Titel:
Aufsichtspflichtverletzung, Elterliche Aufsichtspflicht, Elektronisches Dokument, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Elektronischer Rechtsverkehr, Gesamtschuldner, Regelung des Straßenverkehrs, öffentlicher Straßenverkehr, Teilnahme am Straßenverkehr, Streitwert, Haftung der Eltern, Vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten, Wert des Beschwerdegegenstandes, Verkehrsregelung, Anderweitige Erledigung, Qualifizierte elektronische Signatur, Klageabweisung, Gefährdungshaftung, Formlose Mitteilung, Aufgabe zur Post
Normenkette:
BGB § 832
Leitsatz:
Ein siebeneinhalbjähriger Radfahrer fuhr auf dem Weg zu einem Freund in seinem Viertel auf der Straße statt auf dem Gehweg und kollidierte mit einem Pkw. Eine Aufsichtspflichtverletzung der Eltern verneinte das AG Kempten. Sie hätten ihrem Sohn auch nicht heimlich nachfahren müssen, um die Einhaltung der Verkehrsregeln zu kontrollieren. Der Austausch über eine elterliche Nachbarschafts-WhatsApp-Gruppe habe genügt. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufsichtspflichtverletzung, Haftung der Eltern, Verkehrsunfall, Kind im Straßenverkehr, Schulkind, Verkehrsunterricht, Verkehrserziehung
Fundstelle:
BeckRS 2025, 3621
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leisten.
Der Streitwert wird auf 628,00 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten um Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, bei dem der Sohn der Beklagten mit dem Pkw der Klägerin kollidierte.
2
Am 30.06.2023 befuhr der zum damaligen Zeitpunkt siebeneinhalb Jahre alte Sohn A… der Beklagten gegen 16:30 Uhr die Straße … in … mit seinem Fahrrad. Von links mündet dort eine weitere Straße ein, aus der die Klägerin mit ihrem Pkw VW Golf, … herauskam, um aus ihrer Fahrtrichtung gesehen nach rechts abzubiegen. An der Einmündung hielt die Klägerin ihren Pkw an, in den A… sodann vorne rechts hineinfuhr, sodass am Pkw ein Schaden in Höhe von 628 € entstand.
3
In A… Fahrtrichtung gesehen hat die Straße rechtsseitig einen Gehweg, linksseitig (wo sich die Kollision ereignete) nicht. Bei der Straße handelt es sich um eine Ringstraße in einem Wohngebiet ohne Durchgangsverkehr, in dem durchgehend die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h reduziert ist und viele Kinder unterwegs sind. Sowohl die Klägerin als auch die Beklagten und A… wohnen im fraglichen Wohngebiet. A… – zum Vorfallszeitpunkt am Ende der 1. Klasse und ein geübter Radfahrer – ist mit den Strecken vertraut und war zum wiederholten Male und unbegleitet auf dem Weg zu einem wenige Häuser von der Unfallstelle entfernt wohnenden Freund. Er legt seinen Schulweg eigenständig zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurück.
4
Die Klägerin vermutet, A… habe bei der Kollision Gegenstände wie Malkreide o. ä. in der Hand gehalten. Jedenfalls sei solches während der Kollision zu Boden gefallen.
5
Sie ist der Auffassung, die Beklagten hätten ihre Aufsichtspflicht verletzt, indem sie A… allein mit dem Fahrrad haben fahren lassen. Schon weil die Beklagten vor dem Unfall nicht im Geheimen kontrolliert haben, ob sich das Kind an die Regeln hält, wenn es sich nicht beobachtet fühlt, hätten sie sich von der durch den Unfall indizierten Aufsichtspflichtverletzung nicht exkulpiert.
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 628,00 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 24.02.2024 zu bezahlen.
7
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, der Klägerin vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 159,94 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 24.02.2024 zu erstatten.
8
Die Beklagten beantragen
9
Sie sind der Auffassung, ihrer Aufsichtspflicht genügt zu haben. Ohnehin sei auf den Maßstab des § 1664 BGB abzustellen, der auch im Straßenverkehr Anwendung finde, sodass ihre Haftung auf das Maß der in eigenen Angelegenheiten angewandten Sorgfalt reduziert sei.
10
Das Gericht hat mit den Parteien am 12.02.2025 mündlich zur Sache verhandelt und dabei auch die Klägerin und die Beklagten persönlich angehört. Auf das Protokoll der Hauptverhandlung sowie die wechselseitigen Schriftsätze nahmen samt Anlagen wird zur Ergänzung verwiesen.
Entscheidungsgründe
11
Die Klage ist zulässig, insbesondere ist das Amtsgericht Kempten (Allgäu) örtlich und sachlich zur Entscheidung zuständig.
12
Die Klage ist jedoch nicht begründet.
13
Eine Verletzung der elterlichen Aufsichtspflicht gemäß § 832 BGB, die zu einer Haftung der Eltern für den vom Kind verursachten Schaden gegenüber der Klägerin führen könnte, liegt nicht vor.
14
Zwar gilt der reduzierte Haftungsmaßstab des § 1664 BGB im vorliegenden Fall nicht, da dieser nur auf die Haftung der Eltern gegenüber dem Kind Anwendung findet, nicht auf die hier maßgebliche Haftung der Eltern gegenüber vom Kind verletzter Dritter.
15
Die Beklagten haben jedoch zur Überzeugung des Gerichtes Umstände dargelegt, aus denen sich ergibt, dass sie ihre Aufsichtspflicht allgemein und im konkreten Fall in ausreichendem Maße nachgekommen sind, § 832 S. 2 BGB.
16
Angesichts der besonderen Gefahren im Straßenverkehr ist eine besonders strenge Aufsichtspflicht gegenüber Kindern selbstverständlich. Dies gilt zum einen hinsichtlich der Belehrung über die Regeln und Gefahren der Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr, etwa mit dem Fahrrad, zum anderen hinsichtlich der Vertrautheit des Kindes mit einer Verkehrsstrecke (und der konkreten Verkehrssituation). Allerdings darf im Hinblick auf die Einschränkung der Verantwortlichkeit des Kindes im Straßenverkehr nach § 828 Abs. 2 BGB die Haftung der Eltern aus § 832 BGB nicht im selben Maße ausgedehnt werden, nur um dem Geschädigten einen „Ersatz-Schuldner“ bereitzustellen – dies würde die gesetzgeberische Wertung des § 828 Abs. 2 BGB in ihr Gegenteil verkehren. § 832 BGB begründet eben keine Gefährdungshaftung der Eltern (BeckOK BGB/Spindler/Förster, 72. Ed. 1.11.2024, BGB § 832 Rn. 28, beck-online).
17
In welchem Umfang die elterliche Aufsichtspflicht über am Straßenverkehr teilnehmende Kinder ausgeübt werden muss, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab, wobei das Alter des Kindes eine maßgebliche Rolle spielt, ohne dass diesbezüglich jedoch eine rein schematische Betrachtung zulässig wäre. Ungeachtet dessen ist festzustellen, dass bei einem Schulkind einer unbeaufsichtigten Teilnahme am Straßenverkehr auf vertrauten Strecken in unmittelbarer räumlicher Nähe zum Zuhause, erst recht in einem Wohngebiet ohne Durchgangsverkehr grundsätzlich keine Bedenken entgegenstehen. Hat ein 6-jähriger genügend Erfahrung und Übung im Radfahren, kann er in vertrauter Umgebung auch ohne Begleitung Fahrrad fahren (a.a.O. mit Rechtsprechungsnachweisen). Dabei muss jedoch vorausgesetzt werden, dass das Kind in die besonderen Gefahren, die sich gerade aus der Benutzung des Fahrrads als Verkehrsmittel ergeben, eingewiesen ist und mit den entsprechenden Regeln des Straßenverkehrs vertraut ist.
18
Zur Überzeugung des Gerichtes haben die Beklagten dargelegt, dass all dies bei A… der Fall war: A… war im Juni 2023 bereits am Ende der 1. Klasse (das Schuljahr endete ca. einen Monat später). A… hat das gesamte Schuljahr bereits den Schulweg und Wege im Viertel zu seinen Freunden unbegleitet zurückgelegt, ohne dass es zu irgendwelchen Vorfällen oder Problemen kam. Die Eltern hatten hierüber auch Kontrolle, selbst wenn sie dem Kind nicht, wie die Klägerseite fordert, „geheim“ nachgefahren sind. Diese früher übliche Kontrolle wird aus pädagogischen Gründen heute zumeist abgelehnt, ist aber jedenfalls nicht die einzige Möglichkeit, sich in ausreichendem Maße davon zu vergewissern, dass das Kind sich an die maßgeblichen Regeln hält. Zum einen kennen die Beklagten die Verkehrstüchtigkeit ihres Kindes bereits daher, dass sie mit ihm den Weg zum Kindergarten schon zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt haben, was zum einen A… ausreichend Gelegenheit zum Üben des Radfahrens gab, zum anderen den Eltern ein klares Bild von der Verkehrstüchtigkeit ihres Kindes in Begleitung. Aber auch davon, dass A… unbegleitet willens und in der Lage ist, sich an die Regeln zu halten, hatten die Eltern eine klare und positive Vorstellung, die sich für das Gericht völlig nachvollziehbar daraus ergibt, dass sie ihn nicht nur regelmäßig begleiten, ihm nach- und entgegensehen, sondern als Teil einer eng verbundenen örtlichen Gemeinschaft darauf vertrauen dürfen, auch von anderen Eltern Rückmeldung über das Verhalten ihres Kindes am Straßenverkehr zu bekommen. Dies erfolgte zum Beispiel über die elterliche Nachbarschafts-WhatsApp-Gruppe, in der sich die Eltern der im Viertel wohnenden Kinder regelmäßig darüber austauschen, welche Kinder welche Strecke zurücklegen. Hinzu kommt, dass der Beklagte zu 2) an der Gruppe der Schulweghelfer an der Grundschule seines Sohnes teilnahm, sich hierbei selbst regelmäßig beobachtend ein Bild vom verkehrstechnischen Können seines Kindes (und gleichaltriger Kinder) machen konnte, zumal auch hier wechselseitige Rückmeldungen über das Verkehrsverhalten selbstverständlich sind. Nur wenige Wochen vor dem Vorfall hatte zudem in A… Schule eine ganze Woche Verkehrsunterricht stattgefunden, an dem neben praktischen Übungen zur Teilhabe am Straßenverkehr auch die Verkehrsregeln (im Fall von A… erneut) mit den Kindern gelernt wurden.
19
Aus all diesen Umständen hat sich das Gericht davon überzeugt, dass die Beklagten eine klare Vorstellung davon hatten, dass A… gegen Ende des 1. Schuljahres nicht nur ein versierter Fahrradfahrer war, der mit den technischen Gegebenheiten seines Fahrrads vertraut war und dieses problemlos beherrschte, sondern auch, dass A… über die Regeln am Straßenverkehr regelmäßig belehrt wurde, über diese Bescheid wusste und sich auch grundsätzlich daran hielt. Insbesondere haben die Beklagten das Kind dahingehend instruiert, auf dem Gehweg zu fahren und an Einmündungen anzuhalten.
20
Ohne Zweifel hat sich A… bei dem Unfall am 30.06.2023 nicht an diese Regeln gehalten. Dass ihm dies selbst bewusst wurde, mag indiziell durch seine vielfach geäußerte Entschuldigung gegenüber der Klägerin belegt sein, unterstreicht dann aber nur die grundsätzliche Kenntnis der Regeln. Letztlich bleibt festzuhalten, dass Kinder und ihre Eltern gegen derartige einzelne Regelverstöße und ihre Konsequenzen auch durch bestmögliche Erziehung nicht gefeit sind, weil diese Verstößte notwendiger Teil der Entwicklung und des Lernprozesses ist. Die Erziehung von Kindern ist ein ständiger Balanceakt zwischen dem Versuch, den Kindern ausreichend Selbstständigkeit zuzumuten einerseits – die zwingend erforderlich ist, um Eigenverantwortung zu erlernen – und der Vermeidung jedenfalls größerer Verstöße und ihrer Folgen andererseits. Das Risiko derartiger Vorfälle lässt sich dabei letztlich nicht ausschließen. Solange die Eltern ihre Aufsichtspflicht – wie hier – nicht verletzen, ist dieses Risiko nach dem Willen des Gesetzgebers von der Allgemeinheit zu tragen. Den Beklagten als Eltern dieses normal entwickelten, mit den Verkehrsregeln vertrauten und sein Fahrrad technisch beherrschenden Kindes für diesen Regelverstoß in die Haftung zu nehmen, würde unterm Strich bedeuten, dass selbst in ruhigen Wohngebieten Kinder im Schulalter nicht unbeaufsichtigt Fahrrad fahren dürften. Dies ist weder von § 832 BGB gedeckt, noch gewollt.
21
Ob A… tatsächlich bei dem Vorfall etwas in der Hand hatte, konnte selbst die Klägerin nur vermuten. Bloße Vermutungen sind für die Entscheidung des Gerichts nicht von Relevanz.
22
Als unterlegene Partei trägt die Klägerin die Kosten des Verfahrens gemäß § 91 ZPO.
23
Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.