Weil die drohende Gefahr zu einem Zentralelement des Polizeiaufgabengesetzes gemacht worden sei, liege keine bloße Arrondierung dieses Gefahrbegriffs vor. Die Tatbestandsvoraussetzungen, die nach dem Bundesverfassungsgericht für eine hinreichend konkrete Gefahr kumulativ vorliegen müssten, sehe Art. 11 a Abs. 1 PAG 2021 in Nummern 1 und 2 nur alternativ vor. Die Vollzugspraxis sei für die verfassungsrechtliche Beurteilung dieser Vorschrift unerheblich.
45
4. Verfahren Vf. 16-VIII-18 (Meinungsverschiedenheit)
46
Die SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag (Antragstellerin) machte mit ihrer am 5. September 2018 eingegangenen Meinungsverschiedenheit vom selben Tag gegenüber der CSU-Fraktion und der Bayerischen Staatsregierung (Antragsgegnerinnen) geltend, dass verschiedene Normen des Gesetzes zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts (PAG-Neuordnungsgesetz) vom 18. Mai 2018 (GVBl S. 301) verfassungswidrig seien. Die Antragstellerin griff bestimmte Normen des PAG-Neuordnungsgesetzes im Kern deshalb an, weil sie es als „Dammbruch“ ansah, dass aufgrund dieses Gesetzes nunmehr fast das gesamte Instrumentarium präventivpolizeilicher Eingriffsbefugnisse auch im Gefahrenvorfeld zur Verfügung stehe; hingegen habe sich das Gesetz zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen im Jahr 2017 noch darauf beschränkt, die Herabsetzung der Eingriffsschwelle auf lediglich drohende Gefahren nur punktuell in einzelnen Befugnisnormen wie Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 vorzunehmen. Die Antragstellerin wandte sich dabei weder ausdrücklich noch sinngemäß gegen Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 oder gegen dessen Modifikation durch § 1 Nr. 5 des PAG-Neuordnungsgesetzes. Zwar machte die Antragstellerin mit dem damaligen Antrag Nr. 20 geltend, § 1 des PAG-Neuordnungsgesetzes verletze auch insoweit Art. 3 Abs. 1 BV, als über die Anträge Nrn. 1 bis 19 hinaus inhaltlich an die Eingriffsschwelle der drohenden Gefahr angeknüpft werde. Jedoch knüpfte § 1 Nr. 5 des PAG-Neuordnungsgesetzes nicht an diese Eingriffsschwelle an, sondern modifizierte Art. 11 Abs. 3 Satz 1 PAG 2017 nur redaktionell (Anpassung einer Verweisung). Daraus, dass in der Begründung des Schriftsatzes vom 5. September 2018 Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 problematisiert wurde, ergibt sich nichts anderes. Denn dies erfolgte nur, um zu zeigen, dass die Standardmaßnahmen der Art. 12 bis 65 PAG 2018, die die Antragstellerin zum Gegenstand ihrer Anträge im Schriftsatz vom 5. September 2018 machte und die ihrerseits an die Kategorie der drohenden Gefahr anknüpften, verfassungswidrig seien. Mit am 4. Oktober 2021 eingegangenem Schriftsatz vom 30. September 2021 griff die Antragstellerin erstmals Art. 11 a PAG 2021 an und rügte, dass diese Vorschrift gegen Art. 3 Abs. 1 BV verstoße. Da durch § 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes und weiterer Rechtsvorschriften vom 23. Juli 2021 in einem neuen Art. 11 a PAG eine Regelung der allgemeinen Befugnisse bei drohender Gefahr eingeführt worden sei, sei der Antrag (ursprünglich Nr. 20) insofern zu erweitern, als auch die Feststellung der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit von Art. 11 a PAG 2021 beantragt werde.
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a) Zur Erkennbarkeit der Rügen im Gesetzgebungsverfahren trägt die Antragstellerin im Antragsschriftsatz vom 5. September 2018 vor, dass nicht jede einzelne Bestimmung, die Gegenstand der Meinungsverschiedenheit werden könne, bereits im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich als verfassungswidrig gerügt werden müsse. In das spätere Verfahren könnten vielmehr auch solche Normen mit einbezogen werden, die zuvor nicht separat genannt worden seien. Erforderlich sei jedoch, dass sie mit einer explizit gerügten Norm in so engem sachlichen Zusammenhang stünden, dass die Kritik auf beide bezogen werden könne. Daher stellten verschiedene Äußerungen der Abgeordneten der SPD-Fraktion in den drei Lesungen des PAG-Neuordnungsgesetzes (Plenarprotokoll 17/123 S. 10988 f.; 17/132 S. 11917 ff. und 11942 f.), insbesondere der Vortrag des Abgeordneten ... in der Dritten Lesung, eine ausreichende Rüge der Verfassungswidrigkeit dar.
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b) Zur Begründetheit der Meinungsverschiedenheit im Hinblick auf Art. 11 a PAG 2021 wird unter Bezugnahme auf die vorangegangenen Ausführungen zu Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 und unter Berücksichtigung des Schriftsatzes vom 13. Januar 2025 sowie der Ausführungen in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen vorgetragen: Die Generalklausel sei zu unbestimmt, da die drohende Gefahr letztlich nur durch die Tatbestandsmerkmale „Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung“ und „absehbarer Zeit“ definiert werde, wobei diese Begriffe auch durch systematische Auslegung nicht sicher konkretisierbar seien und keine Abgrenzung zur konkreten Gefahr ermöglichten. Auch die übrigen Tatbestandsmerkmale enthielten unbestimmte Rechtsbegriffe, die bereits aufgrund ihrer Bündelung das Normverständnis erschwerten, sodass auch keine konkretisierende Rechtsprechung zu erwarten sei. Die Aufzählung der bedeutenden Rechtsgüter in Art. 11 a Abs. 2 PAG 2021 sei nach wie vor zu weit geraten. Auch der Bundesgesetzgeber halte die drohende Gefahr nach dem Polizeiaufgabengesetz für weitgehend konturenlos (vgl. BT-Drs. 20/9345 S. 23). Die Unverhältnismäßigkeit des Art. 11 a PAG 2021 folge insbesondere daraus, dass die Polizei durch die Eingriffsschwelle der drohenden Gefahr operative Befugnisse im Gefahrenvorfeldbereich erlange, was eine Durchbrechung des im Verfassungs- und Sicherheitsrecht verwurzelten Ordnungssystems darstelle, wonach die im Vergleich zu den Nachrichtendiensten umfangreicheren (operativen) Befugnisse der Polizei mit höheren Eingriffsschwellen korrelierten. Zudem führe die Absenkung der Eingriffsschwelle durch die drohende Gefahr im Polizeirecht zu einer Überschneidung der Einsatzmöglichkeiten von Polizei und Verfassungsschutz. Das Trennungsprinzip sei damit in Bayern obsolet. Der These der Staatsregierung, wonach die in Art. 11 a Abs. 1 PAG 2021 legaldefinierte „drohende Gefahr“ mit der vom Bundesverfassungsgericht näher ausgeformten Eingriffsschwelle der „hinreichend konkretisierten Gefahr“ „in der Sache identisch sei“, sei jedenfalls durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14. November 2024 zur Verfassungswidrigkeit der bisherigen Regelungen zur längerfristigen Observation nach dem Polizeigesetz Nordrhein-Westfalens jede Grundlage entzogen. Die Absenkung der Eingriffsschwelle sei nach dem Bundesverfassungsgericht nur ausnahmsweise und nicht flächendeckend, so wie es im Polizeiaufgabengesetz erfolgt sei, zulässig. Die „Je-DestoFormel“ gelte auch im Rahmen der konkreten Gefahr, die als Eingriffsschwelle genüge. Der Gesetzgeber habe auch keine Vorsorge für den Vorrang der konkreten vor der drohenden Gefahr getroffen (vgl. LT-Drs. 18/13716 S. 21). Das sei inakzeptabel.
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1. Der Bayerische Landtag hält die Popularklage ebenso wie die Meinungsverschiedenheiten für unbegründet.
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a) Die Popularklage im Verfahren Vf. 7-VII-18 sei unbegründet. Die Rügen der mangelnden Bestimmtheit und der fehlenden Verhältnismäßigkeit des Begriffs der drohenden Gefahr seien nicht beachtlich; eine Verletzung der Verfassung sei nicht überzeugend dargelegt. Um die Bürger vor terroristischen, extremistischen und anderen schweren Straftaten zu schützen, müsse der Staat als Träger des Gewaltmonopols präventiv einschreiten dürfen. Der Begriff der drohenden Gefahr sei im Polizeiaufgabengesetz unter enger Anlehnung an die Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts legaldefiniert worden. Er sei zwar auslegungsbedürftig, aber zulässig.
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b) Auch die Meinungsverschiedenheiten seien unbegründet. In den Verfahren Vf. 5-VIII-18 und Vf. 10-VIII-18 wird hierzu näher Folgendes ausgeführt:
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Die Sicherheit des Staates und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung seien Verfassungswerte, die mit anderen in gleichem Rang stünden und unverzichtbar seien, da die Institution Staat von ihnen die eigentliche Rechtfertigung herleite. Um den Staat nicht wehrlos gegenüber Bedrohungen zu machen, die eine Gefahr für ihn und die Gemeinschaft rechtstreuer Bürger darstellten, müsse auch der Einsatz präventiver Mittel im Vorfeld möglich sein. Der Gesetzgeber habe mit der Kategorie der drohenden Gefahr eine an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angelehnte und damit verfassungsrechtlich gedeckte Vorverlagerung von Maßnahmen in das Gefahrenvorfeld unternommen.
Dabei werde dem Gedanken Rechnung getragen, dass bei Gefährdern regelmäßig gerade noch nicht von einer konkreten Gefahr im Sinn des Polizeirechts ausgegangen werden könne. Der Gesetzgeber habe zudem die Eingriffsbefugnis nicht bei allen denkbaren drohenden Gefahrenlagen normiert. Vielmehr habe er sich zum einen auf Gefahrenlagen nur für bedeutende Rechtsgüter im Sinn von Art. 11 Abs. 3 Satz 2 PAG 2017 und zum anderen auf die Begehungsart der Gewalttaten, wobei er eine erhebliche Intensität oder Auswirkung verlange, beschränkt. Auch die Auswahl der Rechtsgüter begegne keinen Bedenken, da anders als bei heimlichen und eingriffsintensiven Überwachungsmaßnahmen auch offene Maßnahmen von der Generalklausel erfasst würden. Art. 99 Abs. 2 BV lege fest, dass der Schutz der Verfassung gegen Angriffe von außen und von innen zu gewährleisten sei. Zur Gewährleistung der Sicherheit benötige die Polizei Befugnisse auf Höhe der Zeit. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei beachtet worden. Im Übrigen werde auf die Ausführungen in der Stellungnahme der Staatsregierung verwiesen.
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2. Die Bayerische Staatsregierung ist der Ansicht, dass die Popularklage und die Meinungsverschiedenheiten jedenfalls unbegründet seien.
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a) Ob es zulässig sei, wie es die Antragstellerin im Verfahren Vf. 5-VIII-18 mache, Normen sowohl in ihrer alten, außer Kraft getretenen, als auch in ihrer jetzt gültigen Fassung zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung zu stellen, obwohl sich die Fassungen substanziell unterschieden, erscheine zweifelhaft. Normenkontrollanträge, auch speziell in Gestalt einer Meinungsverschiedenheit nach Art. 75 Abs. 3 BV, könnten sich erledigen, soweit die den Gegenstand des Antrags bildenden Normen außer Kraft träten bzw. von neuen (modifizierten) Normen abgelöst würden. Nach ständiger, auch auf Meinungsverschiedenheiten übertragbarer Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs unterlägen außer Kraft getretene Rechtsvorschriften nur dann der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, wenn noch ein objektives Interesse an der Feststellung der Vereinbarkeit mit der Bayerischen Verfassung bestehe. Hierzu werde von der Antragstellerin nichts vorgetragen. Aus der kontradiktorischen Natur der Meinungsverschiedenheit folge nichts Gegenteiliges.
Auch kontradiktorische anfängliche Meinungsverschiedenheiten könnten sich erledigen, wenn es wie hier an einem weitgehend unveränderten Regelungsgehalt fehle. Die Frage, wie sich die Rügen in Bezug auf altes und geltendes Recht verhalten, stelle sich auch mit Blick auf die anderen Verfahren.
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b) Alle Anträge seien jedenfalls unbegründet, weil die Einführung der Eingriffsschwelle der drohenden Gefahr in Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 bzw. Art. 11 a PAG 2021 mit der Bayerischen Verfassung in Einklang stehe. Wesentliche Streitfragen, die die neue Rechtsfigur der drohenden Gefahr anfänglich belastet hätten, seien inzwischen auch unter Berücksichtigung der im Abschlussbericht der PAG-Kommission enthaltenen Empfehlungen geklärt.
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aa) Das Bundesverfassungsgericht habe in seinen Entscheidungen „Bestandsdatenauskunft II“ vom 27. Mai 2020 (BVerfGE 155, 119) sowie „Elektronische Aufenthaltsüberwachung“ vom 1. Dezember 2020 (BVerfGE 156, 63) die grundsätzliche Legitimität der Eingriffsschwelle der drohenden bzw. hinreichend konkretisierten Gefahr bekräftigt und in verschiedener Hinsicht präzisiert. Begrifflich werde nunmehr zumeist von hinreichend konkretisierter Gefahr gesprochen, ohne dass damit etwas anderes gemeint wäre als drohende Gefahr im Sinn des Polizeiaufgabengesetzes, was auch der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 10. Juni 2020 (BGHSt 66, 1) so verstehe. In sachlicher Bekräftigung habe das Bundesverfassungsgericht davon gesprochen, bei der „konkretisierten“ und der „drohenden Gefahr“ handle es sich um „im Gefahrenabwehrrecht anerkannte Eingriffsschwellen“. Anders als behauptet, verlange das Bundesverfassungsgericht kein kumulatives Vorliegen der möglichen Tatbestandsvarianten einer drohenden Gefahr. Deutlich werde in der Entscheidung „Bestandsdatenauskunft II“, dass die Eingriffsschwelle – und zwar auch in der Variante des „individuellen Verhaltens“ – allenfalls „etwa“ und „insbesondere“, keinesfalls aber ausschließlich auf die Verhütung terroristischer Straftaten bezogen, sondern verallgemeinerbar sei; dies stets unter der Voraussetzung eines eingriffsadäquat hinreichend qualifizierten Rechtsgüterschutzes. Geklärt sei durch die Entscheidung „Elektronische Aufenthaltsüberwachung“, dass die drohende Gefahr auch auf aktionelle Befugnisse anwendbar sei. Dementsprechend habe auch der Sächsische Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil vom 25. Januar 2024 (Vf. 91-II-19, juris) entschieden. Das Bundesverfassungsgericht habe seine Rechtsprechung zur Eingriffsschwelle der „hinreichend konkretisierten Gefahr“, die auch nach seiner Entscheidung vom 14. November 2024 zum Polizeigesetz Nordrhein-Westfalens mit der drohenden Gefahr nach Art. 11 a PAG 2021 in der Sache identisch sei, zwischenzeitlich weiter konsolidiert und bekräftigt. Zu nennen seien ferner die Entscheidungen „Bayerisches Verfassungsschutzgesetz“ vom 26. April 2022 (BVerfGE 162, 1), „Bundesverfassungsschutzgesetz – Übermittlungsbefugnisse“ vom 28. September 2022 (BVerfGE 163, 43), „Polizeiliche Befugnisse nach dem SOG MV“ vom 9. Dezember 2022 (BVerfGE 165, 1), „Automatisierte Datenanalyse“ vom 16. Februar 2023 (BVerfGE 165, 363) und „Bundeskriminalamtgesetz II“ vom 1. Oktober 2024 (NVwZ 2024, 1736). Die dementsprechende Implementierung der drohenden Gefahr in das Polizeiaufgabengesetz sei kein Paradigmenwechsel. Die Entscheidung „Bestandsdatenauskunft II“ zeige, dass die drohende Gefahr vom Gesetzgeber nicht nur in Bezug auf besonders schwerwiegende Eingriffe in Anschlag gebracht werden dürfe, sondern für Eingriffe von grundsätzlich jedwedem Gewicht in Betracht komme und auch insofern im Rahmen einer Generalklausel verallgemeinerungsfähig sei. Es ergebe sich ein insgesamt flexibles System. Bei besonders schwerwiegenden Eingriffen sei die Beschränkung auf höchstrangige Rechtsgüter folgerichtig. Bei weniger schwerwiegenden Eingriffen begnüge sich das Bundesverfassungsgericht auch mit dem Schutz von Rechtsgütern von „erheblichem“, „hervorgehobenem“ oder „besonderem“ Gewicht.
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bb) Der Vorwurf der Unbestimmtheit sei unberechtigt. Da niemals alle in allen Situationen erforderlichen Polizeimaßnahmen typisierbar und in je einzelnen Standardermächtigungen normierbar seien, gebiete der verfassungsrechtliche Schutz- und Sicherheitsauftrag, dass eine Generalklausel zur Verfügung stehe, die die Polizei auch zu atypischen Maßnahmen ermächtige.
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Der Begriff der drohenden Gefahr sei gerade kein „unbeschriebenes Blatt“, für dessen Auslegung es keinen verlässlichen Anhalt gebe, sondern das in Gesetzesform gegossene Ergebnis einer langen Rechtsprechungsreihe des Bundesverfassungsgerichts zur Abgrenzung von Gefahr und Gefahrenvorfeld sowie zur Zulässigkeit von Vorfeldbefugnissen. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 10. Juni 2020 (BGHSt 66, 1) sei ein gutes Beispiel dafür, wie die Fachgerichtsbarkeit bewusst offen formulierte Tatbestandsmerkmale des Polizeirechts konkretisieren und erfolgreich „kleinarbeiten“ könne, woran sich wiederum die polizeiliche Praxis orientieren könne. Im Vergleich zur herkömmlichen Generalklausel weise Art. 11 a PAG 2021 ein deutlich höheres Maß an Detailliertheit und Präzision auf. Die zur tatbestandlichen Normbegrenzung eingesetzten unbestimmten Rechtsbegriffe könnten mithilfe der üblichen Methoden ohne Weiteres einer eindeutigen und verlässlichen, rechtssicheren Auslegung und Handhabung zugeführt werden. Dies gelte auch für das Erfordernis, dass „Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung“ zu erwarten sein müssen. Das Merkmal stelle sicher, dass nur „gravierende materielle Gefahrenlagen“, die mit den Terrorgefahren, die das Bundesverfassungsgericht vor Augen gehabt habe, prinzipiell vergleichbar seien, eine drohende Gefahr begründeten. Während die „Intensität“ die Tiefe der möglichen Rechtsgutsverletzung betreffe, ziele der Begriff der „Auswirkung“ eher auf das Ausmaß der Betroffenheit. Das Nebeneinander von Art. 11 und Art. 11 a PAG 2021 spiegle die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorbildlich wider.
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Durch den Rückgriff auf die allgemeinen Regelungen der Störerverantwortlichkeit sei Art. 11 a PAG 2021 in gleicher Weise wie die überkommene Generalklausel auch im Hinblick auf die Adressaten der Maßnahme ausreichend bestimmt, zumal der Gesetzgeber die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu den zulässigen Adressaten in Art. 11 a Abs. 1 Nrn. 1 und 2 PAG 2021 differenziert zur Geltung gebracht habe.
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Ein Bestimmtheitsmangel sei auch im Hinblick auf die Normierung der „bedeutenden Rechtsgüter“ in der angegriffenen Vorschrift, die deutlich bestimmter und normenklarer als der sonst das Polizeirecht prägende allgemeinere Begriff der öffentlichen Sicherheit sei, nicht zu erkennen. Trotz der Formulierung „um zu“ reiche es nicht, wenn die Polizei den Schutz der Rechtsgüter nur beabsichtige. Die Vorschrift verlange, dass die Gefahr auch tatsächlich für das bedeutende Rechtsgut drohen müsse.
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cc) Die angegriffene Norm und insbesondere die Einführung der Begriffskategorie der drohenden Gefahr verstießen nicht gegen das Übermaßverbot.
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Die Vorschrift verfolge mit der Gewährleistung von Sicherheit und Schutz der Bevölkerung hochrangige und unverzichtbare Ziele mit Verfassungsrang, die mit anderen hochwertigen Verfassungsgütern, insbesondere den betroffenen Grundrechten, im gleichen Rang stünden. Dies rechtfertige Polizeibefugnisse auch im – vorliegend sehr eng bemessenen – Gefahrenvorfeld. Zudem sei die angegriffene Vorschrift tatbestandlich dadurch eingeschränkt, dass sie allein auf den Schutz „bedeutender Rechtsgüter“ bezogen sei – durchweg „überragend bzw. besonders wichtige Rechtsgüter“ im Sinn der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – und nicht das Gesamtspektrum öffentlicher Sicherheit und Ordnung schütze; sie greife auch insoweit nur gegenüber „Angriffen von erheblicher Intensität und Auswirkung“ für diese qualifizierten Rechtsgüter. Dadurch habe der Gesetzgeber sichergestellt, dass nur gravierende Gefahrenlagen und Rechtsgutsgefährdungen, die mit den Terrorgefahren, wie sie das Bundesverfassungsgericht vor Augen gehabt habe, prinzipiell vergleichbar seien, zum Eingriff bei drohender Gefahr berechtigten. Angesichts der durch die Anknüpfung an die Rechtsgüter des Art. 11 a Abs. 2 PAG 2021 restriktiven Tatbestandsfassung sei sichergestellt, dass die an die drohende Gefahr anknüpfende Befugnis des Polizeiaufgabengesetzes nicht Fälle der Alltagskriminalität betreffe und dass es nur um sehr wenige potenzielle Störer, nicht „gleichsam die ganze Bevölkerung“ gehe. Die angegriffene Vorschrift ermächtige nicht bereits im Gefahrenvorfeld pauschal zu den gleichen Maßnahmen, die nach der überkommenen Generalklausel erst bei konkreter Gefahr zulässig gewesen wären. Während die überkommene Generalklausel bei Bestehen einer Gefahr als Rechtsfolge eine Maßnahme der Gefahrenabwehr vorsehe, erlaube Art. 11 a PAG 2021 bei Vorliegen einer drohenden Gefahr auf der Rechtsfolgenseite Sachverhaltsaufklärung und gegebenenfalls Maßnahmen zur Verhinderung der weiteren Gefahrentstehung. Weil Maßnahmen der klassischen Gefahrenabwehr eine Gefahr voraussetzten, die auf einer validen, d. h. durch tatsächliche Kenntnisse untermauerten Prognose beruhe, müsse Gefahraufklärung bereits im Gefahrenvorfeld ansetzen, um den für die Gefahrprognose rechtsstaatlich unverzichtbaren Kenntnisstand aufzubauen. Durch Art. 11 a PAG 2021 werde kein neuer Eingriffsbereich erschlossen. Auch hier gehe es um eine Einzelfallbewertung und es gelte bei der erforderlichen, präzise programmierten Prognose die „Je-Desto-Formel“.
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Anders als von den Antragstellern vorgetragen, komme es nicht zu einer unzulässigen „Vernachrichtendienstlichung“ der Polizei. Die durch Art. 11 a PAG 2021 bewirkte Vorverlagerung sei so geringfügig und weiterhin so sehr im Grenzbereich zur konkreten Gefahr angesiedelt, dass sie von einer Vorverlagerung in den strategischen, vom Einzelfall gelösten – für die Arbeit der Nachrichtendienste prägenden – Bereich hinein weit entfernt sei. Zu bedenken sei weiter, dass das Bundesverfassungsgericht die eng bemessene Vorfeldschwelle der drohenden Gefahr für besonders eingriffsintensive, insbesondere heimliche, tief in die Privatsphäre eingreifende Überwachungsmaßnahmen entwickelt habe. Auf die angegriffene Vorschrift würden hingegen typischerweise offene Maßnahmen von allenfalls mittlerem oder geringem Gewicht und nur ganz ausnahmsweise eingriffsintensive, heimliche Überwachungsmaßnahmen, wie sie das Bundesverfassungsgericht im Blick gehabt habe, gestützt. Die behutsame Praxis ergebe kein Indiz dafür, die mit der Einführung der drohenden Gefahr verbundene Erwartung des Gesetzgebers, dass diese Eingriffsschwelle allenfalls eine eng begrenzte Arrondierung des Gefahrbegriffs bedeute, könnte falsch gewesen sein. Wenn also auch für offene Eingriffe von geringem oder mittlerem Gewicht die anspruchsvolle Schwelle der drohenden Gefahr gelte, würden die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten der Vorverlagerung bei Weitem nicht ausgeschöpft. Die Begriffskategorie der drohenden Gefahr führe auch nicht zu einer verfassungsrechtlich problematischen Ausweitung des Adressatenkreises polizeilicher Maßnahmen. Die entsprechenden Maßnahmen dürften nämlich prinzipiell nur gegen den für die drohende Gefahr Verantwortlichen nach Art. 7 und 8 PAG gerichtet werden. Auch in der Konstellation des Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG 2021 müsse trotz der genügenden, nur gruppenmäßigen Verantwortlichkeit der Schluss möglich sein, dass bestimmte Personen beteiligt seien, von deren Identität zumindest so viel bekannt sei, dass die Maßnahme gezielt gegen sie eingesetzt und weitgehend auf sie beschränkt bleiben könne. Das nötige Ausmaß der Verfangenheit des Adressaten in die mögliche Rechtsgutsverletzung sei der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zu entnehmen.
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Art. 11 a PAG 2021 enthalte verschiedene „Stellschrauben“, mithilfe derer sich in jedem Einzelfall sicherstellen lasse, dass die Vorschrift in verhältnismäßiger und damit verfassungskonformer Weise gehandhabt werden könne. Bereits die Normierung der drohenden Gefahr in der angegriffenen Vorschrift enthalte in Gestalt wertungsoffener Begriffe eine Vielzahl solcher Stellschrauben. So seien die bedeutenden Rechtsgüter des Art. 11 a Abs. 2 PAG 2021 einer verhältnismäßigkeitskonformen Auslegung und gegebenenfalls Reduktion zugänglich, indem danach gefragt werde, ob das bedrohte Rechtsgut im konkreten Einzelfall wirklich gewichtig genug erscheine, um den konkreten Eingriff zu rechtfertigen. Vor allem aber eröffne eine Generalklausel, die die Rechtsfolgen nicht vorgebe, sondern der Steuerung des Verhältnismäßigkeitsgebots unterwerfe, eine weitere wichtige solche Stellschraube. Insbesondere verlange auch die drohende Gefahr trotz der Abstriche an der Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. Was aber hinreichend sei, hänge gerade von der Tiefe des Grundrechtseingriffs ab. Denn je tiefer der Eingriff, desto höher seien auch hier die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit. Überdies sei im Bereich der Generalklausel des Art. 11 a PAG 2021 auch bei gegebener drohender Gefahr auf der Rechtsfolgenseite jederzeit Raum für verfassungskonforme Reduktionen der Norm, sollten diese im Einzelfall verfassungsrechtlich zwingend sein.
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dd) Die Verfassungskonformität der Eingriffsschwelle der drohenden Gefahr sei durch die Neufassung der Vorschrift in Art. 11 a PAG 2021 untermauert worden. Ohne dass dies verfassungsrechtlich geboten gewesen sei, habe der Gesetzgeber auf Empfehlung der PAG-Kommission bei der drohenden Gefahr eine – nunmehr durchgehend auf überragend wichtige Rechtsgüter beschränkte – Eingrenzung des Schutzgutkatalogs vorgenommen, die selbst schwerwiegendste Eingriffe (und erst recht weniger schwerwiegende) zu tragen geeignet sei.
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3. Die CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag beantragt in den verschiedenen Meinungsverschiedenheiten betreffenden Verfahren jeweils die Abweisung der Anträge als unbegründet. Die angegriffenen Normen des Polizeiaufgabengesetzes verletzten die Bayerische Verfassung nicht. Die Anpassung des Polizeiaufgabengesetzes sei – auch mit Blick auf den Verfassungsauftrag zum Schutz der Bevölkerung, der in Art. 99 BV kodifiziert sei, und wegen der Veränderung der Sicherheitslage – notwendig, damit der Rechtsstaat nicht hinter den Möglichkeiten seiner Gegner zurückbleibe. Im Übrigen schließe man sich der Argumentation der Staatsregierung an.
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Das Verfahren der Popularklage wird, soweit es Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 betraf, eingestellt.
68
1. Die Antragsteller haben das Verfahren im Hinblick auf Art. 11 Abs. 3 PAG 2017
- sinngemäß – für erledigt erklärt. Sie haben in ihrem Schriftsatz vom 14. Oktober 2021 zum Ausdruck gebracht, dass sie sich nunmehr gegen Art. 11 a PAG 2021 wenden, den sie als Nachfolgevorschrift des aufgehobenen, „vormaligen“ Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 ansehen und trotz der Änderungen im Bereich der bedeutenden Rechtsgüter „weiterhin“ für verfassungswidrig erachten. Konkludent haben sie damit zugleich zum Ausdruck gebracht, dass sie wegen der Änderung des Polizeiaufgabengesetzes eine Entscheidung über den aufgehobenen Art. 11 Abs. 3 PAG
2017 nicht mehr begehren, weshalb die abgegebene prozessuale Erklärung bei verständiger Auslegung als Erledigterklärung zu verstehen ist.
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2. Das Popularklageverfahren ist insoweit einzustellen, weil weder dargelegt noch ersichtlich ist, dass seine Fortführung im öffentlichen Interesse geboten wäre.
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a) Das Popularklageverfahren nach Art. 98 Satz 4 BV dient dem Schutz der Grundrechte als Institution. Ist es durch einen Antrag in zulässiger Weise eingeleitet worden, so kann es der Antragsteller grundsätzlich nicht durch eine prozessuale Erklärung von sich aus beenden. Ist – wie im vorliegenden Fall – kein Antrag nach Art. 55 Abs. 5 Halbsatz 2 VfGHG gestellt worden, hat der Verfassungsgerichtshof nach Erledigterklärung der Popularklage darüber zu befinden, ob ein öffentliches Interesse an der Fortführung des Verfahrens besteht (Art. 55 Abs. 5 Halbsatz 1 VfGHG). Der Verfassungsgerichtshof entscheidet im Rahmen der Popularklage grundsätzlich nur über in Kraft befindliches Recht. Anderes ist ausnahmsweise dann anzunehmen, wenn eine verfassungsgerichtliche Klärung von Fragen, die den Gegenstand des Verfahrens bilden, im öffentlichen Interesse geboten erscheint (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 2.12.1997 VerfGHE 50, 268/270; vom 6.12.2010 BayVBl 2011, 238; vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 51; vom 27.9.2023 BayVBl 2024, 78 Rn. 36, jeweils m. w. N.). Entsprechend hätte der Verfassungsgerichtshof bei Aufrechterhaltung der Popularklage auch gegen die inzwischen aufgehobene Rechtsvorschrift des Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 nur dann noch zu entscheiden gehabt, wenn ein objektives (nicht nur theoretisches) Interesse an der Feststellung bestünde, ob sie mit der Bayerischen Verfassung vereinbar war, wofür im Grunde die gleichen Maßstäbe gelten (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 10.11.2021 BayVBl 2022, 116 Rn. 22; vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 51; Wolff in Lindner/Möstl/Wolff, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Aufl. 2017, Art. 98 Rn. 23; Müller in Meder/Brechmann, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 6. Aufl. 2020, Art. 98 Satz 4 Rn. 14, jeweils m. w. N.). Der Verfassungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein solches Interesse insbesondere dann bestehen kann, wenn nicht auszuschließen ist, dass die Rechtsnorm noch rechtliche Wirkungen entfalten kann, weil sie für künftige (z. B. gerichtliche) Entscheidungen noch rechtlich relevant ist (vgl. VerfGH vom 30.8.2017 VerfGHE 70, 162 Rn. 75; vom 20.8.2019 VerfGHE 72, 157 Rn. 18; vom 7.12.2021 BayVBl 2022, 152 Rn. 41; vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 51; BayVBl 2024, 78 Rn. 36 m. w. N.).
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b) Nach diesen Maßstäben ist die Fortführung des Popularklageverfahrens nicht veranlasst. Es ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass insoweit zumindest noch einzelne behördliche oder gerichtliche Verfahren anhängig wären, für die es auf die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung ankäme. Aber selbst wenn dies der Fall wäre, ließe dies allein die Fortführung des Popularklageverfahrens nicht im öffentlichen Interesse als geboten erscheinen. Die Popularklage ist ein objektives Verfahren, das nicht in erster Linie dem Schutz der verfassungsmäßigen Rechte des Einzelnen dient (vgl. VerfGH BayVBl 2022, 152 Rn. 42 m. w. N.; vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 54 und 58; BayVBl 2024, 78 Rn. 36 m. w. N.). Daher wird ein objektives Interesse nicht automatisch dadurch begründet, dass außer Kraft getretene Vorschriften schwerwiegende Grundrechtseingriffe bewirkt haben, ihre Geltungsdauer zu kurz war, um ein Popularklageverfahren in der Hauptsache durchzuführen, oder sonst eine noch andauernde Rechtswirkung zum Nachteil Einzelner möglich ist. Hinzukommen muss vielmehr, dass die Grundrechte als Institution betroffen sind, etwa weil es um eine Vielzahl von Fällen und nicht nur um einzelne Verfahren geht, in denen die Betroffenen auf Individualrechtsschutz zu verweisen sind (VerfGH BayVBl 2024, 78 Rn. 36 m. w. N.; vom 18.12.2024 – Vf. 15-VII-17 – juris Rn. 28).
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Dass dies hinsichtlich Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 der Fall wäre, ist weder dargelegt noch erkennbar. Soweit es um Regelungsgehalte des Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 geht, die in Art. 11 a PAG 2021 übernommen wurden, scheidet ein öffentliches Interesse an der Überprüfung der aufgehobenen Vorschrift schon deshalb aus, weil diese Regelungsgehalte im Rahmen des mit der Popularklage zulässig angegriffenen Art. 11 a PAG 2021 zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle stehen (hierzu sogleich). Aber auch soweit es um die nicht oder nur modifiziert übernommenen bedeutenden Rechtsgüter aus Art. 11 Abs. 3 Satz 2 Nrn. 3 bis 5 PAG 2017 geht, besteht kein öffentliches Interesse an einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs. Indem der Gesetzgeber diese Rechtsgüter nicht oder nur modifiziert in Art. 11 a Abs. 2 PAG 2021 übernommen hat, hat er – wie sich auch aus der Gesetzesbegründung ergibt (LT-Drs. 18/13716 S. 23 f.) – von der aufgehobenen Regelung gerade Abstand genommen. Gründe, weshalb dennoch eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs hierüber angezeigt sein sollte, sind weder vorgetragen noch sonst erkennbar (vgl. auch VerfGH vom 18.12.2024 – Vf. 15-VII-17 – juris Rn. 29; BVerfG vom 6.12.2023 – 1 BvR 1781/18 – juris Rn. 6 m. w. N.).
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Die Popularklage ist im Hinblick auf den zuletzt angegriffenen Art. 11 a PAG 2021 zulässig. Zulässig ist auch der Antrag zur Meinungsverschiedenheit im Verfahren Vf. 10-VIII-18, soweit er sich gegen Art. 11 a PAG 2021 richtet. Dagegen sind die übrigen Anträge zu den Meinungsverschiedenheiten unzulässig.
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1. Verfahren Vf. 7-VII-18 (Popularklage)
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a) Nach Art. 98 Satz 4 BV, Art. 55 Abs. 1 Satz 1 VfGHG hat der Verfassungsgerichtshof Gesetze und Verordnungen für nichtig zu erklären, die ein Grundrecht der Bayerischen Verfassung verfassungswidrig einschränken. Die Verfassungswidrigkeit kann jedermann durch Beschwerde (Popularklage) geltend machen. Gesetze und Verordnungen im Sinn des Art. 98 Satz 4 BV sind alle Rechtsvorschriften des bayerischen Landesrechts. Dazu gehört die Bestimmung des Art. 11 a PAG 2021, die seit der Umstellung des Antrags mit Schriftsatz vom 14. Oktober 2021 Verfahrensgegenstand der Popularklage ist.
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b) Nach Art. 55 Abs. 1 Satz 2 VfGHG gehört zu den prozessualen Voraussetzungen einer Popularklage, dass der Antragsteller substanziiert darlegt, inwiefern die angegriffene Rechtsvorschrift nach seiner Meinung in Widerspruch zu einer Grundrechtsnorm der Bayerischen Verfassung steht. Greift der Antragsteller mehrere Rechtsvorschriften an, so muss dies grundsätzlich für jede von ihnen ersichtlich sein (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 4.11.1976 VerfGHE 29, 191/201; vom 27.8.2018 VerfGHE 71, 235 Rn. 19; BayVBl 2022, 152 Rn. 47; vom 29.3.2022 – Vf. 48-VII-21 – juris Rn. 10 m. w. N.).
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Unzulässig ist die Popularklage, wenn und soweit eine als verletzt bezeichnete Norm der Verfassung kein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht gewährt.
Sie ist weiter unzulässig, wenn zwar ein Grundrecht als verletzt gerügt wird, eine Verletzung der entsprechenden Norm nach Sachlage aber von vornherein nicht möglich ist, weil der Schutzbereich des angeblich verletzten Grundrechts durch die angefochtene Rechtsvorschrift nicht berührt wird. Eine ausreichende Grundrechtsrüge liegt nicht schon dann vor, wenn ein Antragsteller lediglich behauptet, dass die angegriffene Rechtsvorschrift nach seiner Auffassung gegen Grundrechtsnormen der Bayerischen Verfassung verstößt. Der Antragsteller muss seinen Vortrag vielmehr so präzisieren, dass der Verfassungsgerichtshof beurteilen kann, ob der Schutzbereich der bezeichneten Grundrechtsnorm berührt ist und ob eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint. Die zur Überprüfung gestellten Tatsachen und Vorgänge müssen dies zumindest als möglich erscheinen lassen (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 26.6.2012 VerfGHE 65, 118/122 f.; vom 28.6.2022 BayVBl 2022, 625 Rn. 39; vom 31.1.2024 – Vf. 14-VII-22 – juris Rn. 19, jeweils m. w. N.). Summarische, nicht präzisierte Grundrechtsrügen sind unzulässig (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 19.4.1985 VerfGHE 38, 43/45; vom 29.10.2018 – Vf. 20-VII-17 – juris Rn. 14; vom 31.1.2024 – Vf. 14-VII-22 – juris Rn. 19, jeweils m. w. N.). Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofs, aufgrund der bloßen Behauptung oder Vermutung eines Grundrechtseingriffs von Amts wegen Ermittlungen aufzunehmen oder Untersuchungen anzustellen, ob eine Verfassungsverletzung in Betracht kommt (vgl. VerfGH vom 9.2.2021 – Vf. 6-VII-20 – juris Rn. 103 m. w. N.). Ebenso wenig ist es Aufgabe des Verfassungsgerichtshofs, anstelle des Antragstellers zu formulieren, in welcher Hinsicht die angegriffene Norm in den Schutzbereich eines Grundrechts eingreifen und eine etwaige Rechtfertigung des Eingriffs fehlerhaft sein könnte (vgl. VerfGH vom 29.3.2022 – Vf. 48-VII-21 – juris Rn. 20).
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c) Nach diesen Maßstäben wird die Popularklage den Darlegungsanforderungen des Art. 55 Abs. 1 Satz 2 VfGHG gerecht. Die Antragsteller haben ausreichend substanziiert zumindest ein Grundrecht der Bayerischen Verfassung (Art. 101 BV) als verletzt bezeichnet und Gründe dargelegt, aus denen sie die Verfassungswidrigkeit des Art. 11 a PAG 2021 ableiten.
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Denn sie haben unter Verweis darauf, dass die Generalklausel Eingriffe in Art. 101 BV (allgemeine Handlungsfreiheit) erlaube – was auf der Hand liegt –, schon die Verhältnismäßigkeit des Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 hinsichtlich seiner Eingriffsschwellen hinreichend substanziiert in Zweifel gezogen. Dieser Vortrag, an dem die Antragsteller im Zusammenhang mit der Umstellung ihrer Popularklage auf Art. 11 a PAG 2021 festhalten, ist als Rüge auf Art. 11 a PAG 2021 übertragbar und genügt auch hinsichtlich dieser Vorschrift den Darlegungsanforderungen des Art. 55 Abs. 1 Satz 2 VfGHG (vgl. zu einer ähnlichen Problematik BVerfG vom 1.10.2024 NVwZ 2024, 1736 Rn. 32, 64).
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Die Antragsteller haben zu Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 plausibel dargelegt, der Gesetzgeber sei in verschiedener Hinsicht von den Verhältnismäßigkeitsvorgaben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abgewichen. So machten sie geltend, nach dieser Rechtsprechung sei im Regelfall eine konkrete Gefahr erforderlich und eine Abweichung hiervon nur ausnahmsweise zulässig. Damit sei es ausgeschlossen, in einer Generalklausel, die nicht bloß zu Gefahrerforschungseingriffen ermächtige, die Gefahrenschwelle auf die drohende Gefahr abzusenken. Außerdem habe der Gesetzgeber entgegen der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung darauf verzichtet, kumulativ das Vorliegen von Tatsachen, welche das die Gefahr begründende Geschehen konkretisieren, und von Tatsachen, welche den Schluss auf die Beteiligung bestimmter Personen zulassen, zu verlangen. Damit genügen die Antragsteller den Substanziierungsanforderungen jedenfalls im Hinblick auf ihre Rüge der Unverhältnismäßigkeit des Art. 11 a PAG 2021.
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Daneben kann dahinstehen, ob ihre Rügen auch sonst, z. B. im Hinblick auf die mangelnde Bestimmtheit als Element des Rechtsstaatsprinzips (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV), in Bezug auf Art. 11 a PAG 2021 hinreichend substanziiert sind. Ist die Popularklage – wie hier hinsichtlich einer Verletzung des Art. 101 BV – in zulässiger Weise erhoben, prüft der Verfassungsgerichtshof die angefochtene Vorschrift anhand aller in Betracht kommenden Normen der Bayerischen Verfassung, selbst wenn diese keine Grundrechte garantieren oder wenn insoweit keine Rügen geltend gemacht worden sind (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 17.7.2020 BayVBl 2020, 737 Rn. 34; vom 23.11.2020 VerfGHE 73, 313 Rn. 27; vom 26.2.2021 BayVBl 2021, 336 Rn. 32).
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2. Zulässig ist auch der Antrag zur Meinungsverschiedenheit im Verfahren Vf. 10-VIII-18, soweit er sich gegen Art. 11 a PAG 2021 richtet.
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a) Mit der ursprünglich am 6. Juni 2018 eingeleiteten Meinungsverschiedenheit wandte sich die Antragstellerin (Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zwar gegen verschiedene Bestimmungen des PAG-Neuordnungsgesetzes, zunächst aber nicht gegen Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 oder dessen redaktionelle Modifikation durch § 1 Nr. 5 des PAG-Neuordnungsgesetzes. Erst mit Schriftsatz vom 28. September 2021, eingegangen am 1. Oktober 2021, hat sie erklärt, Art. 11 a PAG 2021 anzugreifen und dies ausdrücklich in Form einer Ergänzung ihres Antrags zur ursprünglichen Meinungsverschiedenheit.
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b) Nach Art. 75 Abs. 3 BV entscheidet der Verfassungsgerichtshof Meinungsverschiedenheiten darüber, ob durch ein Gesetz die Verfassung geändert wird oder ob ein Antrag auf unzulässige Verfassungsänderung vorliegt. Diese Voraussetzungen sind gemäß Art. 49 Abs. 1 VfGHG auch erfüllt, wenn die Meinungsverschiedenheit darüber besteht, ob durch ein Gesetz die Verfassung verletzt wird. Die Meinungsverschiedenheit muss zwischen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organen oder Teilen derselben entstanden sein; ihnen stehen Fraktionen gleich, die sich mit gegenteiligen Auffassungen gegenüberstehen. Die Meinungsverschiedenheit muss bereits im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens erkennbar geworden sein. Diese Voraussetzung ist nicht schon dann erfüllt, wenn während der Gesetzesberatungen irgendwelche verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich einzelner Bestimmungen geltend gemacht worden sind. Es muss vielmehr grundsätzlich Identität zwischen der Meinungsverschiedenheit, wie sie den Gegenstand der Verfassungsstreitigkeit nach Art. 75 Abs. 3 BV bildet, und den während der Gesetzesberatungen im Landtag erhobenen Rügen bestehen, und zwar hinsichtlich der gesetzlichen Vorschriften und der als verletzt erachteten Verfassungsnormen (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 27.7.1972 VerfGHE 25, 97/108 ff.; vom 9.5.2016 VerfGHE 69, 125 Rn. 107 und 109; vom 26.8.2021 BayVBl 2022, 9, vgl. Rn. 51 bei juris – in BayVBl insoweit nicht abgedruckt; vom 18.10.2023 BayVBl 2024, 154 Rn. 68 m. w. N.). Die Reichweite dieses Erfordernisses muss nach dem Sinn und Zweck dieser Rechtsprechung im Einzelfall festgestellt werden. Die für das Verfahren der parlamentarischen Gesetzgebung entwickelte Zulässigkeitsvoraussetzung zielt darauf ab, dass die verfassungsrechtlichen Argumente schon bei den Beratungen im Gesetzgebungsverfahren erörtert werden (vgl. VerfGH vom 17.9.1999 VerfGHE 52, 104/120; vgl. auch VerfGH vom 27.6.2023 BayVBl 2023, 627 Rn. 55). Nur unter dieser Prämisse können Antragsteller ihre verfassungsrechtlichen Bedenken im Verfahren nach Art. 75 Abs. 3 BV weiterverfolgen (vgl. VerfGHE 52, 104/120; VerfGH vom 21.11.2016 VerfGHE 69, 290 Rn. 60; vom 3.12.2019 VerfGHE 72, 198 Rn. 84).
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Nicht nötig ist, dass die möglicherweise verletzte bayerische Verfassungsnorm im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich genannt worden ist, wenn zumindest der verfassungsrechtliche Charakter der Streitfrage deutlich wurde (vgl. VerfGH vom 28.8.2020 BayVBl 2020, 803 Rn. 43). Es genügt, dass die Meinungsverschiedenheit „konkretisiert“ zum Ausdruck gebracht worden ist (vgl. VerfGH vom 19.10.1994 VerfGHE 47, 241/252 f.; BayVBl 2020, 803 Rn. 40; 2022, 9 Rn. 52; 2023, 627 Rn. 52). Die Geltendmachung von unspezifischen rechtlichen Bedenken reicht damit ebenso wenig aus wie die Äußerung rein politischer Vorbehalte (VerfGH BayVBl 2022, 9 Rn. 54; vgl. auch VerfGHE 47, 241/252 f.). Aus der Rüge im Gesetzgebungsverfahren muss sich jedenfalls sinngemäß ergeben, welches Grundrecht oder welches konkrete Verfassungsprinzip verletzt sein soll. Hinsichtlich der Erkennbarkeit der Rüge bezüglich der angegriffenen Rechtsnorm muss diese zumindest schlagwortartig nach ihrem Regelungsgegenstand im Gesetzgebungsverfahren im Zusammenhang mit dem geltend gemachten Verfassungsverstoß benannt worden sein, sodass die verfassungsrechtliche Rüge einer konkreten Gesetzesnorm zugeordnet werden kann (VerfGH BayVBl 2024, 154, vgl. Rn. 73 bei juris – in BayVBl insoweit nicht abgedruckt). Die im Gesetzgebungsverfahren aufgetretene Meinungsverschiedenheit hat der Antragsteller im Verfahren nach Art. 75 Abs. 3 BV darzulegen (vgl. VerfGH BayVBl 2021, 808 Rn. 50; 2023, 627 Rn. 53; vgl. auch VerfGHE 25, 97/110 f.).
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Eine bereits anhängige Meinungsverschiedenheit zu einer gesetzlichen Vorschrift kann dann nachträglich um einen Antrag zu einer anderen gesetzlichen Vorschrift erweitert werden, wenn der Antragsgegner in diese Antragserweiterung einwilligt oder wenn sie sachdienlich, insbesondere prozessökonomisch ist (Art. 30 Abs. 1 VfGHG i. V. m. § 91 Abs. 1 und 2 VwGO entsprechend). In beiden Fällen muss die nachträgliche Antragserweiterung darüber hinaus als Meinungsverschiedenheit zulässig sein (vgl. nur BVerwG vom 30.10.1997 NVwZ 1998, 1292/1293 dazu, dass für eine Klageänderung als Form der Klageerhebung die Prozessvoraussetzungen erfüllt sein müssen). Sind hinsichtlich der Antragserweiterung die Voraussetzungen des entsprechend auf sie anwendbaren § 91 VwGO nicht erfüllt oder fehlt es hinsichtlich der nachträglichen Antragserweiterung an den sonstigen Sachentscheidungsvoraussetzungen einer Meinungsverschiedenheit, so ist der nachträglich erweiterte Antrag als unzulässig abzuweisen (vgl. BVerwG vom 31.8.2022 BVerwGE 176, 224 Rn. 25 ff. zur nachträglichen Klageerweiterung im Verwaltungsprozess).
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Auch bei einer nachträglichen Antragserweiterung einer Meinungsverschiedenheit gilt daher das Erfordernis der Rügeidentität. Daraus folgt, dass auch hinsichtlich derjenigen gesetzlichen Vorschrift, um die eine Meinungsverschiedenheit nachträglich erweitert worden ist, die Erkennbarkeit der Meinungsverschiedenheit darzulegen ist. Wird eine Meinungsverschiedenheit nachträglich auf die Nachfolgevorschrift einer (gegebenenfalls wie hier zwischenzeitlich redaktionell geänderten) Vorschrift erweitert, genügen Bezugnahmen auf Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren zur Vorgängervorschrift (oder zu deren redaktioneller Änderung) allerdings dann nicht für die Darlegung der Erkennbarkeit einer Meinungsverschiedenheit zur Nachfolgevorschrift, wenn sich die beiden Vorschriften in ihrem Regelungsinhalt wesentlich unterscheiden. Dies folgt aus dem oben dargestellten Sinn und Zweck dieser Zulässigkeitsvoraussetzung, wonach die verfassungsrechtlichen Argumente schon bei den Beratungen im Gesetzgebungsverfahren erörtert werden sollen. Bei einer wesentlichen Änderung können aber bloße Bezugnahmen auf die Äußerungen zu einer Vorgängervorschrift nicht die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Argumente abbilden, die im Gesetzgebungsverfahren zunächst auszutauschen sind, bevor die Antragsteller sie im Verfahren nach Art. 75 Abs. 3 BV weiterverfolgen können.
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c) Davon ausgehend ist der Antrag zur nachträglich auf Art. 11 a PAG 2021 erweiterten Meinungsverschiedenheit zulässig im Hinblick auf die Erkennbarkeit einer Meinungsverschiedenheit zur hinreichenden Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit dieser Vorschrift.
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aa) In die Antragserweiterung auf Art. 11 a PAG 2021 hat zwar nur die Bayerische Staatsregierung eingewilligt, weil sie sich in ihrem Schriftsatz vom 26. Januar 2022 rügelos auf sie eingelassen hat, indem sie die Antragserweiterung für unbegründet gehalten hat. Deshalb ist sie im Verhältnis zur Bayerischen Staatsregierung zulässig (vgl. Art. 30 Abs. 1 VfGHG i. V. m. § 91 Abs. 2 Alt. 1 VwGO entsprechend).
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Die Antragserweiterung ist aber auch im Verhältnis zur CSU-Landtagsfraktion zulässig, weil sie sachdienlich ist. Es liegt zu den Fragen der hinreichenden Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit des Art. 11 a PAG 2021 kein völlig neuer Streitstoff vor, weil die Antragstellerin entsprechende Kritik an Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 bereits in ihrem verfahrenseinleitenden Schriftsatz vom 6. Juni 2018 formuliert hatte, um damit die Verfassungswidrigkeit derjenigen sonstigen Vorschriften zu begründen, die sie mit ihren Anträgen zur ursprünglichen Meinungsverschiedenheit angegriffen hatte.
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bb) Die Voraussetzung der Erkennbarkeit ist hinsichtlich dieser Meinungsverschiedenheit zur hinreichenden Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit der Vorschrift des Art. 11 a PAG 2021 gewahrt und ausreichend dargelegt.
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Im Schriftsatz vom 28. September 2021 wird unter Bezugnahme auf das Protokoll des Verfassungsausschusses vom 15. Juli 2021 (S. 29 ff.) ausgeführt, auch die Endberatung in diesem Ausschuss habe die fortbestehenden Meinungsverschiedenheiten deutlich werden lassen, nicht zuletzt auch hinsichtlich des Begriffs der drohenden Gefahr.
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Nach dem in Bezug genommenen Ausschussprotokoll (S. 32) hatte der Abgeordnete ... für die Antragstellerin ausgeführt, der Begriff der drohenden Gefahr sei zu unbestimmt. Damit wird eine Meinungsverschiedenheit zur hinreichenden Bestimmtheit des Art. 11 a PAG 2021, den der Abgeordnete nicht ausdrücklich nennt, ausnahmsweise deshalb hinreichend erkennbar, weil diese Kritik des Abgeordneten ausreichend deutlich als auf die Legaldefinition bezogen anzusehen ist, die in Art. 11 a Abs. 1 PAG 2021 für die Kategorie der drohenden Gefahr normiert ist. Damit hat der Abgeordnete Art. 11 a PAG 2021 jedenfalls schlagwortartig benannt, und zwar im Zusammenhang mit dem geltend gemachten Verfassungsverstoß, nämlich der Unbestimmtheit dieser Vorschrift.
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Es kann offenblieben, ob die im selben Zusammenhang gemachte Aussage des Abgeordneten ... (Protokoll S. 32), wonach die Ausweitung weit in das Gefahrenvorfeld hinein erfolge, eine Meinungsverschiedenheit zur Unverhältnismäßigkeit des Art. 11 a PAG 2021 hinreichend deutlich zum Ausdruck bringt oder ob diese sich klar genug aus den im Schriftsatz vom 28. September 2021 auch in Bezug genommenen Aussagen des Abgeordneten Dr. R. (Plenarprotokoll 18/88 S. 11932 ff.) ergibt.
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Denn insoweit wird eine Meinungsverschiedenheit jedenfalls hinreichend erkennbar im Antrag der Antragstellerin mit dem Titel „Keine Vernachrichtendienstlichung der Polizei – Eingriffsschwelle der drohenden Gefahr aus dem allgemeinen Polizeirecht streichen!“ (LT-Drs. 18/16284), auf den im Schriftsatz vom 28. September 2021 ebenfalls verwiesen wird.
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Dieser Antrag zielte darauf ab, den Begriff der drohenden Gefahr als Eingriffsschwelle für präventiv-polizeiliche Maßnahmen des allgemeinen Polizeirechts zu streichen. Zwar wurde darin Art. 11 a PAG 2021 nicht ausdrücklich genannt. Jedoch ist auch dieser Antrag ausnahmsweise hinreichend deutlich als auf Art. 11 a PAG 2021 bezogen zu verstehen. Denn schon das Antragsziel betrifft die in Art. 11 a PAG 2021 enthaltene Legaldefinition der drohenden Gefahr, die im Rahmen des Art. 11 a Abs. 1 PAG 2021 auch eine Eingriffsschwelle umschreibt, womit ein hinreichend deutlicher Bezug zu Art. 11 a PAG 2021 (nicht unbedingt auch zu anderen Vorschriften des Polizeiaufgabengesetzes) hergestellt worden ist. In der Begründung des Antrags der Antragstellerin wurde die Meinungsverschiedenheit zur Verhältnismäßigkeit des Art. 11 a PAG 2021 „konkretisiert“ zum Ausdruck gebracht. Denn dort wurde ausgeführt, die Eingriffsschwelle der drohenden Gefahr bzw. diese Gefahrenkategorie sei vom Bundesverfassungsgericht für die Ausnahmesituation der Terrorismusabwehr geschaffen worden, dürfe aber nicht zum Normalfall im allgemeinen Polizeirecht werden. Diese Kritik der Antragstellerin, die jedenfalls auf die Eingriffsschwellen des Art. 11 a PAG 2021 zu beziehen ist, genügt für die Erkennbarkeit einer Meinungsverschiedenheit zur Verhältnismäßigkeit dieser Vorschrift (vgl. zu einer ähnlichen Problematik BVerfG NVwZ 2024, 1736 Rn. 32, 64).
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Im Übrigen ist eine verfassungsrechtliche Meinungsverschiedenheit zu Art. 11 a PAG 2021 weder dargelegt noch ersichtlich, insbesondere ist der Vorwurf der „Vernachrichtendienstlichung“ der Polizei im Landtag (vgl. nur Ausschussprotokoll 59. VF vom 15.7.2021 S. 32; LT-Drs. 18/16284) nicht weiter verfassungsrechtlich substanziiert worden. Soweit damit das Gebot, Verfassungsschutzbehörden und Polizei organisatorisch zu trennen, gemeint sein sollte (vgl. Art. 1 Abs. 4 BayVSG), wäre dem die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs (VerfGH vom 11.11.1997 VerfGHE 50, 226/261) entgegenzuhalten, die im besagten Trennungsgebot gerade keinen Grundsatz von Verfassungsrang sieht.
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d) Die Antragstellerin ist als Fraktion im Bayerischen Landtag antragsberechtigt (Art. 49 Abs. 2 Satz 1 VfGHG). Sie hat als Antragsgegner zutreffend die CSU- Landtagsfraktion und die Bayerische Staatsregierung benannt, welche den Art. 11 a PAG 2021 zugrundeliegenden Gesetzentwurf nach Art. 71 BV in den Bayerischen Landtag eingebracht hat.
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3. Der Antrag derselben Antragstellerin zur Meinungsverschiedenheit im Verfahren Vf. 5-VIII-18 ist hingegen unzulässig.
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a) Der Antrag ist unzulässig, soweit er sich gegen den durch § 1 Nr. 4 Buchst. c des PAG-Änderungsgesetzes aufgehobenen Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 wendet, weil ein öffentliches Interesse für eine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit dieser außer Kraft getretenen Vorschrift weder dargelegt noch sonst ersichtlich ist.
101
Die Meinungsverschiedenheit (Art. 75 Abs. 3 BV) ist ein kontradiktorisches Verfahren, das zwischen den Verfassungsorganen oder Teilen derselben streitige Fragen der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes klärt (vgl. VerfGHE 25, 97/109 f.; VerfGH BayVBl 2021, 808 Rn. 49; 2023, 627 Rn. 49). Nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens weist es eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Popularklageverfahren des Art. 98 Satz 4 BV auf. Auch dieses wird bestimmt von dem öffentlichen Interesse, eine verfassungsgerichtliche Entscheidung zu einer Gesetzesvorschrift unabhängig von der Frage der Verletzung des Antragstellers in eigenen Rechten herbeizuführen (VerfGHE 47, 241/253). Wie bei der Popularklage (vgl. VerfGHE 70, 162 Rn. 75; VerfGH vom 20.8.2019 BayVBl 2020, 306 Rn. 18; vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 51; BayVBl 2024, 78 Rn. 36) ist auch im Rahmen der Meinungsverschiedenheit nach Art. 75 Abs. 3 BV für eine Entscheidung über außer Kraft getretenes Recht ein öffentliches Interesse notwendig.
102
Ein solches öffentliches Interesse an einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des aufgehobenen Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 ist weder hinreichend dargelegt noch sonst ersichtlich. Die Antragstellerin greift neben Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 auch Art. 11 a PAG 2021 an und ist dabei der Meinung, der Streitgegenstand sei trotz der Gesetzesänderung aus dem Juli 2021 im Wesentlichen identisch geblieben, weshalb die ihrerseits gegenüber Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 geäußerte Kritik auch gegenüber Art. 11 a PAG 2021 weitgehend unverändert aufrechterhalten bleiben müsse. Weil sich aus ihrer Sicht der Regelungsgehalt des Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 im von ihr zugleich angegriffenen Art. 11 a PAG 2021 im Wesentlichen widerspiegelt, verdeutlicht sie gerade nicht, dass es noch ein öffentliches Interesse an einer Entscheidung speziell über die frühere, aufgehobene Vorschrift gäbe. Selbst wenn – was ebenfalls weder hinreichend dargelegt noch ersichtlich ist – zu Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 noch einzelne behördliche oder gerichtliche Verfahren anhängig wären, für die es auf die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung ankäme, ließe dies allein die Fortführung der Meinungsverschiedenheit nicht im öffentlichen Interesse als geboten erscheinen (vgl. zur Popularklage VerfGH vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 54 und 58; BayVBl 2024, 78 Rn. 36 sowie die weiteren Nachweise oben unter IV.2.).
103
b) Der Antrag ist auch unzulässig, soweit er sich gegen die (redaktionelle) Neufassung des Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 durch § 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts vom 18. Mai 2018 wendet, weil die Erkennbarkeit einer Meinungsverschiedenheit zu dieser Neufassung nicht ansatzweise dargelegt ist.
104
c) Ebenfalls unzulässig ist der Antrag, soweit er sich gegen Art. 11 a PAG 2021 richtet.
105
aa) Zwar ist die Antragstellerin als Fraktion im Bayerischen Landtag antragsberechtigt (Art. 49 Abs. 2 Satz 1 VfGHG). Sie hat als Antragsgegner auch zutreffend die CSU-Landtagsfraktion und die Bayerische Staatsregierung benannt, welche den Art. 11 a PAG 2021 zugrundeliegenden Gesetzentwurf nach Art. 71 BV in den Bayerischen Landtag eingebracht hat. Es ist auch keine der beiden nachträglichen Antragserweiterungen auf Art. 11 a PAG 2021 in den von derselben Antragstellerin betriebenen Verfahren Vf. 5-VIII-18 und Vf. 10-VIII-18 wegen früherer Anhängigkeit vorrangig. Denn die Schriftsätze, die diese Antragserweiterungen enthalten, sind jeweils am selben Tag (1. Oktober 2021) beim Verfassungsgerichtshof eingegangen.
106
bb) Die nachträgliche Erweiterung der Meinungsverschiedenheit auf Art. 11 a PAG 2021 im Verfahren Vf. 5-VIII-18 ist jedoch deshalb unzulässig, weil es der Antragstellerin für diesen Antrag am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Denn der Verfassungsgerichtshof sieht bereits die entsprechende nachträgliche Antragserweiterung im Verfahren Vf. 10-VIII-18 als zulässig an (siehe oben unter 2.); die Antragstellerin erhält schon damit eine Sachentscheidung zu den von ihr in beiden Verfahren aufgeworfenen Fragen der hinreichenden Bestimmtheit und der Verhältnismäßigkeit des Art. 11 a PAG 2021. Es kann daher offenbleiben, ob die nachträgliche Antragserweiterung im vorliegenden Verfahren im Übrigen zulässig wäre.
107
4. Der gegen Art. 11 a PAG 2021 gerichtete Antrag der Antragstellerin im Verfahren Vf. 16-VIII-18 (SPD-Fraktion), bei dem es sich ebenfalls um eine nachträgliche Antragserweiterung handelt – die ursprüngliche Meinungsverschiedenheit richtete sich nur gegen verschiedene Bestimmungen des PAG-Neuordnungsgesetzes, nicht aber gegen Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 oder dessen redaktionelle Modifikation durch § 1 Nr. 5 des PAG-Neuordnungsgesetzes (siehe näher oben unter II. 4.) –, ist unzulässig.
108
a) Zwar ist auch diese Antragstellerin als Fraktion im Bayerischen Landtag antragsberechtigt (Art. 49 Abs. 2 Satz 1 VfGHG). Auch sie hat mit der CSU-Landtagsfraktion sowie der Bayerischen Staatsregierung zutreffende Antragsgegner benannt.
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b) Es fehlt aber an der notwendigen Darlegung, dass im Hinblick auf den erst nachträglich angegriffenen Art. 11 a PAG 2021 diejenige verfassungsrechtliche Meinungsverschiedenheit zwischen der Antragstellerin und den Antragsgegnerinnen im Gesetzgebungsverfahren erkennbar geworden ist, die jetzt zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs gestellt wird. Deshalb kann offenbleiben, ob die Antragserweiterung im Übrigen zulässig wäre.
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Wie bereits dargelegt (siehe oben unter 2. b)), genügen, wenn eine Meinungsverschiedenheit nachträglich auf die Nachfolgevorschrift einer (gegebenenfalls zwischenzeitlich redaktionell geänderten) Vorschrift erweitert wird, Bezugnahmen auf Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren zur Vorgängervorschrift oder zu deren redaktioneller Änderung dann nicht für die Darlegung der Erkennbarkeit einer Meinungsverschiedenheit zur Nachfolgevorschrift, wenn sich die beiden Vorschriften in ihrem Regelungsinhalt wesentlich unterscheiden.
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So liegt es hier. Zwischen den Regelungen des Art. 11 Abs. 3 PAG 2017, der durch § 1 Nr. 5 des PAG-Neuordnungsgesetzes nur redaktionell modifiziert worden ist, und denen des Art. 11 a PAG 2021 bestehen wesentliche inhaltliche Unterschiede. Art. 11 a PAG 2021 unterscheidet sich jedenfalls in seinem Katalog der bedeutenden Rechtsgüter (Art. 11 a Abs. 2 Nrn. 1 bis 4 PAG 2021) erheblich vom Katalog derjenigen Rechtsgüter, die dem aufgehobenen Art. 11 Abs. 3 Satz 2 Nrn. 1 bis 5 PAG 2017 unterfielen. Nach Art. 11 a Abs. 2 Nr. 3 PAG 2021 ist die sexuelle Selbstbestimmung nicht mehr umfassend als solche (vgl. Art. 11 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 PAG 2017), sondern nur noch mit Einschränkungen als bedeutendes Rechtsgut definiert. „Erhebliche Eigentumspositionen“ (vgl. Art. 11 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 PAG 2017) nennt der Rechtsgüterkatalog des Art. 11 a Abs. 2 PAG 2021 nicht mehr. Inhaltlich unterscheidet sich schließlich Art. 11 a Abs. 2 Nr. 4 PAG 2021, wonach Anlagen der kritischen Infrastruktur sowie Kulturgüter von mindestens überregionalem Rang bedeutende Rechtsgüter sind, von Art. 11 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 PAG 2017, nach dem „Sachen, deren Erhalt im besonderen öffentlichen Interesse liegt“, bedeutende Rechtsgüter waren. Mit Art. 11 a PAG 2021 hat sich damit zugleich die Legaldefinition der drohenden Gefahr (vgl. Art. 11 a Abs. 1 PAG 2021) geändert, die an den jeweils geltenden Katalog bedeutender Rechtsgüter anknüpft, was so regelungstechnisch auch bei Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 (vgl. Art. 11 Abs. 3 Satz 1 PAG 2017) der Fall war.
112
Somit kann die Erkennbarkeit einer Meinungsverschiedenheit zu Art. 11 a PAG 2021 nicht unter bloßer Bezugnahme auf Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren zu Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 oder zu dessen redaktioneller Modifikation durch § 1 Nr. 5 des PAG-Neuordnungsgesetzes begründet werden. Daher genügt der Schriftsatz der Antragstellerin vom 30. September 2021, mit dem die Meinungsverschiedenheit erstmals auf Art. 11 a PAG 2021 erstreckt wird, den Darlegungsanforderungen an die Erkennbarkeit einer Meinungsverschiedenheit zu Art. 11 a PAG 2021 nicht. Denn er enthält keine Aussagen zur Erkennbarkeit einer verfassungsrechtlichen Meinungsverschiedenheit zu Art. 11 a PAG 2021 im zugehörigen Gesetzgebungsverfahren. Dafür, dass Art. 11 a PAG 2021 weder mit dem Bestimmtheitsgrundsatz noch mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sein soll, wird im Schriftsatz vom 30. September 2021 auf die Seiten 37 ff. der Begründung zur ursprünglichen Meinungsverschiedenheit vom 5. September 2018 verwiesen. Dieser Verweis beruht zwar offenbar auf einem Versehen und ist deshalb der Sache nach als vor allem auf Seiten 29 bis 36 des Schriftsatzes vom 5. September 2018 bezogen zu verstehen, weil sich auf diesen Seiten Ausführungen zur Zulässigkeit der ursprünglichen Meinungsverschiedenheit finden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das Vorliegen einer Meinungsverschiedenheit im Schriftsatz vom 5. September 2018 nur unter Bezugnahme auf Aussagen und Materialien zum Gesetzgebungsverfahren des PAG-Neuordnungsgesetzes vom 18. Mai 2018 begründet worden ist (Plenarprotokoll 17/123 S. 10988 ff.; 17/132 S. 11917 ff.), durch dessen § 1 Nr. 5 die Vorschrift des Art. 11 Abs. 3 PAG 2017 lediglich redaktionell modifiziert worden ist. Diese Bezugnahme genügt daher nicht für die Darlegung der Erkennbarkeit einer Meinungsverschiedenheit zu Art. 11 a PAG 2021.
113
1. Die Popularklage (Vf. 7-VII-18) ist mit der Maßgabe unbegründet, dass Art. 11 a PAG nur in einer bestimmten, sich aus den nachfolgenden Gründen (siehe unter d) bb) bbb) (5)) ergebenden verfassungskonformen Auslegung mit der Bayerischen Verfassung vereinbar ist.
114
a) Vor einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm ist diese zunächst allgemein auszulegen und ihr einfachrechtlicher Anwendungs- und Wirkungsbereich zu ermitteln. Erst nach der Feststellung des konkreten Inhalts der Norm und ihrer systematischen Einordnung kann beurteilt werden, ob die angegriffene Regelung mit der Bayerischen Verfassung vereinbar ist oder nicht (VerfGH vom 30.1.2006 VerfGHE 59, 23/24 m. w. N.). Für die Auslegung einer Rechtsvorschrift maßgebend ist der in ihr zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Normgebers, wie er sich aus ihrem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang ergibt (vgl. VerfGH vom 26.4.2022 BayVBl 2022, 475 Rn. 50 m. w. N.). Mittel dazu bilden die Auslegung nach dem Wortlaut der Vorschrift (grammatikalische Auslegung), aus ihrem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) und aus den Gesetzesmaterialien (historische Auslegung). Diese Methoden schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig (VerfGH vom 12.3.2007 VerfGHE 60, 52/54 f.; VerfGHE 69, 290 Rn. 66; vom 19.2.2018 VerfGHE 71, 28 Rn. 43; vom 17.5.2022 BayVBl 2022, 702 Rn. 53).
115
aa) Art. 11 a PAG ermöglicht als Generalklausel an sich eine große Bandbreite von sowohl informationellen (vgl. Art. 11 a Abs. 1 Alt. 1 PAG) als auch aktionellen (vgl. Art. 11 a Abs. 1 Alt. 2 PAG) Eingriffen in verschiedene Grundrechte. Die ermöglichten Grundrechtseingriffe können im Ausgangspunkt von leichten bis hin zu schwersten Eingriffen reichen. Eingegriffen werden kann aufgrund Art. 11 a PAG etwa in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV), das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 101 i. V. m. Art. 100 BV), das Grundrecht auf Eigentum (Art. 103, 158, 159 BV) und – wie etwa Art. 32 Abs. 1 PAG bestätigt, der von einem Vorrang der Art. 11 bis 65 PAG und damit auch des Art. 11 a PAG vor der Anwendbarkeit der Datenerhebungsgeneralklausel des Art. 32 Abs. 1 PAG ausgeht (a. A. Schmidbauer in Schmidbauer/Steiner, Polizeiaufgabengesetz Polizeiorganisationsgesetz, 6. Aufl. 2023, Art. 32 PAG Rn. 6 f.) – in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 101 i. V. m. Art. 100 BV, vgl. VerfGH vom 9.7.1985 VerfGHE 38, 74/79 f.). Hingegen sind wegen des in Art. 11 a Abs. 1 letzter Halbsatz PAG zum Ausdruck gebrachten Vorrangs der besonderen Regelungen für Spezialbefugnisse in Art. 12 bis 65 PAG insbesondere Freiheitsentziehungen und weitere Grundrechtseingriffe, die nach Art. 12 bis 65 PAG einem Richtervorbehalt unterliegen, ausgeschlossen (siehe näher sogleich unter bb) und cc)).
116
bb) Einfachrechtlich hat Art. 11 a PAG aufgrund der beiden in ihm enthaltenen Subsidiaritätsklauseln nur einen eingeschränkten Anwendungsbereich.
117
Aus dem Wortlaut des Art. 11 a Abs. 1 erster Halbsatz PAG ergibt sich, dass die Polizei Maßnahmen aufgrund dieser Generalklausel nur dann treffen darf, wenn die Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 1 und 2 PAG nicht vorliegen. Das bedeutet, dass eine Maßnahme aufgrund Art. 11 PAG tatbestandlich ausscheiden muss, bevor auf Art. 11 a PAG zurückgegriffen werden darf (vgl. LT-Drs. 18/13716 S. 21).
118
Ferner ist wegen Art. 11 a Abs. 1 letzter Halbsatz PAG der Rückgriff auf diese Generalklausel für Maßnahmen ausgeschlossen, soweit die Art. 12 bis 65 PAG die Befugnisse der Polizei besonders regeln. Inwieweit angesichts dieser Regelung zum Vorrang der jeweiligen besonders geregelten (vertypten) Spezialbefugnisse jeweils im Einzelnen noch Raum für einen Rückgriff auf Art. 11 a PAG als Generalklausel bleibt (vgl. allgemein etwa Schucht, Generalklausel und Standardmaßnahme, 2010, S. 128 ff.), kann vorliegend offenbleiben.
119
Denn aus Art. 11 a Abs. 1 letzter Halbsatz PAG folgt erstens, dass der Rückgriff auf Art. 11 a PAG ausscheidet, soweit Art. 12 bis 65 PAG ihrerseits tatbestandlich für eine Maßnahme allein eine drohende Gefahr im Sinn des Art. 11 a Abs. 1 PAG für ein bedeutendes Rechtsgut voraussetzen (vgl. Holzner in BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern, Art. 11 a PAG Rn. 12; Schmidbauer in Schmidbauer/Steiner, Polizeiaufgabengesetz Polizeiorganisationsgesetz, Art. 11 a PAG Rn. 44 f.). Deshalb scheidet etwa Art. 11 a Abs. 1 PAG als Rechtsgrundlage für die Sicherstellung einer Sache aus, weil Art. 25 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b PAG der Polizei eine solche Sicherstellung zur Abwehr einer drohenden Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut ermöglicht. Vorrangig ist Art. 11 a PAG dagegen seinerseits etwa gegenüber der Datenerhebungsgeneralklausel des Art. 32 Abs. 1 PAG. Denn diese Vorschrift macht in ihrem Schlusshalbsatz ihre Anwendbarkeit davon abhängig, dass die Art. 11 bis 65 PAG, also auch Art. 11 a PAG (vgl. Art. 11 a Abs. 1 Alt. 1 PAG zur Sachverhaltsaufklärung), die Datenerhebungsbefugnisse der Polizei nicht besonders regeln.
120
Zweitens ergibt sich aus Art. 11 a Abs. 1 letzter Halbsatz PAG, dass mit einem Rückgriff auf Art. 11 a PAG nicht die gesetzgeberischen Entscheidungen, wie sie in der Formulierung der jeweiligen Tatbestände der Art. 12 bis 65 PAG zum Ausdruck kommen, umgangen werden dürfen (vgl. Holzner in BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern, Art. 11 a PAG Rn. 15, Art. 11 PAG Rn. 5 f., 129 sowie BVerfG vom 18.3.2009 NJW 2009, 2876 Rn. 20 zu § 161 Abs. 1 StPO). Deshalb scheidet ein Rückgriff auf Art. 11 a PAG für eine mit einer vertypten Standardmaßnahme vergleichbare Maßnahme jedenfalls aus, soweit Art. 12 bis 65 PAG ihrerseits für eine solche Maßnahme tatbestandlich nicht nur eine drohende Gefahr im Sinn des Art. 11 a Abs. 1 PAG für ein bedeutendes Rechtsgut voraussetzen, sondern darüber hinaus weitere oder insgesamt ganz andere Tatbestandsvoraussetzungen haben – wie etwa die Eingriffsschwellen der konkreten oder dringenden Gefahr –, die im konkreten Fall jedoch nicht erfüllt sind. Demnach kommt etwa der Rückgriff auf Art. 11 a PAG bei alleinigem Vorliegen einer drohenden Gefahr im Sinn des Art. 11 a Abs. 1 PAG für ein bedeutendes Rechtsgut für Freiheitsentziehungen nicht in Betracht. Denn die spezialgesetzlichen Tatbestände für Freiheitsentziehungen verlangen mehr oder anderes als das Vorliegen einer drohenden Gefahr für ein besonderes Rechtsgut (vgl. Art. 13 Abs. 2 Satz 3, Art. 14 Abs. 7 Satz 1, Art. 15 Abs. 3 Satz 1, Art. 17 PAG, jeweils i. V. m. Art. 97 Abs. 1 PAG; vgl. zu Art. 17 PAG auch VerfGH vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 119).
121
Im Ergebnis gestattet Art. 11 a PAG nur solche atypischen polizeilichen Maßnahmen, durch welche diejenigen gesetzgeberischen Entscheidungen nicht umgangen werden, die in der Formulierung der jeweiligen spezialgesetzlichen Tatbestände der Art. 12 bis 65 PAG zum Ausdruck kommen. Diese atypischen polizeilichen Maßnahmen auf Grundlage des Art. 11 a PAG, mit denen – wie bei der allgemeinen Generalklausel des Art. 11 Abs. 1 PAG – insbesondere auf neue Gefahrensituationen flexibel und angemessen reagiert werden können soll, können zwar – wie bereits erwähnt – im Ausgangspunkt schwer in Grundrechte eingreifen. Gerade für solche atypischen polizeilichen Maßnahmen verbleibt jedoch in Anbetracht der Existenz der Art. 12 bis 65 PAG in der Praxis nur ein schmaler Anwendungsbereich. Denn der Gesetzgeber hat in Art. 12 bis 65 PAG die nach seinen bisherigen Erkenntnissen praktisch häufig vorkommenden Maßnahmen typisiert (vgl. Graulich in Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, Abschnitt E Rn. 273; Schmidbauer in Schmidbauer/Steiner, Polizeiaufgabengesetz Polizeiorganisationsgesetz, Art. 11 PAG Rn. 12; Schucht, Generalklausel und Standardmaßnahme, 2010, S. 93 ff.) und dabei insbesondere polizeiliche Maßnahmen, die tief in Grundrechte eingreifen (vgl. nur Art. 17, 23 und 41 PAG), spezialgesetzlich geregelt.
122
Der schon deshalb im Bereich tiefer Grundrechtseingriffe schmale praktische Anwendungsbereich des Art. 11 a PAG ist aus verfassungsrechtlichen Gründen noch weiter eingeschränkt. Und zwar zum einen wegen des Parlamentsvorbehalts, nach dem schwerste Grundrechtseingriffe aufgrund einer Generalklausel wie Art. 11 a PAG nur ausnahmsweise vorläufig zulässig sind (siehe näher nachfolgend unter d) bb) bbb) (5) (b) (hh)), und zum anderen speziell im Bereich von Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, dort wegen der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Normenbestimmtheit und Normenklarheit, die mit zunehmender Intensität von Eingriffen in dieses Grundrecht steigen und insoweit mit den jeweiligen materiellen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit eng verbunden sind. Ihretwegen scheiden von vornherein jedenfalls tiefe Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aufgrund einer polizeilichen Generalklausel wie Art. 11 a PAG aus (siehe näher nachfolgend unter d) bb) bbb) (5)
123
cc) Eine weitere einfachrechtliche Einschränkung der Rückgriffsmöglichkeit auf Art. 11 a PAG ergibt sich bei systematischer Auslegung daraus, dass Richtervorbehalte, denen Maßnahmen nach Art. 12 bis 65 PAG unterliegen, nicht durch einen Rückgriff auf Art. 11 a PAG unterlaufen werden dürfen. Deshalb scheidet beispielsweise die einem Richtervorbehalt unterliegende (vgl. Art. 34 Abs. 1 PAG) Anordnung einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung allein durch die Polizei auf der Grundlage des Art. 11 a PAG aus.
124
dd) Art. 11 a PAG bietet der Polizei auch keine Rechtsgrundlage für heimliche Maßnahmen. Das Polizeiaufgabengesetz regelt bei den Spezialbefugnissen, die heimliche Maßnahmen vorsehen, die Voraussetzungen, die sich hierfür jeweils aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in verfahrensrechtlicher Hinsicht allgemein ergeben (vgl. zu den insoweit sich aus dem Grundgesetz ergebenden Anforderungen nur BVerfG vom 27.2.2008 BVerfGE 120, 274/331 ff.; 141, 220 Rn. 117, 134 ff.), ausdrücklich und detailliert. So sind etwa bei den besonderen Mitteln zur Datenerhebung Richtervorbehalte (vgl. Art. 36 Abs. 3 PAG), besondere behördliche Anordnungsstellen (vgl. Art. 36 Abs. 4 Satz 1 PAG) und besondere Begründungspflichten (vgl. Art. 36 Abs. 7 Satz 1 PAG) ausdrücklich vorgesehen. Solche besonderen, für heimliche polizeiliche Maßnahmen verfassungsrechtlich grundsätzlich gebotenen Verfahrensregelungen sieht Art. 11 a PAG nicht vor, obwohl sich dem Polizeiaufgabengesetz die Tendenz zur Regelung der grundrechtlich notwendigen prozeduralen Absicherungen bei heimlichen polizeilichen Maßnahmen entnehmen lässt. Daraus ist systematisch zu schließen, dass Art. 11 a PAG der Polizei keine Rechtsgrundlage für heimliche Maßnahmen bietet.
125
ee) Art. 11 a PAG ermöglicht es ferner einfachrechtlich nicht, dass für Maßnahmen bei Vorliegen einer Gefahrenlage im Sinn seines Absatzes 1 unbeteiligte Dritte in Anspruch genommen werden können, die hierfür keinen Anlass gegeben haben. Für die möglichen Maßnahmeadressaten gelten mangels anderweitiger Festlegungen des Gesetzgebers die allgemeinen Regeln über die Störerverantwortlichkeit nach Art. 7 ff. PAG entsprechend. Zwar sprechen diese Bestimmungen jeweils lediglich von „Gefahr“ und ist dieser Begriff seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes und weiterer Rechtsvorschriften am 1. August 2021 in Art. 11 Abs. 1 Satz 2 PAG als „konkrete Gefahr“ legaldefiniert. Der Gesetzgeber hat es jedoch – angesichts dessen, dass er in Art. 11 a Abs. 1 Nr. 1 („individuelles Verhalten einer Person“) und Nr. 2 („Vorbereitungshandlungen“) PAG einen persönlichen Bezug der Maßnahmen anklingen lässt – planwidrig übersehen, Art. 7 ff. PAG auch für Maßnahmen aufgrund Art. 11 a PAG für anwendbar zu erklären. Diese planwidrige Regelungslücke ist angesichts einer mit der Generalklausel des Art. 11 PAG vergleichbaren Interessenlage durch eine entsprechende Anwendung der Art. 7 ff. PAG auf Maßnahmen nach Art. 11 a PAG zu schließen.
126
Eine bedeutsame Einschränkung gilt jedoch im Hinblick auf die Anwendbarkeit des Art. 10 PAG. Nicht verantwortliche, unbeteiligte Dritte kommen als Adressaten von Maßnahmen nach Art. 11 a PAG mangels Vorliegens einer mit den Voraussetzungen des Art. 10 Abs. 1 Nr. 1 PAG (Abwehr einer „gegenwärtigen erheblichen Gefahr“) vergleichbaren Interessenlage von vornherein nicht in Betracht. Denn eine gegenwärtige Gefahr liegt nach allgemeinem Begriffsverständnis nur dann vor, wenn die Einwirkung des schädigenden Ereignisses bereits begonnen hat oder wenn diese Einwirkung unmittelbar oder in allernächster Zeit mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bevorsteht. Mit dem Begriff der gegenwärtigen Gefahr erhöht das Gesetz die Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad des Schadenseintritts, indem es eine stärkere zeitliche Nähe des zu erwartenden Schadenseintritts fordert (vgl. Schmidbauer in Schmidbauer/Steiner, Polizeiaufgabengesetz Polizeiorganisationsgesetz, Art. 10 PAG Rn. 9 und Art. 11 PAG Rn. 83 f.; vgl. auch BVerfG vom 4.4.2006 BVerfGE 115, 320/363; BVerwG vom 26.2.1974 BVerwGE 45, 51/57 f.). Diese ist eine besondere Form der konkreten Gefahr im Sinn des Art. 11 Abs. 1 Satz 2 PAG (vgl. Heckmann in Becker/ Heckmann/Kempen/Manssen, Öffentliches Recht in Bayern, 8. Aufl. 2022, 3. Teil Rn. 121), die das Vorliegen einer im Vorfeld der konkreten Gefahr bestehenden drohenden Gefahr im Sinn des Art. 11 a PAG begriffsnotwendig ausschließt (vgl. Art. 11 a Abs. 1 Halbsatz 1 PAG; LT-Drs. 18/13716 S. 21). Daher fehlt es an einer vergleichbaren Interessenlage für die Anwendbarkeit des Art. 10 PAG auf Maßnahmen aufgrund des Art. 11 a PAG.
127
Gegen eine entsprechende Anwendung des Art. 10 PAG im Bereich des Art. 11 a PAG sprechen im Übrigen auch die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn, die für die Eingriffsschwelle der drohenden Gefahr gelten (siehe näher nachfolgend unter d) bb) bbb) (5) (b) (dd) (aaa)). Für das Bestehen einer hinreichend konkretisierten Gefahr müssen danach grundsätzlich zwei Bedingungen erfüllt sein. Die Tatsachen müssen zum einen den Schluss auf ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen, zum anderen darauf – und das spricht gegen eine entsprechende Anwendung des Art. 10 PAG im Bereich des Art. 11 a PAG –, dass bestimmte Personen beteiligt sein werden, über deren Identität zumindest so viel bekannt ist, dass die Maßnahme gegen sie eingesetzt und weitgehend auf sie beschränkt werden kann (vgl. BVerfGE 141, 220 Rn. 112 m. w. N.; BVerfG vom 9.12.2022 BVerfGE 165, 1 Rn. 91; vom 16.2.2023 BVerfGE 165, 363 Rn. 106; NVwZ 2024, 1736 Rn. 107).
128
b) Art. 11 a PAG ist verfassungsgemäß zustande gekommen. Darüber hat der Verfassungsgerichtshof bei einer zulässig erhobenen Popularklage im Rahmen der Sachprüfung zu befinden (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 28.3.1973 VerfGHE 26, 28/34; vom 4.4.1975 VerfGHE 28, 59/63; vom 16.6.1975 VerfGHE 28, 107/119; BayVBl 2024, 154 Rn. 136). Das Gesetzgebungsverfahren ist ohne Verstoß gegen die Bayerische Verfassung durchgeführt worden. Insbesondere wurde die Einfügung der streitgegenständlichen Vorschrift in das Polizeiaufgabengesetz durch das Gesetz zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes und weiterer Rechtsvorschriften vom 23. Juli 2021 in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise bekannt gemacht. Die Bekanntmachung der verfahrensgegenständlichen Bestimmung ist entsprechend den Vorgaben des Art. 76 Abs. 1 BV nach Ausfertigung durch den Ministerpräsidenten im Bayerischen Gesetz- und Verordnungsblatt erfolgt (vgl. im Einzelnen VerfGH vom 7.3.2019 VerfGHE 72, 36 Rn. 41; vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 70).
129
c) Dem Freistaat Bayern steht für die Regelung des Art. 11 a PAG die Gesetzgebungskompetenz zu, sodass das Rechtsstaatsprinzip des Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV nicht wegen eines offensichtlichen und schwerwiegenden Verstoßes gegen die Kompetenzordnung des Grundgesetzes (Art. 70 ff. GG) verletzt ist (vgl. VerfGH BayVBl 2022, 702 Rn. 59 m. w. N.).
130
Die Gesetzgebungskompetenz für die Materie der Gefahrenabwehr liegt nach Art. 70 GG grundsätzlich bei den Ländern. Zur Aufgabe der Gefahrenabwehr gehört auch die Gefahrenvorsorge, bei der bereits im Vorfeld konkreter Gefahren staatliche Aktivitäten entfaltet werden, um die spätere Entstehung von Gefahren zu verhindern (vgl. VerfGH BayVBl 2022, 702 Rn. 60 m. w. N.; BVerfG vom 18.12.2018 BVerfGE 150, 244 Rn. 70; BVerwG vom 25.1.2012 BVerwGE 141, 329 Rn. 29). Auf eine solche Gefahrenvorsorge ist Art. 11 a PAG gerichtet. Wie weit der Gesetzgeber Maßnahmen in dieser Weise in das Vorfeld künftiger Rechtsgutverletzungen verlegen darf, ist eine Frage des materiellen Rechts, berührt aber nicht die Gesetzgebungskompetenz des Landes (vgl. VerfGH a. a. O.).
131
d) Art. 11 a PAG ist bei verfassungskonform einschränkender Auslegung mit der Bayerischen Verfassung vereinbar.
132
aa) Art. 11 a PAG stellt eine Rechtsgrundlage sowohl für informationelle als auch für aktionelle Maßnahmen dar, die im Ausgangspunkt (siehe oben unter a) aa)) von leicht bis hin zu sehr schwer in die von ihnen betroffenen Grundrechte, etwa in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV), das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 101 i. V. m. Art. 100 BV), das Eigentum (Art. 103, 158, 159 BV) und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 101 i. V. m. Art. 100 BV), eingreifen können.
133
bb) Der Eingriff durch Art. 11 a PAG ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Die Grundrechte der Bayerischen Verfassung sind nicht ohne jede Einschränkung gewährleistet. Grundrechtseinschränkende Gesetze unterliegen allerdings selbst verfassungsrechtlichen Schranken; insbesondere sind dabei die im Rechtsstaatsprinzip des Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV verankerten Grundsätze der Bestimmtheit und der Verhältnismäßigkeit zu beachten (vgl. VerfGH vom 25.6.2010 VerfGHE 63, 83/96; vom 15.5.2014 VerfGHE 67, 73 Rn. 67 m. w. N.; Funke in Meder/Brechmann, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 101 Rn. 25). Diesen Anforderungen genügt Art. 11 a PAG. Die Norm entspricht dem Rechtsstaatsprinzip unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgebots (aaa)). Bei verfassungskonform einschränkender Auslegung ist Art. 11 a PAG auch mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar (bbb)).
134
aaa) Art. 11 a PAG entspricht dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot.
135
(1) Der Bestimmtheitsgrundsatz verpflichtet den Normgeber, seine Vorschriften so zu fassen, dass sie den rechtsstaatlichen Anforderungen der Klarheit und Justiziabilität entsprechen. Normen müssen so formuliert sein, dass die davon Betroffenen die Rechtslage erkennen können und die Gerichte in der Lage sind, die Anwendung der betreffenden Vorschrift durch die Verwaltung zu kontrollieren. Dem Bestimmtheitserfordernis ist genügt, wenn mithilfe der üblichen Auslegungsmethoden unter Berücksichtigung von Ziel, Tendenz, Programm, Entstehungsgeschichte und Zusammenhang mit anderen Vorschriften eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Vorschrift gewonnen werden kann (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH BayVBl 2021, 336 Rn. 35 m. w. N.; 2022, 702 Rn. 79). Das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot ist verletzt, wenn sich eine Norm auch durch eine Auslegung nach den Regeln der juristischen Methodenlehre nicht hinreichend konkretisieren lässt und ihre Anwendung daher nicht mehr vorhersehbar und justiziabel ist (vgl. BAG vom 15.10.2021 NZA 2022, 115 Rn. 25). Unbestimmte Rechtsbegriffe verletzen das Bestimmtheitsgebot erst dann, wenn es wegen der Unbestimmtheit eines Begriffs nicht mehr möglich ist, objektive Kriterien zu gewinnen, die eine willkürliche Handhabung durch die Behörden und die Gerichte ausschließen (vgl. BVerwG vom 10.4.2000 – 11 B 61.99 – juris Rn. 10; vom 3.4.2013 – 9 B 44.12 – juris Rn. 6).
136
Die konkreten Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit der Ermächtigung richten sich nach der Art und der Schwere des Eingriffs, die sich aus der Art der vorgesehenen Maßnahme und der von ihr auf die betroffene Person ausgehenden Wirkungen ergeben (vgl. BVerfG vom 3.3.2004 BVerfGE 110, 33/55; vom 23.2.2007 NVwZ 2007, 688/690; vgl. auch VerfGHE 50, 226/249; VerfGH vom 7.2.2006 VerfGHE 59, 29/35). Je tiefer durch eine gesetzliche Regelung in die Grundrechte der Bürger eingegriffen wird, desto strenger sind die Anforderungen (vgl. VerfGH vom 2.7.1997 VerfGHE 50, 129/136; 59, 29/35; BVerfG vom 27.7.2005 BVerfGE 113, 348/375 ff.; 141, 220 Rn. 105). Zwar hat bereits das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfG vom 23.5.1980 BVerfGE 54, 143/144 f. m. w. N.) die Verwendung der traditionellen polizeirechtlichen Generalklausel unter rechtsstaatlich-demokratischen Grundsätzen als unbedenklich gebilligt, weil sie in jahrzehntelanger Entwicklung durch Rechtsprechung und Lehre nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend präzisiert, in ihrer Bedeutung geklärt und im juristischen Sprachgebrauch verfestigt ist (vgl. auch BVerwG vom 24.10.2001 BVerwGE 115, 189/195 f. m. w. N.; vom 25.7.2007 BVerwGE 129, 142 Rn. 33). Im Bereich von Vorfeldermittlungen und bei Maßnahmen zur Gefahrenvorsorge sind jedoch die Anforderungen an den Bestimmtheitsgrundsatz wegen des hohen Risikos einer Fehlprognose besonders hoch (vgl. VerfGH BayVBl 2022, 702 Rn. 81 m. w. N.). Hier muss der Gesetzgeber die Anforderungen an Tatsachen, die auf die künftige Gefahrenlage hindeuten, so bestimmt umschreiben, dass das in diesem Bereich besonders hohe Risiko einer Fehlprognose gleichwohl verfassungsrechtlich noch hinnehmbar ist. Die Norm muss deshalb handlungsbegrenzende Tatbestandselemente enthalten, die einen Standard an Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit vergleichbar zu demjenigen schaffen, der für die überkommenen Aufgaben der Gefahrenabwehr rechtsstaatlich geboten ist (vgl. BVerfGE 113, 348/377 f.; BVerwGE 129, 142 Rn. 34; BVerwG vom 31.5.2022 NWVBl 2022, 452 Rn. 45 m. w. N.).
137
(2) Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Festlegung hinreichend bestimmter, tatsachenbasierter Mindestanforderungen für Grundrechtseingriffe im Vorfeld konkreter Gefahren wird Art. 11 a PAG gerecht.
138
(a) Die Norm hat die Anforderungen an die Zulässigkeit polizeilicher Eingriffsmaßnahmen im Vorfeld einer konkreten Gefahr und den damit verbundenen Begriff der „drohenden Gefahr“ nicht nur als abstrakten unbestimmten Rechtsbegriff aufgenommen. Vielmehr ist der Begriff, wie sich aus dem Klammerzusatz in Art. 11 a Abs. 1 PAG ergibt, in enger Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 141, 220 Rn. 112, 164 ff.) legaldefiniert und dadurch im Ergebnis so eingegrenzt worden, dass die Voraussetzungen und die Grenzen eines auf der Grundlage der Befugnis nach Art. 11 a PAG gründenden Grundrechtseingriffs für den Bürger hinreichend vorhersehbar und für die Gerichte justiziabel sind.
139
(b) Der Gesetzgeber hat hinreichend bestimmt in Art. 11 a Abs. 1 Nr. 1 (vgl. zu § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung – HSOG – BGH vom 10.6.2020 BGHSt 66, 1 Rn. 21 ff.) und Nr. 2 PAG einschränkende Tatbestandsmerkmale für die Zulassung polizeilicher Eingriffsmaßnahmen im Vorfeld konkreter Gefahren in Anlehnung an die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zu Maßnahmen der Straftatenverhütung im sog. BKAG I-Urteil vom 20. April 2016 (BVerfGE 141, 220 Rn. 112, 164, 165, 213) formuliert (vgl. LT-Drs. 17/16299 S. 9 f.; 18/13716 S. 22). Dabei hat er die Eingriffsermächtigung nicht auf die Verhütung von Straftaten oder speziell terroristischen Straftaten beschränkt, sondern sie rechtsgutbezogen konzipiert und allgemein auf die Gefahrenvorsorge ausgedehnt, wobei er – ebenfalls in Anlehnung an die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts – zwei verschiedene Eingriffsschwellen in Art. 11 a Abs. 1 Nrn. 1 und 2 PAG übernommen hat. In beiden Eingriffsschwellen sind Tatsachengrundlagen und der Wahrscheinlichkeitsgrad für die Prognose formuliert, aufgrund derer die Polizei Grundrechtseingriffe bereits im Vorfeld einer konkreten Gefahr vornehmen darf. Die Formulierungen schließen auch aus, dass sich die Prognose allein auf Vermutungen oder allgemeine abstrakte Erfahrungssätze stützt.
140
(aa) Der Einwand der Antragsteller der Popularklage, der Begriff der drohenden Gefahr, insbesondere der Ausdruck „drohend“, sei mehrdeutig und werde auch in der Rechtsordnung uneinheitlich verwendet, etwa in Art. 11 Abs. 2, Art. 87 a Abs. 4 Satz 1 und Art. 91 Abs. 1 GG oder in § 228 BGB, verfängt schon deswegen nicht, weil der Begriff in seiner Bedeutung für den Anwendungsbereich des Polizeiaufgabengesetzes durch das Gesetz selbst definiert ist. Dass sich der Gesetzgeber in Art. 11 a PAG für einzelne Elemente, die als Voraussetzung für das Vorliegen einer solchen Gefahr festgelegt sind, auch unbestimmter Rechtsbegriffe bedient hat, ist unschädlich. Denn diese können unter Berücksichtigung des Ziels der gesetzlichen Regelung, des Zusammenhangs mit anderen Vorschriften und der Entstehungsgeschichte des Gesetzes ohne Weiteres hinreichend konkretisiert werden. Deshalb führen die verschiedenen in Art. 11 a PAG enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe auch in ihrer Kumulation nicht dazu, dass die Vorschrift als zu unbestimmt angesehen werden müsste.
141
(bb) Mit den Tatbestandsmerkmalen „individuelles Verhalten einer Person“ in Art. 11 a Abs. 1 Nr. 1 PAG und „Vorbereitungshandlungen“ in Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG knüpft das Gesetz an das Erfordernis des individuellen Verhaltens einer (oder mehrerer) Person(en) an, sodass ein Anknüpfungspunkt im Tatsächlichen besteht, der sich von nur diffusen Anhaltspunkten unterscheidet (vgl. BGHSt 66, 1 Rn. 49). Anders als bei konkreten und abstrakten Gefahren, die auch auf Ereignisse in der Natur einschließlich des Verhaltens von Tieren zurückgehen können (so bereits die Begründung zum Entwurf von Art. 2 des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei vom 16.10.1954 – GVBl S. 237 – LT-Drs. 2/4660 S. 15), ist ein polizeiliches Eingreifen auf der Grundlage von Art. 11 a Abs. 1 PAG bei einem Ereignis, das nicht auf ein menschliches Tun oder Unterlassen zurückgeführt werden kann, nicht zulässig. Als Vorbereitungshandlung wird im Allgemeinen eine Verrichtung bezeichnet, die der eigentlichen Tätigkeit vorangeht und ihre Durchführung erleichtert oder überhaupt erst ermöglicht (vgl. BSG vom 28.4.2004 NZS 2005, 491 Rn. 16; vgl. auch Greco/Koranyi/Linke/Murmann/Schünemann/ Verrel in Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl. 2021, Vorbemerkungen zu den §§ 22 ff. Rn. 5). Bei dem Begriff der „Vorbereitungshandlungen“ handelt es sich im Übrigen um einen vom Gesetzgeber vielfach verwendeten Begriff (vgl. etwa Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 Buchst. c, Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG, § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. c, § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG, § 46 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b, § 48 Abs. 1 Satz 1 BKAG, § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a Doppelbuchst. cc WaffG, § 80 StGB a. F., § 83 Abs. 1, § 149 StGB), der im Rahmen der Gesetzesanwendung mit den herkömmlichen juristischen Auslegungsmethoden hinreichend konkretisiert werden kann (vgl. zur Bedeutsamkeit allgemein gebräuchlicher Gesetzesbegriffe VerfGHE 50, 226/249; VerfGH BayVBl 2022, 702 Rn. 89).
142
(cc) Durch Auslegung hinreichend bestimmbar ist auch der Begriff der „konkreten Wahrscheinlichkeit“ in Art. 11 a Abs. 1 Nr. 1 PAG (vgl. BGHSt 66, 1 Rn. 29 f.). Mit diesem Begriff übernimmt der Gesetzgeber wörtlich eine Formulierung des Bundesverfassungsgerichts aus dem BKAG I-Urteil vom 20. April 2016, die die Prognoseanforderungen im Vorfeld einer konkreten Gefahr betrifft (BVerfGE 141, 220 Rn. 112, 164 f., 213). Das Bundesverfassungsgericht spricht mit dem Begriff die Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad an, die im Vorfeldbereich an die Prognose über die Entstehung einer (konkreten) Gefahr zu stellen sind. Es verlangt für das polizeiliche Tätigwerden im Vorfeldbereich eine Prognose, die sich zumindest auf bestimmte tatsächliche Anhaltspunkte und nicht nur auf allgemeine Erfahrungssätze stützt. Mit dem Wort „konkret“ betont das Gesetz dementsprechend das Erfordernis einer auf bestimmte Tatsachen in Abgrenzung zu einer auf bloß diffuse Anhaltspunkte gegründeten Prognose. Der Begriff der „konkreten Wahrscheinlichkeit“ ist mithin im Sinn einer auf Tatsachen basierten Wahrscheinlichkeit zu verstehen, wobei als Tatsache das individuelle Verhalten einer Person maßgebend ist (vgl. auch BGHSt 66, 1 Rn. 27 ff. zu § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 HSOG; Darnstädt, DVBl 2017, 88/94). Dabei sind im Einklang mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung an den Wahrscheinlichkeitsmaßstab keine überspannten Anforderungen zu stellen. Je ranghöher das Schutzgut und je größer und folgenschwerer der drohende Schaden ist, desto geringere Anforderungen sind von Verfassungs wegen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen (vgl. BGHSt 66, 1 Rn. 52 ff. m. w. N.).
143
(dd) Hinreichend bestimmt ist ferner das Tatbestandsmerkmal „zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen“. Diese ersichtlich als fakultative Ergänzung zu stets erforderlichen „Vorbereitungshandlungen“ konzipierte Formulierung des Gesetzes lässt unschwer darauf schließen, dass mit ihr weitere tatsächliche Anhaltspunkte außer „Vorbereitungshandlungen“ für die Entstehung einer konkreten Gefahr für die bedeutenden Rechtsgüter im Sinn des Art. 11 a Abs. 2 PAG gemeint sind. Die weiteren bestimmten Tatsachen müssen zum einen den Schluss auf ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen, zum anderen darauf, dass bestimmte Personen beteiligt sein werden, über deren Identität zumindest so viel bekannt ist, dass die Maßnahme gezielt gegen sie eingesetzt und weitgehend auf sie beschränkt werden kann (vgl. BVerfGE 141, 220 Rn. 112).
144
(ee) Ebenso kann durch Auslegung hinreichend bestimmt werden, was unter der Wendung „in absehbarer Zeit“ zu verstehen ist. Auch insoweit handelt es sich um eine im juristischen Sprachgebrauch gängige Wendung, die vielfach in gesetzlichen Regelungen zu finden ist (z. B. § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO, § 53 a Abs. 1 Satz 2, § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO, § 95 Abs. 2 Nr. 1, § 200 Abs. 3 Satz 1 BauGB, § 107 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a SGB V, § 159 Abs. 1 BewG, Art. 91 Abs. 1 Satz 1 PAG). Nach allgemeinem Wortverständnis ist unter einer „absehbaren“ Zeit ein Zeitraum zu verstehen, für den die Entwicklung mit einiger Wahrscheinlichkeit übersehen werden kann (vgl. BFH vom 4.8.1972 BFHE 106, 464 Rn. 11). Mit der Formulierung bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass für die Prognose eines Angriffs von erheblicher Intensität oder Auswirkung keine starre Frist von bestimmter Dauer maßgebend sein soll, sondern ein zeitlicher Rahmen, dessen Dauer sich nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls bestimmt (vgl. BVerwG vom 10.5.1976 Buchholz 424.01 § 44 FlurbG Nr. 34 S. 8), der aber überschaubar sein muss. Der zulässige polizeiliche Aktionsraum dehnt sich auch in zeitlicher Hinsicht desto weiter aus, je größer das sich abzeichnende Schadenspotenzial ist. Damit kann etwa bei terroristischen Straftaten, die hochrangige Rechte und Rechtsgüter bedrohen, grundsätzlich auch ein mehrjähriger Zeithorizont noch ein überschaubarer bzw. „absehbarer“ Zeitraum sein (vgl. BGHSt 66, 1 Rn. 51).
145
(ff) Was unter einem „Angriff von erheblicher Intensität oder Auswirkung“ zu verstehen ist, lässt sich ebenfalls mithilfe der herkömmlichen Auslegungsmethoden, insbesondere aus der Entstehungsgeschichte der Norm, bestimmen. Die Gesetzesmaterialien weisen darauf hin, dass nach den Vorstellungen des Gesetzgebers hiervon zum einen nur gravierende Angriffe auf die in Art. 11 a Abs. 2 PAG aufgeführten Rechtsgüter erfasst werden sollen, sodass etwa für Maßnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit nach Art. 11 a Abs. 2 Nr. 2 PAG eine drohende einfache Körperverletzung nicht ausreicht (vgl. LT-Drs. 17/16299 S. 10 zu Art. 11 Abs. 3 PAG 2017). Zum anderen sollen die Angriffshandlungen nicht allein auf Taten beschränkt bleiben, die eine physische Gewaltanwendung erfordern („Gewalttaten“), wie es im ursprünglichen Gesetzentwurf noch vorgesehen war (vgl. LTDrs. 17/16299 S. 5 und 9 f.). Vielmehr soll jedes aktive menschliche Verhalten („Angriff“) erfasst sein, das auf die Verletzung eines bedeutenden Rechtsguts gerichtet ist (vgl. LT-Drs. 17/17058). Dabei bezieht sich der Begriff der „Intensität“ eines Angriffs nach allgemeinem juristischen Sprachgebrauch auf die Art und Weise der Durchführung der Handlung. Insoweit kann die aufgewandte kriminelle Energie oder Gewaltanwendung ein Kriterium sein (vgl. Schmidbauer in Schmidbauer/Steiner, Polizeiaufgabengesetz Polizeiorganisationsgesetz, Art. 11 a PAG Rn. 119). Hingegen verweist der Begriff der „Auswirkung“ auf die Folgen einer Handlung bzw. eines Verhaltens. Ein Angriff von erheblichen „Auswirkungen“ ist bestimmbar über den Umfang und die Höhe des zu erwartenden Schadens an dem betreffenden Rechtsgut (vgl. Schmidbauer, a. a. O., Art. 11 a PAG Rn. 120) und kann etwa bei hohen Opferzahlen oder dauerhaften Schäden vorliegen.
146
(gg) Die Wendung „bedeutende Rechtsgüter“ bedarf für sich genommen keiner näheren Konkretisierung, weil sie durch das Gesetz definiert und dadurch hinreichend eingegrenzt ist. Nach Art. 11 a Abs. 2 PAG sind bedeutende Rechtsgüter abschließend bestimmt als
- 1.
-
der Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes,
- 2.
-
Leben, Gesundheit oder Freiheit,
- 3.
-
die sexuelle Selbstbestimmung, soweit sie durch Straftatbestände geschützt ist, die im Mindestmaß mit wenigstens drei Monaten Freiheitsstrafe bedroht sind, und
- 4.
-
Anlagen der kritischen Infrastruktur sowie Kulturgüter von mindestens überregionalem Rang.
147
Der Regelungsinhalt dieser Begriffe kann ohne größere Schwierigkeiten unter Rückgriff insbesondere auf ihren Wortlaut, die Gesetzesmaterialien und die einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung ermittelt werden. Insbesondere gilt:
148
Der Begriff der „Gesundheit“ (Art. 11 a Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 PAG) kann im herkömmlichen Sinn als Zustand oder bestimmtes Maß körperlichen, psychischen oder geistigen Wohlbefindens oder als Normalzustand der körperlichen Funktionen eines Menschen verstanden werden (vgl. nur BGH vom 4.11.1988 BGHSt 36, 1/6; vom 3.12.1997 BGHSt 43, 346/354; Hardtung in Münchner Kommentar, StGB, 4. Aufl. 2021, § 223 Rn. 54 m. w. N.). Dieser Gesundheitsbegriff überschneidet sich inhaltlich mit dem Begriff des Rechtsguts „Leib“ (vgl. BVerfG vom 6.12.2023 – 1 BvR 1781/18 – juris Rn. 4 m. w. N.), der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als „hochrangiges Rechtsgut“ anerkannt ist. Somit ist der Begriff der „Gesundheit“ durch die Rechtsprechung hinreichend konturierbar.
149
Ferner ist nach den Gesetzesmaterialien etwa der Begriff der „kritischen Infrastruktur“ (Art. 11 a Abs. 2 Nr. 4 Alt. 1 PAG) an die Definition dieses Begriffs in der RL 2008/114/EG des Rates der Europäischen Union vom 8. Dezember 2008 (ABl L 345 vom 23.12.2008 S. 75) angelehnt. Geschützt werden sollen danach Anlagen und Systeme (und auch Teile hiervon), die von wesentlicher Bedeutung für die Aufrechterhaltung wichtiger gesellschaftlicher Funktionen, der Gesundheit, der Sicherheit und des wirtschaftlichen oder sozialen Wohlergehens der Bevölkerung sind (vgl. LT-Drs. 18/13716 S. 24).
150
Unter dem Begriff „Kulturgut“ (Art. 11 a Abs. 2 Nr. 4 Alt. 2 PAG) ist nach den Vorstellungen des Gesetzgebers in Anlehnung an § 2 Abs. 1 Nr. 10 des Kulturgutschutzgesetzes (KGSG) jede bewegliche Sache oder Sachgesamtheit von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder aus anderen Bereichen des kulturellen Erbes, insbesondere von paläontologischem, ethnographischem, numismatischem oder wissenschaftlichem Wert zu verstehen (vgl. LT-Drs. 18/13716 S. 24; vgl. auch BT-Drs. 18/7456 S. 59). „Sachgesamtheit“ sind nach § 2 Abs. 1 Nr. 16 KGSG mehrere zusammengehörige Kulturgüter, insbesondere Archivbestände, Bibliotheksbestände, Sammlungen oder Teile davon. Eine Beschränkung des Art. 11 a Abs. 2 Nr. 4 Alt. 2 PAG allein auf bewegliche Sachen und Sachgesamtheiten erscheint allerdings eher fernliegend, zumal dies im Wortlaut nicht zum Ausdruck kommt. Dieser enthält keinen Verweis auf die gesetzliche Definition des § 2 Abs. 1 Nr. 10 KGSG . Art. 3 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 BV sowie Art. 141 Abs. 2 BV erlegen dem Freistaat Bayern als Kulturstaat besondere Schutzpflichten in Bezug auf die kulturellen Überlieferungen und Denkmäler der Kunst auf (vgl. VerfGH vom 22.7.2008 VerfGHE 61, 172/181 f.; 73, 313 Rn. 33), die nicht allein auf bewegliche Kulturgüter beschränkt sind. Es sprechen daher gute Gründe, die von den Fachgerichten zu erwägen sind, dafür, dass sich der Begriff der Kulturgüter – entgegen der Gesetzesbegründung – sowohl auf bewegliche Sachen als auch auf unbewegliche Objekte, insbesondere Baudenkmäler, bezieht.
Mit dem Tatbestandsmerkmal „von mindestens überregionalem Rang“ wird ein Mindestmaß für den Rang der Kulturgüter festgelegt, das Kulturgüter von nicht überregionalem Rang zwar tatbestandlich ausklammert, jedoch andererseits offen ist auch für den Schutz von Kulturgütern von bundesweitem oder noch bedeutenderem Rang (vgl. Art. 11 a Abs. 2 Nr. 1 PAG, in dem der Bund genannt wird, sowie Art. 141 Abs. 2 letzter Satzteil BV, der auf „deutschen“ Kunstbesitz abstellt). In diesem Rahmen ist Art. 11 a Abs. 2 Nr. 4 PAG hinsichtlich der dort genannten Kulturgüter einer näheren Konkretisierung durch Verwaltung und Rechtsprechung zugänglich, womit den Erfordernissen der Normenbestimmtheit und -klarheit genügt ist.
151
(hh) Mit der Wendung „zu erwarten sind“ knüpft der Gesetzgeber an die Prognose hinsichtlich des künftigen Geschehensablaufs an, die auf der Grundlage der für die behördliche Entscheidung zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten zu treffen ist. Die Formulierung macht deutlich, dass allein der vage Verdacht und die bloße Möglichkeit einer Schadensverwirklichung ohne tatsächliche Anhaltspunkte für polizeiliche Maßnahmen auf der Grundlage des Art. 11 a PAG nicht ausreichen (vgl. VerfGH vom 2.8.1990 VerfGHE 43, 107/127).
152
(ii) Die Erstreckung der polizeilichen Befugnisse auf „notwendige Maßnahmen“ gehört zum Wesen einer Generalklausel. Sie ist zur Erfüllung des verfassungsrechtlichen Schutz- und Sicherheitsauftrags des Art. 99 Satz 2 BV naheliegend, weil das Polizeirecht aufgrund der unvorhersehbaren Vielgestaltigkeit und Wandelbarkeit der Lebenssachverhalte nicht alle Situationen tatbestandsmäßig erfassen kann, die ein polizeiliches Einschreiten erfordern, und sich deshalb auch in der Rechtsfolge Maßnahmen, die ein polizeiliches Einschreiten erfordern, nicht umfassend typisieren lassen (vgl. VerfGHE 47, 241/256; BVerfG vom 24.7.2018 BVerfGE 149, 293 Rn 78; BVerwGE 115, 189/194). Dies gilt auch für Maßnahmen im Vorfeld einer konkreten Gefahr (siehe allerdings zur verfassungskonformen Auslegung dieses auf der Rechtsfolgenseite angesiedelten Normmerkmals im Bereich von Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung unten unter bbb) (5) (b)
153
(jj) Auch das Verhältnis des Art. 11 a PAG zur allgemeinen polizeirechtlichen Generalklausel des Art. 11 Abs. 1 und 2 PAG lässt sich dem Gesetz hinreichend klar entnehmen.
154
Die in Art. 11 a Abs. 1 erster Halbsatz PAG enthaltene Wendung „wenn die Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 1 und 2 nicht vorliegen“ verdeutlicht zunächst, dass Art. 11 Abs. 1 und 2 PAG vor Art. 11 a PAG zu prüfen sind, womit gesetzlich eine Subsidiarität des Art. 11 a PAG im Verhältnis zu Art. 11 Abs. 1 und 2 PAG angeordnet ist. Eine Maßnahme aufgrund Art. 11 PAG muss demnach tatbestandlich ausscheiden, bevor auf Art. 11 a PAG zurückgegriffen werden darf (a. A. offenbar LT-Drs. 18/13716 S. 21). Das genügt für die hinreichende Bestimmtheit des Verhältnisses beider Generalklauseln zueinander. Die Entwicklung einer genaueren Abgrenzungsdogmatik ist Sache der Fachgerichte, die diese Aufgabe unter Rückgriff auf die bereits vorhandenen verfassungsgerichtlichen Klärungen dazu, unter welchen Voraussetzungen die Eingriffsschwelle in polizeilichen Befugnisnormen zur Gefahrenabwehr unter die traditionelle Eingriffsschwelle der konkreten Gefahr abgesenkt werden kann, erfüllen können.
155
bbb) Art. 11 a PAG entspricht bei verfassungskonform einschränkender Auslegung auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
156
(1) Der aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert, dass das zur Erreichung eines bestimmten legitimen gesetzgeberischen Ziels eingesetzte Mittel hierzu nicht schlechthin ungeeignet sein darf; ferner besagt er, dass das Mittel zur Erreichung des angestrebten Ziels erforderlich sein muss. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz enthält außerdem das Übermaßverbot, d. h., dass unter mehreren geeigneten Mitteln das am wenigsten belastende Mittel zu wählen ist und dass der Einzelne nicht in einem zu dem angestrebten Zweck in krassem Missverhältnis stehenden Maß belastet werden darf. Dem Gesetzgeber steht ein weiter Spielraum für die Beurteilung der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit eines Gesetzes zu. Der Verfassungsgerichtshof hat insoweit nur zu prüfen, ob sich die vom Gesetzgeber im Rahmen seiner weiten Einschätzungs- und Beurteilungsprärogative und aufgrund einer wertenden Abwägung getroffenen Einschätzungen, in bestimmten Fällen die von ihm angewandten Mittel als geeignet und erforderlich sowie für zumutbar anzusehen, in einem nach den Maßstäben der Verfassung vertretbaren Rahmen halten (vgl. VerfGHE 50, 226/249 f. m. w. N.; VerfGH BayVBl 2022, 702 Rn. 97). Er darf nicht seine eigenen Wertungen und Einschätzungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen (vgl. VerfGH vom 25.9.2015 VerfGHE 68, 198 Rn. 178). Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze entspricht Art. 11 a PAG bei verfassungskonformer Auslegung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
157
(2) Die in Art. 11 a PAG normierten polizeilichen Befugnisse verfolgen einen legitimen Zweck. Ziel der Regelungen ist, wie insbesondere dem Wortlaut des Art. 11 a Abs. 1 PAG („… kann die Polizei die notwendigen Maßnahmen treffen, um den Sachverhalt aufzuklären und die Entstehung einer Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut zu verhindern“) zu entnehmen ist, die Prävention von Gefahren für die in Art. 11 a Abs. 2 PAG aufgeführten „bedeutenden Rechtsgüter“. Mit der mit der Sachverhaltsaufklärung und der Verhinderung der Gefahrentstehung verbundenen Gefahrenvorsorge zum Schutz dieser Rechtsgüter verfolgt der Gesetzgeber ein legitimes Ziel.
158
(3) Der Gesetzgeber durfte auch davon ausgehen, dass Art. 11 a PAG zur Sachverhaltsaufklärung und zur Verhinderung der Entstehung von Gefahren für die genannten Rechtsgüter beitragen kann. Deshalb ist Art. 11 a PAG geeignet, diese Ziele zu erreichen (vgl. zum Gebot der Geeignetheit VerfGH BayVBl 2022, 702 Rn. 101).
159
(4) Ebenso durfte der Gesetzgeber die Vorschrift für erforderlich halten, um den Zweck der Gefahrenprävention zu erreichen (vgl. zum Erforderlichkeitsgebot VerfGH, a. a. O., Rn. 105). Ein anderes, gleich wirksames Mittel zur Sachverhaltsaufklärung und zur Verhinderung des Entstehens von Gefahren für die genannten Rechtsgüter wie die angeführten polizeilichen Befugnisse, mit dem der Schutz der genannten Rechtsgüter ebenso gut erreicht werden könnte, welches die Betroffenen aber weniger belastete, ist jedenfalls nicht offensichtlich gegeben. Im Bereich der Abwehr hinreichend konkretisierter bzw. drohender Gefahren ist der Gesetzgeber unter dem Aspekt der Erforderlichkeit schon deshalb nicht auf die Möglichkeit zur Regelung informationeller Befugnisse beschränkt, weil sich der legitime Zweck der Prävention solcher Gefahren nicht offensichtlich allein durch informationelle polizeiliche Befugnisse erreichen lässt. Das spricht für die gesetzgeberische Einschätzung, nach der auch aktionelle Befugnisse erforderlich sind, zumal die Festlegung des Sicherheitsniveaus, das polizeiliche Befugnisnormen bieten sollen, Sache des Gesetzgebers ist. Die Eingriffsschwelle der „hinreichend konkretisierten“ bzw. „drohenden Gefahr“ gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter den genannten Prämissen grundsätzlich für alle Eingriffsermächtigungen mit präventiver Zielrichtung (vgl. BVerfGE 155, 119 Rn. 151).
Aus der Bayerischen Verfassung lassen sich keine strengeren Maßstäbe ableiten. Vor diesem Hintergrund kann dem Landesgesetzgeber von Verfassungs wegen nicht abverlangt werden, dass er sich ausnahmslos auf die traditionelle Eingriffsschwelle der konkreten Gefahr (vgl. Art. 11 Abs. 1 Satz 2 PAG) beschränkt (vgl. BVerfGE 141, 220 Rn. 112).
160
(5) Art. 11 a PAG ist nur in einer bestimmten, drei Aspekte betreffenden Auslegung auch mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinn vereinbar.
161
(a) Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn verlangt insbesondere, dass die Einbuße an grundrechtlich geschützter Freiheit in keinem unangemessenen Verhältnis zu den Gemeinwohlzwecken steht, denen eine Grundrechtsbeschränkung dient. Der Gesetzgeber muss zwischen Allgemein- und Individualinteressen einen angemessenen Ausgleich herbeiführen. Dabei muss das Übermaßverbot gewahrt bleiben. Hierfür sind in einer Abwägung Reichweite und Gewicht des Eingriffs der Bedeutung der Regelung für eine wirksame staatliche Aufgabenwahrnehmung gegenüberzustellen. Im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn hat der Gesetzgeber die Ausgewogenheit zwischen der Art und Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung einerseits und den zum Eingriff berechtigenden Tatbestandselementen andererseits zu wahren; zu Letzteren gehören die Eingriffsschwelle, die erforderliche Tatsachenbasis und das Gewicht der geschützten Rechtsgüter (vgl. VerfGH BayVBl 2022, 702 Rn. 108 m. w. N.).
162
Für das auf grundrechtlicher Seite einzustellende Eingriffsgewicht ist dabei bedeutsam, wie viele Grundrechtsträger wie intensiven Beeinträchtigungen ausgesetzt sind – ob etwa die Norm eine große Streubreite hat (vgl. BVerfGE 156, 63 Rn. 202) – und unter welchen Voraussetzungen dies geschieht, insbesondere ob diese Personen hierfür einen Anlass gegeben haben und ob die ermöglichte Maßnahme heimlich erfolgt oder nicht (vgl. nur BVerfGE 115, 320/353 m. w. N.). Für das Gewicht der individuellen Beeinträchtigung ist auch erheblich, welche Nachteile aufgrund der Norm von den Grundrechtsträgern nicht ohne Grund befürchtet werden. Auf Seiten der Gemeinwohlinteressen ist das Gewicht der Ziele und Belange maßgeblich, denen die polizeilichen Maßnahmen dienen. Das Gewicht dieser Belange ist insbesondere von dem durch die Norm geschützten Rechtsgut und der Intensität seiner Gefährdung abhängig (vgl. VerfGH vom 28.3.2003 VerfGHE 56, 28/49; BayVBl 2022, 702 Rn. 109 f. m. w. N.). Die dem Eingriffsgewicht entsprechenden Anforderungen des Gebots der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn richten sich sowohl an das mit der betreffenden Regelung zu schützende Rechtsgut als auch an die Eingriffsschwelle (vgl. BVerfGE 165, 1 Rn. 89; BVerfG NVwZ 2024, 1736 Rn. 104).
163
(b) Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs wird Art. 11 a PAG bei verfassungskonform einschränkender Auslegung insbesondere seines Absatzes 1 Nr. 1 dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn gerecht.
164
(aa) Eine Unverhältnismäßigkeit im engeren Sinn kann sich von vornherein nicht aus einem Verstoß gegen das Gebot, Verfassungsschutz und Polizei organisatorisch zu trennen, ergeben. Denn dieses Gebot hat nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs (vgl. VerfGHE 50, 226/261) keinen Verfassungsrang. Ob bei einem Verstoß des Art. 11 a PAG gegen das informationelle Trennungsprinzip, das nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG vom 24.4.2013 BVerfGE 133, 277 Rn. 123) aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung folgt und für Regelungen gilt, die den Austausch von Daten der Polizeibehörden und Nachrichtendiensten ermöglichen, etwas anderes gelten könnte, kann offenbleiben. Denn Art. 11 a PAG ermöglicht keinen Datenaustausch zwischen der bayerischen Polizei und Nachrichtendiensten (vgl. Art. 11 a Abs. 1 letzter Halbsatz PAG), weil ein solcher Austausch Gegenstand entsprechender polizeilicher Spezialbefugnisse ist (vgl. Art. 48, 56 PAG).
165
(bb) Art. 11 a PAG ist als Generalklausel entgegen der Auffassung der Antragsteller auch nicht deshalb unverhältnismäßig im engeren Sinn, weil die Eingriffsschwelle nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 141, 220 Rn. 112) nur bereichsspezifisch und nicht allgemein im Rahmen einer polizeilichen Generalklausel auf die drohende Gefahr abgesenkt werden dürfte. Eine solche Aussage lässt sich der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts nicht entnehmen. Vielmehr hat dieses klargestellt (vgl. BVerfGE 155, 119 Rn. 151; BVerfG vom 10.11.2020 BVerfGE 156, 11 Rn. 119), dass die sich aus dem Grundgesetz ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Absenkung der Eingriffsschwelle der konkretisierten oder drohenden Gefahr grundsätzlich für alle Eingriffsermächtigungen mit präventiver Zielrichtung gelten. Dabei hat es in der Sache bei seinen Rechtfertigungsanforderungen keinen Unterschied zwischen den beiden nur begrifflich unterschiedlichen Kategorien der konkretisierten oder drohenden Gefahr gemacht (vgl. auch BGHSt 66, 1 Rn. 19 ff. zur inhaltlichen Identität der verfassungsgerichtlichen Formulierung „durch individuelles Verhalten begründete konkrete Wahrscheinlichkeit“ mit dem entsprechenden Teil der Legaldefinition einer „drohenden Gefahr“ nach Art. 11 Abs. 3 PAG 2017). Strengere Voraussetzungen ergeben sich auch hier nicht aus der Bayerischen Verfassung. Da danach grundsätzlich für alle Eingriffsermächtigungen mit präventiver Zielrichtung, also auch im Rahmen der Generalklausel des Art. 11 a PAG, bei Beachtung der dafür entwickelten verfassungsrechtlichen Anforderungen eine Absenkung der Eingriffsschwelle erfolgen kann, wäre auch ein Vorwurf der „Vernachrichtendienstlichung“ der Polizei, der sich darauf stützte, dass die Eingriffsschwelle der konkretisierten bzw. drohenden Gefahr ausschließlich dem Nachrichtendienst vorbehalten sei, verfassungsrechtlich unbegründet.
166
(cc) Zwar kann auch die in Art. 11 a Abs. 1 Alt. 1 PAG normierte polizeiliche Befugnis zur Vornahme von Gefahrerforschungseingriffen in besonderen Fällen zu erheblichen grundrechtlichen Belastungen führen (vgl. BVerfG vom 20.6.2002 NJW 2002, 2378/2380 m. w. N. zur Überprüfung der Fahreignung). Im Regelfall werden jedoch auf Art. 11 a Abs. 1 Alt. 1 PAG gestützte Gefahrerforschungseingriffe, die bei Vorliegen einer drohenden Gefahr der weiteren Sachverhaltsaufklärung dienen, nicht zuletzt auch mit Blick auf die in Art. 12 bis 65 PAG speziell geregelten Befugnisse zu Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung jedenfalls nicht so gewichtig sein wie Eingriffe, die aufgrund Art. 11 a Abs. 1 Alt. 2 PAG erfolgen können. Schon bevor mit Art. 11 a Abs. 1 Alt. 1 PAG eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für Gefahrerforschungseingriffe geschaffen wurde, war es in der Rechtsprechung (vgl. BayVGH vom 8.7.2016 VGH n. F. 69, 153 Rn. 17) anerkannt, dass Gefahrerforschungseingriffe auf eine entsprechende Anwendung der polizeilichen Generalklausel zur Abwehr konkreter Gefahren gestützt werden dürfen. Deshalb überzeugt der Einwand, Art. 11 a PAG sei verfassungswidrig, weil Gefahrerforschungseingriffe den Nachrichtendiensten im Sinn eines Trennungsprinzips oder Ordnungssystems vorbehalten seien, schon nach einfachem bayerischem Polizeirecht nicht.
167
dd) Der gegebenenfalls sehr hohen Intensität der durch Art. 11 a PAG ermöglichten Grundrechtseingriffe steht der Schutz hinreichend gewichtiger Rechtsgüter gegenüber, die in Art. 11 a Abs. 2 PAG als „bedeutende Rechtsgüter“ bezeichnet werden.
168
aaa) Angesichts des potenziell sehr hohen Eingriffsgewichts der Maßnahmen, die durch die Generalklausel des Art. 11 a PAG erlaubt werden, verlangt die verfassungsrechtliche Rechtfertigung hier, dass eine wenigstens konkretisierte Gefahr für ein hinreichend gewichtiges Rechtsgut besteht (vgl. BVerfGE 141, 220 Rn. 104 ff.; 165, 1 Rn. 89; BVerfG NVwZ 2024, 1736 Rn. 105; vom 14.11.2024 – 1 BvL 3/22 – juris Rn. 79). Daran ändert es nichts, dass aufgrund Art. 11 a PAG keine Maßnahmen möglich sind, die nach Art. 12 bis 65 PAG einem Richtervorbehalt unterliegen (siehe oben unter a) cc)), dass Art. 11 a PAG keine Grundlage für heimliche polizeiliche Maßnahmen bietet (siehe oben unter a) dd)) und dass Maßnahmen aufgrund Art. 11 a PAG keine Streubreite gegenüber unbeteiligten Dritten haben (siehe oben unter a) ee)).
169
Zu den hinreichend gewichtigen Rechtsgütern, die tiefe polizeiliche Grundrechtseingriffe mit präventivem Charakter rechtfertigen können, gehören nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts die von ihm so bezeichneten besonders gewichtigen (vgl. BVerfGE 141, 220 Rn. 108; 165, 1 Rn. 179), überragend wichtigen (vgl. BVerfGE 120, 274/328) oder auch hochrangigen (vgl. BVerfG vom 27.5.2020 BVerfGE 155, 119 Rn. 150; 165, 1 Rn. 173) Rechtsgüter bzw. höchstrangigen Verfassungswerte (BVerfG vom 1.12.2020 BVerfGE 156, 63 Rn. 277) wie etwa Leib, Leben, Gesundheit (vgl. zu letzterer BVerfGE 133, 277 Rn. 203) und Freiheit der Person, die sexuelle Selbstbestimmung (vgl. hierzu BVerfGE 156, 63 Rn. 277) sowie der Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes (vgl. BVerfG NVwZ 2024, 1736 Rn. 91). Einen uneingeschränkten Sachwertschutz hat das Bundesverfassungsgericht demgegenüber nicht als ausreichend gewichtig für solche Maßnahmen angesehen (vgl. BVerfGE 141, 220 Rn. 108). Der Schutz von Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten ist, kann solche tiefen Grundrechtseingriffe rechtfertigen. Allerdings ist dabei ein enges Verständnis geboten; gemeint sind etwa wesentliche Infrastruktureinrichtungen oder sonstige Anlagen mit unmittelbarer Bedeutung für das Gemeinwesen (vgl. BVerfGE 165, 1 Rn. 179). Aus der Bayerischen Verfassung ergeben sich keine strengeren Anforderungen.
170
bbb) Davon ausgehend dient Art. 11 a PAG, der polizeiliche Aufklärungs- und Gefahrverhinderungsmaßnahmen nur zum Schutz der in Art. 11 a Abs. 2 PAG aufgeführten „bedeutenden Rechtsgüter“ (1.) des Bestands oder der Sicherheit des Bundes oder eine Landes, (2.) von Leben, Gesundheit oder Freiheit, (3.) der sexuellen Selbstbestimmung, soweit sie durch Straftatbestände geschützt ist, die im Mindestmaß mit wenigstens drei Monaten Freiheitsstrafe bedroht sind, und von (4.) Anlagen der kritischen Infrastruktur sowie Kulturgütern von mindestens überregionalem Rang zulässt, durchweg dem Schutz hinreichend gewichtiger Rechtsgüter, sodass auch tiefe polizeiliche Grundrechtseingriffe aufgrund dieser Vorschrift gerechtfertigt sein können.
171
Dass es sich bei den Rechtsgütern des Bestands oder der Sicherheit des Bundes oder eines Landes (Art. 11 a Abs. 2 Nr. 1 PAG), von Leben, Gesundheit oder Freiheit (Art. 11 a Abs. 2 Nr. 2 PAG) und der sexuellen Selbstbestimmung (Art. 11 a Abs. 2 Nr. 3 PAG) auch nach der Bayerischen Verfassung um besonders gewichtige, überragend wichtige oder auch hochrangige Rechtsgüter bzw. höchstrangige Verfassungswerte handelt, wurde bereits ausgeführt (siehe oben unter aaa)).
172
Mit der durch Art. 11 a Abs. 2 Nr. 3 PAG erfolgten Beschränkung des Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung durch die ergänzende Anknüpfung an Straftatbestände, die im Mindestmaß mit wenigstens drei Monaten Freiheitsstrafe bedroht sind, setzt sich der bayerische Gesetzgeber nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 165, 1 Rn. 173, 179 m. w. N.). Nach dieser Judikatur entspricht eine Begrenzung auf besonders schwere Straftaten dem verfassungsrechtlichen Erfordernis eines hinreichend gewichtigen Rechtsguts, wobei als besonders schwere Straftaten solche angesehen wurden, die mit einer Höchststrafe von mehr als fünf Jahren bedroht sind. Mit dieser Rechtsprechung konfligiert Art. 11 a Abs. 2 Nr. 3 PAG schon deshalb nicht, weil sich die bundesverfassungsgerichtliche Judikatur ausgehend vom dortigen Prüfungsgegenstand des § 35 Abs. 1 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung Mecklenburg-Vorpommerns (SOG MV) auf das Höchst- und nicht das Mindeststrafmaß bezieht. Im Übrigen betrifft die genannte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine landesrechtliche Norm, die tatbestandlich an die Möglichkeit der Begehung bestimmter Straftaten anknüpft, wohingegen Art. 11 a PAG tatbestandlich unmittelbar rechtsgutbezogen konzipiert ist. Das bedeutende Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung wird wegen der ergänzenden Anknüpfung in Art. 11 a Abs. 2 Nr. 3 PAG an dessen Schutz durch Straftatbestände mit einem bestimmten Mindeststrafmaß im Sinn des Verhältnismäßigkeitsprinzips nur mit dieser Einschränkung geschützt.
173
Anlagen der kritischen Infrastruktur (Art. 11 a Abs. 2 Nr. 4 Alt. 1 PAG) sind wesentliche Infrastruktureinrichtungen und damit Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten ist (vgl. BVerfGE 165, 1 Rn. 179). Deshalb dient Art. 11 a PAG auch insoweit dem Schutz eines hinreichend gewichtigen Rechtsguts, zu dessen Gunsten tiefe polizeiliche Grundrechtseingriffe gerechtfertigt sein können.
174
Dasselbe gilt für „Kulturgüter von mindestens überregionalem Rang“, die nach Art. 11 a Abs. 2 Nr. 4 Alt. 2 PAG „bedeutende Rechtsgüter“ sind (so im Ergebnis auch Schröder, BayVBl 2022, 145/146). Dafür, dass es sich bei diesen Kulturgütern um Sachen von bedeutendem Wert handelt, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten ist, spricht im Ansatz bereits Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV, wonach Bayern insbesondere ein Kulturstaat ist. Dass der Erhalt von Kulturgütern im Sinn des Art. 11 a Abs. 2 Nr. 4 Alt. 2 PAG im öffentlichen Interesse liegt, ist ferner aus Art. 3 Abs. 2 Satz 1 BV abzuleiten, wonach der Staat die natürlichen Lebensgrundlagen und die kulturelle Überlieferung schützt. Dahinter, dass die Bayerische Verfassung den Auftrag zum Schutz und zur Pflege der Denkmäler sowohl in Art. 3 Abs. 2 BV als auch in Art. 141 BV in den Kontext des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen stellt, steht die Einsicht, dass neben den natürlichen auch die kulturhistorischen Ressourcen ein unverzichtbarer Bestandteil der Lebensqualität sind (vgl. VerfGHE 61, 172/182). Auch dies spricht dafür, dass jedenfalls „Kulturgüter von mindestens überregionalem Rang“ Sachen von bedeutendem Wert sind, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten ist. Daran, dass der Staat, die Gemeinden und die Körperschaften des öffentlichen Rechts nach Art. 141 Abs. 2 letzter Satzteil BV die besondere Aufgabe haben, die Abwanderung „deutschen“ Kunstbesitzes ins Ausland zu verhüten, zeigt sich schließlich, dass die über die Grenzen Bayerns hinausreichende Bedeutung eines künstlerischen Kulturguts für die Bayerische Verfassung ein Aspekt von besonderer Bedeutung ist. Auch diese Erwägung führt zu dem Schluss, dass „Kulturgüter von mindestens überregionalem Rang“ Sachen von bedeutendem Wert sind, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten ist.
175
Somit dient Art. 11 a PAG durchweg dem Schutz hinreichend gewichtiger Rechtsgüter, zu deren Gunsten auch tiefe polizeiliche Grundrechtseingriffe gerechtfertigt sein können.
176
(ee) Wiegen – wie hier – die Schutzgüter einer Eingriffsermächtigung als solche hinreichend schwer, um Grundrechtseingriffe der geregelten Art zu rechtfertigen, begründet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verfassungsrechtliche Anforderungen an die tatsächlichen Voraussetzungen des Eingriffs (vgl. BVerfGE 120, 274/ 327), denen Art. 11 a PAG bei verfassungskonform einschränkender Auslegung seines Absatzes 1 Nr. 1 PAG genügt.
177
(aaa) Im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinn hat der Gesetzgeber die Ausgewogenheit zwischen der Art und Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung einerseits und den zum Eingriff berechtigenden Tatbestandselementen andererseits, wie der Eingriffsschwelle, der geforderten Tatsachenbasis und dem Gewicht der geschützten Rechtsgüter, zu wahren. Je gewichtiger die drohende oder erfolgte Rechtsgutbeeinträchtigung und je weniger gewichtig der Grundrechtseingriff ist, um den es sich handelt, desto geringer darf die Wahrscheinlichkeit sein, mit der auf eine drohende oder erfolgte Verletzung des Rechtsguts geschlossen werden kann, und desto weniger fundierend dürfen gegebenenfalls die Tatsachen sein, die dem Verdacht zugrunde liegen. Die Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad und die Tatsachenbasis der Prognose dürfen allerdings nicht beliebig herabgesenkt werden, sondern müssen auch in angemessenem Verhältnis zu Art und Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung und zur Aussicht auf den Erfolg des beabsichtigten Rechtsgüterschutzes stehen. Selbst bei höchstem Gewicht der drohenden Rechtsgutbeeinträchtigung kann auf das Erfordernis einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit nicht verzichtet werden. Auch muss als Voraussetzung eines schweren Grundrechtseingriffs gewährleistet bleiben, dass Annahmen und Schlussfolgerungen einen konkret umrissenen Ausgangspunkt im Tatsächlichen besitzen (vgl. BVerfGE 115, 320/360 f. m. w. N.).
178
Wegen dieser Eingriffsschwelle, die den Anlass für polizeiliche Maßnahmen bietet, setzt die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn voraus, dass die Eingriffsmaßnahmen der Abwehr einer Gefährdung dienen, die im Einzelfall hinreichend konkret absehbar ist, und der Adressat der Maßnahmen aus Sicht eines verständigen Dritten den objektiven Umständen nach in sie verfangen ist (vgl. BVerfGE 141, 220 Rn. 109; BVerfG NVwZ 2024, 1736 Rn. 105). Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung verlangt hier, dass entweder eine konkrete Gefahr oder eine wenigstens konkretisierte Gefahr für ein hinreichend gewichtiges Rechtsgut besteht (vgl. dazu BVerfGE 141, 220 Rn. 111 ff.; BVerfG NVwZ 2024, 1736 Rn. 105), wobei bei den Anforderungen an die Eingriffsschwelle in der Sache nicht zwischen den Begriffen konkretisierte Gefahr einerseits und drohende Gefahr andererseits unterschieden wird (vgl. BVerfGE 141, 220 Rn. 112; 155, 119 Rn. 151 f.; BVerfG vom 14.11.2024 – 1 BvL 3/22 – juris Rn. 76). Es müssen zumindest tatsächliche Anhaltspunkte für die Entstehung einer konkreten Gefahr für die Schutzgüter bestehen. Allgemeine Erfahrungssätze reichen allein nicht aus, um einen Eingriff zu rechtfertigen. Vielmehr müssen bestimmte Tatsachen festgestellt sein, die im Einzelfall die Prognose eines Geschehens tragen, das zu einer zurechenbaren Verletzung der hier relevanten Schutzgüter führt. Eine hinreichend konkretisierte Gefahr in diesem Sinn kann danach schon bestehen, wenn sich der zum Schaden führende Kausalverlauf noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersehen lässt, sofern bereits bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein hinreichend gewichtiges Rechtsgut (siehe oben unter dd) (aaa)) hinweisen (BVerfGE 141, 220 Rn. 112 m. w. N.; 165, 1 Rn. 90; BVerfG NVwZ 2024, 1736 Rn. 106 f.; vom 14.11.2024 – 1 BvL 3/22 – juris Rn. 76).
179
Dafür müssen grundsätzlich zwei Bedingungen erfüllt sein: Die Tatsachen müssen zum einen den Schluss auf ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen, zum anderen darauf, dass bestimmte Personen beteiligt sein werden, über deren Identität zumindest so viel bekannt ist, dass die Maßnahme gezielt gegen sie eingesetzt und weitgehend auf sie beschränkt werden kann. Zum Schutz herausgehobener Rechtsgüter, wie etwa zur Verhütung terroristischer Straftaten (vgl. BVerfGE 155, 119 Rn. 149), die oft durch lang geplante Taten von bisher nicht straffällig gewordenen Einzelnen an nicht vorhersehbaren Orten und in ganz verschiedener Weise verübt werden, können die Anforderungen an die Erkennbarkeit des Geschehens weiter abgesenkt werden, wenn dafür bereits genauere Erkenntnisse über die beteiligten Personen bestehen: Hier gilt, dass Maßnahmen auch dann erlaubt werden können, wenn zwar noch nicht ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar ist, dafür aber das individuelle Verhalten einer Person bereits die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie solche Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird (vgl. BVerfGE 141, 220 Rn. 112 m. w. N.; 165, 1 Rn. 91; BVerfG NVwZ 2024, 1736 Rn. 107; vom 14.11.2024 – 1 BvL 3/22 – juris Rn. 77 f.).
Wenn demgegenüber in der Praxis die rechtlichen Möglichkeiten der Befugnis des Art. 11 a PAG nicht ausgeschöpft werden sollten, änderte dies an den verfassungsrechtlichen Anforderungen an diese Norm nichts (vgl. BVerfGE 165, 363 Rn. 151). Auch hier ergeben sich aus der Bayerischen Verfassung keine strengeren Maßstäbe.
180
(bbb) Diesen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn wird Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG ohne Weiteres, Art. 11 a Abs. 1 Nr. 1 PAG hingegen nur in einer bestimmten verfassungskonformen Auslegung gerecht.
181
Nach Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG kann die Polizei, wenn die Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 1 und 2 PAG nicht vorliegen, die notwendigen Maßnahmen treffen, um den Sachverhalt aufzuklären und die Entstehung einer Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut (im Sinn des Art. 11 a Abs. 2 PAG) zu verhindern, wenn im Einzelfall Vorbereitungshandlungen für sich genommen oder zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen den Schluss auf ein seiner Art nach konkretisiertes Geschehen zulassen, wonach in absehbarer Zeit Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung für ein bedeutendes Rechtsgut zu erwarten sind.
182
Diese letztgenannten Eingriffsvoraussetzungen entsprechen den besagten „zwei Bedingungen“, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für eine hinreichend konkretisierte Gefahr erfüllt sein müssen. Als „Tatsachen“, die im Sinn der ersten dieser Bedingungen den Schluss auf ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen müssen, beschreibt Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG „Vorbereitungshandlungen“ und gegebenenfalls „weitere bestimmte Tatsachen“. Hinsichtlich der „Vorbereitungshandlungen“ ist die Norm präziser als es die entsprechende verfassungsrechtliche Anforderung verlangt, die ihrerseits allgemeiner auf „Tatsachen“ abstellt. Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG genügt dieser verfassungsrechtlichen Anforderung deshalb, soweit er im Übrigen auf etwaige „weitere bestimmte Tatsachen“ abstellt.
183
Nicht unmittelbar durch Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG selbst, aber mittelbar durch den Umstand, dass mangels anderweitiger Festlegungen des Gesetzgebers wie bei Art. 11 Abs. 1 und 2 PAG auch für die Generalklausel des Art. 11 a PAG die allgemeinen Regeln über die Störerverantwortlichkeit nach Art. 7 ff. PAG entsprechend gelten (siehe oben unter a) ee)), wird auch die zweite der beiden vom Bundesverfassungsgericht formulierten Bedingungen für eine hinreichend konkrete Gefahr erfüllt, wonach die „Tatsachen“ auch den Schluss darauf zulassen müssen, dass bestimmte Personen beteiligt sein werden, über deren Identität zumindest so viel bekannt ist, dass die Maßnahme gezielt gegen sie eingesetzt und weitgehend auf sie beschränkt werden kann. Dem Erfordernis der „weitgehenden Beschränkung“ wird deshalb genügt, weil Maßnahmen aufgrund Art. 11 a PAG abgesehen vom Handlungsstörer nur noch gegen den Zustandsstörer (Art. 8 PAG entsprechend) gerichtet werden dürfen, nicht aber gegen unbeteiligte Dritte (siehe oben unter a) ee)). Die in Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG enthaltene Wendung, dass „im Einzelfall“ Vorbereitungshandlungen für sich oder zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen „den Schluss“ auf ein seiner Art nach konkretisiertes Geschehen „zulassen“ müssen, wonach „in absehbarer Zeit“ Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung „zu erwarten sind“, wird dem verfassungsrechtlichen Erfordernis einer hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit gerecht. Denn diese Tatbestandsmerkmale des Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG entsprechen der differenzierten Wahrscheinlichkeitsbetrachtung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 115, 320/ 360 f. m. w. N.), wonach die Wahrscheinlichkeit, mit der auf eine drohende Verletzung geschlossen werden darf, desto geringer und weniger tatsachenfundiert sein darf, je gewichtiger die drohende Rechtsgutbeeinträchtigung ist.
184
Hingegen genügt Art. 11 a Abs. 1 Nr. 1 PAG den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn nur in einer bestimmten verfassungskonformen Auslegung (vgl. Nr. 2 des Tenors), deren Notwendigkeit sich auch auswirkt auf die Auslegung derjenigen – hier allerdings nicht verfahrensgegenständlichen – polizeilichen Spezialbefugnisse (vgl. z. B. Art. 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b, Art. 14 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 2, Art. 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Art. 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Alt. 2 PAG), die ihrerseits tatbestandlich an die in Art. 11 a Abs. 1 PAG enthaltene Legaldefinition der drohenden Gefahr anknüpfen.
185
Nach Art. 11 a Abs. 1 Nr. 1 PAG kann die Polizei, wenn die Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 1 und 2 PAG nicht vorliegen, die notwendigen Maßnahmen treffen, um den Sachverhalt aufzuklären und die Entstehung einer Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut (im Sinn des Art. 11 a Abs. 2 PAG) zu verhindern, „wenn im Einzelfall […] das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet […] wonach in absehbarer Zeit Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung [auf ein bedeutendes Rechtsgut] zu erwarten sind“.
186
Indem Art. 11 a Abs. 1 Nr. 1 PAG nicht (wie Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG) auf ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen abstellt, erfüllt die Regelung ersichtlich nicht die erste der beiden besagten Bedingungen für das Bestehen einer hinreichend konkretisierten Gefahr, die das Bundesverfassungsgericht entwickelt hat und die für die Bayerische Verfassung entsprechend gelten.
187
Allerdings genügt Art. 11 a Abs. 1 Nr. 1 PAG bei verfassungskonform einschränkender Auslegung (vgl. BVerfGE 141, 220 Rn. 213 f.) den weiter abgesenkten Anforderungen an die Erkennbarkeit des Geschehens, die das Bundesverfassungsgericht zum Schutz herausgehobener Rechtsgüter, wie etwa zur Verhütung terroristischer Straftaten, die oft durch lang geplante Taten von bisher nicht straffällig gewordenen Einzelnen an nicht vorhersehbaren Orten und in ganz verschiedener Weise verübt werden, entwickelt hat (vgl. BVerfGE 141, 220 Rn. 112; 155, 119 Rn. 149; BVerfG NVwZ 2024, 1736 Rn. 107) und die auch insoweit auf die Bayerische Verfassung übertragbar sind. Im Bereich dieser Gefahren gilt danach, dass Maßnahmen auch dann erlaubt werden können, wenn zwar noch nicht ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar ist, dafür aber das individuelle Verhalten einer Person bereits die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie etwa terroristische Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird. Im Anschluss daran ist Art. 11 a Abs. 1 Nr. 1 PAG verfassungskonform dahingehend auszulegen (vgl. Nr. 2 des Tenors), dass unter „Angriffen von erheblicher Intensität oder Auswirkung“ im Sinn dieser die drohende Gefahr legaldefinierenden Vorschrift nur terroristische oder vergleichbare Angriffe auf bedeutende Rechtsgüter im Sinn des Art. 11 a Abs. 2 PAG zu verstehen sind. Eine Auslegung, die Art. 11 a Abs. 1 Nr. 1 PAG darüber hinaus auf weitere Angriffe auf bedeutende Rechtsgüter erstreckte, wäre verfassungswidrig. Allerdings darf in der Situation terroristischer oder vergleichbarer Angriffe auf bedeutende Rechtsgüter im Sinn des Art. 11 a Abs. 2 PAG unter dessen Voraussetzungen auch auf Art. 11 a Abs. 1 Nr. 2 PAG zurückgegriffen werden (vgl. BVerfGE 141, 220 Rn. 165).
188
Da Art. 11 a PAG sowohl durchweg dem Schutz hinreichend gewichtiger Rechtsgüter dient als auch den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Eingriffsschwelle einschließlich des Erfordernisses hinreichender Eintrittswahrscheinlichkeit bei schweren Grundrechtseingriffen genügt, kommt es nicht entscheidungserheblich darauf an, dass es verfassungsrechtlich bei weniger eingriffsintensiven Maßnahmen – die Art. 11 a PAG wie dargestellt auch ermöglicht – genügt, wenn die gesetzliche Ermächtigungsnorm alternativ eine konkretisierte Gefahr oder den Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter voraussetzt (vgl. BVerfGE 165, 363 Rn. 107; BVerfG vom 14.11.2024 – 1 BvL 3/22 – juris Rn. 84).
189
(ff) Darüber hinaus trägt zur Vereinbarkeit des Art. 11 a PAG mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinn bei, dass die Norm der Polizei über die allgemeinen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Eingriffsschwelle bei tiefen polizeilichen Grundrechtseingriffen hinaus – im Sinn einer dreifach qualifizierten Eingriffsschwelle – tatbestandlich die Prognose abverlangt, dass in absehbarer Zeit „Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung“ auf die in Art. 11 a Abs. 2 PAG genannten bedeutenden Rechtsgüter zu erwarten sein müssen. Diese weiteren einschränkenden Tatbestandsmerkmale stellen sicher, dass Maßnahmen aufgrund Art. 11 a PAG nur bei voraussichtlich gravierenden Angriffen auf diese Rechtsgüter erfasst werden (siehe oben unter aaa) (2) (b) (ff)). Durch das Tatbestandsmerkmal „Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung“ sind somit von vornherein tatbestandlich Maßnahmen aufgrund Art. 11 a PAG etwa bei voraussichtlich nur geringfügigen Gesundheits- oder Freiheitsbeeinträchtigungen ausgeschlossen.
190
(gg) Ferner genügt Art. 11 a PAG dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinn, weil die Norm, wie dargelegt, nur einen eingeschränkten einfachrechtlichen Anwendungs- und Wirkbereich hat. Dieser ergibt sich zunächst aus den beiden in Art. 11 a PAG enthaltenen Subsidiaritätsklauseln (siehe näher oben unter a) bb)). Besonders spricht dabei für eine Vereinbarkeit des Art. 11 a PAG mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinn, dass die Vorschrift angesichts der Art. 12 bis 65 PAG als Rechtsgrundlage nur für atypische polizeiliche Maßnahmen anwendbar ist, wobei gerade wegen der Existenz der Art. 12 bis 65 PAG praktisch nur ein schmaler Anwendungsbereich für solche atypischen polizeilichen Maßnahmen verbleibt, die tief in Grundrechte eingreifen. Denn der Gesetzgeber hat in Art. 12 bis 65 PAG die nach seinen bisherigen Erkenntnissen praktisch häufig vorkommenden Maßnahmen typisiert und dabei insbesondere polizeiliche Maßnahmen, die tief in Grundrechte eingreifen (vgl. nur Art. 17, 23 und 41 PAG), spezialgesetzlich geregelt. Weitere einfachrechtliche Einschränkungen des Anwendungsbereichs, die zur Vereinbarkeit des Art. 11 a PAG mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinn beitragen, ergeben sich daraus, dass die Vorschrift der Polizei keine Grundlage für Maßnahmen bietet, die nach Art. 12 bis 65 PAG einem Richtervorbehalt unterliegen (siehe näher oben unter a) cc)), keine heimlichen polizeilichen Maßnahmen ermöglicht (siehe näher oben unter a) dd)) und auch keine Basis für Maßnahmen gegenüber unbeteiligten Dritten bietet (siehe näher oben unter a) ee)). Daher haben die Maßnahmen, die aufgrund Art. 11 a PAG möglich sind, keine Streubreite gegenüber einer Vielzahl an Grundrechtsträgern (vgl. nur BVerfGE 156, 63 Rn. 202 zur Erhöhung des Eingriffsgewichts bei Erfüllung des Kriteriums der Streubreite).
191
(hh) Art. 11 a PAG genügt bei verfassungskonform einschränkender Auslegung (vgl. Nr. 2 des Tenors) dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinn auch mit Rücksicht auf den aus Art. 3 Abs. 1 Satz 1 (Rechtsstaatsprinzip), Art. 2 und 4 (Demokratieprinzip), Art. 5 (Grundsatz der Gewaltenteilung) sowie Art. 70 Abs. 3 BV (Verbot der Übertragung des Gesetzgebungsrechts) abzuleitenden Parlamentsvorbehalt, nach dem schwerste Grundrechtseingriffe auf Art. 11 a PAG allenfalls ausnahmsweise für eine Übergangszeit gestützt werden dürfen.
192
Nach dem Parlamentsvorbehalt müssen in grundlegenden normativen Bereichen – insbesondere im Bereich der Grundrechtsausübung – die wesentlichen Entscheidungen vom Gesetzgeber selbst durch ein förmliches Gesetz getroffen werden (vgl. VerfGH vom 17.7.2018 VerfGHE 71, 161 Rn. 68 ff. m. w. N.; BVerfG vom 14.7.1998 BVerfGE 98, 218/251; vom 1.4.2014 BVerfGE 136, 69 Rn. 102; vom 21.4.2015 BVerfGE 139, 19 Rn. 52; BVerwG vom 26.11.2014 BVerwGE 150, 327 Rn. 45).
193
Welche Fragen vom Parlament bzw. dem Volksgesetzgeber selbst in Gesetzesform geregelt werden müssen, lässt sich nicht allgemein sagen, sondern hängt vom jeweiligen Sachbereich, von der Art der getroffenen Regelung sowie der Intensität ihrer Auswirkungen auf die allgemeinen Lebensverhältnisse und die Grundrechte der Bürger ab. Die Besonderheiten des jeweiligen Regelungsgegenstands und die Eingriffsintensität bestimmen auch die erforderliche Regelungsdichte (VerfGH vom 3.5.1984 VerfGHE 37, 59/67; vom 17.7.2018 BayVBl 2018, 809 Rn. 69; vom 21.10.2020 BayVBl 2021, 20 Rn. 17; vom 16.11.2020 - Vf. 90-VII-20 – juris Rn. 12; BVerfGE 49, 89/127, 133; 139, 19 Rn. 52). Geringere Anforderungen können etwa dann zu stellen sein, wenn – wie bei polizeilichen Generalklauseln – der zu regelnde Sachverhalt vielgestaltig oder zu erwarten ist, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse rasch ändern (vgl. VerfGHE 37, 59/67; BVerfGE 49, 89/133; BVerfG vom 20.10.1981 BVerfGE 58, 257/278; vom 19.11.2021 BVerfGE 159, 223 Rn. 156).
194
Auch muss nach dem Parlamentsvorbehalt nicht jede Maßnahme mit Grundrechtsbezug vom Gesetzgeber selbst geregelt werden. Die Verantwortung des Gesetzgebers ist jedoch umso größer, je stärker in die Grundrechte der Betroffenen eingegriffen wird (vgl. VerfGHE 38, 74/80 f.; VerfGH vom 4.6.2003 VerfGHE 56, 99/108; vom 9.2.2021 – Vf. 6-VII-20 – juris Rn. 50; BVerfGE 49, 89/126 f. m. w. N.; BVerfG vom 3.11.1982 BVerfGE 62, 203/210; vom 18.7.2005 BVerfGE 113, 167/269). Deshalb kann Art. 11 a PAG als Generalklausel jedenfalls bei schwersten Grundrechtseingriffen grundsätzlich keine Anwendung mehr finden (vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 11. Aufl. 2021, S. 25, 59). Eine Ausnahme kann allenfalls für eine Übergangszeit bei neuen, vom Gesetzgeber noch nicht bedachten Gefährdungslagen angenommen werden (vgl. BVerfG vom 8.11.2012 BayVBl 2013, 398 Rn. 23, 25; ThürVerfGH vom 19.5.2021 – 110/20 – juris Rn. 42 ff. m. w. N.).
195
(ii) Bei verfassungskonform einschränkender Auslegung (vgl. Nr. 2 des Tenors) ist Art. 11 a PAG speziell auch im Hinblick auf die durch ihn ermöglichten Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinn vereinbar.
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Zwar genügt Art. 11 a PAG grundsätzlich den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Festlegung hinreichend bestimmter, tatsachenbasierter Mindestanforderungen für Grundrechtseingriffe im Vorfeld konkreter Gefahren (siehe oben unter aaa)). Jedoch dürfen wegen der besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Normenbestimmtheit und Normenklarheit, die mit zunehmender Intensität von Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung steigen und insoweit mit den jeweiligen materiellen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit eng verbunden sind, jedenfalls tiefe Eingriffe speziell in dieses Grundrecht nicht aufgrund einer Generalklausel wie Art. 11 a PAG erfolgen (vgl. bereits VerfGHE 38, 74/79 ff.; BVerfG vom 23.2.2007 NVwZ 2007, 688/691 zur Videoüberwachung öffentlicher Einrichtungen aufgrund Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 1 BayDSG; siehe auch BVerfG vom 17.2.2009 NJW 2009, 1405 Rn. 29 und 2009, 2867 Rn. 20, jeweils zu § 161 Abs. 1 StPO; NVwZ 2024, 1736 Rn. 127; Petri in BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern, Art. 32 PAG Rn. 2 m. w. N.; anders LT-Drs. 18/13716 S. 23). Vielmehr bedarf es für solche Grundrechtseingriffe im Hinblick auf die jeweils konkret ermöglichten polizeilichen Maßnahmen speziellerer Regelungen des Gesetzgebers. Art. 11 a Abs. 1 PAG ist deshalb verfassungskonform einschränkend so auszulegen (vgl. Nr. 2 des Tenors), dass unter „Maßnahmen“ im Sinn dieser Vorschrift nur solche Maßnahmen zu verstehen sind, die nicht tief in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen.
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(jj) Als Generalklausel wird Art. 11 a PAG dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinn im Übrigen nicht zuletzt deshalb gerecht, weil die Norm der Polizei bei Vorliegen ihrer Tatbestandsvoraussetzungen im jeweiligen Einzelfall sowohl ein Entschließungs- als auch ein Auswahlermessen eröffnet (vgl. zu diesem Verhältnismäßigkeitsaspekt allgemein Sodan in Stern/Sodan/Möstl, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, 2. Aufl. 2022, § 87 Rn. 6 m. w. N.) und der Polizei damit in jedem Einzelfall eine verhältnismäßige Entscheidung zu einer gesetzlich nicht vorbestimmten Maßnahme ermöglicht (vgl. BVerfGE 150, 244 Rn. 127). Bei der Ausübung des Auswahlermessens ist die Polizei schon nach dem für alle Maßnahmen nach dem Polizeiaufgabengesetz geltenden Art. 4 PAG auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verpflichtet, der im Wort „notwendigen“ in Art. 11 a Abs. 1 PAG nochmals zum Ausdruck gebracht wird. Da Art. 11 a PAG wie dargestellt nur einen eingeschränkten einfachrechtlichen Anwendungs- und Wirkbereich hat, den verfassungsrechtlichen Vorgaben zur hinreichenden Gewichtigkeit des zu schützenden Rechtsguts und – bei verfassungskonformer Auslegung – zur Eingriffsschwelle genügt, die Norm der Polizei die qualifizierte Prognose von in absehbarer Zeit erfolgenden Angriffen von erheblicher Intensität oder Auswirkung abverlangt, mit Rücksicht auf den Parlamentsvorbehalt für schwerste Grundrechtseingriffe allenfalls ausnahmsweise für eine Übergangszeit eine Grundlage bietet und bei verfassungskonformer Auslegung auch keine tiefen Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ermöglicht, liegt der Schwerpunkt der Frage der Verhältnismäßigkeit bei Art. 11 a PAG letztlich nicht auf der Normebene, sondern auf der Ebene seiner Anwendung im jeweiligen Einzelfall, insbesondere bei der Handhabung des gegebenenfalls eröffneten Auswahlermessens. Der Ebene der Anwendung des Art. 11 a PAG ist jedoch nicht weiter nachzugehen, weil es auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Vollzugs dieser Vorschrift für die hier vorzunehmende Beurteilung ihrer Verfassungsmäßigkeit nicht ankommt (vgl. BVerfG vom 9.5.2006 – 2 BvL 5/02 – juris Rn. 18; vom 27.6.1991 BVerfGE 84, 239/272). Denn die bloße Möglichkeit verfassungswidriger Rechtsanwendungsergebnisse macht eine gesetzliche Vorschrift als solche nicht verfassungswidrig (vgl. VerfGH vom 28.6.2022 BayVBl 2022, 625 Rn. 36 m. w. N.; vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 120).
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2. Der Antrag zur Meinungsverschiedenheit im Verfahren Vf. 10-VIII-18 ist ebenfalls mit der Maßgabe unbegründet, dass Art. 11 a PAG in der sich aus den Gründen (siehe oben unter 1. d) bb) bbb) (5)) ergebenden verfassungskonformen Auslegung mit der Bayerischen Verfassung vereinbar ist. Auf die vorstehenden Ausführungen wird Bezug genommen.
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Die Verfahren sind kostenfrei (Art. 27 Abs. 1 Satz 1 VfGHG). Den Antragstellern im Verfahren der Popularklage Vf. 7-VII-18 ist die Hälfte der ihnen durch das Popularklageverfahren entstandenen notwendigen Auslagen aus der Staatskasse zu erstatten (vgl. Art. 27 Abs. 3 VfGHG), weil dieses Verfahren zur Klärung beigetragen hat, dass Art. 11 a PAG in drei Aspekten nur in einer bestimmten verfassungskonformen Auslegung mit der Bayerischen Verfassung vereinbar ist. Aus demselben Grund ist es angemessen, eine entsprechende Kostenerstattung auch im Verfahren der Meinungsverschiedenheit Vf. 10-VIII-18 anzuordnen (Art. 27 Abs. 5 VfGHG).